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Immer schlimmer

Tuesday, 15. September 2009

Wenn die Oma immer schussliger wird und schließlich ihr Rezept vom Doktor am Bankschalter vorlegt, dann ist das eher komisch, allenfalls tragikomisch. Wenn aber ein von allen Medien, Verlagen und seinen Standesgenossen bis zuletzt noch als Doyen der Literaturkritik umschmeichelter, wortgewaltiger, weitläufig belesener Mann des Geistes und der Feder allwöchentlich die Auflösungsprozesse seiner Urteilskraft öffentlich vorführt, dann ist das tragisch – und zudem eine Gemeinheit jener, die ihm dazu die Bühne stellen.

So geschieht es stets am Sonntag in „seiner“ Frankfurter Allgemeinen keinem Geringeren als dem armen Marcel Reich-Ranicki, dessen Verdienste um die TV-adäquate Popularisierung unterhaltender Literatur nicht hoch genug zu schätzen und zu loben sind. Eigentlich sollte er doch auf seine alten Tage nicht nötig haben, dermaßen minderwertige Kolumnen abliefern zu müssen. Ich habe vor über zwei Jahren, damals noch in meinem Westropolis-Blog, einen ersten Stoßseufzer in Richtung FAS-Chefredaktion abgeschickt, den armen alten Mann vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Aber vermutlich haben Leserbefragungen ergeben, dass sein guter Name immer noch für ein paar Prozent der Abonnenten ein Beweggrund ist, das Blatt nicht abzubestellen. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, warum diese Zeitung ihm immer noch die Treue hält. Oder sind die dort Verantwortlichen schlicht zu feige, ihrem „Starautor“ die Wahrheit zu sagen? Wenn er vor Jahren im Fernsehen sein grandseigneureskes Gehabe gelegentlich überzog, dann war dies selbst mit der Dickfelligkeit eines abgehärteten Glotzeguckers kaum noch zu ertragen. Jetzt aber tritt uns kein kauziger Grandseigneur mehr entgegen, vielmehr verschleift sein Tonfall ins dumpf Onkelhafte – und das grenzt nun wirklich an Folter.

Zuletzt hatte Reich-Ranicki sein Heil in der Kürze gesucht und allerknappste Frage-Antwort-Textchen veröffentlicht nach dem Schema: „Warum ist der Autor X heute vergessen? – Weil es sich nicht lohnt, sich seiner zu erinnern.“ Dass er selten eine Begründung für seine Verbannungsurteile für nötig hielt, musste man schon deshalb durchgehen lassen, weil die Fragenden ihre Irritation ja auch nicht begründeten. An dieser Stelle sei mein Argwohn nicht verschwiegen, ob sich Reich-Ranicki nicht nur die Antworten, sondern oft auch die Fragen selbst ausdenkt. Wenn ein Peter Hausmann (Dresden) den Großkritiker was fragt, dann ist es ja schlicht unmöglich zu beweisen, dass in Dresden kein Mann dieses Namens lebt. Ein bekennender Filou war Reich-Ranicki ja immer schon. Und selbst wenn man ihm hier auf die Schliche käme, könnte ihm das nichts mehr anhaben, er wäre vermutlich noch stolz auf seine Schlitzohrigkeit und froh, endlich mal wieder in der Bild-Zeitung zu stehen.

Bei der angeblichen Waltraud Fink, die dem Briefkastenonkel von der FAS in den vergangenen beiden Wochen den folgenden Steilpass zu einer weit ausholenden Antwort lieferte, wird auf die Angabe eines Absendeortes ganz verzichtet: „Wie beurteilen Sie den Literaturkritiker Kurt Tucholsky?“ Nachdem Reich-Ranicki im ersten Teil seines wohl summarisch gemeinten Statements zu Tucholsky festgestellt hat, dass dieser Rezensent keine „Gutachten eines Sachverständigen“ verfasst habe, sondern „Bekenntnisse und Geständnisse eines Betroffenen“, kommt er in Teil zwei auf die Arbeitsbedingungen, um nicht zu sagen: auf die Arbeitsmoral seines großen Vorbilds zu sprechen. Man lese und staune: „Den meisten seiner Rezensionen kann man anmerken, wie rasch er sie schrieb und wie selten er sich bemühte, tiefer in die Materie einzudringen, und wie oft er sich mit Pauschalurteilen und mit gewöhnlichen Klischees begnügte.“ Und nun folgt eine sehr entlarvende Begründung, warum Reich-Ranicki meint, „seinen“ Tucholsky, sozusagen von Rezensent zu Rezensent, dennoch auf das Höchste loben zu müssen. Damit hat er nicht nur eine Ausrede, sondern gleich noch ein namhaftes Vorbild für seine eigene Faulheit und Schlampigkeit.

Gerade fiel mir beim Auspacken meiner Bibliothek die schöne kleine Taschenbuchausgabe von Bierbaums Kasperlegeschichte Zäpfel Kerns Abenteuer (frei nach Pinocchio) in die Hände, die der Insel-Verlag dankenswerterweise 1977 neu herausgebracht hat, und gar mit den alten Illustrationen von Arpad Schmidhammer (s. Titelbild). Der bedeutendste Kritiker unseres Landes in dieser Zeit konnte das Buch nicht finden, „in keinem Nachschlagebuch und in keiner Literaturgeschichte.“ Dafür wusste er aber neulich zu berichten, dass Thomas Manns Buddenbrooks bei ihrem Erscheinen zunächst völlig verkannt worden seien und es lange gedauert habe, bis das Urteil diesem Meisterwerk gerecht wurde. Als die Interviewerin erstaunt nachhakt, macht er wieder, was er immer macht, wenn er bei einem Fehler erwischt wird, viele Male konnten wir’s im Literarischen Quartett bewundern: Er beharrt kurz auf seinem Irrtum, im Brustton der Überzeugung, um dann blitzschnell zu einer weniger angreifbaren Behauptung überzuleiten. – Ach, es ist so fad! Und ich werde nun ganz gewiss kein Wort mehr über den Mann verlieren.