Archive for September 1st, 2009

Anarchie!

Tuesday, 01. September 2009

Ich war so um die sechzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal erkannte, wie Sprache manipuliert und zur Manipulation instrumentalisiert werden kann, wie durch Um- und Entwertung von Begriffen politische Gegner diskreditiert, marginalisiert oder gar kriminalisiert werden, wie durch penetrante Wiederholung von falsch verwendeten Wörtern deren Sinn schließlich völlig entstellt, ja geradezu ins Gegenteil verkehrt wird. Das so facetten- wie lehrreiche Beispiel, an dem sich all dies aufzeigen durchschauen ließ, was das Wort „Anarchismus“.

Die politischen Gewalttäter um Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die sich in der Roten Armee-Fraktion (RAF) formiert hatten, um durch Banküberfälle, Sprengstoffattentate, Entführungen und zuletzt Mordanschläge die BRD unter Druck zu setzen, wurden erst lange Zeit in den bürgerlichen Medien allgemein als „Anarchisten“ bezeichnet, bevor sich schließlich der bis heute gültige Begriff „Terroristen“ durchsetzte, der dann freilich für gewalttätige Untergrundarmeen jeglicher Couleur Verwendung fand und findet.

Sehr bald fand ich heraus, dass die RAF mit den Zielen des klassischen Anarchismus wenig gemein hatte, vielmehr sowohl in ihren Vorstellungen von der „Zeit nach dem Sieg“ als auch im Verhalten untereinander während des bewaffneten Kampfes viel eher stalinistische Züge aufwies. Betrachtete man von der anderen Seite her den Anarchismus seit Michail Bakunin, dann fielen zwar einige terroristische Taten ins Auge, die die Zeitgenossen schockierten und die bis heute in den Geschichtsbüchern stehen. Doch kann kein unvoreingenommener Betrachter mit Blick auf das ganze Phänomen dieser politischen Geistesrichtung zu dem Ergebnis kommen, dass terroristische Gewalt einen bedeutenden Wesenszug des Anarchismus ausmacht oder gar mit diesem identisch ist.

Idee, Geschichte und Perspektiven des Anarchismus hat einer seiner besten Kenner der neueren Zeit, Horst Stowasser, vor zwei Jahren in einem Standardwerk zum Thema, zugleich seinem Lebens-Hauptwerk, auf 500 Seiten erschöpfend dargestellt. (Anarchie! Hamburg: Edition Nautilus / Verlag Lutz Schulenburg, 2007.) Wer in unseren langweilig perspektivlosen Zeiten, in denen selbst Träume nur noch gegen Eintrittsgeld zu haben sind, eine Ahnung von den Lüsten des politischen Utopismus gewinnen will, dem sei dieses Buch wärmstens ans Herz gelegt. Eine kleine Kritik kann ich mir nicht verkneifen: dass die Gewaltfrage, die doch auch den Anarchismus lange beschäftigt hat, bei Stowasser nahezu völlig ausgeklammert wird. Als ich im Zusammenhang mit meiner Pynchon-Lektüre über das Bombenattentat am Chicagoer Haymarket recherchierte, verwunderte mich, dass dieses Ereignis in Anarchie! überhaupt nicht vorkommt. Das Kapitel über den „Anarchismus und die Bombe“ (S. 315-326) ist leider das schwächste des sonst so leidenschaftlichen und gehaltvollen Buches.

Den Verdiensten des Autors um die theoretische und praktische Wiederbelebung des Anarchismus in unserer Zeit und in diesem Land tut das aber keinen Abbruch. Horst Stowasser ist heute im Alter von nur 58 Jahren in Neustadt an der Weinstraße gestorben.

Pushkids (V)

Tuesday, 01. September 2009

Wenn ich aus der sicheren Distanz mehrerer Wochen und nach dem zwischenzeitlichen Hinaustragen von drei Müllbeuteln auf den Augenblick der Wahrheit zurückschaue, dann vermag ich die verschiedenen Faktoren, die zu meiner (oder unserer?) Entscheidung führten, vermutlich nicht mehr vollständig aufzuzählen, geschweige denn exakt zu gewichten.

Nicht unwesentlich war der optische, akustische, haptische Eindruck, den schließlich ein knallroter 22-Liter-Baseboy auf mich machte. Endlich einmal ein reales Exemplar jener unüberschaubar großen Produktfamilie aus dem Hause Wesco vor mir zu sehen, statt immer bloß Popup-Bildchen aus dem Internet, das war vielleicht kein sonderlich überzeugendes Kaufargument für gerade dieses Exemplar, vermittelte aber doch offenbar einen ausreichend starken Kaufimpuls, um 169 Euro locker zu machen – und dazu noch 3,50 Euro für zwanzig Original-Müllbeutel der Nobelmarke.

Zu diesem dann mich selbst überraschend schnellen Entschluss kam es wohl auch deshalb, weil mir das ergebnislose Hin und Her, das Abwägen von Für und Wider, das wenig zielführende Spekulieren über Eventulaitäten, Risiken, Vor- und Nachteile schließlich ganz furchtbar auf den Wecker ging. Verdammt noch mal, ich war die fliegenumwölkten Provisorien an der Türklinke leid!

Jetzt steht „the brave fireman“, wie ich unseren Wesco mittlerweile getauft habe, brav auf seinem Stammplatz zwischen der Schlachtbank und Lolas Näpfen, sagt kein Wort, klappt per Fußtritt mühelos auf, bedarf zum Zuklappen aber eines leichten Kläpschens mit der Hand, muss nur einmal pro Woche geleert werden und gibt sich auch mit No-Name-Müllbeuteln problemlos zufrieden.

Mit anderen Worten: Dafür, dass wir uns vor seiner Anschaffung so lange geziert haben, erweist sich „the brave fireman“ als ein überaus genügsamer und diensteifriger Mitbewohner.