Archive for August 21st, 2009

Selbstbeschreibung (I)

Friday, 21. August 2009

Heute jährt sich der Tod meines Vaters zum vierzigsten Mal. Ich kann davon nur berichten, was mir durch vielfache mündliche Erzählungen über dieses Ereignis in der Erinnerung haften geblieben ist. Deutlicher gesagt: durch meine vielfach wiederholte Schilderung des Todestags aus meiner Sicht. Denn meine Mutter beschwieg diesen tiefsten Einschnitt in meinem Leben ebenso wie die näheren und ferneren Verwandten und Bekannten, die übrigens nur einen sehr beschränkten Personenkreis ausmachten. Meine Großmutter väterlicherseits brach augenblicklich in Tränen aus, wenn die Sprache auf ihren Hansi kam. Sie hatte nach dem älteren Sohn Kuno im Krieg und ihrem Ehemann durch Asthma und Herzinsuffizienz nun auch noch den dritten und letzten „meiner Männer” verloren.

Ich also bin an diesem sonnigen Sommerferientag des Jahres 1969 mit meinem Cousin Jörg ins Kino gegangen. Wir sahen im Filmstudio am Glückaufhaus eine klamaukige Komödie um ein Wettfliegen aus der Frühzeit der Aviatik. Wann immer mich ein Film begeistert, muss ich ihn jedem erzählen, der mir über den Weg läuft, das war schon damals so und gilt noch heute. Und wann immer sich meine Zuhörer einen solchen Film, durch meine Erzählung animiert, persönlich ansehen, berichten sie nachher prompt von einer herben Enttäuschung. Dann habe ich wohl wieder einmal „ausgeschmückt”, „übertrieben” oder gar die Handlung „völlig verfälscht”, wie meine Gefährtin schmunzelnd anmerkt. „Er kann es einfach nicht lassen.”

Am 20. August des besagten Unglücksjahres kam ich zu meinem größten Bedauern gar nicht dazu, den für meine damaligen Ansprüche wirklich todkomischen Film über die Abenteuer der Fliegerasse meiner Mutter und meiner Tante zu erzählen, die mit merkwürdig verspannten Gesichtern in unserem Wohnzimmer am gläsernen Couchtisch beisammensaßen. Ich weiß noch, dass ich nur schwer meinen Ärger darüber verwand, den beiden Frauen kein noch so müdes Lachen entlocken zu können. Es war das letzte Mal, dass ich mit dem Geborgenheitsgefühl eines Sohnes einschlief, der den Schutz eines Vaters genießt.

Die Teilnahme an der Beisetzung der Urne wollte unsere Mutter uns ersparen. Das war lieb gemeint, hatte aber für mich fatale Folgen. Ich, der Vielredner, verstummte von da an allsogleich, wann immer die Sprache auf meinen Vater kam. Dieses eisige Schweigen spürte nahezu jeder, der arglos meinen wunden Punkt getroffen hatte, und wechselte ohne Verzug das Thema.

So war die plötzliche Abwesenheit meines Vaters, sein spurloses Verschwinden von einem Tag auf den anderen, für mein Empfinden eher einem Taschenspielertrick zu verdanken denn einem Trauerfall. Zwei Wochen zuvor hatte er sich noch mit uns am Nordseestrand im Sand gewälzt und war voller Zuversicht auf eine lange, friedvolle und genussreiche Zukunft gewesen. In diesem Sommer vor vierzig Jahren erreichten die menschlichen Ausdrucksformen Fest, Verbrechen und Abenteuer durch Woodstock, die Manson-Morde und die Mondlandung unerreichte Steigerungsformen. Alle drei Ereignisse hat mein damals dreiundvierzig Jahre alter Vater gerade noch miterlebt. Damit würde ich ihn trösten, wenn er sich über die Kürze seines Lebens beklagte.

Kastanie aus Feuer

Friday, 21. August 2009

Zusammenstellungen von Zitaten nach gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Kriterien haben mich immer schon angezogen. Sammlungen letzter Worte berühmter Sterbender besitze ich gleich drei und habe hierüber andernorts vor Jahr und Tag auch einmal gebloggt. Als ich neulich den größten Teil meiner Bibliothek auslagern musste, da blieb etwa die beeindruckend reichhaltige Zitatensammlung Geld von Robert W. Kent und Lothar Schmidt von der Zwangsausbürgerung verschont (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1990).

Ein ungleich bescheidener auftretendes, dennoch nicht genug zu lobendes Sammelsurium bitterböser Zitate bietet das Büchlein Dichter beschimpfen Dichter, das ich aus gegebenem, aber zu verschweigendem Anlass heute wieder einmal zur Hand nahm. Wir verdanken es dem jüngst verstorbenen Jörg Drews und seinen ungenannten „Freunden in Berlin und Pisa, in Zürich und in Hille, in Paris und in Scheeßel, in Jerusalem und in Bielefeld, vor allem aber Sabine Kyora”. (Dichter beschimpfen Dichter II. Ein zweites Alphabet harter Urteile. Zusammengeststellt u. m. e. Nachwort beschlossen v. Jörg Drews & Co. Zürich: Haffmans Verlag, 1992, S. 137.)

Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich mit dem Buch, dessen knapp 140 Seiten im Kleinoktav-Format viel zu schnell weggelesen sind, bloß den zweiten Teil einer Folge besitze. Ich finde darin zwar allerlei hässliche Invektiven gegen die großen und kleineren Geister der Weltliteratur, in alphabetischer Reihenfolge von Aeschylos bis Zola. Aber mancher, den ich gerade heute gern beschimpft sähe oder als Schimpfenden hörte – Knut Hamsun, Ludwig Hohl, Harald Wieser – fehlt zu meinem Bedauern. Vielleicht muss ich mir den ersten Band von 1990 doch noch zulegen? Aber da sehe ich, dass Drews 2006 zudem eine „vollst. überarb., ergänzte und erw. Neuausg.” bei Zweitausendeins in die Welt geschickt hat …

Reizvoll wäre es vielleicht, die gegenseitigen Invektiven der Damen und Herren Dichter wie eine lückenlose Perlenkette oder einen chronologischen Staffellauf zu arrangieren, von der jüngsten Rempelei eines Bachmann-Preisträgers gegen seinen renommierten Juror bis zurück zu Homer, der dann schließlich auch noch Opfer einer Beschimpfung wird, nämlich durch Voltaire: „Wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling oft verursacht.” (Dichter beschimpfen Dichter II, a. a. O., S. 57.) Bloß fände Homer vermutlich keinen Ahnen mehr, bei dem er sich für die widerfahrene Schmähung schadlos halten könnte.

Etwas aus der Reihe fällt in Drews negativem Pantheon übrigens Walter Kempowski, dem es als einzigem gestattet wird, sich selbst zu beschimpfen: „Ich bin der Sonnyboy der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein hingeschissenes Fragezeichen.” (Ebd., S. 66.) – Wenn ich so vermessen wäre, dem nachzueifern, dann würde ich vielleicht über mich sagen: „Ich bin ein nervöses Hüsteln, das eilige Passanten aus dem brennenden Dornbusch zu vernehmen meinen.”