Unschreibbare Romane (I)

Einer der vielen Romane, die ich immer schon mal schreiben wollte, ist der von dem Junggesellen Mitte dreißig, der in der Herrenabteilung eines großen Bekleidungshauses einer wenig attraktiven Großstadt arbeitet und sich schon längst ums Leben gebracht hätte, wenn er nicht so antriebslos wäre.

Sein einzig starkes Gefühl, seit er sich erinnern kann, ist ein bodenloser Hass gegen seine Mutter, eine inzwischen pensionierte Lehrerin für Mathematik und Musik. Wann immer er in den letzten Jahren mit einem Mädchen oder einer jungen Frau vertraulich wurde, musste er ihr so bald wie möglich von diesem Hass erzählen, in den schrillsten Farben malte er diesen Hass aus, und stets gipfelten seine Tiraden in Mordphantasien von geradezu lodernder und schwärender Bestialität.

Zwar verhielten sich die Herzensdamen dieses bösen Buben im Einzelnen je nach ihrem Temperament und ihrer Tagesform sehr unterschiedlich, doch in einem Punkt gingen sie konform: Mit diesem armen Irren wollten sie keineswegs noch vertrauter werden, als es ihnen nun durch ein offenbares Missgeschick widerfahren war.

Besonders eindrucksvoll an den dramatischen Darbietungen des unglücklichen Anzugverkäufers wären für seine Zuhörerinnen jene kurzen szenischen Einlagen gewesen, bei denen er gewisse gestische Marotten und sprachliche Ticks seiner Mutter gekonnt imitierte – wenn, ja wenn sie denn das zweifelhafte Vergnügen gehabt hätten, die garstige Frau persönlich kennenzulernen. Dann nämlich hätten sie nicht schlecht gestaunt über das imitatorische Genie ihres Verehrers. So aber mussten sie die affektierten Auftritte und hysterischen Ausbrüche, die er ihnen vorspielte, für alberne und maßlose Übertreibungen halten.

Womit niemand und am wenigsten der Sohn gerechnet hätte, das geschieht. Die überaus agile Alte, die seit Menschengedenken nicht einmal über ein Schnüpfchen geklagt hatte, fällt eines lauen Julitages bei ihrer Morgengymnastik plötzlich tot um. Der Sohn ist wie verwandelt, fühlt sich von einer schweren Last befreit, wird am offenen Grab von einem Lachanfall überwältigt etc. pp. Doch dann bemerkt er, zunächst nur als schwache Ahnung, dann als zunehmenden Verdacht, schließlich als böse Gewissheit, eine unwiderstehliche Veränderung seines Verhaltens: Er übernimmt zwanghaft die Ticks und Marotten seiner Mutter. Diesmal aber spielt er sie nicht, sie mischen sich vielmehr ununterscheidbar in sein ganz alltägliches Auftreten. (Bis hierher und nicht weiter. Wie für alle meine unschreibbaren Romane gibt es auch für diesen keinen sinnvollen Schluss.)