Archive for September 16th, 2008

Bloody Print

Tuesday, 16. September 2008

blood

Manch helfende Hände wirken uns zu Diensten im Verborgenen, schemenhaft hinter den Kulissen unseres Alltags oder im Dunkel der Nacht, während wir noch in süßen Träumen schweben, gelegentlich auch uns unter der Last eines Albdrucks im schweißgetränkten Linnen wälzen. So der Bote, der frühmorgendlich die Tageszeitung meiner Wahl durch den Briefkastenschlitz schiebt, irgendwann zwischen halb sechs und halb sieben.

Ich bin, seit Eintreten meiner Andropause, obwohl Spät-zu-Bett-Geher doch ein Frühaufsteher, kurzum: ein „Wenigschläfer“. Diese unterdurchschnittliche Verweildauer in Morpheus’ Armen mag meine Lebenserwartung, nach Jahren gerechnet und statistisch betrachtet, zwar verkürzen. Per saldo gesehen jedoch erreiche ich vermutlich auf diese ungesunde Art die gleiche quicklebendige Wachzeit wie ein Langschläfer und kann die entgangenen Tiefschlafphasen dann ja post mortem nachholen.

Ein eher unbeträchtlicher der vielen Vorteile, die dieser untypische Lebensrhythmus mit sich bringt, ist der, dass ich gelegentlich vom unbekannten Zeitungsboten wenigstens einen akustischen Eindruck empfange. Wenn ich früh genug erwache und er spät genug kommt, vernehme ich deutlich das Klappern des Briefkastendeckels. Heute kam ich verhältnismäßig spät zur Besinnung, so gegen sechs Uhr. Und da mein Haupt durch keine unabweislichen Gedankengänge mehr zum Verweilen auf dem Federpfühl veranlasst ward, erhob ich mich, um nach dem Morgenblatt zu schauen.

Zufällig just in dem Moment, als ich den Kasten von innen öffnete, wurde von außen die Zeitung hereingeschoben. Das Hineinstecken jenseits und das Herausnehmen diesseits verschmolzen, wohl für beide Beteiligten gleichermaßen überraschend, zu einer fließenden Bewegung. Dieser Zufall, nach tausend distanzierteren Zustellungen ein Fall mit hohem Seltenheitswert, war wunderlich genug. Noch wunderlicher speziell für mich war aber, dass ich auf der Frontseite meiner Zeitung eines roten Flecks gewahr wurde, der sich bei näherer Betrachtung als frischer Blutstropfen erwies. [Siehe Titelbild.]

Solche merkwürdigen Flecke hatte es auf der Zeitung früher schon öfter mal gegeben, allerdings konnte ich mir bisher ihre Herkunft, da sie bereits abgetrocknet und nachgedunkelt waren, nicht recht erklären. Woher nun dies? Meine Theorie: Der Zeitungsbote ist Diabetiker, der in regelmäßigen Abständen eine Blutzuckermessung vornehmen muss. Gerade in unserer stillen Straße findet er dazu die passende Gelegenheit. Und wenn er kurz darauf die Zeitung falzt, damit sie durch den Briefkastenschlitz passt, hinterlässt er besagte Spur. Wüsste ich nicht aus nahezu unmittelbarer Erfahrung, welches Päckchen die von dieser scheußlichen Krankheit Betroffenen zu tragen haben, ich würde mich vermutlich als zahlender Abonnent bei der Telefonhotline meiner Tageszeitung beschweren. So aber lege ich meine schützende über diese helfende Hand – und schweige.

The Bomb

Tuesday, 16. September 2008

harris

Ich lese gerade einen Roman des Iren Frank Harris: Die Bombe. Das Buch erschien im Original zuerst 1908 in London. Der Ich-Erzähler, ein Rudolf Schnaubelt aus Lindau bei München, stellt sich gleich eingangs als jener Mann vor, der am 4. Mai 1886 am Haymarket in Chicago bei einer sozialistischen Kundgebung die Bombe warf, die „acht Polizisten getötet und sechzig verwundet hat. Jetzt liege ich hier in Reichholz in Bayern unter falschem Namen, todkrank an Schwindsucht und habe endlich den Frieden gefunden.“ (Frank Harris: Die Bombe. A. d. Engl. v. Antonina Vallentin. Berlin: E. Laubsche Verlagsbuchhandlung, 1927, S. 9.)

Tatsächlich war Rudolph Schnaubelt (1863-1901) einer der vielen Tatverdächtigen, die für das nie aufgeklärte Verbrechen verantwortlich gemacht wurden. Dank Harris’ Roman stand er sogar zeitweise ganz oben auf der Liste – und in der Wikipedia steht er dort noch immer, obwohl Zeitgenossen, die Schnaubelt persönlich gekannt hatten, energisch widersprachen. Auch die anarchistische Freiheitskämpferin Lucy Parsons (~1853-1942), Witwe eines der „Haymarket Eight“, hatte keine hohe Meinung von The Bomb, das 1909 auch in den USA erschienen war: “A lie from cover to cover!” (Brief v. 17. Januar 1933 an Carl Nold; zit. nach Henry David: The History of the Haymarket Affair. New York: Farrar & Rinehart, 1936.)

Der Roman hat aber noch ganz andere Schwächen. Frank Harris gibt darin dem Leser einen Vorgeschmack zu kosten auf jene unfreiwillig komischen Schilderungen seiner zahllosen Liebschaften, die den schwächsten Teil seiner fünfbändigen Autobiographie My Life an Loves (1922-1927) ausmachen. Die Liebesaffäre zwischen Schnaubelt und der Stenotypistin Elsie Lehmann trägt zum Thema des Romans, der „Haymarket Affair“, kaum etwas bei. Vielleicht hat der Autor sie eingestreut, um auch bei seiner weiblichen Leserschaft Anklang zu finden?

Eine Kostprobe kann ich mir nicht verkneifen: „Meine Leidenschaft war voller Zwischenfälle, schien mir immer neu und überraschend. Das erstemal, als ich ihren Nacken küßte (der Gedanke daran treibt mir noch heute das Blut ins Gesicht), bildete eine neue Epoche in meinem Leben, jede Umarmung war ein Rausch […]. Ich war von einer unsinnigen Neugier nach ihrem Körper gequält. Ihre Hände waren so schmal und schön; ich wollte ihre Füße sehen und fand sie zu meinem Entzücken ebenfalls schmal und gewölbt mit zarten Fesseln. Aber sie stieß mich zurück.“ (Harris, a. a. O., S. 127.)

Durchaus heute noch lesenswert hingegen sind die Schilderungen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Senkkammern beim Bau der Brooklyn Bridge in New York (Ebd., S. 33-40) und in den Chicagoer Streichholzfabriken (S. 106 f.) sowie über die katastrophalen hygienischen Zustände in den Schlachthöfen (S. 146-148), die zuvor schon Upton Sinclair in seinem großen Roman The Jungle (1906) zum Thema gemacht hatte. – Ich habe das Buch erst zur guten Hälfte gelesen und will immerhin wissen, wie es ausgeht. Vielleicht folgt dann noch eine abschließende Bewertung.