Ist’s der Fall?

humpop

Demnächst, sehr bald klappen wieder einmal die letzten acht Ziffern der Weltbevölkerungsuhr von 9 auf 0 um, aus der 7 auf Platz zwei wird eine 8 und wir zählen dann 6,8 Milliarden Menschen hienieden. Ähnlich rasant läuft die Uhr der Staatsverschuldung in den USA oder in Deutschland. Solche ratternden Zählwerke versuchen, Entwicklungen fühlbar zu machen, die als statische Ziffernfolgen gänzlich unbegreifbar bleiben. Ehrlicher ist es übrigens, wenn die aktuelle Bevölkerungszahl als Differenz zwischen Geburten und Todesfällen dargestellt wird, wie zum Beispiel hier. Da gibt es dann ein noch schneller laufendes Zählwerk für die durch Geburten zum Bestand hinzukommenden Menschen, ein deutlich langsameres Zählwerk der durch Tod fortfallenden Menschen und schließlich die hieraus sich errechnende aktuelle Bestandszahl, so wie sie jetzt in der schlichteren Animation gezeigt wird.

Dennoch fehlt eine Zahl. – Zwischen Juni 1988 und November 1995 plauderten Alexander Kluge und Heiner Müller vor laufender Kamera über das Allgemeinste und das Privateste, sie kamen dabei von Hölzchen auf Stöckchen, von der Fernbedienung in der Hand von Müllers Töchterchen im Handumdrehen zur Apokalypse. In einem dieser Gespräche, Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll, stellt Kluge fest, „dass die Summe der Toten und dieses Lager der Lebendigen konstant bleiben über lange Perioden. Und würde je das Lager der Lebendigen das Lager der Toten an Zahlen übertrumpfen …“ – Müller: „Und das ist jetzt der Fall!“ – Kluge: „… dann habe ich Armageddon.“ – Müller: „Dann wird’s gefährlich.“ – Kluge: „Dann ist die Katastrophe.“ – Müller: „Ja, ich glaube schon.“ – Kluge: „Weil gewissermaßen der Rat, das Gewicht der Toten gibt sozusagen die Plätze … befestigt, verankert die Plätze der Lebenden.“ – Müller: „Ja, ja.“ Es fehlt die Zahl der Toten seit der Entstehung von Homo sapiens, seit der Vertreibung aus dem Garten Eden: die Zahl der Gräber auf dem Friedhof aller Zeiten seit Menschengedenken.

Heiner Müller meinte also, der Zeitpunkt sei gekommen, da aktuell mehr Menschen quicklebendig auf der Welt herumlaufen als mausetot unter der Erde liegen; somit stehe der Weltuntergang unmittelbar bevor, wenn man der antiken Prophezeiung glauben wolle. Dies ist offenkundiger Nonsens. Vielmehr haben Berechnungen ergeben, dass die Zahl aller auf unserem Globus jemals geborenen Menschen seit 50.000 v. Chr. schätzungsweise 110 Milliarden beträgt. Der Anteil der jetzt lebenden von allen je geborenen Menschen beträgt also nur etwa 6,2 Prozent. Müller ist vermutlich einer Mitte der 1970er-Jahre verbreiteten Falschmeldung aufgesessen, welche besagte, dass damals 75 Prozent aller je geborenen Menschen auf der Welt lebten. Eine wohl unbestreitbare Tatsache ist vielmehr, dass der kritische Punkt einer Übereinstimmung beider Zahlen niemals erreicht werden kann.

Nun muss ja ein moderner Dramatiker kein Fachmann für Globaldemografie sein. Auch wollen wir dem offenbar schwerstabhängigen Zigarrenqualmer nicht verübeln, wenn er im Nebel seiner Havanna keinen ganz klaren Blick mehr auf die Tatsachen hat. Und dann ist hier noch die bekannte Neigung mancher Hirntiere in Rechnung zu stellen, in der Agonie zu Hiobsbotschaft und Kassandrageschrei ihre Zuflucht zu nehmen vor der offenbar unerträglichen Vorstellung, die Welt könne auch ohne sie weiter ihre Bahnen ziehen. Aber wenn ich einmal über eine solche krasse Verkennung der Tatsachen gestolpert bin, dann ist mein Misstrauen geweckt und ich lasse mich nicht mehr so leicht vom bloßen großen Namen ins Bockshorn jagen.

Was ich jedoch Heiner Müller weit weniger verzeihen kann als seine naive Weltuntergangs-Prognose aus dem Kaffeesatz der Orestie, das ist die Kindesmisshandlung, die er zu Beginn des gleichen Gesprächs schildert: „Es ist zum Beispiel eine Frage, was passiert mit Kindern, die die Welt primär kennenlernen durch Abbildung, Fernsehen. Meine Tochter ist vierzehn Monate alt, die steht schon mit dem Gerät [der Fernbedienung] da vor dem Fernseher und kann das bedienen. Sie weiß nicht genau wie, aber irgendwas schafft sie immer. […] Und sie drückt dann auf den Knopf, und dann ist was anderes da auf dem Bildschirm, das hat sie schon verstanden. Aber sie lernt die Welt, die Außenwelt, wesentlich kennen über den Bildschirm. Was heißt das, was passiert da, wenn die Kinder die virtuelle Realität kennenlernen vor der sogenannten wirklichen? Gibt’s dann überhaupt noch einen Unterschied? Und was heißt das, wenn diese Unterschiede verschwinden?“ – Das ist eine Apokalypse im Kleinen.