Hillebille

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Ich weiß ja, dass ich gegen ein journalistisches Tabu verstoße, wenn ich aus unschuldigen, aber vielsagenden Personennamen Profit für meine polemischen Attacken schlage. Das Argument gegen solch billige Häme lautet, für seinen Namen könne ja keiner was. Prinzipiell halte ich mich auch an dieses Gebot und würde zum Beispiel niemals der Versuchung erliegen, auf Ludwig Hohl das lateinische Sprichwort nomen est omen zu münzen. Aber gelegentlich, sehr selten gestatte ich mir eine solche Namendeutung dann doch einmal und legitimiere mich hierzu mit dem Hinweis, dass die Bezüge zwischen dem Namen und der Person nicht offenkundig waren, sondern erst mit viel Phantasie und noch mehr Spürsinn ans Licht gebracht werden mussten. – „Eine Hillebille,“ so weiß die deutschsprachige Wikipedia, „ist ein Schlagbrett aus Hartholz, welches […] als primitives Signalgerät diente, wahrscheinlich aber auch als Rhythmusinstrument verwendet wurde. Sie wurde freischwebend an einem Lederriemen aufgehängt und man brachte sie durch Schlagen mit einem Klöppel zum Tönen. Auf diese Weise konnten Nachrichten von Ort zu Ort übertragen werden.“ Und ein schlauer Wanderfuchs klärt mich auf: „Bis in das 20. Jahrhundert diente die Hillebille den Holzfällern und Köhlern im Harz als Alarminstrument und zum Übermitteln von Nachrichten.“

Der studierte Politologe, Soziologe, Historiker, Philosoph und Islamwissenschaftler Sven (nicht Jens, wie die Zeitung fälschlich schreibt) Hillenkamp (*1971), ehemaliger ZEIT-Redakteur und jetzt als freier Autor in Berlin und Stockholm lebend, beschreibt in der heutigen SZ die Befindlichkeit des freien Menschen in der freien Welt und in einer Gegenwart der unbegrenzten Möglichkeiten. Seine Pointe liegt auf der Hand, jede andere wäre ja auch langweilig und unverkäuflich: Nie waren wir so unfrei wie heute, unter diesen paradoxerweise doch grenzenlos freizügigen Bedingungen. (Sven Hillenkamp: Müde geworden vor der Zeit; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 43 v. 22. Februar 2009, S. 9.) Beim Lesen dieses Zweispalters auf der ersten Feuilletonseite stellte sich bei mir der typische Feuerwerk-Effekt ein: viele bunte Lichter, mancher laute Knall – und im Hintergrund ein dumpfes Donnergrollen. Mich stört an solchen Einlassungen zum Zeitgeist regelmäßig, dass sie ihren Bezugsrahmen und ihre Adressaten nicht klar benennen. Wo genau sollen wir jenen „freien Menschen“ ausmachen, über den Hillenkamp so viel zu wissen vorgibt und mitteilen zu müssen meint? In den Industrieländern der Ersten Welt? Und dort dann in der tonangebenden upper class? Vielleicht können wir es uns mit der Ortung leichter machen und die Zielgruppe eingrenzen, indem wir sie als die kleine aber feine Minderheit der SZ-Leserschaft hierzulande identifizieren, die kaum ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmacht. (Vielleicht würde der große Rest, erhielte er Kenntnis von Hillenkamps Zeitgeistdiagnosen, müde lächelnd zur tristen Tagesarbeit zurückkehren, so er denn noch eine hat, mit dem lakonischen Kommentar: „Eure Sorgen möchte ich haben.“)

Hillenkamp, der im vergangenen Jahr bereits den Tod der Liebe verkündet hat, und zwar gleich in Buchstärke, knöpft sich also jetzt die Freiheit vor, von der ja aufgewecktere Geister gerade in den letzten Dekaden immer nachdrücklicher behaupten, dass es sie nie gegeben habe. Der vielgebildete Alarmist mit seinem primitiven Signalgerät weiß nichts von diesen Bedenken und kommt mir vor wie der Rufer in der Wüste mit der Botschaft, dass der Wald brenne. Hillenkamp schreibt: „Einst war alles Prestige ans Sein geknüpft: den Adel, die edle Herkunft. Dann ans Haben, den Besitz. Jetzt ist es ans Tun gebunden: die außerordentliche Leistung, das künstlerische Werk sowie – die jüngste Entwicklung – ans Leiden.“ Die jüngste Entwicklung? Gab es da nicht vor gut zwei Jahrtausenden eine Erscheinung, bei der sich das Prestige in besonderem Maße eben ans Leiden knüpfte, an einen qualvollen Tod am Kreuz nämlich? Und die mit ihrem Vorbild durch viele Jahrhunderte eine zahllose Gefolgschaft mobilisierte, Märtyrer für den Glauben, die durch ihr schmerzvolles Opfer ebenfalls Prestige im höchsten Maße erlangten? „Alle Zusammenhänge,“ so Hillenkamp, „in die der Mensch sich begeben kann, drohen permanent mit Kündigung. Aus dem Unternehmen, dem Team, der Kunstgalerie, der Mannschaft, der Liebesbeziehung kann das Individuum jederzeit entlassen werden.“ Auch diese Risiken bestehen schon seit einer guten Weile, nämlich seit der Abschaffung der Sklaverei und der Einführung der bürgerlichen Ehe samt Scheidungsrecht. Dass die Freiheit nur um den Preis geringerer Sicherheit erhältlich ist, das dürfte doch wohl eine angestaubte Binsenwahrheit sein, die zu finden es keiner akademischen Ausbildung bedarf.

Besonders am Herzen liegt dem studierten Kritiker des Zeitalters der unendlichen Freiheit „der junge Mensch“, der in diesem Zwangsvakuum nicht weiß, was er werden soll. Er schämt sich, „in seiner Zukunft nichts zu sein. Seine Angst ist unerträglich. Er lebt auf das Nichts hin, ist bereits das Nichts. Jeden jungen Menschen trifft heute dieser Schock – und er hält ihn fest, bis es keine Zukunft mehr gibt.“ Hier bleibt offen, ob Hillenkamp, traurig genug, die individuelle Zukunft des jungen Menschen meint – oder unser aller Zukunft, gar die Zukunft des Sonnensystems? Zuzutrauen wäre es ihm, schreckt er ja auch sonst nicht vor Absolutsetzungen und Superlativen zurück.

Bevor nun auch meine Angst unerträglich wird, nämlich davor, dass solcherart „Apokalyptik aus dem Kaffeesatz“ Schule macht, wende ich mich lieber ab und danke artig, dass mich diese Kostproben hinreichend gewarnt haben vor des Autors Schmöker über den Tod der Liebe. Da lese ich lieber noch mal Günther Anders’ Notizen zur Geschichte des Fühlens, Lieben gestern. Dieses Büchlein hat nun auch bald schon wieder ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel, dürfte aber selbst beim zweiten Lesen noch auf jeder Seite mehr Erkenntnisgewinn erzeugen als ein ganzes Billyregal voller brandaktueller Zeitseelenausdeutungen via Hillebille.