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Wer ist dran?

Tuesday, 23. February 2010

marktstaende

Gestern Vormittag vorm Backwarenstand. Ich stehe links, in der Mitte eine ältere Dame, die sich gerade eine sehr spezielle Auswahl von Teilchen zusammenstellen lässt. Ich spüre, dass ich ungeduldig werde, nicht weil ich in Eile bin, sondern einfach vom Zuhören: „Und dann bitte noch zwei Quarktaschen. Oder nein, geben sie mir doch besser drei! Aber nicht die zerdrückte, lieber die links daneben. Nein, von mir aus gesehen links.“ Und so weiter in der Manier einer einsamen Frau, die für den Rest des jungen Tages keinen Gesprächspartner mehr findet. Dass die Backwaren seit heute vor dem Supermarkt verkauft werden, hat seinen Grund offensichtlich darin, dass der Verkaufsstand im Geschäft komplett neu aufgestellt wird. Handwerker tragen die Einzelteile des alten Standes hinaus und werfen sie krachend in einen Container. Im Hintergrund schrillt eine Säge. Zudem liegt ein feiner Nieselregen in der Luft. Jede dieser kleinen Unannehmlichkeiten ist, für sich genommen, gewiss keine Katastrophe, alle zusammen aber lassen es nicht unbedingt als wünschenswert erscheinen, vor diesem Backwarenstand Wurzeln zu schlagen. „Momentchen,“ höre ich die ältere Dame sagen, „das müsste ich passend haben.“ Dann lässt sie mit ungelenken Fingern neun Euro und 78 Cent auf den Zahlteller klappern, gestückelt in 19 einzelne Münzen. Ein Zwei-Cent-Stück fällt zu Boden, ich bin ganz Kavalier und klaube es aus dem Matsch. Misstrauisch nimmt sie es entgegen, als hätte sie befürchtet, ich könnte mich damit aus dem Staub machen. Gleichzeitig höre ich die Brotverkäuferin sagen: „Es sind aber Neuneuroneunundsiebzig! Hätten Sie vielleicht noch einen Cent für mich?“ Sofort greife ich nach meiner Geldbörse, damit dieses grausame Spiel endlich ein Ende hat. Aber ich muss feststellen, dass sich in meinem Münzfach nur ein einziges Zwei-Euro-Stück befindet. Auch die ältere Dame hat bei der Suche in ihrem Portemonnaie und in den Taschen ihres Mantels offenbar keinen Erfolg. Da kommt ihr ein älterer Herr zu Hilfe, den ich jetzt erst bemerke. Er hatte wohl zuvor auf der, von uns aus gesehen, rechten Seite des Backwarenstandes gewartet. „Sie erlauben, dass ich ihnen diesen Glückscent zum Geschenk mache?“

Die überschwängliche Begeisterung, mit der die ältere Dame dieses Präsent von ihrem Altersgefährten entgegennahm, gab mir einen kleinen Stich. Zugleich beschäftigte mich die Frage, ob dieser spendable Kavalier bereits um Backwaren angestanden hatte, als ich hinzukam; oder ob er erst nach mir an der Reihe war. Möglicherweise hatte die zwischen uns stehende Teilchenkäuferin mir den Blick auf ihn verstellt. Vor dieser provisorischen Verkaufsstelle hatte sich in der Kürze der Zeit noch keine Gewohnheitsregel etablieren können, ob sich die Warteschlange nun nach rechts oder links zu bilden hätte. Ich kam aus Richtung der Bushaltestelle und stand darum links. Dass der ältere Herr hingegen rechts stand, konnte vielleicht darauf hindeuten, dass er mit dem Auto unterwegs war, denn rechts vom Standort, eben von diesem soeben erst aufgebauten Backwarenstand, befindet sich der Parkplatz des Supermarkts, der ungefähr die gleiche Fläche in Anspruch nimmt wie der Supermarkt selbst.

Bevor ich diese Erwägungen zu einem für mich eindeutigen Ergebnis hätte führen können, hatte die Backwarenverkäuferin gegen mich entschieden, indem sie sich dem älteren Herrn zuwandte: „Und was darf’s denn für Sie sein?“

Bevor er antwortete, schaute er kurz zu mir herüber, wie mir schien aber nicht mit einem fragenden, sondern eher mit einem triumphierenden Blick. Es war einer dieser Augenblicke, in denen eine kleine Ewigkeit Platz findet und die sich uns einbrennen, als läge in ihnen eine Weisheit verborgen, die weit über die in Sekunden oder in Jahren messbare Zeit hinausreicht. Er sah mich nicht so an, als wollte er sich vergewissern, ob er wirklich vor mir an der Reihe sei; und noch nicht einmal so, als wollte er prüfen, ob ich mich mit diesem Verlauf der Ereignisse abfinden würde, obwohl ich vielleicht davon ausginge, dass die Reihe eigentlich an mir sei. Er schaute vielmehr drein, als wollte er sagen: ,Pass mal auf, Du Trottel. Ich weiß zwar besser als Du selbst, dass ich nach Dir gekommen bin. Aber Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich die Gunst des Augenblicks verstreichen lasse, in dem mich die Verkäuferin zuerst angesprochen hat.‘ Und ehe ich mich’s versah, hatte er schon das Wort ergriffen. „Ich hätte gern … ich wollte eigentlich … aber ich hörte ja gerade … dass ihre Brotschneide-Maschine ja leider … wegen dem Umbau, tja … sehr ärgerlich.“ An Stelle der drei Pünktchen muss man sich jeweils eine so lange Pause vorstellen, wie man in einer solchen Situation eben noch für möglich hält. Offenbar litt die Backwarenverkäuferin genauso wie ich, denn nachdem sie kurz „Jasoisses“ gesagt hatte und darauf seitens des älteren Herrn erst einmal gar nichts mehr kam, wandte sie sich sichtbar erleichtert mir zu: „Und bei Ihnen?“ Wie aus der Pistole geschossen stieß ich hervor: „Nur drei Brötchen. Ich hab’s auch passend.“ Und sie steckte meine drei Brötchen schon in die Tüte, als der ältere Herr, ich ahnte es ja, seiner Entrüstung Ausdruck verlieh: „Das glaube ich jetzt nicht! Wieso sind Sie denn jetzt dran. Ich war doch noch längst nicht fertig.“ – „Und deshalb sind ja auch schon wieder dran. Ich wusste, was ich wollte und hab’s auch schon.“ Hier schwenkte ich mit der Linken die Brötchentüte und legte mit der Rechten abgezählte 81 Cent auf den Teller. Und nach einem verständnisinnigen Blickwechsel mit der Verkäuferin fügte ich hinzu: „Ich dachte, wir nutzen die Zeit, bis sie mit Ihren Überlegungen zu Rande gekommen sind.“ – „Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Meinen Sie etwa, weil ich auf meine alten Tage nicht mehr ganz so schnell bin, können Sie sich hier alles erlauben? Entschuldigung, dass ich noch lebe!“ – „Aber keine Ursache. Das stört mich nur mäßig.“ Und weg war ich.

Bin ich nun hiermit zu weit gegangen? Hätte ich dem Motto folgen sollen, das da heißt: Der Klügere gibt nach? Hätte ich bis zum fernen Ende weiter mit Engelsgeduld die schikanöse Slowmotion-Darbietung dieses offenbar unter Langeweile leidenden Rentners auf der Suche nach Streit ertragen müssen? Nun weiß ich nicht, was Dr. Dr. Rainer Erlinger im SZ-Magazin auf diese Gewissensfrage antworten würde. Ich werde ihn allerdings auch nicht fragen. Ich bin nämlich nach diesem kleinen Zwischenfall völlig im Reinen mit meinem Gewissen. So einer bin ich!