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Not leidend

Wednesday, 21. January 2009

Schon von Weitem sehe ich, dass mit meiner Bank etwas nicht stimmen kann. Vor dem monumentalen Gebäude im Palazzo-Stil erhebt sich ein Baugerüst. Arbeiter in blauen Overalls sind damit beschäftigt, die Fassadenverkleidung aus weißem Carrara-Marmor abzuschälen und auf einen Lastwagen zu verladen. Auf meine Frage, was das denn zu bedeuten habe, erwidert ein breit grinsender Türke mit einem $$-Tattoo auf dem rechten Handrücken: „Das wird jetzt zu Geld gemacht.”

Beim Betreten der Schalterhalle trifft mich fast der Schlag. Dort, wo noch gestern imposante Kristalllüster hingen und diese Kathedrale des Geldverkehrs in gleißendem Licht erstrahlen ließen, baumeln nun nur noch ein paar vereinzelte Energiesparleuchten von der Decke herab, in deren zwielichtigem Schein sich mir ein Bild des Jammers darbietet. Unwillkürlich muss ich an die Kirche in Soylent Green denken, wo Lincoln Kilpatrick als farbiger Priester den Mühseligen und Beladenen im New York des Jahres 2022 eine dürftige Bleibe geschaffen hat [s. Titelbild]. Überall verstellen Notbetten den Weg zu den Kassenschaltern, bedecken Luftmatratzen und Schlafsäcke das bis vorgestern noch stets spiegelblank polierte Parkett, auf dem jetzt stöhnende, sabbernde, wimmernde Elendsgestalten sich zur letzten Ruhe gebettet haben. Etliche dieser traurigen Kreaturen strecken ihre flehenden Hände nach mir aus, betteln mich um ein paar Cent an, während ich mir mühsam einen Weg zu jenem „Infopoint” erkämpfe, an dem ich in den letzten dreißig Jahren Terminabsprachen mit den Sachbearbeitern der oberen Etagen vereinbarte.

„Was ist denn hier los?” Meine Frage, die ich an „Miss Moneypenny” gerichtet habe – ich nenne die dienstälteste Beschäftigte des Kreditinstituts meiner Wahl insgeheim schon seit Urzeiten so, weil sie tatsächlich verblüffende Ähnlichkeit mit Lois Maxwell in den frühen James-Bond-Filmen hat -, meine entsetzte Frage trifft auf völliges Unverständnis. „Aber haben Sie es denn noch nicht mitbekommen, Herr H.? Wir sind durch die Finanzkrise völlig verarmt. Die komplette Belegschaft musste entlassen werden. Ich bin die Letzte, die hier noch die Stellung hält, um unsere treuen Kunden zu ver-, äh, zu trösten. Wir mussten auf Anordnung der Stadtverwaltung unsere Räumlichkeiten zum Notasyl für Obdachlose umrüsten.” Flüsternd fügt sie hinzu: „Einige meiner ehemaligen Kollegen liegen auch auf den Pritschen.” Und mit nahezu ersterbender Stimme: „Dort hinten, der alte Mann mit dem hässlichen Hungerödem neben der Nase, das ist der ehemalige Vorstandschef der Bank. Und dabei hatte er doch immer so einen guten Riecher!” Verschämt stecke ich Moneypenny einen Zehn-Euro-Schein zu, den sie augenblicklich im Ärmel ihrer nicht mehr ganz sauberen Bluse verschwinden lässt: „Ich schäme mich so! Das ist alles soo furchtbar – sooo erbärmlich!” – Dicke Tränen perlen auf dunkle Augenringe …

Nachdem ich eben aus diesem Albtraum an meinen bescheidenen Schreibtisch zurückgekehrt bin, lese ich mit Verwunderung, dass die Jury der Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres das Wort von den „Not leidenden Banken” zum „Unwort des Jahres 2008″ gekürt hat. Unworte, so hatte ich bisher angenommen, seien solche sprachlichen Neubildungen, die in einem krassen, geradezu zynischen Widerspruch zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Tatsachen in Deutschland stehen. Der durch diese verfehlte Jury-Entscheidung inkriminierte Begriff beschreibt aber doch die aktuelle Situation sehr zutreffend, wovon ich mich durch persönliche Inaugenscheinnahme soeben überzeugen musste.

Geld ist ja eigentlich nicht meine Welt. Und so war mein Hauptmotiv, warum ich mich hier zu diesem für mich nahezu bedeutungslosen Thema zu Wort gemeldet habe, ein ganz anderes. Ist es denn etwa nicht erschreckend, dass mittlerweile selbst die publicityträchtige Bekanntgabe eines solchen „Unworts”, auf der breiten Front der offenbar Ahnungslosen, in der zwar nicht falschen, aber doch veralteten Schreibweise „notleidende Banken” erfolgt? Wo doch der aktuelle Duden (24. Auflage, S. 735) seit 2006 ausdrücklich „Not leidend”, in getrennter Schreibung, als bevorzugte Variante empfiehlt? – Meine Sorgen möchte ich haben.