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Dreidel

Thursday, 01. January 2009

Als ich in den Zeitungen las, dass die Israelis ihre Militäroffensive gegen die Hamas im Gazastreifen „Gegossenes Blei” genannt haben, da dachte ich zunächst an den uralten Sylvesterbrauch des Bleigießens. Dabei wird bekanntlich Blei auf einem Löffel erhitzt und dann flüssig in kaltes Wasser geschüttet, sodass es zu einer vom Zufall oder vom Schicksal betimmten Form erstarrt. Die Gestalt dieses Bleiklümpchens wird anschließend gedeutet. Sieht es etwa aus wie ein Dolch? Dann bedeutet das: „Du wirst siegreich sein.” Oder erinnert es eher an eine Pfeife? „Achtung! Gefahr zieht auf.”

Ich wollte es aber genauer wissen und habe darum ein wenig recherchiert. Es verhält sich anders als von mir vermutet. Der Name der Offensive bezieht sich nicht aufs Bleigießen, sondern auf eine Verszeile des israelischen Nationaldichters Hayyim Nahman Bialik (1873-1934) aus seinem Gedicht Für Chanukka, in dem sich ein Kind über die vier Geschenke freut, die es der Tradition gemäß zum jüdischen Lichterfest erhalten hat. Der Vater zündete ihm die Kerzen (am neunarmigen Chanukka-Leuchter) an, der Schamasch (die “Dienerkerze”, mit der die übrigen acht Kerzen entzündet werden) leuchtete wie eine Fackel; die Mutter buk ihm Pfannkuchen, heiß und süß und mit Zucker bestreut; der Onkel schenkte ihm einen alten Penny; und der Lehrer hatte einen großen, allerfeinsten Dreidel für das Kind gekauft, aus gediegenem (gegossenem) Blei.

Ein Dreidel [siehe Titelbild] ist ein Kreisel mit vier Seiten, auf denen die vier hebräischen Buchstaben נ (Nun), ג (Gimel), ה (He), ש (Schin) zu lesen sind. Sie stehen für die Worte Nes gadol haja scham, die soviel bedeuten wie „Ein großes Wunder ist dort geschehen.” Dies bezieht sich auf den Sieg der gläubigen Juden im Makkabäeraufstand (164 v. Chr.) über makedonische Syrer und hellenisierte Juden und die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem. Das Dreidelspiel der jüdischen Kinder zu Chanukka ist aber wesentlich jüngeren Ursprungs und stammt ursprünglich aus Deutschland. Je nachdem, welchen der vier Buchstaben der kleine Kreisel zeigt, wenn er umgefallen ist, gewinnt der Spieler nichts, den ganzen oder halben Einsatz im Pott, oder er muss zwei Stücke, meist Süßigkeiten, hineintun. Wer das nicht kann, fliegt raus.

Chanukka ist ein bewegliches Fest und dauert acht Tage. In diesem Jahr begann es am Vorabend des 22. Dezember. Vielleicht gehörte es zur Strategie des israelischen Militärs, dass das Ende der Feierlichkeiten nicht abgewartet wurde, um den Feind zu überraschen – jedenfalls begann die Offensive bereits am 27. Dezember. Doch auch ein solcher „Tabubruch” folgt ja einer alten Tradition. Sowohl in den beiden „christlichen” Weltkriegen als auch im „islamischen” Krieg zwischen Iran und Irak wurde die gebotene und vom Feind eingehaltene Waffenruhe zu Weihnachten bzw. im Ramadan für Überraschungsangriffe missbraucht.

Der Dreidel kreist, die Bomben fallen. Kein gutes Omen zu Neujahr. Wann fällt der Dreidel auf die Seite? Auf welche Seite wird er fallen? Wir Menschen sind schon sonderbar. (Konrad Döbling)