Heute vor 200 Jahren

keulenaermel

Eine auf den ersten Blick begeisternde, auf den zweiten immerhin noch gut gemeinte Idee ist die Animation von Lesern im Internet durch tageweise Publikation klassischer Texte über einen mehr oder weniger „runden“ Zeitabstand hinweg. So publiziert der auch sonst überaus fleißige Giesbert Damaschke seit dem 10. Juni 2010 tagessynchron über einen Zeitraum von 187 Jahren hinweg die Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens von Johann Peter Eckermann, beginnend mit dem Eintrag Weimar, Dienstag den 10. Juny 1823. Der Nachteil hierbei: Eckermann machte große Pausen, sei es, dass er nicht zu seinem Herrn und Meister vorgelassen wurde, sei es, dass dieser ihn mit anderen Schreibarbeiten auf Trab hielt, sei es, dass Goethe vielleicht auch mal nichts Nennenswertes von sich gab – obwohl: daran kann es nicht gelegen haben, denn wann immer Goethe schwafelte, schrieb es sein getreuer Eckermann dennoch andachtsvoll in seine Kladde. Wie dem auch sei, gegenwärtig warten die Eckermann-Getreuen bereits seit knapp einem Monat auf die nächste Lieferung. Da ich in der glücklichen Lage bin, Besitzer einer der äußerst seltenen Buchausgaben der Gespräche zu sein, kann ich ihre Ungeduld mit dieser präzisen Auskunft dämpfen: Am 27. Januar ist es wieder soweit!

Was die regelmäßige Publikationsweise angeht, ist ein ähnliches Projekt modernen Klassiker-Recyclings wesentlich verlässlicher. Die von Heinrich von Kleist herausgegebenen Berliner Abendblätter erschienen vom 1. Oktober 1810 bis zum 30. März 1811 (täglich außer sonntags). Seit dem 1. Oktober vorigen Jahres stellt nun die Julius-Maximilians-Universität Würzburg alltäglich die auf den Tag genau 200 Jahre alte Ausgabe dieser Zeitung als PDF-Faksimile ins Internet. Allerdings muss man sich zuerst in eine Mailing-Liste eintragen. Per E-Mail wird man dann täglich über die Freischaltung des neuesten „Blattes“ informiert. Die standardisierte Serien-E-Mail der Uni Würzburg enthält allerlei ellenlange Links, bloß der allerletzte ist entscheidend. Wenn man darauf klickt, ist man fast schon am Ziel, jetzt muss man nur noch sein Passwort eingeben – und schon hat man eine stellenweise etwas vermanschte Frakturschrift auf dem Schirm.

Ich habe dieses Unternehmen erst vor zwei Wochen zufällig entdeckt, aber schon in dieser kurzen Zeit hatte ich zwei Aha-Erlebnisse, die die etwas mühselige Prozedur verlohnten und die ich hier für die Ewigkeit dokumentieren will. (Oder doch wenigstens für die nächsten 200 Jahre.)

An Silvester las ich im 77ten Blatte der Kleistschen Zeitung vom 31. December 1810: „Nach Briefen aus der Wallachei ist der Reis-Effendi, der wegen Friedensunterhandlungen daselbst angekommen war, unverrichteter Sache wieder aus dem Russ. Hauptquartier nach Constantinopel zurückgekehrt.“ Anlässlich dieser Meldung wurde mir erstmals klar, dass die Ortsbezeichnung Wallachei keineswegs ein Ulkname für eine unerreichbar ferne Gegend ist, wie ich bislang angenommen hatte, etwa wie das ähnlich komisch klingende Wort Jottwede, (als Abkürzung von „Janz weit draußen“), sondern vielmehr – wie ich dann schnell herausfand – der Name einer historischen Region im Süden des heutigen Rumänien. Sehr erstaunlich war dann aber mein dazu passendes Erlebnis am Neujahrstag. Ich hörte mit halbem Ohr im Deutschlandfunk die Sendung Bücher für junge Leser, in der die Jugendbuch-Bestenliste des Monats Januar vorgestellt wurde. Gleich der erste Titel war Tschick von Wolfgang Herrndorf, eine Art Roadmovie-Story von zwei jugendlichen Abenteurern. Die beiden Lausbuben stehlen ein Auto. „Wohin sollen wir denn fahren?“, fragt Maik. „In die Wallachai!“, antwortet der Russlanddeutsche Tschick. Und Maik? Der ahnt nicht, dass damit kein Phantasieland gemeint ist, sondern ein ganz konkretes Ziel. – Zufall?

Heute lese ich in den Berliner Abendblättern vom 2. Januar 1811 unter „Miscellen“: Zu Montesquieu’s Zeiten waren die Frisuren so hoch, daß es, wie er witzig bemerkt, aussah, als ob die Gesichter in der Mitte der menschlichen Gestalt ständen; bald nachher wurden die Hacken so hoch, daß es aussah, als ob die Füße diesen sonderbaren Platz einnähmen. Auf eine ähnliche Art waren, mit Montesquieu zu reden, vor einer Handvoll Jahren, die Taillen so dünn, daß es aussah, als ob die Frauen gar keine Leiber hätten; jetzt im Gegentheil sind die Arme so dick, daß es aussieht, als ob sie deren drei hätten.“ Bei der letzten der genannten Modetorheiten fielen mir gleich die Keulenärmel ein, die ich anlässlich meiner Pynchon-Lektüre und -Kommentierung hier einmal zu würdigen hatte. Aber da ging es erstens um die Mode der 1890er-Jahre in den USA; und zweitens beschränkte sich die voluminöse Aufplusterung der Ärmel in diesem Falle auf die Schulterpartie. Eine Ärmelmode, auf die die Beschreibung in Kleists Zeitung passen würde, gab es im Biedermeier [s. Titelbild]. Diese Epoche begann aber erst zehn Jahre später: Ab 1820 setzt die Biedermeier-Mode in Europa ein, keineswegs früher. – Wer kennt sich aus und kann diese Unstimmigkeit aufklären?