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Heinrich Funke: Das Testament (V)

Thursday, 23. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (V)

Das zweite Masereel-Bild lässt uns wieder in eine Gaststätte schauen, diesmal in ein Café, wie wir in Spiegelschrift auf der Glastür links hinten lesen können. Wenn wir die beiden Bilder nebeneinanderhalten, dann fällt auf, dass hier trostlose Leere herrscht – während die Trostlosigkeit im vorigen Bild gerade von der Überfüllung herrührte, gerade so, als sollte durch diese Gegenüberstellung deutlich werden: Dem Gast kann es kein Wirt recht machen! Entweder fühlt er sich beengt, oder er leidet unter Vereinsamung. Und natürlich könnte man diese Einsicht vom Gast auf den Menschen ganz allgemein übertragen, der sich auch selten wirklich rundum wohl fühlt in seiner Haut und in seiner Behausung.

Liege ich mit dieser Einschätzung überhaupt richtig? Vielleicht bilde ich mir das Missbehagen der Menschen, die ich in dieser Kneipe und in diesem Café hocken sehe, ja bloß ein. Das ist insofern nicht ganz abwegig, als ich noch nie ein eifriger Kneipenbesucher war und mich in den letzten Jahren schon aus wirtschaftlichen Gründen dort noch rarer gemacht habe. Insofern hätte ich allen Grund, die beiden Bilder mit einem Missbehagen zu betrachten, denn wenn mich die dort gezeigten Orte geselligen Beisammenseins anheimelten, müsste ich ja neidisch werden. Dann wäre meine Empfindung abgründiger Trostlosigkeit, die mich bei der Betrachtung beider Bilder befällt, ein ganz persönlicher Schutzreflex, von dem ich keineswegs eine allgemeingültige Interpretation ableiten dürfte.

Und nun dieser Satz, der wieder wie eine Ermahnung klingt: „Der Finger der auf den Mond zeigt ist nicht der Mond“. Dies könnte allerdings ein Fingerzeig von allgemeinerer Gültigkeit sein, der sich dann ganz grundsätzlich auf unsere Wahrnehmung und insofern auch auf die Betrachtung dieser Linolschnittfolge bezöge. Wir sollen demnach Bild und Text nicht zu eng auffassen und schon gar erst recht dem Zusammenspiel von beidem weitesten Raum lassen.

Ich kenne diese Sentenz nur in einer (allerdings entscheidend) abgewandelten Form: „Wenn der Weise auf den Mond zeigt,“ so heißt es in einem aus dem alten China überlieferten Sprichwort, „sieht der Idiot nur den Finger.“ Hierbei drängte sich mir allerdings immer die Frage auf, warum der vermeintlich Weise denn ein offenbar so untaugliches Mittel einsetzt, wenn er dem Idioten den Mond zeigen will. Ein weiser Lehrer wäre er dann jedenfalls nicht.

Aber auch das will ich gern noch konzedieren, dass es vielleicht Weise geben mag, deren Weisheit dermaßen fern von allen gewöhnlichen Blickrichtungen siedelt, dass auch der gutwilligste Hingucker darüber zum Idioten wird. Nicht selten sah ich aber solche, die beim Anblick des Fingers höchstes Vergnügen empfanden und sich nicht bloß gut unterhalten, sondern auch belehrt fanden. Wollen wir ’s ihnen nicht gönnen? Und was sind wir selbst für arme Tröpfe, wenn wir mit Fingern auf solche zeigen und sie Idioten nennen.