„Es lebte ein Mann, der war ein sehr tätiger Mann und konnte es nicht übers Herz bringen, eine Minute seines wichtigen Lebens ungenützt verstreichen zu lassen.
Wenn er in der Stadt war, so plante er, in welchen Badeort er reisen werde. War er im Badeort, so beschloß er einen Ausflug nach Marienruh, wo man die berühmte Aussicht hat. Saß er dann auf Marienruh, so nahm er den Fahrplan her, um nachzusehen, wie man am schnellsten wieder zurückfahren könnte.
Wenn er im Gasthof einen Hammelbraten verzehrte, studierte er während des Essens die Karte, was man nachher nehmen könne. Und während er den langsamen Wein des Gottes Dionysos hastig hinuntergoß, dachte er, daß bei dieser Hitze ein Glas Bier wohl besser gewesen wäre.
So hat er niemals etwas getan, sondern immer nur ein nächstes vorbereitet. Er war nie einer ganzen und gesunden Minute Herr, und das war gewiß ein merkwürdiger Mann, wie du, lieber Leser, nie einen gesehen hast.
Und als er auf dem Sterbebette lag, wunderte er sich sehr, wie leer und zwecklos doch eigentlich dieses Leben gewissermaßen gewesen sei.”
[Ausnahmsweise in hektischen Zeiten mal „nur” ein Zitat. Das Feuilleton Das Leben von Victor Auburtin (1870-1928) erschien 1911 in der Sammlung Die Onyxschale im Verlag von Albert Langen in München. – In neuerer Zeit hat sich der Berliner Verleger Peter Moses-Krause um die Wiederentdeckung dieses vergessenen Meisters der Kleinen Form verdient gemacht. In seinem Verlag Das Arsenal erscheint seit 1994 eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe Auburtins, mustergültig ediert und in herzerfrischend schöner Ausstattung. Deren zweitem Band, Die Onyxschale und Die goldene Kette sowie andere Kleine Prosa aus dem Simplicissimus bis 1911, entnehme ich (von Seite 149) frecherweise diesen wundersamen Text und auch das Titelbild, in der Hoffnung, den einen oder anderen kennerischen Leser so auf ein verkanntes Genie der Kurzprosa aufmerksam machen zu können.]