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Wilhelms Brief

Wednesday, 17. December 2008

Meine Urgroßmutter Anna Maria Heßling, geb. Kappen (* 16. November 1858 in Niederzissen / Kreis Ahrweiler) soll dem Vernehmen nach eine sehr strenge Frau gewesen sein. Mit meinem Großvater, dem Dentisten Johannes Heinrich Heßling (* 23. März 1894 in Essen), einem ihrer sechs Kinder, zerstritt sie sich heillos. Ihr Sohn Wilhelm galt als verschollen, nachdem er in jungen Jahren bei Nacht und Nebel das elterliche Haus im Streit verlassen hatte und nie mehr gesehen ward. Aus dem Nachlass meiner Großmutter väterlicherseits ist Wilhelms Abschiedsbrief [siehe Titelbild] auf mich gekommen. Wilhelm schreibt:

„Ich muß Euch nur mitteilen dass ich | mich in Emmerich in den Rhein | gestürzt habe; den[n] ich war es | endlich müde[,] so braucht Ihr nicht | mehr für mich zu sorgen. | Mit den paar Zeilen Ende ich. | So lebt den[n] wohl auch[,] Wilhelm [?]. || Freut Euch des Lebens. | Grüße an Alle! | Wilhelm. || † + †. || Ärgert Euch nicht um meinet|wegen. Denn jetzt braucht Ihr mich | keinen Anzug zu kaufen. | Grüßt mich Auch Emma Sauer | denn die trägt die Schuld.”

Bilde ich’s mir nur ein, oder hat mir meine Großmutter Katharina Heßling, geb. Kamps (* 9. Juni 1895 in Essen) tatsächlich zu diesem Brief die Geschichte erzählt, dass ihr verschollener Schwager sich beim nächtlichen Einstieg ins Zimmer seiner Geliebten Emma die nagelneue Hose zerrissen und deshalb einen verhängnisvollen Familienstreit vom Zaun gebrochen habe?

Ganz sicher bin ich mir aber, dass die Pessimisten der Familie befürchteten, Wilhelm könnte eins der Opfer des Massenmörders Fritz Haarmann geworden sein, der zwischen 1918 und 1924 in Hannover sein Unwesen trieb.

Die Optimisten hingegen waren sich sicher, dass Wilhelm sich weder im Rhein ertränkt habe noch Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, sondern stattdessen nach Amerika ausgewandert sei, wo er es gewiss vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht haben müsste. Doch auf den unverhofften Geldsegen von Seiten meines verschollenen Großonkels warte ich leider noch immer vergeblich.