Konkurrenzbeobachtung (I)

konkurrenzbeobachter

Der Spiegel versucht neuerdings, seine unsägliche Online-Präsenz Spiegel online (SPON) mit einem trendigen Extra aufzumotzen. Seit dem 10. Januar 2011 nehmen sich sechs Kolumnisten abwechselnd Themen vor, „die den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen – oder ihren ganz persönlichen. Es sind Randnotizen zum großen Ganzen und zum kleinen Detail. Jeden Tag ein Stück Denkfutter. Zum Grübeln, Staunen, Schmunzeln, Anregen oder Aufregen.“ Oder zum Kotzen? – Mehr als eine Kostprobe monatlich kann ich von diesem Humburger Allerlei unmöglich verdauen. Ich mache mal den Anfang mit Sascha Lobo, dem einzigen aus der bunt gemischten Schar, gegen den ich ein Vorurteil habe. Die SPON-Redaktion stellt ihn ausgesprochen unvorteilhaft vor „als Autor und Strategieberater aus Berlin“, aber dafür kann er vermutlich nichts. Er solle „unter dem Titel Die Mensch-Maschine Entwicklungen [kommentieren], die im engeren und weiteren Sinne mit der Welt des World Wide Web zu tun haben.“ Mittwoch ist also nun ab sofort Irokesentag.

Lobos Popularität verdankt sich zwei simplen Ingredienzien: seiner schnittigen Frisur und seiner schmissigen Schreibe. Haarmoden haben mich noch nie interessiert, Schreibmoden nur dann, wenn sie als Camouflage von einer Leere ablenken sollen: Große Klappe, nix dahinter! Was die haarige Zutat betrifft, so ist ihre Wirksamkeit leicht zu beweisen. Frage ich einen beliebigen Deutschen mittleren Alters, der nicht auf dem Mond lebt, ob er Sascha Lobo kenne, dann fragt er entweder zurück: „Ist das nicht der mit dem bunten Irokesenschnitt?“ Oder er bittet: „Hilf mir auf die Sprünge!“ Wenn ich im zweiten Fall erläutere: „Das ist der mit dem Irokesenschnitt!“, dann antwortet der Befragte, wenn er jünger als 60 ist: „Ach, der!“ Ist er älter, so fragt er: „Was ist denn ein Irokesenschnitt?“ Erkläre ich ’s ihm, sagt er ebenfalls „Ach, der!“ So meine Erfahrungen bei der Ermittlung von Lobos Bekanntheitsgrad – oder besser: des Bekanntheitsgrades von Lobos Frisur. Denn wenn ich wissen will, wofür Sascha Lobo stehe, was ihn ausmache, gar auszeichne, kommt in neun von zehn Fällen nicht mehr als „Irgendsonn schräger Blogger?“ Und die restlichen zehn Prozent wissen noch was von einer wahlweise flotten oder frechen oder kessen oder schrägen Schreibe.

Was hat es nun mit dieser zweiten Zutat für ein Bewenden? Schauen wir uns einmal genauer an, was Die Mensch-Maschine am letzten Mittwoch unter der Headline Web ist, was man nicht weiß ausgespuckt hat. Wie es sich für einen von höchster philosophischer Warte herab argumentierenden Turboblogger gehört, eröffnet er seinen Essay gleich mit dem Zitat eines Kollegen: „,Unser Wissen ist ein kritisches Raten, ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen‘, schrieb der Philosoph Karl Popper 1934.“ Ich will jetzt gar nicht so weit gehen zu prüfen, ob dieses Zitat in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang zu Lobos nachfolgenden Ideen zu bringen ist. Ich begnüge mich damit zu fragen, was Lobo uns mit diesem Zitat sagen will. Vermutlich möchte er uns signalisieren, wes Geistes Kind er ist: Popper-Leser, kritischer Rationalismus und hastenichgesehn – alle Achtung, Sascha! Aber dieser Bluff gelingt leider daneben. Popper schrieb den Satz nämlich mitnichten 1934 in seinem Buch Logik der Forschung, sondern erst 1969 im Vorwort zu dessen dritter Auflage.

Zum Content des Aufsatzes. (Ich sage bewusst Content, denn so heißen laut Lobo „Inhalte, wenn irgendjemand damit Geld verdienen möchte“; und ich unterstelle jetzt mal böswillig, dass Lobo für SPON nicht gratis schreibt.) Seit wann gibt es eigentlich den modischen Ausdruck von der „steilen These“? In den letzten zwei, drei Jahren verbreitete er sich geradezu epidemisch, aber einen sehr frühen Beleg fand ich in einem Artikel des Weblogs SpiegelKritik vom 11. April 2006, der erklärt, „wie typische Spiegel-Geschichten entstehen. Es geht nicht darum, die Wirklichkeit angemessen wiederzugeben oder Pro und Contra abzuwägen. Sondern es geht darum, eine steile These zu haben. Zu dieser These werden dann alle Fakten und Zitate gesammelt, die diese These unterstützen könnten.“ Nach diesem uralten Muster fabriziert auch Sascha Lobo seinen Aufsatz über das „Wesen des Internets“. Lobos These ist, dass „der publizistische, ökonomische und technologische Motor des Internets“ mit einem schönen alten deutschen Wort benannt werden kann: Vermutung. Allerdings macht sich der selbsternannte Kommunikationsontologe nicht einmal die Mühe, diese steile These durch Fakten und Zitate zu stützen. Er begnügt sich mit der vielfachen Auslegung und Anwendung seines Zauberwortes auf alle möglichen Teilaspekte des Phänomens Internet, wobei es ihm – auch das in bester Spiegel-Tradition – stets mehr um den Witz als um die Folgerichtigkeit seiner Aussagen geht. Indirekt gibt er diese Schwäche selbst zu, wenn er schreibt: „Im Mediengeschäft verlässt man sich schon aus Zeitgründen selten auf langwierig zu beweisende Fakten, sondern auf Vermutungen […].“ (Sascha Lobo: Web ist, was man nicht weiß; a. a. O.)

Die Leserdiskussion über seine Beiträge eröffnete der Autor übrigens mit einer indirekten Restriktion: „Für Fragen, Anregungen und milde bis mittelharsche Beschimpfungen (wenn irgend möglich eher auf den Text als auf die Frisur bezogen) stehe ich gern zur Verfügung.“ Sachliche Kritik ist also nicht erwünscht. Oder traut Lobo sie dem SPON-Leser gar nicht zu? Tatsächlich geht es auch beim Spiegel nicht vornehmer zu als in den übrigen Online-Leserbriefspalten und Diskussionsforen der Printmedien. Für seinen zweiten Beitrag fängt sich Lobo allerdings einige sehr sachliche und gut begründete Reaktionen ein, die er in my not so honest opinion gar nicht verdient hat. Viele Leser erkennen in naiver Unschuld, dass sein Schlüsselbegriff „Vermutung“ sich zur Erklärung von allem und jedem ebensogut eignet wie als Iftah Ya Simsim fürs rätselhafte „Wesen des Internets“. Wenn er vermeiden will, dass seine Kommentatoren sein Äußeres zum bevorzugten Thema machen, sollte Sascha Lobo vielleicht ein unscheinbareres Erscheinungsbild wählen und lieber mehr Sorgfalt auf die Haltbarkeit seiner Argumente verwenden als auf die Haltbarkeit seiner Hahnenkammfrisur. Gegen einen Vorwurf muss ich ihn aber doch in Schutz nehmen. Wenn Lobo statt „selten“ an einer Stelle „unoft“ schreibt, so muss man darob nicht spotten wie einer seiner Duzfreunde im Kommentar. Solche Neologismen sollten erlaubt sein, bereichern sie die Sprache doch gelegentlich um feine Nuancen. So hat beispielsweise „unernst“ längst nicht die gleiche Bedeutung wie „lustig“.