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Zu fünf Aphorismen von Karl Kraus

Saturday, 11. June 2011

„Ich höre Geräusche, die andere nicht hören, die mir die Musik der Sphären stören, die andere auch nicht hören.“ (A 1250) – So oder ähnlich empfinde auch ich meine einsame Extravaganz. Gehe ich in Gesellschaft wo andere lachen, graust es mich. Wenn ich dort von meinen Ängsten erzähle, ernte ich Gelächter. Ich fliehe in den Wald, wo mir alle paar Meter austauschbare Menschen begegnen, die sich per Handy mit ihren fernen Nächsten austauschen. Noch wenn ich einsam in meiner Stube grüble, bebrüte ich die Erinnerung an diese Karikaturen der Geselligkeit und Naturverbundenheit. Wo diese alles zu sein bemüht sind, sind sie nichts; während ich nichts hermachen möchte, kommt mich alles an.

„Wenn ich mir die Haare schneiden lasse, so bin ich besorgt, daß der Friseur mir einen Gedanken durchschneide.“ (A 1975) – Es sind aber nicht bloß die Friseure, die durch ihr Geklapper und Geschnatter Zusammenhänge vernichten, verzweigte Gedankengebäude zu Kleingedrucktem zerlegen und Tabula rasa mit Denksystemen machen, als wären sie bloß Wasserdampf überm Herd. Die Alltäglichkeit der Alltäglichen tötet alles Erhabene wirksamer denn jeder Bildersturm.

„Die deutsche Bildung sollte nicht geleugnet werden. Nur muß man auch wissen, daß die kein Inhalt ist, sondern ein Schmückedeinheim.“ (A 500) – Das war einmal. Auch heute schmückt der Mann von Welt sein Heim, aber nicht mehr mit hohler Bildung, sondern mit prallen Abzeichen seiner Zeitgemäßheit, zu Deutsch: Design.

„Sexuelle Aufklärung ist jenes Verfahren, wodurch es der Jugend aus hygienischen Gründen versagt wird, ihre Neugierde selbst zu befriedigen.“ (A 1730) – Neugierde gilt immer noch als staatsgefährdend, aber die totale Aufklärung hat mittlerweile alle reizvollen Geheimnisse so vollständig eliminiert, dass die jugendlichen Abenteurer nicht den geringsten Anlass mehr finden, sich in Gefahr zu bringen.

„In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache.“ (A 1390) – Das verstünde ich wohl nur, wenn es in einer anderen Sprache gesagt worden wäre.

[Karl Kraus zu Ehren, dessen Todestag sich morgen zum 75sten Mal jährt.]