Archive for May 3rd, 2009

Wohnende (II)

Sunday, 03. May 2009

Seit Erfindung der Treppe gibt es dreierlei Wohnweisen: unten, oben und dazwischen.

Der Mieter im Parterre gewinnt am schnellsten Land, wenn das Haus unsicher wird, eroberte also etwa in den Bombennächten des letzten Krieges regelmäßig die besten Plätze im Keller; aber auch im zivilen Brandfall hat er die besseren Karten, bleibt ihm doch der freie Fall ins Sprungtuch erspart; andererseits muss er aber vor Dieben besonders auf der Hut sein, die den Weg durchs Fenster notfalls per Räuberleiter bewältigen können. (Wohnsinn 8, 9, 10 und 11.)

Der Mieter unterm Dach thront über allen, genießt eine weite Aussicht und quält sich tagtäglich im Treppenhaus, in jungen Jahren nur auf-, in späteren dann auch abwärts. Er überlegt sich dreimal, ob er noch für ein Viertelstündchen vor die Tür gehen soll, zu einem kleinen Abendspaziergang durch die laue Frühlingsluft. Des Straßenlärms ist er leidlich enthoben, nicht aber der Flüche der Paketboten. (Wohnsinn 1, 3, 4, 5 und 6.)

Alles, was sich zwischen diesen beiden Hemisphären tummelt, also die überwiegende Mehrheit der Etagenhausbewohner, führt ein nicht so klar akzentuiertes Grauzonendasein, hat welche unter und welche über sich, fühlt sich vielleicht unbewusst eingequetscht, umso mehr, wenn sich außerdem ein Nachbar zur Rechten und ein Nachbar zur Linken bemerkbar machen und die Wände, wie üblich, noch dünner sind als die Decken und Böden. (Wohnsinn 2 und 7.)

Ich habe alle drei Wohnweisen intensiv erfahren und weiß, wovon ich rede, wenn ich sage: Allein schon diese Lokalisation ist die halbe Miete und entscheidet gegebenenfalls über Wohl und Wehe des Wohnenden.

Wohnende (I)

Sunday, 03. May 2009

Nicht unwesentlich bestimmt sich der Flaneur als ein Umwegegeher. Er hat eingesehen, dass auf den geraden Strecken, den kürzesten Verbindungen zwischen zwei Punkten wenig zu finden ist und meist nur das Erwartbare, von Gewissheiten und Plänen Entwertete. Das Stöbern des Flanierenden hingegen geschieht planlos, wohl auf der Suche, aber ohne Wissen nach was. Müßig zu sagen, dass die Bewegung des Flanierens nicht auf Straßen und Wege beschränkt ist, sich vielmehr auch in ganz anderen Zielgebieten unternehmungslustiger Neugier bewähren kann.

Weit abseits von jenem weitläufigen Thema, das ich ab heute einzukreisen beginne, stieß ich auf folgende Einsicht des persischen Physikers und Heilkundigen Najib al-Din Abu Hamid Muhammad ibn Ali ibn Umar al-Samarqandi: „Die verschiedenen Gruppen der menschlichen Gesellschaft sind, angesichts der Realität, eigentlich ,Nationen‘ […]. Man könnte Kleriker, Ärzte, Literaten, Adelige und Bauern im Grunde als Nationen bezeichnen; denn jede Gruppe hat ihre eigenen Gebräuche und Denkschemata. Die Idee, sie seien genau wie man selbst, nur weil sie im selben Land leben oder dieselbe Sprache sprechen, ist eine Vorstellung, die des Überdenkens bedarf.”

Für alle, die es interessiert, hier der Routenplan für den Umweg. Ich fand diese Passage als Motto in Lisa Althers herzerfrischend unbefangenem Roman Hautkontakte (a. d. Am. v. Gisela Stege. Berlin – Frankfurt/M – Wien: Verlag Ullstein, 1977, S. 5), die sie wiederum der Sammlung alter sufistischer Geschichten von Idries Shah, Caravan Of Dreams, entnommen hat (London: The Octagon Press, 1968). Althers Buch habe ich mir erst neulich antiquarisch besorgt, weil ich eine kurze Episode daraus, Fesselnde Ehe, erneut mit Erfolg bei meiner Lesung in Oberhausen zum Besten gegeben hatte und gern einmal den Kontext kennenlernen wollte, in dem sie steht. Ich kannte diese groteske Geschichte um einen peinlich missglückten sexuellen Exzess, bei dem ein Paar Handschellen eine verhängnisvolle Rolle spielt, aus dem von Hermann Kinder herausgegebenen „Handbuch der literarischen Hocherotik”, Die klassische Sau (Zürich: Haffmans Verlag, 1986, S. 446-451), das ich 1986 von dem inzwischen verstorbenen Verlagsvertreter Jac Flessenkemper vor 23 Jahren zum Geburtstag geschenkt bekam. Jacs Widmung auf dem Vorsatz: „Trau keinem unter 30!”

Zurück zu al-Samarqandi. Der Gedanke, den er uns in aller Bescheidenheit ans Herz legt, ist ebenso schlicht wie berückend. Wenn man die Menschen nach ihrer Nationalität, nach ihrer Sprache oder ihrem Heimatland unterscheidet und hieraus Schlüsse auf ihre „Gebräuche und Denkschemata” ziehen zu können meint, dann ist es ebenso statthaft und sinnvoll, nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe zu fragen, denn diese ist mindestens ebenso prägend für ihr Verhalten und ihr Denken. Ich kann dieser Idee nur beipflichten, und dies sogar aus eigener Erfahrung, war ich doch unzweifelhaft in jenen 17 Jahren als Händler in einem offenen Ladengeschäft ein anderer Mensch als in den darauf folgenden zwölf Jahren, als ich einer Bürotätigkeit nachging.

Ich bin sogar davon überzeugt, dass es noch eine Reihe weiterer Gruppenzugehörigkeiten für jeden in der Zivilisation beheimateten Menschen gibt, von denen jede einzelne mehr Wirkung für seine „Gebräuche und Denkschemata” hat als seine Staatsangehörigkeit! Zum Beispiel sind Menschen ja nicht nur nebenbei Essende und Trinkende, weshalb Jean Anthèlme Brillat-Savarin im Aphorismus 4 zu seiner Physiologie des Geschmacks vielleicht etwas vollmundig erklärt hat: „Sage mir, was du ißt, und ich will dir sagen, was du bist!” (A. d. Frz. v. Emil Ludwig. Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1979, S. 15.) Aber auch darum soll es hier nicht gehen, sondern um uns Menschen als Wohnende. Und was den Leser unter dieser Überschrift künftig erwartet, sind ein paar Beobachtungen und Gedankensplitter zu einer noch zu schreibenden „Psychophysiologie des Wohnens”.