Nekro-Exhibitionismus

Die neuen Mittel der öffentlichen Selbstdarstellung via Weblog, YouTube, Twitter, XING, MySpace, Facebook usw. haben nicht zuletzt auch neue Möglichkeiten der unfreiwilligen Selbstbeschädigung herbeigeführt, Versuchungen zur unbedachten Autodestruktion bereitgestellt, Lockmittel ausgestreut zur leichtfertigen Präsentation nicht nur geheimer Gedanken und intimer Körperzonen, sondern auch zur Preisgabe privatester Erlebnisse, wie Geburt, Krankheit, Sterben und Tod. Eine deprimierende ärztliche Diagnose wie Krebs, Depression, Parkinson oder Aids überfordert oft nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch deren Angehörige und Freunde. Die Angst vor nötigen klinischen Untersuchungen und Eingriffen, vor dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen belastet den Kranken umso mehr, als er erfahren muss, dass die Anteilnehme in seinem sozialen Umfeld bald ihre natürliche Grenze findet. Für die Gesunden geht das Leben mit seinem Ernst und seinem Spaß schließlich weiter bie bisher. Schon aus einem verständlichen Bedürfnis nach emotionaler Immunisierung gegen das dramatische Geschehen der schweren, möglicherweise todbringenden Krankheit meiden sie allzu intensive Begegnungen. Vom Kranken, gar Todgeweihten geht ein Sog in den Abgrund aus. Er „zieht runter“, wie man ganz unverblümt bekennt. In dieser Einsamkeit des Leidenden bieten sich die Social-Media-Plattformen im Internet an für ein offenherziges Bekenntnis zum eigenen Elend, für die Suche nach Gesprächspartnern, ob Leidensgefährten oder bloß Anteilnehmenden, ob im Schutze der Anonymität oder unter vollem Namen. Im Extremfall führt dies zu einer hochdramatischen Vorführung des eigenen Sterbens in Echtzeit und damit zu einem Exhibitionismus – bzw., je nach Perspektive, Voyeurismus – des Todes, wie er in dieser Direktheit noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. An dieser Stelle will ich auf das neue Phänomen bloß aufmerksam machen, ohne noch darüber reflektiert zu haben, was aus ihm für den Umgang mit Krankheit und Tod in unserer Gesellschaft folgt. Ich halte dies insbesondere deshalb für ein relevantes Thema in meinem eigenen Blog, weil ich unlängst ebenfalls von einer bösen Überraschung heimgesucht wurde und weil ich zudem sehe, dass sich auch sehr besonnene und gebildete Autoren mit ihrem Leid in die Öffentlichkeit des Web begeben.

2 Responses to “Nekro-Exhibitionismus”

  1. Revierflaneur Says:

    Heute erreicht mich um 00:12 Uhr die E-Mail eines Mannes, der seit mindestens sieben Jahren öffentlich gegen die Diskriminierung und strafrechtliche Verfolgung von Exhibitionisten kämpft und dazu eine Website eingerichtet hat. Er bittet mich darum, gleich ihm eine Petition beim Deutschen Bundestag einzureichen, mit der ich um die Abschaffung des § 183 StGB ersuche. Offensichtlich lässt dieser Aktivist seinen Rechner automatisch das Web nach dem Stichwort “Exhibitionismus” durchsuchen und versendet dann an die Verwender automatisch den Link auf seine Site. Ich bin freilich für dieses Begehren nicht zu haben, zumal ich das Wort Exhibitionismus hier ja erkennbar in einem erweiterten Sinn gebraucht habe für “(lustvolle) Zurschaustellungen eigener Krankheiten und des eigenen Sterbens (im Internet)”.

  2. kid37 Says:

    Ich denke, vielen hilft das Netz wirklich als eine Art erweiterte Selbsthilfegruppe. Man findet Kontakte, stößt auf Informationen, Zuspruch, vielleicht auch konkrete Hilfe. Jeder geht ja anders mit schwierigen Lebenssituationen um, mancher redet gar nicht, mancher nur mit engen Angehörigen oder Freunden. Andere öffnen sich weiter. Es ist sicher ein schmaler Grat. Für mich, mal aus der Sicht des Blogautors betrachtet, war es unter anderem auch eine Frage von Authentizität. Ich habe auch sonst positiven wie auch negativen Erlebnissen und Emotionen in meinem Blog eine Bühne eröffnet. Warum hier plötzlich so tun als sei alles golden? Persönliche Blogs, in denen Blogger, die scheinbar immer auf der “Siegerseite” stehen, egal was passiert, langweilen mich schnell. Ein extremes, oft schockierendes, immer erstaunliches und sehr tapferes Beispiel ist für mich Teaching Cancer to Cry.

    Fastboy zeigt, daß es auf den Mix ankommt. Er schreibt nicht monothematisch, sondern über die ganze Palette seiner Lebenswirklichkeit. Ich mag den grimmigen Humor in vielen seiner (teils sehr schwer zu ertragenden) Schilderungen. Ob diese Offenheit “lustvoll” ist? Ich weiß es nicht, es ist sicher sehr ambivalent.

Comments are closed.