Pulverfass

Die soeben im Artikel über Schreibvoraussetzungen aufgezählten inneren und äußeren Konditionen und Dispositionen sind zwar seit einigen Tagen durchaus gegeben – und doch kann ich mich nicht dazu aufraffen, einen neuen Beitrag für mein Blog zu verfassen. Es wäre der 884ste. Ich weiß nicht, worüber ich schreiben soll. Alles, was mir einfällt, scheint mir nach kurzem Bedenken dann doch nicht der Mühe wert, schriftlich erzählt oder erörtert zu werden. Diese Skepsis gegenüber meinen Ideen befällt mich insbesondere an meinem Arbeitsplatz. Wenn ich gut gelaunt durch den feinen Nieselregen dem Wald zustrebe, durch das Fenster des 142er-Busses das Umschlagen der Ampel von Rot auf Grün erwarte oder im Bett kurz vorm Einschlafen an etwas Böses denke, dann überfällt mich aus dem Nichts ein erster Satz, ein hartnäckiger Widerspruch oder eine offene Frage, tauglich für mindestens ein Posting, wenn nicht gar für eine ganze Serie. Doch stolz wie ich bin verbiete ich mir, Notizen auf Merkzettel zu machen, weil ich mir sage: Wenn dieser Einfall nicht stark genug ist, dass ich ihn auch ohne Hilfsmittel im Kopf behalte, dann ist er wohl das Papier nicht wert, auf dem ich ihn skizzieren muss, um ihn nicht zu verlieren.

In dieser inspirativen Einöde lese ich obendrein noch das Interview, das Christian Wolf bei Basic Thinking vor ein paar Tagen mit dem Blogger Oliver Stör geführt hat. Stör hat innerhalb eines Jahres gleich drei Abmahnungen wegen vermeintlicher Rechtsverletzungen in seinem Weblog Stör-Signale erhalten und gibt nun nach neun Jahren fröhlicher Bloggerei entnervt auf. Was rät er Bloggern, die sich vor Angriffen der gefürchteten Abmahnanwälte schützen wollen? Da muss er leider mit den Achseln zucken. Ein Patentrezept gegen deren Machenschaften gebe es seines Wissens nämlich nicht. Immerhin könnte man seine Angreifbarkeit vermindern, indem man 1. keine Bilder aus dem Netz kopiert, 2. keine Zitate verwendet und 3. keine Links auf fremde Websites setzt. (Ich setze jetzt mal vorsichtshalber keinen Link auf das Interview.) Wenn ich mich nicht täusche, dann ist vermutlich der einzige Grund, weshalb dieser Kelch bisher an mir vorübergegangen ist, die totale Erfolglosigkeit meines Blogs. (Ich wusste ja schon immer, dass es ein großer Vorteil ist, nicht gelesen zu werden.)

Mit anderen Worten sitze ich hier auf einem Pulverfass. Sprachlos!

Ich überlege für ein Momentchen allen Ernstes, dieses Unternehmen mir nichts, dir nichts, sang- und klanglos aufzugeben. Was, wenn ich einfach den Stöpsel rauszöge? Es macht ein paar Mal gluck, gluck – und alles ist weg! Adieu, freie Meinungsäußerung vor der Weltöffentlichkeit. Andererseits bin ich heute auch wieder nicht in der Stimmung zu solch spontanen Vernichtungsaktionen. Meine cholerischen Anwandlungen gehören eben glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Darum atme ich tief durch und erwäge ruhigen Blutes die verbleibenden Möglichkeiten, meine Arbeit an diesem Blog möglichst unbeeinflusst fortsetzen zu können, ohne Abzockern auch nur die kleinste Angriffsfläche zu bieten.

Vielleicht könnte ich mich rüsten, indem ich all jene älteren Postings, die auch nur von Ferne nach Verstößen gegen Urheber- oder Persönlichkeitsrechte duften, mit einem Passwortschutz versehe? Dabei sollte ich zweckmäßigerweise so vorgehen, dass ich zunächst ausnahmslos alle 883 Beiträge hinter Schloss und Riegel setze – um dann Schritt für Schritt die definitiv harmlosen Beiträge, gegen die auch der erfindungsreichste Rechtsverdreher nichts einzuwenden haben kann, wieder hervorzuholen. In einem zweiten Arbeitsgang könnten dann noch etliche Beiträge einer sorgfältigen Reinigung ad usum Delphini unterzogen werden, indem ich zum Beispiel ohnehin längst verödete Links entferne, wörtliche Zitate in indirekte umformuliere und so weiter. Bei meinen Neuveröffentlichungen werde ich fallweise entscheiden, welche ich der anonymen Öffentlichkeit zur Verfügung stellen darf und welche hinter die dicken Mauern eines Passwortschutzes gehören. Den Schlüssel zum intimeren Bereich meines Blogs erhalten dann nur meine engsten Freunde. (Je länger ich darüber nachdenke, desto reizvoller erscheint mir diese Lösung – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht.)