Das Jüngste Gericht, gestern

Das Programm von Family Radio war am Tag Null der abgelaufenen Menschheitsgeschichte kopflos. Die sonore Stimme seines 89-jährigen Gründers, des evangelikalen Propheten Harold Camping, war verstummt. Vom Band lief stattdessen Kirchenmusik, unterbrochen von allerlei Lebensweisheiten und frommen Sprüchen. Die Uhr tickte und das Ende kam näher und näher.

Beginnen sollte es nach der festen Überzeugung von Camping in Asien, wo die Sonne ja wesentlich früher auf- und wieder untergeht als in der Neuen Welt. Als nun aber in Tokio und Peking der 21. Mai 2011 sich dem Ende näherte, ohne dass auch nur die geringste seismische Erschütterung spürbar gewesen wäre, schließlich Mitternacht vorbei war und ein ruhiger 22. Mai 2011 anbrach, da musste wohl der mindestens einige zehntausend Menschen zählenden Anhängerschaft des Apokalyptikers dämmern, dass sie einem Irrtum aufgesessen war. Was mag zum Beispiel Robert Fitzpatrick (60) gedacht haben, der mehr als 140.000 US$ gespendet hatte, damit auf Plakaten in der U-Bahn und an Bushaltestellen vor dem Weltuntergang gewarnt werden konnte?

Gabrielle Saveri von der Agentur Reuters berichtete, dass niemand an die Tür kam, als ein Reporter Campings Haus in Alameda (Kalifornien) aufsuchte, um ihn zu den Ereignissen zu befragen, oder richtiger: zum Ausbleiben der Ereignisse. Sheila Dorn (65), die seit vierzig Jahren im Nachbarhaus der Campings wohnt und nichts Schlechtes über das alte Ehepaar sagen kann, macht sich etwas Sorgen wegen der großen Aufmerksamkeit, die diese Prophezeihung in den vergangenen Wochen im ganzen Land gefunden hat. In dieser verrückten Welt könne man ja nie wissen, zu welchen Dummheiten sich jemand hinreißen lasse, der vielleicht zu sehr auf die Vorhersage vertraut habe und sich nun schadlos halten wolle bei dem falschen Propheten.

Großen Spaß hatten offenbar atheistische Gruppen, die bei Zusammenkünften im ganzen Land das Ausbleiben des Weltuntergangs feierten, so etwa bei einer Versammlung der Freimaurer-Loge von Oakland, wobei die Redner es sich nicht verkneifen konnten, scherzhaft Bezug auf den Judgement Day zu nehmen.

Stuart Bechman von den American Atheists erinnerte aber auch daran, dass es bei dergleichen obskuranten Verkündigungen doch auch einen sehr ernsten Aspekt gebe, den man nicht aus dem Blick verlieren sollte. Eine Vielzahl törichter und unbegründeter Überzeugungen würden von Leuten wie Camping in Umlauf gebracht, die bei leichtgläubigen Menschen durchaus auch großen Schaden anrichten könnten.