Heinrich Funke: Das Testament (Zum Künstler)

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Meine Bekanntschaft mit dem Essener Musiker und Künstler Heinrich Funke – zu Anfang kannte ich nur diese beiden seiner zahlreichen Berufungen – reicht zurück bis in die frühen 1970er-Jahre. Ich drückte damals die harte Schulbank am Helmholtz-Gymnasium und hatte wenig zu lachen, aber Träume ohne Maß und Ziel. Eines Tages berichtete mir mein Klassenkamerad, ein stets unverschämt grinsender Sitzenbleiber mit Spitznamen Piefke, er habe jüngst die Bekanntschaft eines außergewöhnlichen Typen gemacht, Zugbegleiter bei der Bahn im Brotberuf, zugleich aber Gründer einer Jazzband namens Hörb Ares, vorzüglicher Koch, ein Multitalent, auch Kunstmaler, Bildhauer, auf seine Weise vielleicht gar ein Philosoph? Piefke, der mir im Musikunterricht unserer Penne bisher nicht als sonderlich begabt aufgefallen war, erstaunte mich wenige Tage später mit der stolz verkündeten Neuigkeit, er sei nun zum Bandmitglied bei Hörb Ares avanciert, als Saxophonist. Meinen Einwand, er könne aber doch gar nicht Saxophon spielen, konterte er keck mit dem Hinweis, Heinrich habe gesagt, jeder Mensch sei musikalisch. Das leuchtete mir zwar insofern ein, als ja Joseph Beuys gerade bekannt gemacht hatte, dass auch jeder Mensch ein Künstler sei. Allein, die Ergebnisse dieses Musizierens, die ich mir wenig später im Essener Jugendzentrum an der Papestraße anhörte, überforderten meine Duldsamkeit dann doch um einiges mehr als ein Quäntchen, anders gesagt: Diese Musik war zwar etwas Unüber-hörb-ares, aber schlicht unerträglich, wenn man sie nicht selbst machte.

Wie es so geht, wenn zwei an Kunst, Musik, Literatur, Film, Kritik, Provokation und Revolte Interessierte in einer zwar bevölkerungsreichen, aber kulturarmen Stadt wie Essen wohnen, verlieren sie sich nie ganz aus den Augen, laufen sich immer wieder in den wenigen akzeptablen Kneipen und Cafés, in Programmkinos und bei Diskussionsveranstaltungen, in Galerien und auf Lesungen über den Weg, tauschen sich aus über öffentliche Ärgernisse und private Annehmlichkeiten oder umgekehrt, besuchen sich ab und zu auch gegenseitig – kurz: Wir lernten einander im Lauf der Jahre so gut kennen, dass wir irgendwann begriffen, wie wenig wir voneinander wussten, von Verständnis ganz zu schweigen.

Ab 2005 wohnten wir kaum zehn Minuten Fußweg voneinander entfernt im Moltkeviertel und sahen uns nun öfter. Zu Heinrichs 60stem Geburtstag durfte ich eine Rede auf ihn halten, in der ich seine staunenswerte Vielseitigkeit zum Thema machte. Ich weiß nicht, wer von uns beiden sich mehr geschmeichelt fühlte. Inzwischen hatte ich ihn ja auch als spät berufenen Philosophie- und Theologie-Studenten, Langstreckenläufer, Fahrradmonteur, Photographen, Diashow-Arrangeur und Triathlon-Coach kennengelernt, um nur die auffälligsten seiner mit Leidenschaft und Gründlichkeit betriebenen Geistesübungen und Werktätigkeiten zu nennen. Heinrich zog schließlich fort in den Stadtwald. Dorthin lud er mich ein zu einer Reihe von Gesprächen über seinen Lebensweg. Er wünschte sich, ich könnte auf dieser Grundlage seine Lebensgeschichte aufschreiben. Ich machte mir eifrig Notizen, doch obgleich manche nette Anekdote dabei heraussprang, reichten die mitgeteilten Erinnerungen doch längst nicht zu einem Text, der ihm auch nur annähernd hätte gerecht werden können. Dieses Projekt wurde also auf Eis gelegt, ob vorläufig oder endgültig, das mag die Zukunft weisen.

Im Sommer vorigen Jahres zog auch meine mittlerweile arg geschrumpfte Familie wieder einmal um – und nun wohne ich, wie der Zufall will, wiederum kaum zehn Minuten Fußweg von meinem Freund entfernt. Die Nähe förderte den Austausch, mit allerdings zwiespältigem Ergebnis. Gelegentlich prallten unsere unterschiedlichen Meinungen so harsch aufeinander, dass wir uns wochenlang aus dem Weg gingen. Aber waren das nun wirklich die Meinungen, die sich nicht vertrugen? Oder waren es, viel grundsätzlicher, die vollkommen andersartigen Perspektiven, die uns ein ums andere Mal aneinandergeraten ließen? Jedoch scheint es einen gemeinsamen Nenner zu geben, auf den wir uns verständigen können, um nach solchen Kollisionen immer wieder zueinanderzufinden. Dazu gehört zum Beispiel unsere gemeinsame Wertschätzung des Zweifels als einer unverzichtbaren Instanz bei der Wahrheitssuche, die tiefe Abneigung gegen ein seicht dahingelebtes Nichtsnutzdasein und die unersättliche Neugier auf unbekannte Antworten, mehr aber noch auf ungestellte Fragen.

Vor ein paar Monaten nun hat mich Heinrich mit seinem vorläufig letzten großen Projekt bekannt gemacht, seinem Testament, in Gestalt einer Serie handkolorierter Linoldrucke. Hier verbindet er vorgegebene Bildmotive aus dem ausgehenden Mittelalter mit kurzen Spruchtexten aus ebenfalls alten Quellen. Nach anfänglicher Unsicherheit und Scheu fand ich Gefallen an der Serie und beschloss, mich näher mit ihr auseinanderzusetzen, wobei mir sogleich klar war, dass diese Einlassung mit starker Reibung würde einhergehen müssen. Ich bin nun selbst gespannt, wozu mich diese neue Inspirationsquelle verleitet.