Loveparade 2007

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Aschersonntag, 26. August 2007. – Im Windschatten der Bahnsteigkante im Essener Hauptbahnhof staut sich die letzte Spur des Mega-Events [siehe Titelbild]. Ansonsten hat die Stadtreinigung ganze Arbeit geleistet. Das City-Center glänzt wie geleckt, auf der Kettwiger Straße knirscht zwar alle paar Schritte noch ein vereinzelter Glassplitter unterm Schuh – aber sonst deutet nichts mehr darauf hin, dass hier gestern geschätzte 1,2 Millionen Partygäste auf engstem Raum die erste Loveparade in der Metropole Ruhr feierten. Es ist noch einmal gut gegangen.

Als Dr. Motte and Friends am 1. Juli 1989 spontan auf dem Kurfürstendamm der noch geteilten Stadt Berlin die erste Loveparade veranstalteten, war dies eine ordnungsgemäß angemeldete politische Demonstration, unter der Parole: „Friede Freude Eierkuchen“. Die ca. 150 Technofans, die die Geburtsstunde dieses später so überaus erfolgreichen Tanzvergnügens unter freiem Himmel miterleben durften, erinnern sich heute nur noch an ein unverhältnismäßig großes Polizeiaufgebot – und an das schlechte Wetter. Danach verdoppelte sich die Zahl der Partygäste von Jahr zu Jahr. Und wer die Geschichte von der Erfindung des Schachspiels kennt und weiß, welche Folgen es hat, wenn man auf jedes Feld des schwarzweißen Brettes doppelt soviele Reiskörner legt wie auf das jeweils vorhergehende, der kann leicht den Schluss ziehen, dass diese Dynamik nur mit einer Katastrophe enden kann – wenn der indische Herrscher Shihram, der das leichtfertige Versprechen gemacht hat, dieser verhängnisvollen Entwicklung keinen Riegel vorschiebt und die Exponentialkurve rechtzeitig mit einem Machtwort abbricht. Der Senat der Stadt Berlin war weiser als Shihram und hat die Verhandlungen mit Dr. Mottes Nachfolger, dem Muckibuden-Millionär Rainer Schaller, im Sande verlaufen lassen. Danach stellte sich die Frage: Wie heißt die europäische Großstadt oder Region, deren Minderwertigkeitskomplex so groß ist, dass sie meint es nötig zu haben, ihren Anspruch als Kulturmetropole ausgerechnet mit diesem hypertrophen Massenauflauf in Wodka-Gorbatschow-Soße beweisen zu müssen? Erraten: Es war die Kulturhauptstadt Europas 2010, die nun vier weitere Jahre vertraglich verpflichtet ist, für ein Wochenende – in Dortmund, Bochum, Duisburg und Gelsenkirchen – einen enormen logistischen, verkehrstechnischen, notfallmedizinischen und sanitären Aufwand zu betreiben, damit uns eine Million und mehr junge Leute demonstrieren können, was sie unter Kultur verstehen: nämlich Komasaufen, Flaschenzerdeppern und Grölen.

Wenn die UNESCO erwägt, Städten wie Köln oder Dresden den Status des Weltkulturerbes für den Dom bzw. das Elbtal abzuerkennen, wegen eines Hochhauses bzw. einer Brücke, die nicht ins Bild passen, dann ist es mindestens so berechtigt, wenn die Europäische Kommission Essen & Co. augenblicklich auf die Rote Liste setzt und anmahnt: Noch eine solche Entgleisung, und ihr könnt auf Zollverein in drei Jahren die Lichter löschen! Ich würde mich hier nicht so sehr ereifern, wenn Schaller auf seiner Website nicht ausdrücklich den Zusammenhang zur Kulturhauptstadt 2010 herstellte: „Die Stadt Essen hat dabei die einmalige Möglichkeit, sich und die gesamte Metropole Ruhr würdig zu vertreten und zu zeigen, dass sie zu Recht Kulturhauptstadt Europas 2010 ist.“ Dieser Blödsinn findet sich in einem Appell an die „lieben Anwohnerinnen und Anwohner der Essener Innenstadt“, damit auch die, um den Nachtschlaf gebracht, endlich begreifen, was unter Kultur zu verstehen ist und dass man dafür schon mal ein Opfer bringen muss. Die Ideale der frühen Loveparade-Umzüge sind schon längst auf der Strecke geblieben: „Dr. Motte wollte nicht nur, dass die Teilnehmer tanzten, sondern dass sie zu aktiven Teilnehmern einer ,Tanzbewegung‘ wurden. Er wollte, dass ,Harmonie durch Musik‘ entsteht, er wollte Freiräume entstehen lassen durch nonverbale Kommunikation, er sprach von Liebe und Respekt, von der Vielfalt der Tanzmusik und wünschte am Ende der immer kurzen Ansprache eine schöne Party.“ (Wikipedia.) Selbst zum bloßen Tanzen war in diesem Pferch in Essen gar kein Platz – und erst recht bietet eine solche Veranstaltung keine Möglichkeit, Freiräume entstehen zu lassen. Es geht nur noch um den Rekord, die größte Party der Welt zu sein – und um den Zaster, den ein solcher Rekord einfährt.

Warum will jeder dabeisein, wenn 1,2 Millionen Raver sich in einem Sperrbezirk die Beine in den Bauch stehen und der überwiegende Teil von ihnen vom „eigentlichen Geschehen“ nichts mitbekommen? Mit der gleichen Berechtigung könnte man den ostdeutschen Geflügelmastbetrieb zum Mega-Event erklären, in dem pro Jahr 1,2 Millionen Hühner maschinell geschlachtet, gerupft, ausgenommen, von Knochen bereinigt und zu kleinteiligen Fleischstückchen zerhäckselt werden, als Beifügung zu den Dosensuppen eines gut notierten Lebensmittelherstellers. Der erhebt aber immerhin nicht Anspruch darauf, einen Beitrag zur Kultur zu leisten. Bei der 1997er-Loveparade klagte ein Rechtsanwalt im Namen seiner Mandanten, Eltern eines Kleinkinds, vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen die Lärmbelästigung, weil dieser junge Erdenbürger durch die laute Technomusik im Schlaf gestört werden könnte. Und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND) machte auf dem Klageweg geltend, dass geschützte Vogelarten im Tiergarten, ebenfalls durch das technische Getöse aus den Boxen, beim Nisten gestört werden und ihre Brut im Stich lassen. Solche donquijotesken Kämpfer gegen Windmühlenflügel haben meine ganze Sympathie. Und ich bedaure die Chirurgen in Essen und Umgebung, die die vergangene Nacht damit zubringen mussten, Schnittverletzungen durch Flaschenscherben zu nähen, weil die Organisatoren dieser tollen Party es nicht einmal auf die Reihe kriegen, die Mitnahme von Glasflaschen in den Sperrbezirk durch Polizeikontrollen an den Zugangsstellen zu unterbinden wie in Berlin.

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Ein kurzes Schlusswort noch, nach der katastrophalen Loveparade 2010 in Duisburg. Ganz falsch kann ich damals mit meinen Vorbehalten gegen diesen Mega-Event im Revier nicht gelegen haben, wenngleich meine Kritik eher auf den kulturellen Tiefstand als auf die logistischen Risiken zielte. Ich bin aber keiner von der Sorte, die sich nach einem solchen mörderischen Desaster triumphierend die Hände reiben und darauf hinweisen, dass sie von Anfang an dagegen waren. Und darum verkneife ich mir auch, aus den teils beleidigenden Kommentaren zu zitieren, in denen ich mal als Satiriker missverstanden, mal als Hinterwäldler denunziert wurde. Davon wird schließlich keins der Opfer wieder lebendig.

[Dieses Posting erschien zuerst am 26. August 2007 bei Westropolis unter dem Titel Aschersonntag. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog geringfügig überarbeitet, ergänzt, gekürzt und korrigiert.]