Archive for the ‘Würfelwürfe’ Category

Protected: Hörfunk (I)

Tuesday, 29. September 2009

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Protected: Wechselwahl

Monday, 28. September 2009

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Orgelkonzert

Monday, 28. September 2009

Nun kenne ich die Evangelische Kirche Rellinghausen auch von innen. Heute gab der international bekannt Organist und Orgelkomponist Gerd Zacher, der seit vielen Jahren in Essen lebt, ein Konzert aus Anlass seines 80. Geburtstags am 6. Juli. Er spielte zum Beginn und zum Abschluss zwei Ricercari aus dem Musicalischen Opfer von Johann Sebastian Bach, sodann drei eigene Kompositionen: Szmaty (1968), Trapez (1993) und Vocalise (1971).

Der Kircheninnenraum ist völlig unbedeutend, seine Schlichtheit bloß gewöhnlich, frei von jedem „negativen Pathos“. Vielleicht fünfzig Personen meist älteren Jahrgangs hatten sich eingefunden. Sie applaudierten der stellenweise geradezu schmerzhaft schrillen und unberechenbaren Musik, vermutlich aber wohl eher ihrem Interpreten, der hier viele seiner Werke uraufgeführt hat, mit Anstand und Ausdauer.

Die viermanualige Orgel der Firma Karl Schuke (Berlin), die hier im Jahr 1968 in Betrieb genommen worden ist, bietet nach den Worten von Sabine Rosenboom, der Kantorin der Evangelischen Kirche Rellinghausen, „reiche Möglichkeiten der klanglichen Kombination der Register (Klangfarben), da die vier verschiedenen Werke – das Hauptwerk, Rückpositiv, Brustwerk und Schwellwerk – eine für diese Größenordnung erstaunliche Vielgestaltigkeit im Miteinander und Gegeneinander des Musizierens“ erlauben.

Ebenfalls aus Anlass des Geburtstags von Gerd Zacher erschien ein Werkverzeichnis des Komponisten, Interpreten und Musikschriftstellers, das von Verena Funtenberger, der Leiterin der Musikbibliothek in der Essener Stadtbibliothek, zusammengestellt und am heutigen Abend kostenlos verteilt wurde. Das Heft hat 136 Seiten und enthält auch eine lesenswerte „Biographie mit Koordinaten“ Zachers von seinem langjährigen Weggefährten, dem chilenischen Komponisten Juan Allende-Blin, sowie ein Gespräch, das Matthias Geuting mit Zacher geführt hat, unter der programmatischen Überschrift: „Je zweckfreier die Musik bleibt, um so hilfreicher wird sie“.

Meine Gefährtin freilich, die ein so viel feineres und geschulteres Ohr hat als ich, konnte dieses Klangerlebnis nicht als reines Vergnügen empfinden. Selbst die Stücke von Bach, den sie doch sonst über alles stellt, waren in Zachers Interpretation gar nicht nach ihrem Geschmack. Ich möchte es mit meinem Interesse an Gerd Zacher damit aber dennoch vorläufig nicht bewenden lassen, gibt es doch allerlei, was meine Neugier wach hält; und sei es die bisher nur im Manuskript vorliegende, kleine Schrift Über den Zufall in der Musik „chance operation and discipline“ (John Cage), die auf S. 102 des Werkverzeichnisses genannt wird.

[Titelbild: Gerd Zacher während der Interpretation Nr. 10 No(-)Music © Anita Jakubowski 1987.]

An Land

Monday, 28. September 2009

Jetzt, da ich tatsächlich schneller als gedacht eine angemessene Unterbringungsmöglichkeit für den größten Teil meiner Bibliothek aufgetan habe, bin ich auf eine Weise wunschlos glücklich, die mich schon wieder misstrauisch macht.

Ich dosiere die Aufenthaltszeiten in meinem neuen Refugium streng, als wollte ich dem Risiko vorbeugen, einer Überdosis zum Opfer zu fallen. Immerhin habe ich nun alles ausgepackt, was noch in den „Bücherkatakomben“ der vorigen Wohnung lagerte. Im nächsten Schritt gilt es, die ca. 65 Kisten aus der K.-Anstalt bei Freund R. heranzuschaffen, doch das hat keine Eile. (Obzwar: Ich brenne drauf!)

Noch reichen ja auch glücklicherweise die Geldmittel, billige Regale anzuschaffen usw. So wird es mir gelingen, zum ersten Mal seit unvordenklichen Zeiten tatsächlich all mein Papier geordnet aufzustellen und greifbar zu haben, ohne quälende Sucherei, die dann doch in der Hälfte der Fälle in ein schmerzvolles Nichtfinden mündet.

Fast ist der Gegensatz zu heftig: zwischen einerseits dem noch vor wenigen Wochen durchlittenen Hundeelend, als ich gewärtigen musste, auf Jahre und Jahre vom größten Teil meiner Schätze und Schätzchen getrennt zu sein, sie zudem eher schlecht als recht untergebracht zu wissen, allen Gefahren ausgesetzt, die mit der Zeit aus Büchern Altpapier werden lassen; und andererseits dem Glück, wie oben angedeutet und ansonsten kaum beschreiblich.

Nun klammere ich mich geradezu an die paar vom Umzug noch verbliebenen Pflichtaufgaben, lästige Trivialitäten wie die endgültige Entrümpelung der „Katakomben“, die bis zum Ende des Monats über die Bühne gegangen sein muss. Das ist das trockene Brot, das jemand hinabwürgt, damit ihm der köstliche Wein nicht zu sehr zu Kopfe steigt.

Protected: Neun Grenzen

Monday, 28. September 2009

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Rundgang (XI)

Monday, 28. September 2009

Ich komme erst allmählich dahinter, dass unsere neue Bleibe wirklich ganz ausgezeichnete Anbindungen an den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) hat.

Da sind zunächst die Bushaltestellen der Linien 142, 144 und 194, beinahe „direkt vor der Tür“, aber eben doch nicht so nah, dass sie störten (s. Titelbild). Der 142er bringt mich in drei Minuten zum Stadtwaldplatz (von wo ich in acht Minuten den S-Bahnhof Stadtwald zu Fuß erreichen kann), in acht nach Rüttenscheid. Mit dem 194er bin ich in elf Minuten in Bredeney, in entgegengesetzter Richtung bringt er mich in 13 Minuten nach Steele, in 24 Minuten nach Kray und in einer guten halben Stunde nach Gelsenkirchen. Der 144er ist zwar eigentlich ein „Schulbus“ der nur am frühen Morgen und zur Mittagszeit verkehrt. Aber wenn ich meine Schwiegereltern in Überruhr besuchen will, ist auch diese Verbindung sehr nützlich für mich. Die Straßenbahnhaltestelle der Linie 105 am ehemaligen Rathaus Rellinghausen erreiche ich zu Fuß ohne Eile in fünf Minuten. Mit ihr gelange ich in acht Minuten zum Bahnhof Essen-Süd (mit der S-Bahn-Verbindung Richtung Essen-Hauptbahnhof bzw. nach Düsseldorf und Köln), in 15 Minuten zum Essener Hauptbahnhof und in 24 Minuten zum Berliner Platz.

Die Linie 105 verkehrt an Werktagen im Zehn-Minuten Takt, der 142er und der 194er zwanzigminütig; frühmorgens, spätabends, samstags und an Sonn- und Feiertagen natürlich in größeren Abständen. Allerdings ist meine Heimatstadt Essen, wie übrigens die meisten Städte im Ruhrgebiet, nicht unbedingt ein Mekka für Nachteulen. Die letzte U- oder S-Bahn ab Essen-Hauptbahnhof fährt schon um um 23:23 Uhr! Das hat soeben Matthias Stolt in der immer wieder interessanten Deutschlandkarte gezeigt (in: ZEITmagazin Nr. 38 v. 10. September 2009, S. 10). Aber aus dem Alter bin ich schließlich raus, wo man Spaß daran hat, unter der Woche die Nacht zum Tage zu machen.

Wäre für mich wegen meiner Schwerbehinderung die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht ohnehin bis auf einen Jahresbetrag von 60 Euro für die Wertmarke kostenfrei, dann käme ich in den Genuss der Beförderung mit Bus und Bahn am billigsten mit einem Ticket1000 9 Uhr der Preisstufe A1, für das ich gerade mal 36 Euro monatlich berappen müsste.

Es stimmt schon: Manchmal kommt ein Bus mit Verspätung, hin und wieder werden Fahrgäste in der Bahn durch laute Handytelefonate lästig oder verströmen einen säuerlichen Körpergeruch. Solche kleinen Schönheitsfehler des ÖPNV werden von den Autofahrern, also der erdrückenden Mehrheit der Menschen hierzulande, immer wieder als Begründung bemüht, warum sie sich ein Leben ohne ihre Privatkarossen nicht vorstellen können. Aber ich argwöhne, dass dies nur Ausreden sind und der wahre Grund tiefer liegt.

Reweljuschn

Saturday, 26. September 2009

Merkwürdige Werbung im Schaufenster einer „alternativen“ Fahrschule. Ein Poster mit dem Bildnis eines Kindes, offensichtlich an das berühmte Che-Guevara-Porträt angelehnten. Darüber der Slogan: It’s time for another revolution – Zeit für Deine Bedürfnisse! Unter diesem Werbeplakat eine modellhafte Liliputwelt. Ein Plastik-VW-Bus, ein Streifen Sand mit ein paar Muscheln und Seesternen und dergleichen Abenteuerurlaubskitsch mehr.

Wenn ich versuche, die unterschwellige Botschaft dieses Arrangements ans Licht zu zerren bzw. deutlich werden zu lassen, dann kommt dabei ungefähr Folgendes heraus:

„Wenn du zu jenen Idealisten gehörst, die sich in der Vergangenheit überwiegend um die Mühseligen und Beladenen unserer Erde gekümmert haben und die zwangskolonisierten Völker der Dritten Welt befreien wollten, dann ist es jetzt aber höchste Zeit, dass du dich endlich auch einmal um dich selbst kümmerst. (Und hast du es noch nicht vernommen: ,Dritte Welt‘ sagt man längst nicht mehr. Heute ist ,Eine Welt‘ angesagt!)

Klar, die Revolution war ein tolles Event, Idealismus pur, aber jetzt können mal andere den Kampf weiterführen. Du hingegen hast dir redlich verdient, auf große Tour zu gehen und das Leben ab sofort mal ganz hedonistisch zu genießen. Damit du diesen Geschmack von Freiheit und Abenteuer auf die andere Art unbeschwert und sorgenfrei erfahren kannst, solltest du aber zuallererst einen Führerschein machen. Das befreit richtig!

Wenn du dann endlich die Fleppe hast, dann drück doch mal kräftig aufs Gaspedal. Wer weiß denn, wie lange das Benzin noch halbwegs erschwinglich ist?“

Whodunit?

Saturday, 26. September 2009

H. erzählt mir von dem Krimiautor Janwillem van de Wetering (1931-2008), der auf der Suche nach der Wahrheit zunächst bei dem betagten Bertrand Russell (1872-1970) in London Philosophie studiert habe. Als er dort keine ihn befriedigenden Antworten auf seine vielen Fragen fand, empfahl ihm Russell angeblich, nach Japan in ein Zenkloster zu gehen.

Mal abgesehen davon, dass ich für eine Begegnung van de Weterings mit Russell keinen Beleg finde und er nach meinen Informationen vielmehr 1958 kurzzeitig als „freier Student“ Philosophievorlesungen bei Alfred Jules Ayer (1910-1989) am UCL in London hörte, bevor er sich auf den Weg nach Kyoto begab, forderte diese Einleitung zu einem offenbar von Sympathie für van de Wetering getragenen Porträt des Niederländers meinen Widerspruch heraus.

Die alte Geschichte von dem unerschütterlich Fragenden, der sich mit einfachen Antworten nicht zufriedengeben will und immer weiter und immer tiefer fragt und bohrt und beharrt – sie hat ihre ursprüngliche Faszinationskraft für mich längst vollkommen verloren. Es kommt nicht drauf an, dass man die richtigen Antworten gibt, sondern dass man die richtigen Fragen stellt? Nein! Auch das ist eine Täuschung, denn es gibt keine „richtigen“ Fragen, wie es auch keine „falschen“ und erst recht keine „dummen“ Fragen gibt.

Die Vorstellung von einem bohrenden Wahrheitssucher, der in die weite Welt hinauszieht, um dort Antworten auf seine „letzten Fragen“ zu finden, hätte mich vielleicht vor vierzig Jahren noch angeheimelt. Aus dem Alter bin ich aber längst raus. Ich erinnere mich, dass die Kunden in der Buchhandlung, die nach den Krimis mit den Amsterdam-Cops fragten, eine erkennbar andere Sorte abgaben als jene, die sich für Sjöwall-Wahlöös Kommisar Martin Beck erwärmten. Die Erfahrung, dass man die Menschen nach ihrer Krimi-Lektüre, oder ganz generell nach ihren literarischen Interessen in Gruppen sortieren kann, wo sie dann untereinander auch viele weitere Ähnlichkeiten aufweisen, hat mich entscheidend geprägt. Und ich bin für alle Zukunft zu ernüchtert, um noch annehmen zu können, dass man in einem Krimi „bedeutsamere“ Fragen finden kann als die, wer zum Teufel der Täter ist.

Ansonsten gilt bis auf Weiteres: Es gibt für uns und von uns Menschen keine „endgültigen“ Antworten und keine „letzten“ Fragen.

Stammhaus

Friday, 25. September 2009

Gerade erst vor vier Jahren bei Klartext in Essen erschienen und schon wieder im Ramsch: der wunderbare große Bildband über die legendäre Krupp-Jubiläumsfeier zum hundertjährigen Bestehen der Firma im Jahre 1912. Die Bücherverschrottung findet in immer kürzeren Intervallen statt. Ich erinnere mich noch gut, dass zum Beispiel die Tagebücher von Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, in der 1946er-Ausgabe des Stocker-Varlags in Luzern bis weit in die 80er-Jahre hinein ganz regulär lieferbar waren, zum Preise von dreizehneinhalb Schweizer Franken. War damals der Lagerplatz so viel billiger – oder die Geduld der Verleger einfach größer?

Verwunderlich auch, dass Autor und Verlag nicht bis zum Jubiläumsjahr 2012 gewartet haben. Da hätte die ThyssenKrupp AG doch gewiss eine stattliche Menge als Präsent für Freunde im In- und Ausland abgenommen. Nun kann man zwar in drei Jahren einen preiswerten Nachdruck herstellen, falls gewünscht mit besonderem, „individualisiertem“ Einband oder speziellen Vorsatzblättern des Unternehmens. Aber ein solches Präsent kommt doch mindestens bei jenen Beschenkten nicht gut an, die sich das Buch bereits 2005 zum Preis von ursprünglich 29,95 Euro zugelegt haben – und das sind schließlich jene, die wenigstens oberflächlich an der Geschichte Krupps interessiert sind. Bei den anderen Jubiläumsgratulanten bedankt man sich ohnehin besser mit einem Fläschchen Krimsekt.

Das Jubiläumsbuch zum Jubiläum kostet nun bei den örtlichen Großbuchhändlern, bei der Mayerschen und Thalia, nurmehr ein Drittel seines Originalpreises und wird so hoffentlich noch viele dankbare Käufer, Leser und vor allem Betrachter finden. Die verdient es nämlich, denn es bietet eine Fülle nie zuvor veröffentlichter Bilder mit großer Aussagekraft und hohem Erkenntniswert. „Herr Prof. Dr. h. c. mult. Berthold Beitz (*1913) und die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung“ haben als Inhaber des Historischen Archivs Krupp in Essen die Abdruckgenehmigung für diese Bilder erteilt. Ausdrücklich heißt es aber einschränkend: „Die Bildrechte verbleiben weiterhin beim Historischen Archiv Krupp.“

Tja, was heißt das nun für mich, den kirchenmausarmen Non-Profit-Blogger? Darf ich meinen doch ganz unschuldig für dieses schöne (und zudem jetzt selbst für mich noch erschwingliche) Buch werbenden Artikel nicht mit einem Bild aus dem besagten Buch schmücken? Zum Beispiel mit jenem Foto des „Stammhauses“ von 1935, inmitten der Werksanlagen zwischen der Rückseite des neuen Hauptverwaltungsgebäudes und dem Martinwerk 3? Na gut, dann scanne ich dieses berühmte Bild nicht von Seite 57 des neuen Buches, sondern von der Tiefdrucktafel gegenüber Seite 206 des Buches von Wilhelm Berdrow, das zum Jubiläum 150 Jahre Krupp 1937 [!] erschienen ist.

(Und der guten Form halber hier auch die vollständigen bibliographischen Angaben beider Bücher. Wilhelm Berdrow: Alfred Krupp und sein Geschlecht. 150 Jahre Krupp-Geschichte 1787-1937 nach den Quellen der Familie und des Werks. Mit über 100 Bildern im Text und auf 32 Tiefdrucktafeln. Berlin: Verlag für Sozialpolitik, Wirtschaft und Statistik Paul Schmidt, 1937. – Klaus Tenfelde: „Krupp bleibt doch Krupp“. Ein Jahrhundertfest: Das Jubiläum der Firma Fried. Krupp AG in Essen 1912. Essen: Klartext Verlag, 2005.)

Protected: Ein Präsident

Friday, 25. September 2009

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Vorlesepein (I)

Friday, 25. September 2009

Noch so ein Motiv rund ums Buch, das es mir seit Langem angetan hat: der Dichter als Vorleser. Als Buchhändler „in leitender Stellung“, zeitweise zuständig für Werbung und Marketing, hatte ich mich neben anderen honorigen Aufgaben auch um Autorenlesungen zu kümmern – ein nicht immer ganz einfaches, oft sogar nervtötendes, selten dankbares Tätigkeitsfeld. Die Autoren kamen meist schon mit Vorbehalten in unsere Stadt. Zwischen Düsseldorf gestern und Münster morgen war ihnen vom Verlag zum Überfluss und -druss noch diese langweilige Ruhrmetropole aufs Auge gedrückt worden.

Wir Buchhändler sehen den Lesungen ja auch oft mit gemischten Gefühlen entgegen. Im günstigsten Fall hat der Gast die Talente eines guten Alleinunterhalters, liest nicht viel, erzählt lieber, was ihm gerade in den Sinn kommt, führt vor, dass Dichter auch bloß Menschen aus Knochen, Sehnen und Speck sind et cetera. Als einen solchen herzlichen Menschenfreund habe ich als seltenes Beispiel Volker Elis Pilgrim in guter Erinnerung. Was für ein Buch er damals vorgestellt hat, der eigentliche Anlass seines Besuchs also? Ist mir völlig entfallen.

Gegen solche seltenen Ausnahmen stehen leider etliche Totalversager, was Rezitationskunst und Selbstdarstellung betrifft. Peter Handkes Lesung zum Beispiel, wohl aus Der kurze Brief zum langen Abschied, eine der ersten, die ich noch als namenloser Zuhörer besuchte? Ein schnell und dauerhaft wirkendes Schlafmittel, das mich ein für alle Mal gegen diesen schriftstellernden Poeten einnahm. – Und Hans Mayer mit seinen Erinnerungen, Ein Deutscher auf Widerruf? Die Herablassung in Person! Er beschwerte sich bitterlich bei seinem Publikum, dass es nicht in größerer Stückzahl erscheine, um den Ausführungen eines so bedeutenden Mannes zu lauschen, wie er doch bekanntermaßen einer sei. Er komme gerade aus Detmold oder Wesel, selbst da seien mehr Menschen erschienen als hier, in dieser „angeblichen Großstadt namens Essen“. Damals gab es das Wort „fremdschämen“ noch nicht, vermutlich ist es aber einem Buchhändler bei einem solchen peinlichen Anlass eingefallen.

Das Verhältnis unserer Dichter zu den Buchhandlungen, in denen sie auf Geheiß ihrer Verleger lesen müssen, ähnelt dem Verhältnis von uns Buchhändlern zu den Dichterlesungen, die uns die Freizeit rauben und kaum zusätzlichen Umsatz bringen, aufs Haar in der Suppe: Man mag’s nicht, man ekelt sich und könnte laufen gehen. Ein schönes Beispiel für diese Aversion habe ich gerade eben in einem veröffentlichten Tagebuch gefunden, aus der Nachbarstadt Dortmund und insofern besonders interessant für den Revierflaneur: „15. 3 [1972] – 10.33 Abfahrt nach Dortmund und ein schönes diesiges Blau über einige 100 Kilometer verheißungsvoll hingestreckt, also richtig ,Frühling läßt sein blaues Band …‘ In D. dann allerdings als erster Eindruck ein Hotelrestaurant mit dem Namen ,Bahnhofsblick‘, was mir nicht gerade einladend schien und am ehesten noch den ,drei Paßbildern‘ entsprach, die man mir im voraus für Presse u. Veranstaltungskalender abgefordert hatte. Auch war kein Abholer / Cicerone am Zug, wie es allgemein üblich ist, im Hotel kein Grußbilett oder sonstiges Aufmerksamkeitszeichen bei der Rezeption hinterlegt, nicht mal eine Telefonnummer, an die ich mich hätte wenden können, also abends allein u. zufuß zum ,Museum am Ostwall‘, wo die Lesung stattfinden sollte. Der Empfang durch die beiden Kultursachverständigen Herren Wolf u. Thiemann (o. ä.) entsprechend frostig bis unhöflich und die drei Einführungssätze vor Beginn auch nicht gerade zum lustigen Loslegen ermunternd. Das Publikum zunächst von fast einschläfernder Geduld, anscheinend schon jahrelang hinter dem Gatter gehalten u. insofern unsicher, ob man bei Bedarf lachen oder applaudieren oder wenigstens versonnen nicken dürfe. Erst in der unvermeidlichen Diskussion plötzlich von der Aggressivität losgelassener Hofhunde: ,Möchte’ mal fragen, ob Se ne unbewältigte Vergangenheit ham?!‘ War Gottseidank durch u. durch erkältet, fast schon taub, so daß ich meiner Geburtsstadt angemessen begegnen konnte: ,Nee, Vergangenheit, schon alles klar, aber Ihre Gegenwart wohl in diesem musischen Kreis eher einem Mißverständnis zu verdanken.‘ Erstes Wiedersehen mit D-Mund nach meinem Geburtstag am 25. 10. 29. – Kühler unpersönlicher Abschied. Sachlich Tasche gepackt. Blicklos lieblose Pfoten berührt.“ (Peter Rühmkorf: TABU II. Tagebücher 1971-1972. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2004, S. 208 f.)

Man möchte dem nachgehen in die Einzelheiten, der eine der beiden „o. ä.“ namhaft gemachten Gastgeber ist noch einwandfrei identifizierbar, es dürfte sich um Dr. Eugen Thiemann (1925-2001) gehandelt haben, der das Museum am Ostwall in den Jahren von 1967 bis 1987 leitete. Im Unterschied zu ihm gibt es das wenig einladende Hotelrestaurant Bahnhofsblick noch immer, die Adresse ist Königswall 18. Der Fußweg zum Museum dürfte in zehn Minuten zu bewältigen gewesen sein, man könnte ihn, quasi in memoriam, getreulich abschreiten, wenn man denn wüsste, ob Rühmkorf den weiteren, aber sichereren Weg über den Burgwall gewählt oder sich sozusagen querbeet durchgeschlagen hat, zum Beispiel über die Plätze von Amiens und Netanya zum Markt und dann durch die Brauhaus- und Viktoriastraße ans Ziel. Spätestens hier endet aber die Rekonstruktion einer peinlich missglückten Heimkehr, das Museum am Ostwall hat am 18. Juni seine Tore an diesem Ort endgültig geschlossen und wird im Mai 2010 mit neuem Schwung – „Das Kunstmuseum als Kraftwerk“ –  im Dortmunder U eröffnen. – Und was sagt der Fatzke da aus der dritten Reihe? „Möchte’ mal fragen, ob Se ne unbewältigte Vergangenheit ham?!“ Na, das erinnert doch, als wär’s das Negativ zum Positiv, an dieses bekannte Gedicht des verstorbenen Meisters: „[…] Wollte nur mal fragen, wie’s so ist. / Wollte nur mal sehn, ob meine Sterne / Noch am Leuchten sind / Und man mich in der Ferne / Etwa gar vermißt … // Wollte eigentlich, / wollte, weil mein Sinn für das Posthume / wie bekannt in engen Grenzen bleibt / und der Geist auf seiner schmalen Krume / ungenetzt nur parfümierte Blumen treibt, / also, wollte fragen, ob man sich … […].“

[Hier gehts zur Fortsetzung Vorlesepein (II).]

Protected: Erstlesealter (I)

Saturday, 19. September 2009

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Kurzliste

Friday, 18. September 2009

Heute ist die Feinauswahl jener Grobauswahl der 154 deutschsprachigen Romane bekanntgegeben worden, die zwischen dem 1. Oktober 2008 und dem 16. September 2009 erschienen sind. Eine siebenköpfige Jury hat aus den zuvor nominierten 20 Büchern nun noch einmal sechs selektiert, die sie aus gewissen Gründen für die besten hält. Der Jury gehören bei dieser fünften Verleihung des Deutschen Buchpreises sechs Literaturkritiker und ein Buchhändler an: Richard Kämmerlings (Frankfurter Allgemeinen Zeitung), Michael Lemling (Buchhandlung Lehmkuhl, München), Martin Lüdke (freier Literaturkritiker), Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung), Iris Radisch (Die Zeit), Daniela Strigl (Literaturkritikerin und -wissenschaftlerin) und Hubert Winkels (Deutschlandfunk).

Dieser hochrangige Literaturpreis, der schon mit dem französischen Prix Goncourt und dem englischen Booker Prize verglichen wurde, bringt dem Sieger immerhin 25.000 Euro und jede Menge Publicity und seinem Verlag hohe Verkaufszahlen ein. Wo soviel Geld im Spiel ist, lässt der Verdacht nicht auf sich warten, dass die Kriterien der Auswahl und schließlichen Prämierung eben doch nicht rein ästhetische, literarische sind. Im vorigen Jahr um diese Zeit hat es eine hitzige Diskussion über diese Frage gegeben, bei der die Stellungnahme von Monika Maron mir in besonders guter Erinnerung geblieben ist, weshalb ich sie hier in voller Länge zitiere: „Es ist vollkommen gleichgültig, ob die Shortlist akzeptabel ist oder nicht, ob das prämierte Buch den Preis verdient haben wird oder nicht, weil dieser Preis kein Buchpreis, sondern ein Marketingpreis ist. Es geht nicht um Literatur, sondern um die Verkäuflichkeit von Literatur ohne großen Aufwand, vom Stapel weg wie die neueste Single vom neuesten Superstar. Diese krawallige Castingshow dient weder den Verlagen, noch weniger den Autoren, sondern vor allem den bestsellersüchtigen Buchhandelsketten, deren vielgeschmähtes Geschäft wir mit diesem Preis nun aber selbst auf die Spitze treiben. Dieser Preis gehört abgeschafft, schreibt Michael Lentz; recht hat er. Statt dessen spielen alle mit, weil sie fürchten, sonst nie mehr auf den Listen von Hugendubel und Thalia zu landen oder nie wieder, nicht einmal schlecht, rezensiert zu werden, denn die Literaturkritik ist der andere Gewinner des Spektakels. Plötzlich hat sie wieder Macht, nachdem ihre Hymnen oder Verrisse für den Verkauf nahezu wirkungslos geworden waren. Wären wir nicht so unsolidarisch wie wir sind, würden wir, die Autoren, den Buchpreis boykottieren, statt uns als Spielmaterial für Marketingstrategien vorführen zu lassen. Es gibt genügend Preise, die der ernsten und wenig glamourösen Arbeit des Bücherschreibens angemessen sind. Dieser ist es nicht.“ (Monika Maron am 17. September 2009 im „Lesesaal“ von FAZ.NET zu der Frage: „Was taugt die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2008?“)

Da ich nun schon einmal etwas misstrauisch geworden bin, fällt mir doch auf, dass nahezu alle großen belletristischen Verlage in dieser Auswahl vertreten sind: S. Fischer, Hanser, C. H. Beck, Kiepenheuer & Witsch, Resident und Suhrkamp. Keiner kommt doppelt vor – und ein Außenseiter hat es auch nicht geschafft. Komischerweise fielen aber alle Namen der ursprünglichen Longlist, die mir mindestens vom Hörensagen vertraut waren – Sibylle Berg, Thomas Glavinic, Reinhard Jirgl und Brigitte Kronauer – dem Rotstrich der Juroren zum Opfer, mit einer Ausnahme: Herta Müller. Haben also diesmal ganz junge Schreiber eine Chance bekommen? Das kann man auch wieder nicht sagen, denn von den verbliebenen Autorinnen und Autoren der Shortlist zähle ich vier zu meiner Generation: Der Älteste, Norbert Scheuer, ist fünf Jahre älter, Rainer Merkel acht Jahre jünger als ich. Allein Stephan Thome (* 1972) und Clemens J. Setz (* 1982) kann man als Nachwuchsautoren bezeichnen. Nachdem Leseproben aus allen zwanzig Büchern schon in einem Reader präsentiert wurden, der seit dem 23. August in den Buchhandlungen ausliegt, kann man sich von den sieben Finalisten nun ein genaueres Bild machen. Alle sieben Bücher sind erschienen. Erfreulicherweise sind die meisten Romane verhältnismäßig schmal, allein der Wälzer des Jüngsten, von Clemes J. Setz, fällt mit seinen über siebenhundert Seiten aus dem Rahmen. Immerhin muss man aber doch 2.205 Seiten bewältigen und 124,50 € auf den Zahlteller legen, wenn man im Bilde sein will, was die Kenner von der lesenden Zunft in diesem Bücherherbst 2009 für lesenswert halten.

Aber da gibt es ja noch abertausende von Büchern aus den vergangenen Jahren und Jahrhunderten, die ungelesen in den Schränken und Regalen meiner Zuwendung harren. Das Vergnügen, das sie verheißen, hat teils wesentlich vertrauenswürdigere Fürsprecher als die oben genannten Herrschaften und ist zudem ganz kostenlos, denn diese Bücher sind ja längst bezahlt. Woher kommt es nur, dass wir uns immer von der vermeintlichen Brisanz des Aktuellen anstecken lassen? Schon in meiner Zeit als Buchhändler (1978 bis 1995) kam mir irgendwann der Novitäten-Hype im Halbjahresturnus reichlich albern vor. All diese Ignoranten, die an einem meterlangen Klassikerregal – das gab es damals bei G. D. Baedeker an der Kettwiger Straße noch – vorbei auf mich zusteuerten mit der Frage nach dem allerneuesten Roman: Wie degoutant! Und ich gestehe frank und frei: Ich würde mich freuen, wenn der diesjährige Kassenschlager eben nicht vom Deutschen Buchpreisträger käme, sondern von einem Geheimtipp aus der zweiten oder dritten Reihe, aus einem der zahllosen Kleinverlage von Lilienfeld bis Blumenbar, die kein Kassenwart und kein Marketingfritze auf der Rechnung hatte.

Immer schlimmer

Tuesday, 15. September 2009

Wenn die Oma immer schussliger wird und schließlich ihr Rezept vom Doktor am Bankschalter vorlegt, dann ist das eher komisch, allenfalls tragikomisch. Wenn aber ein von allen Medien, Verlagen und seinen Standesgenossen bis zuletzt noch als Doyen der Literaturkritik umschmeichelter, wortgewaltiger, weitläufig belesener Mann des Geistes und der Feder allwöchentlich die Auflösungsprozesse seiner Urteilskraft öffentlich vorführt, dann ist das tragisch – und zudem eine Gemeinheit jener, die ihm dazu die Bühne stellen.

So geschieht es stets am Sonntag in „seiner“ Frankfurter Allgemeinen keinem Geringeren als dem armen Marcel Reich-Ranicki, dessen Verdienste um die TV-adäquate Popularisierung unterhaltender Literatur nicht hoch genug zu schätzen und zu loben sind. Eigentlich sollte er doch auf seine alten Tage nicht nötig haben, dermaßen minderwertige Kolumnen abliefern zu müssen. Ich habe vor über zwei Jahren, damals noch in meinem Westropolis-Blog, einen ersten Stoßseufzer in Richtung FAS-Chefredaktion abgeschickt, den armen alten Mann vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Aber vermutlich haben Leserbefragungen ergeben, dass sein guter Name immer noch für ein paar Prozent der Abonnenten ein Beweggrund ist, das Blatt nicht abzubestellen. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, warum diese Zeitung ihm immer noch die Treue hält. Oder sind die dort Verantwortlichen schlicht zu feige, ihrem „Starautor“ die Wahrheit zu sagen? Wenn er vor Jahren im Fernsehen sein grandseigneureskes Gehabe gelegentlich überzog, dann war dies selbst mit der Dickfelligkeit eines abgehärteten Glotzeguckers kaum noch zu ertragen. Jetzt aber tritt uns kein kauziger Grandseigneur mehr entgegen, vielmehr verschleift sein Tonfall ins dumpf Onkelhafte – und das grenzt nun wirklich an Folter.

Zuletzt hatte Reich-Ranicki sein Heil in der Kürze gesucht und allerknappste Frage-Antwort-Textchen veröffentlicht nach dem Schema: „Warum ist der Autor X heute vergessen? – Weil es sich nicht lohnt, sich seiner zu erinnern.“ Dass er selten eine Begründung für seine Verbannungsurteile für nötig hielt, musste man schon deshalb durchgehen lassen, weil die Fragenden ihre Irritation ja auch nicht begründeten. An dieser Stelle sei mein Argwohn nicht verschwiegen, ob sich Reich-Ranicki nicht nur die Antworten, sondern oft auch die Fragen selbst ausdenkt. Wenn ein Peter Hausmann (Dresden) den Großkritiker was fragt, dann ist es ja schlicht unmöglich zu beweisen, dass in Dresden kein Mann dieses Namens lebt. Ein bekennender Filou war Reich-Ranicki ja immer schon. Und selbst wenn man ihm hier auf die Schliche käme, könnte ihm das nichts mehr anhaben, er wäre vermutlich noch stolz auf seine Schlitzohrigkeit und froh, endlich mal wieder in der Bild-Zeitung zu stehen.

Bei der angeblichen Waltraud Fink, die dem Briefkastenonkel von der FAS in den vergangenen beiden Wochen den folgenden Steilpass zu einer weit ausholenden Antwort lieferte, wird auf die Angabe eines Absendeortes ganz verzichtet: „Wie beurteilen Sie den Literaturkritiker Kurt Tucholsky?“ Nachdem Reich-Ranicki im ersten Teil seines wohl summarisch gemeinten Statements zu Tucholsky festgestellt hat, dass dieser Rezensent keine „Gutachten eines Sachverständigen“ verfasst habe, sondern „Bekenntnisse und Geständnisse eines Betroffenen“, kommt er in Teil zwei auf die Arbeitsbedingungen, um nicht zu sagen: auf die Arbeitsmoral seines großen Vorbilds zu sprechen. Man lese und staune: „Den meisten seiner Rezensionen kann man anmerken, wie rasch er sie schrieb und wie selten er sich bemühte, tiefer in die Materie einzudringen, und wie oft er sich mit Pauschalurteilen und mit gewöhnlichen Klischees begnügte.“ Und nun folgt eine sehr entlarvende Begründung, warum Reich-Ranicki meint, „seinen“ Tucholsky, sozusagen von Rezensent zu Rezensent, dennoch auf das Höchste loben zu müssen. Damit hat er nicht nur eine Ausrede, sondern gleich noch ein namhaftes Vorbild für seine eigene Faulheit und Schlampigkeit.

Gerade fiel mir beim Auspacken meiner Bibliothek die schöne kleine Taschenbuchausgabe von Bierbaums Kasperlegeschichte Zäpfel Kerns Abenteuer (frei nach Pinocchio) in die Hände, die der Insel-Verlag dankenswerterweise 1977 neu herausgebracht hat, und gar mit den alten Illustrationen von Arpad Schmidhammer (s. Titelbild). Der bedeutendste Kritiker unseres Landes in dieser Zeit konnte das Buch nicht finden, „in keinem Nachschlagebuch und in keiner Literaturgeschichte.“ Dafür wusste er aber neulich zu berichten, dass Thomas Manns Buddenbrooks bei ihrem Erscheinen zunächst völlig verkannt worden seien und es lange gedauert habe, bis das Urteil diesem Meisterwerk gerecht wurde. Als die Interviewerin erstaunt nachhakt, macht er wieder, was er immer macht, wenn er bei einem Fehler erwischt wird, viele Male konnten wir’s im Literarischen Quartett bewundern: Er beharrt kurz auf seinem Irrtum, im Brustton der Überzeugung, um dann blitzschnell zu einer weniger angreifbaren Behauptung überzuleiten. – Ach, es ist so fad! Und ich werde nun ganz gewiss kein Wort mehr über den Mann verlieren.

Sonntagszeitung? (II)

Monday, 14. September 2009

Nachdem ich nun gestern Abend alle fünf Artikel gelesen habe, komme ich leider zu einem niederschmetternden Ergebnis. Aber der Reihe nach. – Was uns Julia Encke vom Auftritt der Oulipo-Autoren Hervé Le Tellier, Jacques Roubaud, Ian Monk, Frédéric Forte, Olivier Salon und Marcel Bénabou in einer halben Spalte mitteilt, das richtet sich an Leser, die von Oulipo noch nie zuvor gehört haben – und führt sie nach nur sechzig kurzen Zeilen zu der beruhigenden Einsicht, dass sie sich diesen Namen auch zukünftig nicht merken müssen. Die Kulturwissenschaftlerin Julia Encke hat ein viel beachtetes Buch über die Sinnesorgane im Krieg der Neuzeit geschrieben. Nach der Befassung mit einem so ernsten Thema reagiert man vielleicht notgedrungen ablehnend auf das, was Encke den „Sprachfuror von manischen Sprachformalisten […], von Grammatikfetischisten und Spielern“ nennt. Über die Oulipo-Stars, die am 11. September 2009 in Berlin auf der Bühne des Internationalen Literaturfestivals saßen und „Selbstporträts in Arbeitsproben“ zum Besten gaben, erfahren wir leider nicht viel mehr, als dass sie dabei kicherten: „Sie kicherten eigentlich ununterbrochen. […] Da kicherte man dann auch, in diesem traumhaft vergangenen Theater.“

Na, vielleicht war ja bei dem Erzählwettbewerb am Broadway mehr los, bei dem der Ungar Péter Zilahy, zurzeit Stipendiat im Einstein-Haus in Caputh, seine Geschichte Das Opfer vorgetragen hat. Das ist allerdings schon ein Weilchen her, was die Sonntagszeitung schamvoll verschweigt. Der Leser hätte sonst auf die Frage verfallen können, warum ihm ein New Yorker Bühnenauftritt vom 21. Mai dieses Jahres mit solcher Verspätung noch zum Frühstück serviert wird. Aber Zilahy ist selbst nicht einer von der schnellen Truppe, die Meldung von seiner Spoken-Word-Performance im Symphony Space steht heute noch als Ankündigung (!) auf seiner Homepage. Wenn man sich die vier Archivbilder von dem sympathischen Fabulierer anschaut, wie er da „frei sprechend, ohne Notizen“ wild gestikuliert, dann bereut man, nicht dabeigewesen zu sein, wie das Publikum, abgezählte „840 Zuschauer“, den jungen Ungarn feierten. Schwarz auf weiß nachgelesen ist der Text leider keinen Pfifferling wert. Offenbar ein Seitenfüller der FAS-Redaktion, die nun mal die Übersetzung von Matthias Fienbork bezahlt hat und sich nun mit argem Verzug gezwungen sieht, sie mangels besserer Alternativen zu verwenden.

Jochen Reinecke hat ja mit seiner Idee zum Dauerbrenner Gehen Sie ins Netz? für die nächsten tausend Jahre ausgesorgt. Er verbindet wöchentlich einen originellen Link-Tipp mit einer kleinen Denksportaufgabe, bei der eine Google-Suchabfrage gefunden werden muss, die zu einem bestimmten Ergebnis führt. Für diese Art Hirnakrobaktik habe ich keine Zeit, aber die Links schaue ich mir gelegentlich an. Diesmal wurde mir in Aussicht gestellt, dass ich hier oder dort ein Phantombild erzeugen könnte, das ich zukünftig auf meiner Website als „Porträt des Herausgebers“ zeigen könnte. Na, so ganz bin ich mit dem Ergebnis nicht zufrieden (s. Titelbild).

Mit dem Universalgenie, dem Stettiner Studienrat Hermann Graßmann, lohnt sich‘s vielleicht, eingehendere Bekanntschaft zu schließen. Ein Kandidat für meine Eccentrics? Nach dem, was sich Sabine Wienand in der FAS über ihn abgerungen hat, komme ich zu keinem endgültigen Entschluss. Das Bild macht 825 Quadratzentimeter aus, ihr Text kommt bloß auf 370! Langsam kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass in dieser Sontagszeitungsredaktion ausgesprochene Sonntagsschreiber am Werke sind, Zeilenschinder, die sich jeden einzelnen läppischen Satz abquälen müssen wie ein Obstipierter seine Wurst.

Was bleibt? M. R.-R.s Antwort auf die Frage von Waltraud Fink, wie der Kritiker-Papst den Literaturkritiker Kurt Tucholsky beurteilt. Na, für heute habe ich mich genug geärgert, da mache ich einen eigenen Beitrag draus.

[Und der folgt morgen.]

Sonntagszeitung? (I)

Sunday, 13. September 2009

Warum hält man eine Sonntagszeitung? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der eine Abonnent erträgt, zum Beispiel, die plötzliche Leere am Frühstückstisch nicht, wenn man nach sechsfacher morgendlicher Zeitungslektüre gerade an jenem Tag darauf verzichten soll, an dem man Zeit hätte, ihr ohne jede Hektik zu frönen. Ein anderer findet unter der Woche gar nicht die Zeit, sich das tagesaktuelle Weltgeschehen von der Presse erzählen und erklären zu lassen; so hofft er, am Tag des Herrn eine Zusammenfassung geliefert zu bekommen. Dieser wie jener nimmt vielleicht auch an, dass die Sonntagszeitung sozusagen in feinerem Gewand daherkommt, besonders proper und mit Liebe herausgeputzt, als wollte sich der Journalismus von seiner besten Seite zeigen.

Die beiden Sonntagszeitungen, die mir schon aus meiner Jugend bekannt sind, kamen für mich aus politischer Abneigung nicht in Frage: die Bild am Sonntag und die Welt am Sonntag, beide aus dem Hause Springer. Erst als die Frankfurter Allgemeine im September 2001 landesweit eine eigene Sonntagsausgabe herausbrachte, ließ ich mich zu einem Abonnement verführen, für zuletzt 14,50 € monatlich, das sind 174 € im Jahr oder rund 3,30 € pro Ausgabe – also 40 Cent mehr als am Kiosk oder beim Bäcker. Da stutzt man schon, denn sonst ist doch in aller Regel ein Abo billiger: wegen der langfristigen Verpflichtung, die man da eingeht, auch wegen der Regelmäßigkeit des Bezugs. Zudem zahlt man mindestens für ein Vierteljahr im Voraus. Aber gut, der Zusteller muss ja auch von etwas leben. Und ob die FAS ihren Preis für mich wert ist, das will ich nicht von solchen Kleinigkeiten, gar Kleinlichkeiten abhängig machen.

Sondern ausschließlich vom Inhalt – und vom Nutzen, den mir dieser Inhalt bringt. Und was das betrifft, muss ich zunächst einmal bekennen, dass von dem Dutzend „Heften“, aus denen die Sonntagszeitung besteht, mich zwei Drittel rein gar nichts angehen: Sport, Wirtschaft, Geld & Mehr, Reise, Technik & Motor, Immobilien, Beruf und Chance sowie zwei „Hefte“ Inserate fliegen unbesehen in die Altpapierkiste. Allein dem politischen „Mantel“, dem Feuilleton und den Teilen Wissen und Gesellschaft widme ich ein Viertelstündchen lang meine Aufmerksamkeit, auf der Suche nach Artikeln, die ich am Abend dann eingehender studieren will.

Heute waren es genau fünf: auf S. 24 ein Bericht (von Julia Encke) über den Auftritt von sechs Autoren der Gruppe Oulipo beim Literaturfestival in Berlin; auf S. 27 die deutsche Übersetzung einer Geschichte des Ungarn Péter Zilahy, mit der er einen Erzählwettbewerb im Symphony Space am New Yorker Broadway gewonnen hat; auf S. 29 die stets höchst ärgerliche Rubrik Fragen Sie Reich-Ranicki, die ich mir nie entgehen lasse, weil ich mich über ganz bestimmte Angelegenheiten gern ärgere; auf S. 65 die Rubrik Gehen Sie ins Netz? von Jochen Reinecke; und auf S. 68 ein ganzseitiger Artikel über Das Universalgenie von der Odermündung, den Stettiner Studienrat Hermann Graßmann, der ja ein Kandidat für meine Eccentrics sein könnte. Ob auch nur ein einziger dieser Texte hält, was ich mir von ihm verspreche, das weiß ich noch nicht. Aber schon jetzt kann ich sagen, dass diese Ausbeute viel zu dürftig ist, um den regelmäßigen Pflichtbezug der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung weiter vor meinem Haushaltsplan, meiner Gefährtin und meinem Gewissen zu rechtfertigen. (Letzterem gegenüber kann ich unmöglich verantworten, dass ein gutes Pfund Papier bedruckt wird für diese lächerlichen sechs Artikel, die auf einen Bogen à 30 Gramm passen.)

Ich habe das Abo übrigens schon vor ein paar Tagen gekündigt, gerade noch rechtzeitig vor Beginn des vierten Quartals. Wie üblich war die Abbestellung längst nicht so bequem wie seinerzeit die Bestellung. Eine E-Mail-Adresse speziell zur Kündigung findet man im Impressum nicht. Also sandte ich meine Nachricht an sonntagszeitung@faz.de. Von dort erhielt ich umgehend meine E-Mail zurück, mit persönlichem Abesender, aber ohne jeden Kommentar. Ich fragte sicherheitshalber noch mal nach: „Sehr geehrte Frau Regine Henry, darf ich diese ,Nachricht‘ als Bestätigung der Wirksamkeit meiner Kündigung verstehen? Bitte, teilen Sie mir doch noch mit, ab wann die Kündigung wirksam wird.“ Frau Henry antwortete prompt: „E-Mails in Sachen Abo bitte immer an: vertrieb@faz.de. Ich habe Ihre E-Mail dahin weitergeleitet und bereits eine Eingangsbestätigung erhalten. Post von dort erhalten Sie extra.“ – Und tags drauf kam dann auch diese Extrapost: „Kündigungsbestätigung – Sehr geehrter Herr Hessling, schade, dass Sie sich zur Kündigung des Abonnements der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung entschlossen haben. Selbstverständlich respektieren wir die Gründe, die zu der Entscheidung geführt haben. Vielleicht geben Sie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die als fundierte Informationsquelle gedient hat, dennoch eine neue Chance? Zum Abschluss hier nun der aktuelle Status des Abonnements: Das Abonnement der Sonntagszeitung endet am 30.09.2009.“ Der Respekt, der hier meinen Gründen gezollt wird, ist nun in der Tat so selbstverständlich, dass ich mich frage, warum er dennoch ausdrücklich bekundet wird. Vielleicht, um mich daran zu erinnern, dass es heutzutage durchaus Vertragspartner gibt, die Kündigungen nicht so einfach akzeptieren bzw. vorsorglich Verträge schließen, die im Kleingedruckten Hürden verstecken, durch die eine vorzeitige Kündigung nahezu unmöglich oder doch mindestens äußerst beschwerlich und zeitaufwändig gemacht wird? – Was das angeht, ist die FAS immerhin ein fairer Geschäftspartner gewesen, über den ich mich insofern nicht beklagen kann.

[Teil 2 folgt morgen.]

Rundgang (X)

Saturday, 12. September 2009

Die Kirche der evangelischen Gemeinde Rellinghausen ist uns schon auf einem früheren Rundgang begegnet. Seither habe ich sie aus ganz unterscheidlichen Perspektiven und von verschiedenen Standorten aus betrachtet. So zeigt das Titelbild sie von einem Waldweg aus, den ich bei meinen Spaziergängen mit Lola häufig passiere.

Inzwischen weiß ich, dass das „im Bauhausstil 1934-35 errichtete denkmalgeschützte Gebäude […] der dritte evangelische Kirchenbau Rellinghausens an dieser Stelle [ist]. Der letzte Neubau war notwendig geworden, als infolge des Bergbaus die Kirchengemeinde innerhalb von 40 Jahren von 800 auf 8.000 Mitglieder angewachsen war.“ (Holle, a. a. O., S. 6 f.) Die erste reformierte Kirche wurde 1663 eigeweiht, aber schon zehn Jahre später von durchziehenden französischen Truppen Ludwigs XVI. nahezu zerstört. Ein zweiter Kirchenbau, von dem es auch noch alte Fotos gibt, entstand in den Jahren 1772-75. (Vgl. Ludwig Potthoff: Rellinghausen im Wandel der Zeit. Essen: R. Bacht, 1953, S. 108-112.)

Der gegenwärtige Pfarrer, Andreas Volke-Peine, hat die Geschichte seiner Gemeinde und Kirche in Rellinghausen anlässlich des Jubiläums 1996 „aus evangelischer Sicht“ dargestellt. (Vgl. die Festschrift 1000 Jahre Rellinghausen. Essen: Bacht Verlag, 1995, S. 44-48.) Über die schwierige Zeit der Kirche im Nationalsozialismus und den Kampf zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche am Ort schreibt er: „Die Zeugnisse aus dieser Zeit lassen erkennen, daß auch in der Rellinghauser Gemeinde die Fahne mit dem Hakenkreuz Anhänger hatte und mancher evangelische Christ sich vom Führer verführen ließ. Aber es gab auch stets eine Fraktion, die fest zur Bekennenden Kirche stand und den Mut hatte, offen gegen das nationalsozialistische Gedankengut anzugehen.“ (Ebd., S. 48.)

Betreten habe ich die Kirche immer noch nicht. Ich nähere mich ihr bewusst, langsam, nichts übereilend. Und ich habe nun auch einen gebührenden Anlass gefunden:

Am 26. September, heute in zwei Wochen, gibt der Komponist Gerd Zacher aus Anlass seines 80. Geburtstags ab zwanzig Uhr ein Orgelkonzert in dieser Kirche. Auf dem Programm stehen zwei Ricercari von Johann Sebastian Bach aus dem Musikalischen Opfer und drei Werke von Zacher selbst: Szmaty (1968), Trapez (1993) und Vocalise (1971).

Time is Honey

Friday, 11. September 2009

Mein neuer Telekommunikationsdienstleister, der eigentlich Handyhändler ist, aber solchen kommunikationstechnischen Anachronisten wie mir zuliebe im Nebenberuf auch noch Festnetzanbieter, wendet sich in seiner aktuellen Mobilfunkwerbung offenbar an Kunden, die dreißig Jahre jünger sind als ich und insofern noch viel mehr Zeit zu verschwenden haben. Trotzdem (oder gerade deshalb?) ist die Zeit eine zentrale Botschaft des Marketings dieses Global Players: „Lebe im Jetzt. Surf sofort. […] Es ist Deine Zeit.“ So heißt es in der plump-vertraulichen Duz-Form, an die man ja schon von Ikea her gewöhnt ist.

So ganz möchte man sich’s aber doch nicht mit mir verderben, denn auf der zweiten Seite werde ich dann wieder ganz förmlich gesiezt: „Holen Sie sich das Surf-Sofort-Paket […] und surfen Sie mit DSL-Speed ab der ersten Minute. […] Sofort telefonieren und surfen ohne Wartezeit […] Auspacke, anschließen und gleich lossurfen! Mit dem […] Surf-Sofort-Paket müssen Sie nicht lange warten. Surfen und telefonieren Sie sofort los! […] Konzentrieren Sie sich vom ersten Tag an auf das Wesentliche: Ihren Spaß.“ (Das Titelbild zeigt, wie genau man sich diese Art konzentrierten Spaßes eines solchen stolzen Telekommunikations-Kriegers vorzustellen hat.)

Ich muss da mal nachhaken. Ist denn die mittlerweile zu einem allgegenwärtigen Zeitvertreib gewordene Telefonitis tatsächlich ein Quell der Freude? Ist – Hand aufs Herz! – der Zwang zur telefonischen Erreichbarkeit rund um die Uhr und an jedem beliebigen Ort und Örtchen spaßig? Genau besehen tröstet uns diese Werbebotschaft nur mit dem Fitzelchen Zeit, das man spart, weil der Zutritt zum grenzen- und endlosen Palaver im Idealfall ruckzuck von statten geht. Ansonsten gilt: Wenn du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren. Das Instrument, das du dir da nichtsahnend hast an die Backe nähen lassen, ist ein wahrer Zeitvampir.

Ich beobachte überdies gerade aus nächster Nähe, dass es ein extrem zeitraubendes Unternehmen ist, aus einem solchen ruckzuck geschlossenen Telefonvertrag wieder herauszukommen. Und übrigens gilt hier, wie sonst nur für den Junkie, das grausame Gesetz: Einmal Handy, immer Handy!

Eines muss der Neid den Werbefuzzis solcher Konzerne wirklich lassen: Es gelingt ihnen, ihren Zielgruppen, den juvenilen Kunden ihrer Auftraggeber, Scheiße für reinstes Gold anzudrehen. So lautet etwa eine ihrer unglaublichen Verheißungen: „Telefonieren Sie zum Beispiel günstig in andere Mobilfunknetze oder endlos in ausländische Festnetze.“ Wirklich endlos telefonieren? Ist es das, was sich der Warrior Nr. 10 erträumt? Dann wäre ihm ein Job in einem der zahlreichen Callcenter zu empfehlen. Da bekommt er sogar noch ein kleines Gehalt für seine Lieblingsbeschäftigung.

Verwechslung (I)

Thursday, 10. September 2009

Im ICE nach Frankfurt am Main lauschte ich vor einigen Jahren dem Gespräch zweier Mitreisender, eines sehr ungleichen Paares. Eine offenbar nicht mehr nur leicht alkoholisierte Dame mittleren Alters berichtete ihrem Gegenüber, einem geschniegelten Bürschchen im Angelo-Litrico-Anzug und mit dem Odeur von Zino Davidoffs Cool Water, von ihrer schweren Kindheit ohne Vater. (Nennen wir der Einfachheit halber den Jungen künftig Andy und die Alte Bożena.)

Bożena behauptete, ihr trauriges Dasein dem Seitensprung eines berühmten polnischen Schriftstellers zu verdanken, der Deutschland anlässlich der Uraufführung eines seiner Stücke besucht habe. Erst auf dem Totenbett habe ihre Mutter, die in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren als Souffleuse am Stadttheater gearbeitet hatte, ihr dies gestanden. Bożena schien den Tränen nahe, als sie von ihren vergeblichen Bemühungen berichtete, von ihrem leiblichen Vater, „dem Dichter, diesem Schwein“ als seine Tochter anerkannt zu werden. Ich saß unmittelbar hinter den beiden und hatte keine Chance, die detailreiche Schilderung dieser Familientragödie zu überhören. Ich hätte die Geschichte aber wohl schon am nächsten Tag wieder vergessen, wenn der Erzeuger der Erzählerin nicht ausgerechnet ein Schriftsteller hätte sein müssen. Dieses kleine Detail passte nicht zu ihr, zum Milieu ihrer Herkunft, zu den übrigen Umständen des in jeder Hinsicht bescheidenen Daseins. Wäre der angebliche oder tatsächliche Papa ein berühmter Musik- oder Filmstar gewesen und hätte er z. B. Elvis Presley oder Alain Delon geheißen: geschenkt. Aber ein polnischer Schriftsteller, dessen Name unserem Andy natürlich nichts sagte und den selbst ich nur vom Hörensagen kannte? Damit konnte man als geltungssüchtige Hochstaplerin kaum renommieren.

„Ja, ich weiß, den kennen nur gebildete Leute, aber für die ist er eine Berühmtheit. Vor ein paar Jahren ist seine Autobiographie erschienen und ich komme indirekt auch drin vor. Natürlich nicht mit Namen, so schlau ist der Suffkopp noch, dass er mir keine Beweise an die Hand gibt, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Aber sonst stimmt alles bis ins kleinste Detail.“ So etwa sprach Bożena. Und mein täglich um tausende Zellen ärmer werdendes Gehirn reservierte ihr und ihrem Hallodri von Vater ein winziges Kämmerchen, wo die beiden ein kümmerliches Dasein am Rande der Vergessenheit fristeten.

Bis ich vor ein paar Tagen im Prospekt eines Ramschers blätterte und darin auf ein interessantes Angebot stieß: „Miłosz, Czesław: Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum der Peripherie. – Miłosz folgt in seinem Rückblick auf das 20. Jahrhundert nicht der Chronologie, sondern den ,unvorhersehbaren Assoziationen‘ seiner Erinnerung, die er auf die Willkürlogik des Alphabets bringt. In einer Vielzahl von Stimmen, Porträts und Begegnungen läßt Miłosz das Jahrhundert Revue passieren und verzichtet auf jede selbstglorifizierende Prätention. Ü: Doreen Damme. Gb., 180 S., DEA, (Hanser 2002), R, früher € 15,90, jetzt € 6,00 Nr. 13322.“ – Ach, dachte ich bei mir, ist das nicht der Schürzenjäger aus dem ICE? Bożenas Daddy? Und ist dieses ABC nicht vielleicht genau besagtes Buch, in dem ihre Mutter als dessen kurzzeitige Geliebte vorkommt, zwar mehr oder weniger gut getarnt, aber vielleicht für mich als unfreiwilligen Mitwisser durchaus erkennbar?

Um es kurz zu machen: Er ist es nicht. Ich habe schlichtweg zwei polnische Dichternamen verwechselt. Beide hatten für mich nur eins gemein, dass ich nie eine Zeile von ihnen gelesen hatte. Ich weiß mittlerweile, wer der Richtige gewesen wäre, aber der interessiert mich nun nicht mehr die Bohne. Denn dieser „Falsche“, Czesław Miłosz (1911-2004), ist wirklich und wahrhaftig eine große Entdeckung für mich! Und die gewundenen Wege, auf denen ich zu dieser Offenbarung gelangte, passen ihr wie ausgemessen und angegossen: Habent sua fata libelli. – Übrigens hätte mich bei dieser Verwechslung stutzig machen müssen, dass Miłosz im Unterschied zu dem wahren Verdächtigen Nobelpreisträger war – ein Detail, dass Bożena in ihrer Geschichte ganz sicher nicht unterschlagen hätte, hätte es doch vermutlich selbst den teilnahmslosen Andy mächtig beeindruckt.

[Fortsetzung: Verwechslung (II).]

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Wednesday, 09. September 2009

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Tuesday, 08. September 2009

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Rundgang (IX)

Monday, 07. September 2009

Einen liebevoll gestalteten, handlichen Wanderführer der unmittelbaren Umgebung hat die Bürgerschaft Rellinghausen – Stadtwald e. V. herausgegeben. (Marlies Holle: Wandern auf kultur- und industriegeschichtlichen Pfaden in Rellinghausen/Stadtwald. Essen o. J. [2004].)

Die Wanderwege, von denen einer geradewegs vor dem Fenster meines Arbeitszimmers vorbeiführt, erstrecken sich von der Siedlung Altenhof im Westen bis zur Gaststätte „Zornige Ameise“ im Osten, von der Zeche Ludwig im Norden bis zur Zeche Gottfried-Wilhelm im Süden.

Tatsächlich sind die Spuren des Kohleabbaus, von dem das ganze Revier viele Jahrzehnte lebte und dem es seine rasante Entwicklung im 19. Jahrhundert verdankte, noch überall zu entdecken, wenn man nur aufmerksam ist und darauf achtet. So führt uns einer unser bevorzugten Spaziergänge durch den Schellenberger Wald regelmäßig an einem durch Gitter abgetrennten Areal vorbei, das auf Warntafeln als „Tagesbruch“ ausgewiesen ist.

Gestern las ich in dem genannten Wanderführer, dass sich im Wald bei Schloss Schellenberg, in der Nähe des Mattheywegs noch zahlreiche „Pingen“ entdecken lassen, Schürfstellen an der Erdoberfläche, die von den Anwohnern zur Versorgung ihres privaten Haushaltes ausgebeutet wurden. Und: „Noch immer tritt hier an manchen Stellen Kohle zu Tage.“ (Holle, a. a. O., S. 9.)

Also hielten wir gestern die Augen offen und entdeckten tatsächlich am Fuße eines Hügels, an dessen Gipfel sich ein alter Baum klammerte und unter dem das Erdreich durch Ausschwemmungen in Bewegung geraten war, einige Stückchen Kohle (s. Titelbild).

Romanendzeit

Sunday, 06. September 2009

Gleich zwei Romane mit dem Anspruch, sich als „Jahrhundertromane“ behaupten zu können, werden in diesem Jahr in deutscher Übersetzung vorgelegt. Was für eine Anmaßung, möchte man einwenden, wo das 21. Jahrhundert gerade erst einmal acht Jahre und acht Monate alt ist. Aber die Verlage, die sie hierzulande herausbringen, bürgen durchaus für Seriosität. Auch weilen beide Autoren nicht mehr unter den Lebenden, womit eine wesentliche Voraussetzung für Unsterblichkeit erfüllt ist. Und schließlich sind die beiden Bücher, wie es sich für dergleichen gehört, dick wie Moby.

Da wäre also erstens Roberto Bolaño mit 2666. (A. d. Span. v. Christian Hansen. München: Carl Hanser Verlag, 2009. – 1096 S., Pb. m. Lesebändchen, Fadenheftung. – 29,90 €.)

Und da wäre zweitens David Foster Wallace mit Unendlicher Spaß. (A. d. Am. v. Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. – 1547 S., Pb. m. zwei Lesebändchen, gelumbeckt. – 39,95 €.)

Weder der Chilene noch der Mann aus den USA waren dafür bekannt, fröhliche Menschen zu sein. Foster Wallace litt seit frühester Jugend an Depressionen und hängte sich schließlich Ende vorigen Jahres im Alter von nur 46 Jahren unter seine Schreibstubendecke. Und Bolaño war gerade einmal 50 Jahre alt, als sein jahrelanges Leberleiden ihn hinwegraffte, auch er ein Verzweifelter, dessen Gedanken zeitlebens um Krankheit und Tod kreisten. Können wir von solchen Leidenden erwarten, dass uns ihre Werke ermuntern? Wenn wir aber aus ihnen keine Kraft schöpfen wollen, was dann? Finden wir in solchen Büchern immerhin eine Einsicht, die uns mit unserer Zeit so weit aussöhnt, dass wir den morgigen Tag überstehen? Es sei zugestanden, dass Kunst niemals am Maße ihrer praktischen Nützlichkeit gemessen werden kann. Aber geradezu umbringen sollte uns ein Roman doch auch nicht, oder?

(Romane wie diese beiden gehen übrigens noch einen Schritt weiter, sie treten nicht bloß als Jahrhundert-, sondern gar als Endzeitromane auf. Sie wollen nicht allein das letzte Wort über die Epoche sprechen, der sie entstammen und für die sie stehen, sondern vielmehr das letzte Wort überhaupt – insofern sie unterstellen, dass dies eben die letzte Epoche sei.)

Google-Doodle

Saturday, 05. September 2009

Aus besonderen Anlässen wird gelegentlich das bekannte Google-Symbol auf der Startseite der Suchmaschine – zwei blaue Gs, je ein rotes O und E, ein grünes L und ein gelbes O – grafisch mehr oder weniger stark verfremdet. Aus den beiden Os wird dann z. B. eine Harry-Potter-Brille; und wir User erfahren, ob wir’s nun wissen wollen oder nicht, dass just an diesem Tag der letzte Band dieses unsäglichen Fantasy-Zyklus ausgeliefert wird.

Oft sind die Bilder selbsterklärend, manchmal aber rätselt man, was sich denn nun wieder hinter diesem Google-Doodle – so der Name der Spielerei – verbergen mag. Dann reicht es, mit dem Mauszeiger auf das Logo zu fahren, und man liest in einem kleinen Textfeld, das sich automatisch öffnet, einen sogenannten „Tooltip“, auch „ALT-Tag“ genannt, der das Rätsel aufklärt. Da steht dann z. B. „Christopher-Street-Day“ oder „60 Jahre Currywurst“. Klickt man sodann auf das Google-Doodle, erhält man die Ergebnisse der Suchabfrage zu dem jeweiligen Begriff, wie sonst üblich.

Heute ist das zweite, sonst gelbe O in einer Art Glaskolben oder Kristallzylinder zu sehen, der sich nach oben hin verjüngt:

Auf dem Kolben ruht ein Hut mit breiter Krempe, den man aber auch als Halbkugel mit einer flachen Scheibe interpretieren könnte, oder als stilisierten Saturn mit seinen Mondringen, oder als unbekanntes Flugobjekt. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt – zumal uns diesmal kein Tooltip auf die Sprünge hilft.

Klickt man auf das Doodle, dann erhält man die Links zu den (zurzeit, nämlich um 10:00 Uhr MEZ) „ungefähr 49.000 Ergebnissen“ die sich mit der Frage befassen, was das ominöse Ding bedeuten soll, wobei diese Ausbeute nur die deutsche Google-Site betrifft. Auch in vielen anderen Ländern wird diskutiert und spekuliert, was es mit dem „rätselhaften Phänomen“, dem „Misteri inspiegabili ed insoluti“, dem „onverklaarbare verschijning“, dem „Fenómenos Inexplicáveis“ oder dem „Unexplained Phenomenon“ auf sich hat.

Hier die überraschende Lösung. Bei dem halbkugelförmigen Ding am Kopf des „Salzstreuers“ handelt es sich um ein stählernes Kunstobjekt, das sich auf dem Essener Ardeyplatz befindet, nur fünf Minuten von meiner neuen Wohnung entfernt (s. Titelbild). Schon immer haben die Bürger von Rellinghausen gerätselt, was sich wohl darunter befinden mag. Nun hat Google freundlicherweise dieses Rätsel gelüftet. Ein transparenter Kristall-Stalaktit reicht hier fünf Meter tief in den Boden. Eingeschlossen wie ein Insekt im Bernstein befindet sich darin ein O, das freilich auch als Null gelesen werden kann. Und wie hat kein anderer als Gottfried Wilhelm Leibniz die Null genannt? „… eine wunderbare Zuflucht des göttlichen Geistes – beinahe ein Zwitter zwischen Sein und Nicht-Sein.“ (Hier zit. nach Charles Seife: Zwilling der Unendlichkeit. Eine Biographie der Zahl Null. A. d. Am. v. Michael Zillgitt. Berlin: Berlin Verlag, 2000, S. 150.) – Das Rätsel ist also nicht mehr, was das auf dem Bild darstellt, sondern nur noch, warum Google es ausgerechnet heute doodelt.

Protected: Frischer Anschluss

Friday, 04. September 2009

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Rundgang (VIII)

Friday, 04. September 2009

Mittlerweile haben wir unseren neuen Stadtteil wieder ein bisschen besser kennengelernt – nämlich statistisch. Am vergangenen Sonntag fanden ja in Nordrhein-Westfalen die Kommunalwahlen statt.

Das (nicht barrierefreie) Wahllokal für unseren Stimmbezirk, einen von vier in Rellinghausen, befand sich in der Albert-Einstein-Schule am Ardeyplatz (s. Titelbild). Dummerweise hatten wir unsere Wahlbenachrichtigungen nicht dabei und die Wahlhelfer hatten einige Mühe, uns Neubürger in ihrer langen Liste zu finden. Aber schließlich erhielten wir dann doch die drei Wahlzettel, einen für die Wahl des Oberbürgermeisters, einen zur Wahl des Stadtrates und einen zur Wahl der Bezirksvertretung.

Nachdem nun die Ergebnisse im Internet veröffentlicht sind, wissen wir, dass es zum Stichtag 3.060 Wahlberechtigte in unserem neuen Stadtteil gab, von denen sich rund 60 Prozent an diesen Wahlen beteiligt haben. Rellinghausen gehört zu jenen Stadtteilen, in denen der OB-Kandidat der CDU, Franz-Josef Britz, die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnen konnte, allerdings relativ knapp gefolgt vom Kandidaten der SPD, Reinhard Paß, der stadtweit zum neuen Essener Oberbürgermeister gewählt wurde. Die Kandidatin der Grünen, Hiltrud Schmutzler-Jäger, erreichte in Rellinghausen nur knapp über fünf Prozent, sogar noch etwas weniger als Christian Stratmann von der FDP.

Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich auch aus den Zahlenverhältnissen der beiden anderen Wahlen. Rellinghausen ist ein politisch eher konservativ orientierter Stadtteil mit hohem Stimmanteil für die beiden großen Volksparteien: Zusammen bringen sie es auf gut drei Viertel der abgegebenen gültigen Stimmen. Radikale Parteien wie die Republikaner, Die Linke oder die DKP sind weit abgeschlagen. Und die Freie Wählergemeinschaft des Essener Bürger-Bündnisses, die nach ihrer Gründung vor ein paar Jahren vom Zorn vieler Wähler auf den „roten Filz“ im Rathaus profitieren konnten, sinkt in unserem Stadtteil wie auch im übrigen Stadtgebiet zurück in die Bedeutungslosigkeit.

Interessant ist vielleicht noch folgende Berechnung. Die Einwohnerstatistik nach Stadtteilen (Stand: 30. September 2009) weist für Rellinghausen 3.628 Personen aus. Zieht man hiervon die 3.060 Wahlberechtigten ab, dann wohnen hier also 568 Menschen unter 16 Jahren. Dieser geringe Anteil von nur 15 Prozent entspricht aber dem Durchschnitt in Deutschland ziemlich genau.

Inspiration

Thursday, 03. September 2009

Das zehnte Kapitel von Knut Hamsuns zweitem Roman, Mysterien, erzählt von einem Besuch des von aller Welt verspotteten und geschundenen Minute auf Nagels Zimmer, in dessen Verlauf sich der undurchschaubare Held dieses verwirrenden Buches, wie man so sagt: hoffnungslos betrinkt. (Knut Hamsun: Mysterien. A. d. Norw. v. J[ulius] Sandmeier. Nachw. v. Edzard Schaper. Zürich: Manesse Verlag, 1958, S. 200-230.)

Da der in jeder Hinsicht bescheidene Minute kaum einmal etwas sagt, besteht dieses starke Kapitel des Romans im Wesentlichen aus einem Monolog des Johan Nilsen Nagel, von dem der Leser an dieser Stelle immer noch nicht weiß, in welcher Angelegenheit er die kleine norwegische Küstenstadt besucht, ob er wirklich nur nach Entspannung sucht oder etwas Böses im Schilde führt, was er mit seinen vermeintlich „guten Taten“ bezweckt und so fort.

Anfangs sind die Ausführungen Nagels gegenüber seinem Schützling Minute noch halbwegs verständlich. Doch je mehr er dem Alkohol zugesprochen hat, desto fahriger wird seine Rede. Dieser schrittweise Zerfall der Stringenz seiner Rede, diese Zersetzung von Logik und Syntax, dieser allmähliche Übergang zu scheinbar völlig unzusammenhängenden Gedankenfragmenten gelingt Hamsun so gut, dass ich stellenweise den Verdacht hegte, er habe sich vorm Schreiben dieses Kapitels volllaufen lassen.

Es gibt ja durchaus dergleichen literarische Selbstversuche mit Rauschzuständen. So soll der Autor der Schatzinsel sich zu seiner vielleicht besten Novelle, der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, durch exzessiven Koksgenuss anregen lassen haben: „Äußerst interessant ist eine Studie über Robert Louis Stevenson (1850-1894). Nach einer Analyse des amerikanischen Arztes Myron G. Schultz (1971) soll der weltberühmte englische Autor im Herbst 1885 Kokain als Medikament gegen seinen chronischen Katarrh erhalten haben. Die Droge wurde damals in der medizinischen Welt als Wundermittel gegen alle möglichen Krankheiten gefeiert und just zu jener Zeit erschien auch in der britischen Ärzteschrift The Lancet ein sehr positiver Artikel über die Wirkungen des Alkaloids. Schultz vermutet nun, daß Stevenson unter dem Einfluß dieser Droge sein bekanntestes Werk Dr. Jekyll and Mr. Hyde schrieb. Und zwar verfaßte er zwei Versionen des Buches innerhalb von sechs Tagen, eine unglaubliche Leistung, vor allem, nachdem er vorher lange Zeit äußerst unproduktiv gewesen war. Sowohl dieser physische und psychische Gewaltakt (der sehr für die Wirkung von Kokain spricht) als auch die Handlung des Romans sprechen für die aufgestellte Hypothese: Der Held der Erzählung verwandelt sich unter dem Einfluß eines Pulvers (!) über Nacht aus einem angenehmen, gütigen Zeitgenossen in einen bösartigen Unhold, der Menschen tötet. In dieser Verwandlung ist sehr plastisch der charakterzerstörende Effekt des Kokains bei anhaltendem Mißbrauch wiedergegeben.“ (Wolfgang Schmidbauer / Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, S. 193 f.; vgl. Myron G. Schultz: The Strange Case of Robert Louis Stevenson; in: Journal of the American Medical Association 216, 1971, S. 90-94.)

Dass Knut Hamsun im Laufe seines langen Lebens häufig dem Alkohol zusprach und für einen langen Lebensabschnitt vermutlich gar als Alkoholiker bezeichnet werden darf, ist bekannt. Dass er den Alkoholrausch also nicht nur aus der unbeteiligten Betrachtung seiner besoffenen Zeitgenossen, sondern schon früh auch aus eigenem Erleben kannte, ist somit kaum bestreitbar. Und sein Biograph Ferguson teilt sogar mit, dass er sich bei der Niederschrift von Mysterien „Inspiration aus Sprit“ holte, wenn seine Arbeit ins Stocken geriet und sein Kopf sich anfühlte „wie ein abgehackter Fischkopf mit klaffendem Maul“, der einfach alle Denktätigkeit eingestellt hatte: „Wenn das eintrat, ließ er für gewöhnlich die Arbeit liegen und ging in die Stadt, setzte sich in ein Theater oder ging in eine obskure Bar etwas trinken.“ (Robert Ferguson:  Knut Hamsun – Leben gegen den Strom. Biographie. A. d. Engl. v. Götz Burghardt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1992, S. 194.) – Vielleicht ist das zehnte Kapitel von Mysterien ja unmittelbar nach einem solchen Besuch in dieser obskuren Bar zustande gekommen, wer weiß?

Protected: Du tu dies, du das!

Wednesday, 02. September 2009

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Quasselknochen

Wednesday, 02. September 2009

Endlich komme ich wieder dazu, alte Freundschaften zu erneuern, wenngleich vorläufig nur fernmündlich. Nachdem unsere Rufnummer infolge eines Wechsels des Anbieters geändert werden musste, liefen die Bemühungen einiger mir nahestehender Menschen, mit mir in Verbindung zu treten, wiederholt ins Leere, vorzugsweise natürlich jener, die den Austausch per E-Mail nicht zu ihren geläufigen Kommunikationstechniken zählen. Weil mir selbst dieser Informationsweg ganz selbstverständlich geworden ist, konnte es mir geschehen, dass ich diese „Anachronisten“ für ein Weilchen gar nicht mehr auf der Rechnung hatte. An alle Adressen in unserem Outlook-Sammelverteiler hatte ich eine knappe E-Mail mit unserer neuen Anschrift und Telefonnummer geschickt und irrigerweise angenommen, damit meine Pflicht getan zu haben. Daran sieht man, wie folgenreich es ist, wenn man an einer neuen Kommunikationstechnik, aus welchen Gründen auch immer, nicht teilnimmt. In letzter Konsequenz führt es wohl zur sozialen Isolation.

Ich selbst suche einen für mich maßgeschneiderten Mittelweg und entscheide nach gründlicher Prüfung von Fall zu Fall, welche „Werkzeuge“ ich für den Austausch von Informationen mit meinen Mitmenschen nutzen will und auf welche ich bewusst verzichte. Dabei bemühe ich mich, wo eben möglich auf zeitraubendes und nervtötendes Hightech-Spielzeug zu verzichten. Dass der Gebrauch der meisten dieser Gerätschaften stark suchtbildend ist – sonst wären sie ja nicht so erfolgreich –, das weiß ich zur Genüge und bin deshalb auf der Hut, bevor ich mich mit ihnen einlasse.

Sehr zum Erstaunen vieler besitze ich zum Beispiel noch immer kein Mobiltelefon. Während des Umzugs, als wir zeitweise weder in der „alten“ noch in der „neuen“ Wohnung einen Festnetzanschluss hatten und dauernd getrennt unterwegs waren, teils zwischen den beiden Wohnungen, teils auf dem Weg zu Baumärkten, Möbelgeschäften usw., da erwies es sich vorübergehend als ausgesprochen bequem und vor allem zeitsparend, dass mir meine Gefährtin ihr Zweithandy zur Verfügung gestellt hatte. Ich begann, mich an diesen vermeintlichen Luxus zu gewöhnen und erwog für eine kurze Zeit, mir selbst einen solchen Quasselknochen zuzulegen.

Dann machte ich mir aber doch rechtzeitig die Nachteile dieser Optionen bewusst: ständig auch unterwegs erreichbar zu sein und von überall her mit jedem Fernsprechteilnehmer in Verbindung treten zu können. Wollte ich das? Wenn ich entspannt und frohen Sinnes durch den Wald spazierte, dann riss mich urplötzlich dieses zunächst anonyme Klingeln aus meinem Wohlbehagen, das sich dann in einer Stimme personifizierte, die mich bat, einem meiner Söhne etwas auszurichten oder ein persönliches Treffen mit mir vereinbaren wollte oder mich fragte, ob ich vielleicht die Handynummer von diesem oder jener wüsste oder sich am Ende gar – tatsächlich? angeblich? – verwählt hatte. Selbst wenn das Telefonat selbst nur eine Minute gedauert hatte, brauchte ich anschließend eine Viertelstunde, bis ich diese Störung mental und emotional restlos verdaut und vergessen hatte.

Ich kenne den Einwand, dass man den Signalton eines Handys ja mit einem Tastendruck jederzeit abstellen kann. Aber tut man das? Es gelingt vielen Zeitgenossen ja nicht einmal, daran zu denken, wenn sie sich in ein Symphoniekonzert oder eine Kirche begeben. Schließlich läuft dieses „Auflautlosstellen“ des Apparates ja auch seinem Prinzip und seinem eigentlichen Anspruch ständiger Empfangsbereitschaft zuwider. Sicher, es gibt diese Momente, wo ich vorm Supermarktregal stehe und mich frage, ob ich meiner Gefährtin Johannisbeer- oder Brombeermarmelade mitbringen sollte. Jetzt wäre es doch so einfach, diese Frage mit einem kurzen Handytelefonat zu klären. Aber dagegen stehen etliche andere Momente, in denen ich unterwegs von Anrufern gestört würde. Und die Zeit, in der ich unterwegs bin, empfinde ich auch deshalb als eine angenehme, weil ich dabei eben gerade vor Störungen dieser Art sicher bin. Es reicht doch schon, wenn daheim jederzeit das Telefon klingeln kann, oder? – Immerhin, dort leiste ich mir schon seit Urzeiten einen schnurlosen Quasselknochen (s. Titelbild).

Anarchie!

Tuesday, 01. September 2009

Ich war so um die sechzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal erkannte, wie Sprache manipuliert und zur Manipulation instrumentalisiert werden kann, wie durch Um- und Entwertung von Begriffen politische Gegner diskreditiert, marginalisiert oder gar kriminalisiert werden, wie durch penetrante Wiederholung von falsch verwendeten Wörtern deren Sinn schließlich völlig entstellt, ja geradezu ins Gegenteil verkehrt wird. Das so facetten- wie lehrreiche Beispiel, an dem sich all dies aufzeigen durchschauen ließ, was das Wort „Anarchismus“.

Die politischen Gewalttäter um Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die sich in der Roten Armee-Fraktion (RAF) formiert hatten, um durch Banküberfälle, Sprengstoffattentate, Entführungen und zuletzt Mordanschläge die BRD unter Druck zu setzen, wurden erst lange Zeit in den bürgerlichen Medien allgemein als „Anarchisten“ bezeichnet, bevor sich schließlich der bis heute gültige Begriff „Terroristen“ durchsetzte, der dann freilich für gewalttätige Untergrundarmeen jeglicher Couleur Verwendung fand und findet.

Sehr bald fand ich heraus, dass die RAF mit den Zielen des klassischen Anarchismus wenig gemein hatte, vielmehr sowohl in ihren Vorstellungen von der „Zeit nach dem Sieg“ als auch im Verhalten untereinander während des bewaffneten Kampfes viel eher stalinistische Züge aufwies. Betrachtete man von der anderen Seite her den Anarchismus seit Michail Bakunin, dann fielen zwar einige terroristische Taten ins Auge, die die Zeitgenossen schockierten und die bis heute in den Geschichtsbüchern stehen. Doch kann kein unvoreingenommener Betrachter mit Blick auf das ganze Phänomen dieser politischen Geistesrichtung zu dem Ergebnis kommen, dass terroristische Gewalt einen bedeutenden Wesenszug des Anarchismus ausmacht oder gar mit diesem identisch ist.

Idee, Geschichte und Perspektiven des Anarchismus hat einer seiner besten Kenner der neueren Zeit, Horst Stowasser, vor zwei Jahren in einem Standardwerk zum Thema, zugleich seinem Lebens-Hauptwerk, auf 500 Seiten erschöpfend dargestellt. (Anarchie! Hamburg: Edition Nautilus / Verlag Lutz Schulenburg, 2007.) Wer in unseren langweilig perspektivlosen Zeiten, in denen selbst Träume nur noch gegen Eintrittsgeld zu haben sind, eine Ahnung von den Lüsten des politischen Utopismus gewinnen will, dem sei dieses Buch wärmstens ans Herz gelegt. Eine kleine Kritik kann ich mir nicht verkneifen: dass die Gewaltfrage, die doch auch den Anarchismus lange beschäftigt hat, bei Stowasser nahezu völlig ausgeklammert wird. Als ich im Zusammenhang mit meiner Pynchon-Lektüre über das Bombenattentat am Chicagoer Haymarket recherchierte, verwunderte mich, dass dieses Ereignis in Anarchie! überhaupt nicht vorkommt. Das Kapitel über den „Anarchismus und die Bombe“ (S. 315-326) ist leider das schwächste des sonst so leidenschaftlichen und gehaltvollen Buches.

Den Verdiensten des Autors um die theoretische und praktische Wiederbelebung des Anarchismus in unserer Zeit und in diesem Land tut das aber keinen Abbruch. Horst Stowasser ist heute im Alter von nur 58 Jahren in Neustadt an der Weinstraße gestorben.

Pushkids (V)

Tuesday, 01. September 2009

Wenn ich aus der sicheren Distanz mehrerer Wochen und nach dem zwischenzeitlichen Hinaustragen von drei Müllbeuteln auf den Augenblick der Wahrheit zurückschaue, dann vermag ich die verschiedenen Faktoren, die zu meiner (oder unserer?) Entscheidung führten, vermutlich nicht mehr vollständig aufzuzählen, geschweige denn exakt zu gewichten.

Nicht unwesentlich war der optische, akustische, haptische Eindruck, den schließlich ein knallroter 22-Liter-Baseboy auf mich machte. Endlich einmal ein reales Exemplar jener unüberschaubar großen Produktfamilie aus dem Hause Wesco vor mir zu sehen, statt immer bloß Popup-Bildchen aus dem Internet, das war vielleicht kein sonderlich überzeugendes Kaufargument für gerade dieses Exemplar, vermittelte aber doch offenbar einen ausreichend starken Kaufimpuls, um 169 Euro locker zu machen – und dazu noch 3,50 Euro für zwanzig Original-Müllbeutel der Nobelmarke.

Zu diesem dann mich selbst überraschend schnellen Entschluss kam es wohl auch deshalb, weil mir das ergebnislose Hin und Her, das Abwägen von Für und Wider, das wenig zielführende Spekulieren über Eventulaitäten, Risiken, Vor- und Nachteile schließlich ganz furchtbar auf den Wecker ging. Verdammt noch mal, ich war die fliegenumwölkten Provisorien an der Türklinke leid!

Jetzt steht „the brave fireman“, wie ich unseren Wesco mittlerweile getauft habe, brav auf seinem Stammplatz zwischen der Schlachtbank und Lolas Näpfen, sagt kein Wort, klappt per Fußtritt mühelos auf, bedarf zum Zuklappen aber eines leichten Kläpschens mit der Hand, muss nur einmal pro Woche geleert werden und gibt sich auch mit No-Name-Müllbeuteln problemlos zufrieden.

Mit anderen Worten: Dafür, dass wir uns vor seiner Anschaffung so lange geziert haben, erweist sich „the brave fireman“ als ein überaus genügsamer und diensteifriger Mitbewohner.

Umzugsreste (III)

Monday, 31. August 2009

Ein Parallelogramm ist ein Viereck mit paarweise parallelen Seiten. Bei einem Parallelogramm sind die einander gegenüberliegenden Seiten gleich lang. Auch die einander gegenüberliegenden Winkel sind gleich groß. Ein Rechteck ist ein Viereck mit vier gleichen, also rechten Winkeln und insofern ein spezielles Parallelogramm. Auch beim Rechteck sind die gegenüberliegenden Seiten gleich lang.

Ein konkretes Beispiel für ein Rechteck ist das gewöhnliche Bücherregal. Der Rahmen des Regals besteht aus einem Boden und einer gleich langen Decke sowie zwei ebenfalls gleich langen Seitenteilen. Alle vier Winkel sollten im Idealfall 90° betragen. Sonst ist das Regal schief und droht umzukippen.

Etliche Bücherregale verschiedener Größe und unterschiedlicher Bauart befanden sich in meinem Bücherkeller unter der „alten“ Wohnung. Sie bildeten dort ein für den unvorbereiteten Besucher labyrinthisch erscheinendes Gewirr von Gängen und Sackgassen. Einer dieser irritierten Inspizienten sprach einmal von meinen „Bucherkatakomben“, ein zwar etwas übertriebener Ausdruck, den ich dennoch gern übernahm.

Nun stellte sich also die wenig verlockende Aufgabe, dieses mit den Jahren ständig weiter gewucherte Ungetüm von Bücherlager aufzulösen, die ineinander verwachsenen, verbundenen und verwobenen Regale leerzuräumen und abzubauen. Dabei hatte ich von den ursprünglichen statischen Gegebenheiten offenbar keinen rechten Plan mehr, denn es widerfuhr mir das Missgeschick, dass ich ein Regal leerte und teilweise demontierte, das eine unentbehrliche Stützfunktion für zwei weitere, noch voll beladene Regale hatte. Der katastrophale Effekt dieser voreiligen Demontage war, dass sich die Seitenwände beider Regale (schwarz) mit lautem Knirschen und Ächzen in Schräglage begaben und die ursprünglich rechteckigen Rahmen sich in Parallelogramme verwandelten (rot). Wenn die Regale nicht vollends in sich zusammenbrachen, so nur deshalb, weil sie in einem weiteren, etwas entfernt stehenden Regal (fett schwarz) einen Widerpart fanden, der ersatzweise die fehlende Stützfunktion übernahm (rechts im Bild).

Welche Folgen dieser Beinahezusammenbruch für mein schwaches Herz und meinen ohnehin schon stark angegriffenen Gemütszustand hatte, erzähle ich bestimmt kein anderes Mal. Der Schaden an den betroffenen Büchern konnte erfreulicherweise durch eine äußerst gewagte Bergungsaktion in engen Grenzen gehalten werden. Mein neues Bücherlager, das gerade im Aufbau befindlich ist, wird jedenfalls nicht wieder planlos wuchern wie ein Myzel, sondern systematisch aufgerichtet.

Unschreibbare Romane II

Sunday, 30. August 2009

Einer der vielen Romane, die ich immer schon mal schreiben wollte, ist jener für das Science-Fiction-Genre von einem Neurologen, der bei der Messung sehr feiner Hirnströme von kürzlich Verstorbenen, die ihm mit einem von ihm entwickelten neuen Mikrosensor gelingt, auf den Gedanken verfällt, dass den vermeintlich entseelten Toten noch etwas Traumartiges durch den Kopf geht.

Vielleicht, so seine Spekulation, gebären die Zersetzungsvorgänge der Hirnrinde ja schreckliche Phantasien, die auffallend jenen albtraumhaften Vorstellungen ähneln, die seit Jahrhunderten mit Fegefeuer und Hölle verbunden werden.

Unser leicht verrückter Wissenschaftler beschließt, begrenzte Bezirke seines Gehirns für Erkundungen solcher Zersetzungsprozesse zu opfern und führt diese im Selbstversuch herbei. Diese waghalsigen Experimente bestätigen scheinbar seine Theorie. Allerdings sind die Schreckensszenen, die er im abgeschlossenen Theater seines Schädels aufführt, von kurzer Dauer.

Eine unangenehme Begleiterscheinung der autodestruktiven Eingriffe ist zudem, dass der Neurologe partiell mentale Ausfälle erleidet. Sein Gedächtnis weist irritierende Lücken auf. Er tut Dinge gegen seinen eigenen Willen. Die Versuchung, in einem finalen Showdown sein verbliebenes Gehirn zu opfern und dadurch letzte Gewissheit zu erlangen, wird unwiderstehlich.

Dann geschieht das Unfassbare … (Bis hierher und nicht weiter.)

Umzugsreste (II)

Sunday, 30. August 2009

Mit dem 31. Juli endeten Vertrag und Mietzahlungsverpflichtung in unserer „alten“ Wohnung, von der wir uns ursprünglich einmal so viel versprochen hatten, wovon das Wenigste eingelöst wurde, die wir aus allerlei Gründen schließlich sogar zu hassen gelernt hatten und als deren größter Makel sich erwies, dass sie leider keine „Seele“ hatte. („Seele“, in Anführungszeichen wohlgemerkt, versteht hier wohl jeder, auch jene Sorte säkularisierter Nüchterlinge, zu der leider auch ich mich zählen muss, die mit der Seele ohne Anführungszeichen als einer Art immaterieller Innerei des Menschen nichts anzufangen wissen, schon gar nicht, wenn sie ihnen als ein unverfallbares Agens für die Ewigkeit verkauft werden soll.)

Neue Freunde meiner Söhne bemerkten bei ihrem Antrittsbesuch in unserer „alten“ Wohnung nicht selten, dass diese Räume eine Kälte ausstrahlten, ohne genau sagen zu können, wodurch genau dieser Eindruck entstand. „War hier mal eine Zahnarztpraxis oder so was?“, fragte in aller Unschuld der siebzehnjährige P.

Vermutlich hatten wir bei der allerersten Besichtigung selbst genau diesen Eindruck gehabt, was damals auch erklärlich war, denn der Vormieter hatte die Räume nicht als Wohnung genutzt, sondern dort ein Institut für wissenschaftliche Analysen betrieben. An den Wänden liefen ringsum Kabelkanäle zur Vernetzung zahlreicher PCs, unsere spätere Küche war bisher als Fotokopierraum genutzt worden, unter den Decken hingen Plexiglaskästen mit Neonröhren usw. Wir aber hatten in wenigen Wochen alles, was nur von Ferne an die Büroatmosphäre gemahnte, restlos beseitigt, übertüncht, versteckt oder verfremdet. Deshalb war es einigermaßen erstaunlich, dass das kühle Institutsklima in dieser Wohnung bis zuletzt spürbar blieb, wie ein hartnäckiger Geruch nach Lysol, Salmiak oder Katzenpisse, der in den tiefsten Ritzen zu stecken scheint und mit keinem noch so radikalen Geruchsneutralisierer zu beseitigen ist.

Beim Einzug in die „neue“ Wohnung erlebten wir infolgedessen einen wahren Kulturschock. Hier steckt in allen Ecken und Winkeln Leben und Geschichte. Als wir vor Jahren die „alte“ Wohnung ausgemessen hatten, waren wir eher bereit, an der Präzision unseres Millimeterpapiers zu zweifeln als an den Gegebenheiten in diesem Zweckbau, wenn sich beim Aufzeichnen des Grundrisses einmal ein nicht ganz rechter Winkel ergab. Hier hingegen gibt es tatsächlich keinen einzigen ganz rechten Winkel – und diese leichte Schiefheit mutet uns so freundlich und menschlich an, dass wir uns fühlen wie in einem Märchen oder guten Traum.

Das Hexenhäuschen ist urgemütlich und hat „Seele“ satt; und die Hexe ist eine gute Fee!

Pushkids (IV)

Wednesday, 26. August 2009

Ich werde insgeheim gewusst haben, warum ich die Geschichte von Suche und Erwerb eines idealen Küchenabfallbehälters für ein kleines Weilchen auf Eis gelegt habe. Heute jedenfalls fiel mir das Fragment aus eins, zwei, drei Folgen plötzlich wieder ein wie eine im Ansatz stecken gebliebene Sünde, die schon deshalb keine Vergebung findet, weil es ihr am krönenden Abschluss mangelt. Küchenlateiner würden es vielleicht einen cogitus interruptus nennen.

Der Anlass? Ich schnupperte heute ganz oberflächlich im Beibuch zur endlich erschienen deutschen Übersetzung von David Foster Wallacemagnum opus, genauer gesagt in den spaßigen – nicht humorvollen! – Bemerkungen des Übersetzers Ulrich Blumenbach, gemeint als Antwort auf die Frage, „wie ich Infinite Jest lieben und trotzdem übersetzen lernte”, als ich schon auf der vierten Seite auf folgende Stelle stieß:

„Schon auf der ersten Seite stößt man auf die zunächst unverständliche Überschrift ,Year of Glad‘. Im Lauf der Lektüre stellt sich heraus, dass unsere julianisch-/gregorianische Zeitrechnung durch die ,Sponsorenzeit‘ abgelöst worden ist. Amerikanische Konzerne können sich vom Staat ein Jahr kaufen und nach ihren Produkten benennen. Wallace gibt den Jahren nun sehr profane Produktnahmen. Das Year of Glad der ersten Seite heißt so nach einer weitverbreiteten Müllbeutelmarke […].” (Ulrich Blumenbach: Am Fuß vom Text; in: David Foster Wallace – Unendlicher Spaß. Zusatzmaterial. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 16.) – Na, wenn der Name einer Müllbeutelmarke zur allerersten Kapitelüberschrift in einem „Jahrhundertroman” taugt und zur Bezeichnung des letzten Jahres einer fiktiven neuen Zeitrechnung, dann ist das ganze Müllthema vielleicht doch nicht so trivial, wie ich zuletzt selbstkritisch meinte.

Wo waren wir also? Ja, richtig: Es gab da diesen Streit zwischen meiner Gefährtin und mir, bei dem es um die Frage ging, ob der fest zur Anschaffung in den Blick genommene Pushboy (oder meinetwegen auch Baseboy) von der Nobelfirma Wesco nun ausschließlich mit Marken-Müllbeuteln der gleichen Firma zu versehen sein würden, oder ob wir es auch bei gleich- oder immerhin ähnlichformatigen No-Name-Müllbeuteln würden bewenden lassen können, wenn hierdurch laufende Kosten zu verringern wären.

Nach dieser Episode stockte die Erzählung, wie auch unser Kaufvorhaben ins Stocken geriet. Insgeheim malte ich mir aus, wie es wohl wäre, wenn ich vollendete Tatsachen schüfe und kaltblütig sowohl einen 50-Liter-Pushboy von Wesco zum Preis von 130 Euro als auch zehn Packungen à 20 Wesco-Original-Müllbeutel zum Preis von insgesamt 39,90 Euro kaufte, um endlich das Problem vom Tisch zu haben und mich wieder wichtigeren Fragen zuwenden zu können. Andererseits: Konnte ich mir einen solchen Affront gegen meine Gefährtin in dieser durch die Umzugskatastrophe ohnehin schon angespannten Gemütslage, ständig zwischen Hysterie und Apathie schwankend, wirklich leisten? Was, wenn das Müllensemble aus irgendwelchen unvorhergesehenen Gründen nun nicht funktionierte? Dann trug ich die volle Verantwortung und würde unweigerlich auf unabsehbare, jedenfalls sehr lange Zeit Hohn und Spott ertragen müssen: „Wer wollte denn partout seinen Kopf durchsetzen? Ich weigere mich jedenfalls, den Müll rauszubringen. Diese Würgerei bei jedem Rausnehmen des Müllbeutels aus diesem Monstrum tue ich mir nicht an. Viel Spaß!” – Nein, zu diesem Schwerthieb durch den gordischen Knoten konnte ich mich nicht ermannen.

[Wird vielleicht fortgesetzt.]

Rundgang (VII)

Tuesday, 25. August 2009

Da ich dies schreibe, sind’s noch 6 Tage, 05 Stunden, 02 Minuten und 32 Sekunden bis zu den Kommunalwahlen am kommenden Sonntag. Woher ich das so genau weiß? Von der Website der Freien Wähler – ESSENER BÜRGER BÜNDNIS, wo eine Digitaluhr den Countdown zu dieser Stimmabnahme runterzählt.

Das EBB steht in einer Linie mit ähnlichen Gruppierungen in anderen Revierstädten, die sich vor ein paar Jahren aus Kreisen des bürgerlichen Mittelstands gebildet haben, geeint durch tiefe Unzufriedenheit über den Klüngel der etablierten Parteien und die selbstgefällige Saturiertheit ihrer Lokalmatadore.

Liest man die Programme und Erklärungen solcher selbsternannten „Stachel im Fleisch der etablierten Parteien”, in diesem Falle zum Beispiel das Essener Bürger-Manifest und die Essener Erklärung, dann findet man dort vieles getadelt, das man selbst auch tadeln würde, manches gewünscht, was wohl jeder wünschenswert findet – aber kaum einen Plan, wie und mit welchen Mitteln dieses zu vermeiden und jenes zu erreichen sei. Wenn das EBB bei der letzten Kommunalwahl dennoch einen Achtungserfolg verbuchen konnte, so erklärt sich das vermutlich aus der Ratlosigkeit jener Wähler, die von den traditionellen Parteien enttäuscht sind, aber davor zurückschrecken, den extremen Parteien am rechten oder linken Rand ihre Stimme zu geben.

Welches Potenzial in dieser mit Ratlosigkeit gepaarten Verdrossenheit steckt, das hat zuletzt die Begeisterung für den Politiksatiriker Horst Schlemmer alias Hape Kerkeling gezeigt. Nun will es die Ironie des Schicksals – denn an eine böse Absicht zynischer Werbefuzzis, die sich hier einen Scherz mit ihrem Auftraggeber erlaubt haben, wagt man nicht zu glauben -, dass der Oberbürgermeister-Kandidat des EBB auf den Wahlplakaten aussieht wie eine Satire der Satire. Heute flatterte mir auf der regennassen Rellinghauser Straße ein solches Udo-Bayer-Plakat vor die Füße (s. Titelbild).

Ich weiß ja, man soll als mündiger Bürger seine Wahlentscheidung nicht von Äußerlichkeiten abhängig machen. Aber wer es zulässt, dass ein solches imageschädigendes, mitleiderregendes, das Auge beleidigendes Bild tausendfach am Straßenrand plakatiert wird, dem mag man nicht so recht vertrauen, wenn er ankündigt, er wolle im Falle seiner Wahl das Image dieser Stadt aufbessern. Dies nur in aller Bescheidenheit und um das Mindeste zu sagen.

Exlibris

Monday, 24. August 2009

Zukünftig werde ich mich von einem beträchtlichen Teil meiner nicht unbeträchtlich umfänglichen Bibliothek trennen müssen, aus Gründen der Lagerkosten und -umstände, der Zweckmäßigkeit, der Anpassung meiner Arbeitsmittel an meine Arbeitsbedürfnisse und weil ich mich nun ganz bewusst auf eine Lebensphase einlasse, die zu vernünftiger Selbstbescheidung, maßvollem Rückzug und Konzentration auf das Wichtigste zwingt.

Auf diese bevorstehende Auflösung meiner Büchersammlung freue ich mich schon deshalb, weil ich dabei endlich die Gelegenheit finden werde, jedes einzelne meiner vielen Bücher noch einmal in die Hand zu nehmen, mich an die Gründe und Wege zu erinnern, die es in meinen Besitz geführt haben; an die Motive, die mich zu seiner Anschaffung ermunterten; oder an die Zufälle, die es mir scheinbar absichtslos in die Hände spielten.

Bietet man heute, in dieser immer illiterater, ja bibliophober werdenden Zeit, auf dem Antiquariatsmarkt Bücher an, dann hat man üblicherweise desto bessere Chancen, sie loszuwerden, je jungfräulicher, sauberer, unbeschädigter sie sich erhalten haben. „Wie neu” ist die beste Reklame für ein altes Buch, und je älter es tatsächlich ist, desto mehr wird es durch seine äußerliche Frische und Unversehrtheit aufgewertet.

Dabei gab sich doch zu allen Zeiten der wahre Liebhaber antiquarischer Bücher dadurch zu erkennen, dass er die individuellen Spuren, die ihre Vorbesitzer in ihnen hinterlassen hatten, als das Salz in der Suppe seiner Sammelei schätzte. Besitzvermerke, Widmungen, Anstreichungen und Marginalien, beigefügte Zeitungsartikel, eingeklebte Buchhändlerzeichen und manch andere Hinterlassenschaften machten und machen das Massenprodukt Buch ja gerade erst zu einem unverwechselbaren Einzelstück.

So spiele ich tatsächlich mit dem Gedanken, jedes einzelne Buch, das meine Bibliothek verlässt, mit meinem Exlibris zu versehen, selbst wenn dies von manchem unkundigen Käufer zunächst als wertmindernd empfunden werden sollte oder ihn gar vom Kauf abhält. Vielleicht erweist sich ja aber nach Jahren oder Jahrhunderten einmal, dass Bücher mit diesem Zeichen ein ganz eigenes Wesen haben und unter ihnen allen ein geheimes Band besteht, das sie irgendwann wieder zusammenführen wird.

[Das Titelbild zeigt das Exlibris des Verfassers nach einem Holzschnitt von Otto Mueller.]

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Sunday, 23. August 2009

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Bücherlotterie

Saturday, 22. August 2009

Allwöchentlich mittwochs und samstags stieren Millionen jackpotberauschte Deutsche auf die rotierende Glaskugel mit den 49 Zahlenbällen in Erwartung eines Hauptgewinns, von dem sie (naiverweise, weil gegen jede Erfahrung) annehmen, dass er sie glücklicher machen wird.

Mit ganz ähnlichen Gefühlen und Erwartungen stiere ich alle paar Tage in die Ramschkisten der Buchhändler und Antiquare, nicht gerade in der maßlosen Hoffnung, das große Los zu ziehen, aber doch immerhin mit der genügsameren Zuversicht, vielleicht einen Namen oder Titel zu entdecken, der mich für ein halbes Stündchen amüsieren, ärgern, anregen oder immerhin ablenken kann – wobei dieses letzte Ergebnis des Lesens mir mittlerweile nicht mehr unbedingt als das minderwertigste erscheint.

Heute zum Beispiel klaubte ich mit spitzen Fingern ein schmales Bändchen aus dem zeitgenössischen Unflat und Unrat: von Starkult bis Pophistorie, vom Ratgeber für Steuerbetrüger bis zum Reiseführer durch Feuchtgebiete. Unter einem so unscheinbaren wie abgegriffenen Umschlag verbarg sich ein bestens erhaltener dunkelroter Leineneinband und hinter dem Rücken des Buches lockte ein Titel, der vielleicht eine gleißende Erkenntnis verheißen wollte, vielleicht aber auch ein bloßer Bluff war: Der Idealismus – ein Wahn. Sein Autor, der deutsch-jüdische Arzt, Philosoph, Nietzscheaner Oscar Levy, war mir zuvor wohl noch nie begegnet, jedenfalls erinnerte ich mich weder an seinen Namen noch an sein Konterfei. Dessen muss ich mich allerdings wohl kaum schämen, denn selbst die knappen Wikipedia-Artikel (in Deutsch und Englisch) verraten wenig über diesen nahezu vergessenen Denker. Desto erstaunlicher ist, dass der Berliner Parerga-Verlag 2005 eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe gestartet hat, deren Band 4 ich hier zum Hohn- und Spottpreis von acht Euro in Händen hielt.

Ich konnte wieder einmal nicht widerstehen. Nachdem ich auf dem Heimweg per Ö-pe-en-vau, in musikalischer Begleitung einiger Klavierstücke von Eric Satie aus dem iPod, Kostproben aus dem verramschten Buch aufgesogen habe, muss ich meine Euphorie mit allen Mitteln mäßigen.

Es scheint, dass dieser Levy in seiner am 7. März 1937 vollendeten Kampfschrift, deren englische Originalausgabe The Idiocy of Idealism 1940 erschien, auf den Punkt genau mit mir übereinstimmt in seiner Auffassung, dass Judentum und Christentum, Kommunismus und Faschismus alle miteinander aus einem fatalen Ursprung kommen und in ein Verhängnis münden. – Nun werde ich das Buch noch einmal gründlich lesen. Sollte ich tatsächlich den Jackpot geknackt haben?

[Das Titelbild zeigt Oscar Levy mit seiner Enkeltochter Jacqueline im April 1946 in Boars Hill bei Oxford; aus Oscar Levy: Der Idealismus – ein Wahn. Hrsg. v. Leila Kais. Berlin: Parerga Verlag, 2006, S. 132.]

Selbstbeschreibung (I)

Friday, 21. August 2009

Heute jährt sich der Tod meines Vaters zum vierzigsten Mal. Ich kann davon nur berichten, was mir durch vielfache mündliche Erzählungen über dieses Ereignis in der Erinnerung haften geblieben ist. Deutlicher gesagt: durch meine vielfach wiederholte Schilderung des Todestags aus meiner Sicht. Denn meine Mutter beschwieg diesen tiefsten Einschnitt in meinem Leben ebenso wie die näheren und ferneren Verwandten und Bekannten, die übrigens nur einen sehr beschränkten Personenkreis ausmachten. Meine Großmutter väterlicherseits brach augenblicklich in Tränen aus, wenn die Sprache auf ihren Hansi kam. Sie hatte nach dem älteren Sohn Kuno im Krieg und ihrem Ehemann durch Asthma und Herzinsuffizienz nun auch noch den dritten und letzten „meiner Männer” verloren.

Ich also bin an diesem sonnigen Sommerferientag des Jahres 1969 mit meinem Cousin Jörg ins Kino gegangen. Wir sahen im Filmstudio am Glückaufhaus eine klamaukige Komödie um ein Wettfliegen aus der Frühzeit der Aviatik. Wann immer mich ein Film begeistert, muss ich ihn jedem erzählen, der mir über den Weg läuft, das war schon damals so und gilt noch heute. Und wann immer sich meine Zuhörer einen solchen Film, durch meine Erzählung animiert, persönlich ansehen, berichten sie nachher prompt von einer herben Enttäuschung. Dann habe ich wohl wieder einmal „ausgeschmückt”, „übertrieben” oder gar die Handlung „völlig verfälscht”, wie meine Gefährtin schmunzelnd anmerkt. „Er kann es einfach nicht lassen.”

Am 20. August des besagten Unglücksjahres kam ich zu meinem größten Bedauern gar nicht dazu, den für meine damaligen Ansprüche wirklich todkomischen Film über die Abenteuer der Fliegerasse meiner Mutter und meiner Tante zu erzählen, die mit merkwürdig verspannten Gesichtern in unserem Wohnzimmer am gläsernen Couchtisch beisammensaßen. Ich weiß noch, dass ich nur schwer meinen Ärger darüber verwand, den beiden Frauen kein noch so müdes Lachen entlocken zu können. Es war das letzte Mal, dass ich mit dem Geborgenheitsgefühl eines Sohnes einschlief, der den Schutz eines Vaters genießt.

Die Teilnahme an der Beisetzung der Urne wollte unsere Mutter uns ersparen. Das war lieb gemeint, hatte aber für mich fatale Folgen. Ich, der Vielredner, verstummte von da an allsogleich, wann immer die Sprache auf meinen Vater kam. Dieses eisige Schweigen spürte nahezu jeder, der arglos meinen wunden Punkt getroffen hatte, und wechselte ohne Verzug das Thema.

So war die plötzliche Abwesenheit meines Vaters, sein spurloses Verschwinden von einem Tag auf den anderen, für mein Empfinden eher einem Taschenspielertrick zu verdanken denn einem Trauerfall. Zwei Wochen zuvor hatte er sich noch mit uns am Nordseestrand im Sand gewälzt und war voller Zuversicht auf eine lange, friedvolle und genussreiche Zukunft gewesen. In diesem Sommer vor vierzig Jahren erreichten die menschlichen Ausdrucksformen Fest, Verbrechen und Abenteuer durch Woodstock, die Manson-Morde und die Mondlandung unerreichte Steigerungsformen. Alle drei Ereignisse hat mein damals dreiundvierzig Jahre alter Vater gerade noch miterlebt. Damit würde ich ihn trösten, wenn er sich über die Kürze seines Lebens beklagte.

Kastanie aus Feuer

Friday, 21. August 2009

Zusammenstellungen von Zitaten nach gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Kriterien haben mich immer schon angezogen. Sammlungen letzter Worte berühmter Sterbender besitze ich gleich drei und habe hierüber andernorts vor Jahr und Tag auch einmal gebloggt. Als ich neulich den größten Teil meiner Bibliothek auslagern musste, da blieb etwa die beeindruckend reichhaltige Zitatensammlung Geld von Robert W. Kent und Lothar Schmidt von der Zwangsausbürgerung verschont (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1990).

Ein ungleich bescheidener auftretendes, dennoch nicht genug zu lobendes Sammelsurium bitterböser Zitate bietet das Büchlein Dichter beschimpfen Dichter, das ich aus gegebenem, aber zu verschweigendem Anlass heute wieder einmal zur Hand nahm. Wir verdanken es dem jüngst verstorbenen Jörg Drews und seinen ungenannten „Freunden in Berlin und Pisa, in Zürich und in Hille, in Paris und in Scheeßel, in Jerusalem und in Bielefeld, vor allem aber Sabine Kyora”. (Dichter beschimpfen Dichter II. Ein zweites Alphabet harter Urteile. Zusammengeststellt u. m. e. Nachwort beschlossen v. Jörg Drews & Co. Zürich: Haffmans Verlag, 1992, S. 137.)

Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich mit dem Buch, dessen knapp 140 Seiten im Kleinoktav-Format viel zu schnell weggelesen sind, bloß den zweiten Teil einer Folge besitze. Ich finde darin zwar allerlei hässliche Invektiven gegen die großen und kleineren Geister der Weltliteratur, in alphabetischer Reihenfolge von Aeschylos bis Zola. Aber mancher, den ich gerade heute gern beschimpft sähe oder als Schimpfenden hörte – Knut Hamsun, Ludwig Hohl, Harald Wieser – fehlt zu meinem Bedauern. Vielleicht muss ich mir den ersten Band von 1990 doch noch zulegen? Aber da sehe ich, dass Drews 2006 zudem eine „vollst. überarb., ergänzte und erw. Neuausg.” bei Zweitausendeins in die Welt geschickt hat …

Reizvoll wäre es vielleicht, die gegenseitigen Invektiven der Damen und Herren Dichter wie eine lückenlose Perlenkette oder einen chronologischen Staffellauf zu arrangieren, von der jüngsten Rempelei eines Bachmann-Preisträgers gegen seinen renommierten Juror bis zurück zu Homer, der dann schließlich auch noch Opfer einer Beschimpfung wird, nämlich durch Voltaire: „Wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling oft verursacht.” (Dichter beschimpfen Dichter II, a. a. O., S. 57.) Bloß fände Homer vermutlich keinen Ahnen mehr, bei dem er sich für die widerfahrene Schmähung schadlos halten könnte.

Etwas aus der Reihe fällt in Drews negativem Pantheon übrigens Walter Kempowski, dem es als einzigem gestattet wird, sich selbst zu beschimpfen: „Ich bin der Sonnyboy der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein hingeschissenes Fragezeichen.” (Ebd., S. 66.) – Wenn ich so vermessen wäre, dem nachzueifern, dann würde ich vielleicht über mich sagen: „Ich bin ein nervöses Hüsteln, das eilige Passanten aus dem brennenden Dornbusch zu vernehmen meinen.”

Anders

Tuesday, 18. August 2009

Gestern kam ich in Hamsuns Mysterien an die Stelle, wo die Pfarrerstochter Dagny Kielland sich nach einem langen Gespräch mit dem mysteriösen Fremden Johan Nilsen Nagel für den schönen Abend bedankt: „Jetzt kann ich auch meinem Verlobten etwas erzählen, wenn ich schreibe. Ich werde sagen, daß Sie ein Mann sind, der mit allen wegen allem uneinig ist.” (Knut Hamsun: Mysterien; in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Deutsche Originalausgabe besorgt u. hrsg. v. J[ulius] Sandmeier. Erster Band. München: Albert Langen, 1921, S. 307.)

Zufällig fällt mir nahezu gleichzeitig beim Auspacken meiner Bücherkartons Hohls schmales Bändchen Daß fast alles anders ist in die Hände, ich vermute hier einen Bezug und lese erstmalig den titelgebenden Essay. Tatsächlich finde ich darin Sätze, die immerhin Berührungspunkte zu der Charakterisierung Nagels haben, und sei es ex negativo: „Die Leute, die sagen, daß sie eben ,festen Boden unter den Füßen haben‘, sind bodenlose Leute (an nichts teilnehmend, nicht im geringsten verfügend, quallig).” (Ludwig Hohl: Daß fast alles anders ist. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1984, S. 122.)

Hohl nennt viele Beispiele und zitiert wenige Gewährsleute – Kafka, Schopenhauer, Musil, Kraus und natürlich Lichtenberg – für seine grundstürzende Ansicht, dass fast alles anders sei, „anders als fast alle Menschen, fast immer, es sich vorstellen”. (Ebd., S. 121.) Grundfalsch sei zum Beispiel auch die Vorstellung, die die Menschen vom Schreiben haben, das (nach einem Wort von Musil) keine Tätigkeit, sondern ein Zustand sei. Und nicht ausdrücklich, aber aus einigen Andeutungen wird klar, dass dies keineswegs ein angenehmer Zustand ist.

Noch etwas, das leidlich hierzu passt. In der letzten Sonntagszeitung las ich eine wegen ihrer Prägnanz zitierenswerte Einlassung des Sozialpsychologen Harald Welzer zu der Frage, warum der gegenwärtige Wahlkampf in Deutschland so fade sei. Welzer erkennt ganz richtig, dass die Vorstellungswelt der Politiker „an die Wohlstandsgesellschaft und ihre Basiskonzepte Wachstum, Fortschritt und Wettbewerb gebunden ist, Wenn all das in Frage steht, bricht ratloses Schweigen aus. Unsere Parteien können Zukunft ausschließlich als verbesserte Gegenwart denken. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn Staatsverschuldung, Klimawandel, Artensterben plötzlich klarmachen, dass die Gegenwart besser ist, als die Zukunft je sein wird. Der Fortschritt schreitet nicht mehr fort, und was wächst, sind lediglich die Probleme von morgen. Daher diese radikale Phantasielosigkeit.” (Lichtgestalt; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 33 v. 16. August 2009, S. 19.)

Noch einmal Ludwig Hohl: „Die Welt ist anders … Und jene mächtigsten Männer, die sie lenken (welche gar nicht so mächtig sind und gar nicht so sehr Lenkende, sondern viel mehr Getriebene), sie können uns nichts bringen – wenn nicht das allgemeine Bewußtsein vorerst geändert worden ist -, sie können zu nichts anderem hinführen als zum Ende der menschlichen Welt.” (Hohl, a. a. O., S. 130.)

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Monday, 17. August 2009

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Rundgang (VI)

Sunday, 16. August 2009

Noch mal zur Wahl? Bitteschön. Wo die Parteien der bürgerlichen Mitte zwölf Quadratmeter große Stellwände auf die grüne Wiese stellen, da müssen sich die Extremisten vom linken und rechten Flügel mit beklebten Pressspanplatten im Zeitungsformat begnügen, die sie an Laternenpfählen und Ampeln aufhängen.

Dass sich dabei gelegentlich unbeabsichtigte Korrespondenzen mit den Signalen und Hinweisschildern ringsum ergeben, taugt immerhin ab und zu mal zur willkommenen Erheiterung des wahlmüden Passanten.

Unser leicht makaberes Beispiel aus der Nachbarschaft lässt die Frage offen, ob die von den Republikanern versprochene Sicherheit, Sauberkeit und Lebensqualität demnächst für Friedhofsruhe in unserer Stadt sorgen soll oder ob diese löblichen Werte nach dem Wahlsieg der nationalistischen Partei bloß auf dem angezeigten Gottesacker hergestellt werden.

Wüsste der Betrachter nicht, dass das rote Verkehrsschild sich dort bereits seit Jahr und Tag befindet, er könnte mutmaßen, es sei von einem Konkurrenten aus dem sozialistischen Lager bewusst dort platziert worden, um die Werbebotschaft der Reps zu konterkarieren.

Vielleicht hat sich aber auch ein intelligenter Undercoveragent als Plakatierer in die Reihen der Rechtsradikalen eingeschlichen und treibt nun dort seinen grimmigen Schabernack. Immerhin sind doch dergleichen missglückte Propagandamaßnahmen allemal unterhaltsamer als die öden Großflächen der Profis.

Rundgang (V)

Saturday, 15. August 2009

Die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen stehen unmittelbar bevor. Auch in Rellinghausen werben die Parteien mit Plakaten größeren oder kleineren Formats um die Stimmen der Wahlberechtigten.

Von Mal zu Mal beklemmender erscheint mir die Austauschbarkeit der Parolen und Personen, mit denen sich die großen Parteien CDU und SPD zur Wahl stellen.

Ist es am Ende gar die gleiche Werbeagentur, die die Kandidaten fürs Amt des Oberbürgermeisters mit diesen immer gleichen quergestreiften Schlipsen und aktuellen Brillengestellen vor ein blasses blaugrau bzw. graublau gestellt hat, mit dem roten Farbklecks in der rechten bzw. linken unteren Ecke?

Klar, dass der Kandidat der regierenden Partei im Gespräch mit dem noch amtierenden Oberbürgermeister gezeigt wird, den er schließlich beerben will. Die Slogans – „Oberbürgermeister für Essen”, „Oberbürgermeister für unsere Stadt”, „Energie für Essen”, „Verantwortung für Essen” – sind so nichtssagend und substanzlos, als gälte es, um jeden Preis den bisherigen Rekord der niedrigsten Wahlbeteiligung zu brechen.

Und welche Assoziationen will uns die linke untere Ecke des SPD-Plakats nahelegen? Schnell weiterblättern?

Umzugsreste (I)

Saturday, 15. August 2009

Was den grauenvollsten Umzug angeht, den wir je zu absolvieren hatten, so sind wir jetzt wohl, toi-toi-toi, aus dem Gröbsten raus.

Man tut gut daran, die meisten Erinnerungen an Missverständnisse, Zerstörungen, Verletzungen, Anstrengungen, Ängste, Entsagungen, Verluste und Enttäuschungen zu verdrängen und sich einer erholsamen Zukunft in einer Wohnung zuzuwenden, die es immerhin wert war, all diese Schrecknisse auf sich zu nehmen. Etwas und einiges bleibt aber doch zurück. Nehmen wir für heute nur die kaum noch sichtbare Narbe an der Spitze meines linken Zeigefingers.

Ich war gezwungen, zeitweise ohne jede fremde Hilfe in vier Zimmern ein praktisches Klickparkett zu verlegen, nicht zu verwechseln mit billigem Laminat, da es aus Vollholz besteht, die reine Natur. Aber es funktioniert doch ganz ähnlich. Planken von ebensolchen Abmessungen, wie sie bei dem holzimitierenden Kunststoffboden üblich sind, gilt es ineinander zu fügen, wozu mit Schlagholz, Schlageisen und Hammer zu hantieren ist. Die seit Friedrich Theodor Vischer sprichwörtliche Tücke des Objekts tritt hierbei besonders rücksichtslos in ihre Rechte. Und wenn der Dilettant dann noch die mangelnde Routine durch besinnungslose Wut auszugleichen versucht, ist ein Unfall nahezu unvermeidlich. Eines sommerlichen Julimorgens traf ich mit dem Hammer nicht das Holz, sondern besagten Zeigefinger. Da platzte das Fleisch auf, Blut spritze auf das frisch verlegte Birkenholz,  Panik überschwemmte die verbliebene Vernunft, deren letzter Rest immerhin den wackligen Beinen befahl, Hilfe in einer nahe gelegenen Apotheke zu suchen.

Dabei hatte ich noch das Glück, auf eine trostreiche und patente Apothekerin zu treffen, die mir umstands- und gar noch kostenlos einen tadellosen Wundverband anlegte. Der Schmerz traf erst zehn Minuten später ein und ließ mich nach Luft schnappen. Mein Hausarzt besah sich die Verletzung und bereitete mich darauf vor, dass der Nagel vielleicht gezogen werden müsse. War dies nicht eine aus China bekannte Foltermethode? Ach nein, da waren ja Bambusspitzen mit im Spiel. Außerdem versprach mein Arzt mir für diesen Fall eine örtliche Betäubung. Und außerdem wachse der Nagel ja nach.

Der Nagel musste nicht dran glauben, doch sendet die Fingerspitze sechs Wochen nach dem Missgeschick noch immer irritierende Empfindungen ans Hirn. Jede Berührung mit gleich welchem Gegenstand fühlt sich dort an, als träfe er auf rohes Fleisch. Wenn ich mich rasiert habe, spüre ich auf der Wange, die der rechte Zeigefinger als samtigweich registriert, mit dem linken Zeigefinger ein dichtes Borstenfell. Und weil ich diesen Finger aussparen muss, wenn ich Wechselgeld aus meinem Portemonnaie zusammenlese, entgleiten mir die kleineren Münzen immer wieder und ich komme mir vor wie ein alter Tattergreis. Wie kann ein einziger falscher Schlag im Bruchteil einer Sekunde solch weitreichende Folgen haben!

(Wird fortgesetzt.)

Rundgang (IV)

Thursday, 13. August 2009

Und dann der Wald! Dieser schöne Weg gehört noch nicht im engeren Sinn dazu. Keine fünf Minuten laufe ich auf meinen kranken Füßen und habe diesen Durchblick!

An Werktagen begegnet man vormittags kaum einer Menschenseele in den weitläufigen Waldstücken rings um Rellinghausen. Am Nachmittag machen dann vornehmlich die berufstätigen Hundebesitzer ihre Pflichtgänge, ein paar ältere Herrschaften staksen mit ihren Nordic-Walking-Stöcken einher. Die übrigen paarhunderttausend Bürger dieser Stadt hocken wohl vor ihren Bildfunkgeräten, shoppen in der Mall oder stehen noch im Stau. Was das kostet!

Der Wald kostet nichts. Eintritt frei. Das mag wohl einer der Hauptgründe sein, weshalb er nur von wenigen Spinnern wie mir geschätzt wird. Wofür kein Geld verlangt wird, das kann schließlich nicht viel taugen. Selbst die ständig wachsende Zahl der Arbeitslosen, die ja kaum Geld haben, treiben sich lieber in den Fußgängerzonen, an Trinkhallen oder auf Spielplätzen herum, als in der freien Natur für lau lustzuwandeln.

An den Wochenenden und besonders bei jenem Wetter, das nach landläufiger Meinung als ein schönes anzusehen ist, begegne ich häufiger Rentnerehepaaren in größeren Gruppen, angeregt plaudernd, meist nach Geschlechtern zu Kleingruppen sortiert. Leider nur sehr vereinzelt treffe ich sodann auf Eltern, die ihren Großstadtkindern wenigstens gelegentlich und nicht nur im Urlaub die Begegnung mit der freien Natur ermöglichen wollen.

Ansonsten aber bin ich herrlich allein, von der Hündin abgesehen, die sich aber im Wald noch unauffälliger gibt als auf gepflasterter Straße. Die Wonnen der Waldeinsamkeit erinnern mich dabei an das Vergnügen entlegener Lektüre. Beide Genüsse werden mir noch köstlicher, wenn ich sie ganz exklusiv für mich allein habe. Ich muss zugeben, dass man mir nach diesem Geständnis vorwerfen kann, ein elitärer Sonderling zu sein. Aber es gibt doch schließlich schlimmere Verirrungen, oder?

Rundgang (III)

Wednesday, 12. August 2009

Kaum 200 Meter südwestlich von unserer neuen Wohnung und in der gleichen Straße befindet sich die Kirche der evangelischen Gemeinde Rellinghausen mit angegliedertem Kindergarten, Jugendräumen und Gemeindeamt. Auch eine Gemeinschaftsgrundschule, die Ardeyschule, befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche.

Die moderne Kirche ist bekannt für ihre Orgel, auf der der bekannte Organist und Komponist Gerd Zacher gern und häufig gespielt hat.

Bei offenem Fenster hören wir den Stundenschlag der Kirche, auch die Viertelstunden werden geschlagen und jetzt gerade, um sieben Uhr abends, ruft ein drei Minuten langes Geläut offenbar die Gläubigen zu einem Gottesdienst. Erstaunlicherweise ist mir dies bisher nicht als störend erschienen. Dies mag einerseits daran liegen, dass unsere Fenster in geschlossenem Zustand gut isolieren. Aber vielleicht bin ich auch in den letzten Jahren gegenüber solchen ungefragten Kundgebungen mir fremder Überzeugungen toleranter geworden.

Den Turm der Kirche sehe ich von Weitem, wenn ich mit der Straßenbahnlinie 105, aus der Innenstadt kommend, über die Rellinghauser Straße heimwärts fahre.

Betreten habe ich die namenlose Kirche bisher noch nicht.

Rundgang (II)

Wednesday, 12. August 2009

Etliche meiner Rundgänge mit kleinerem oder größerem Radius unternehme ich an der Seite unserer Mischlingshündin Lola, die in wenigen Tagen zehn Jahre alt wird.

Ein Motiv für unseren Umzug aus dem Moltkeviertel nach Rellinghausen war, dass wir dem Tier auf seine alten Tage gönnen wollten, regelmäßiger als in den letzten Jahren Waldluft zu schnuppern. Von der letzten Wohnung aus war bequem nur ein kleiner Park erreichbar. Wollten wir autolosen Hundehalter Lola mehr bieten, mussten wir mit der S-Bahn in den Stadtwald fahren. Diesen Aufwand regelmäßig auf uns zu nehmen hatten wir uns fest vorgenommen, als wir Anfang 2005 in die Messelstraße zogen. Bald blieben aber unsere Vorsätze auf der Strecke. Verspätete Bahnen, der Zwang zu perfektem Timing, wollte man bei der Rückfahrt keine langen Wartezeiten auf verdrecktem Bahnsteig in Kauf nehmen und manch andere Hemmnisse führten dazu, dass wir die Tour mit Lola in den Stadtwald wenn überhaupt nur an den Wochenenden unternahmen.

Nun also liegt der Schellenberger Wald nahezu direkt vor unserer Haustür. Dieser ausgedehnte Forst war übrigens einer der Gründe, warum die Bürgermeisterei Rellinghausen im Jahr 1910 zur Stadt Essen eingemeindet wurde: „Für Rellinghausen bringt dies einige Vorteile, da die Gemeinde nicht in der Lage gewesen war, die dringend notwendige Kanalisation anzulegen und die Verkehrsprobleme zu lösen. Auch Essen hatte ein großes Interesse an der Vereinigung, weil der größte Teil des Stadtwaldes in Rellinghausen lag.” (Klaus Wisotzky: Vom Kaiserbesuch zum Euro-Gipfel. 100 Jahre Essener Geschichte im Überblick. Essen: Klartext Verlag, 1996, S. 52.)

Der gemeinsame Ausgang von Herr und Hund hat ja aber bekanntlich nicht nur die angenehme Wirkung, dass sich beide auf ihre alten Tage Bewegung verschaffen, frische Luft atmen und den Blick weiter schweifen lassen, als dies in der engen Kammer möglich ist; für das reinliche Tier ist er vielmehr Notwendigkeit aus unabweislicher Notdurft, die es nie und nimmer im Bau seiner Halter verrichten will. Was dies betrifft ist es gar nicht hoch genug zu schätzen, wenn sich in unmittelbarster Nähe der Wohnung ein kleines Dickicht befindet, wo die Hinterlassenschaften so separat abgelegt werden können, dass sie keinen menschlichen Schuh beschmutzen und keine menschliche Nase beleidigen.

Voilà! Hinter diesen Bänken, auf denen offenbar nie ein anderer Platz nimmt als der Verfasser dieses Weblogs, hat Lola den stillen Ort gefunden, an dem sie sich ganz entspannt erleichtern kann, ohne jemals jemandem lästig zu fallen.

Rundgang (I)

Tuesday, 11. August 2009

Nie wieder hat man eine bessere Chance, die Dinge deutlich zu sehen, wie bei der ersten Begegnung. Gewohnheit lässt den Blick verschwimmen und macht schließlich blind.

(Die verbreitete Auffassung, dass der erste Eindruck, speziell bei der Begegnung mit Menschen, auch der beste sei oder sich später zumindest oft als ein solcher erweise, teile ich hingegen nicht. Im Rückblick auf meine zahlreichen Bekanntschaften erinnere ich mich an gleich viele Fälle, wo das Gegenteil galt und mein erster Eindruck durch ein besseres Kennenlernen vollständig überholt wurde.)

Deshalb habe ich beschlossen, meine neue Wohnumgebung in den kommenden Tagen und Wochen wenn nicht systematisch, aber doc h gründlich, mit der Kamera in der Hand, zu durchstreifen und dabei festzuhalten, was mir bemerkenswert, typisch, kurios oder befremdlich erscheint.

Kaum trete ich vor die Haustür, da trifft mich schon der Blick eines steinernen Schlossers vom Giebel des Hauses via-à-vis.

Ich bin nach gründlicher Selbstprüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass es ein freundlicher Blick ist. Der friedliche Handwerker ist mir zugetan und ich denke, dass der Schlüssel, an dem er gerade feilt, für mich bestimmt ist. Ich denke noch weiter und male mir aus, dass der Schlüssel zu jener Tür passt, hinter der sich verbirgt, wonach ich schon so lange suche. Es hat aber wenig Sinn, beim Anblick des reglosen Schlossers ungeduldig zu werden. Gut Ding will Weile haben! Und übrigens habe ich ja auch besagte Tür noch nicht gefunden.

(Wird fortgesetzt.)

Grabaufhebung

Sunday, 09. August 2009

In wenigen Tagen läuft nach vierzig Jahren die Ruhezeit für dieses Urnengrab ab. Deshalb nutzte ich heute eine günstige Gelegenheit, es mir zum ersten und letzten Mal anzuschauen.

Schön, dass es unter einem alten Ahornbaum liegt. Dass der Vorname in dieser Koseform gewählt wurde, lässt Raum für Spekulationen.

Eine sentimentale Regung, die ich für nicht ganz ausgeschlossen gehalten hatte, stellte sich nicht ein. Wieder machte ich die überraschende Beobachtung an mir, dass mich Friedhöfe keineswegs traurig stimmen oder gar bedrücken. Eher im Gegenteil fühle ich mich beschwingt, frohgemut und durch die Beobachtung des Eifers amüsiert, mit dem wacklige Witwen die Gräber ihrer Vorangegangenen pflegen.

Auch mit dem Tod hat der Gottesacker für mein Empfinden nur von Ferne etwas zu tun. Hier passt einmal das pervers missbrauchte Wort Entsorgung und gewinnt seine ursprüngliche Unschuld zurück.

Als meine Begleiter die Frage aufwerfen, wie ich selbst es denn gern hätte, posthum, betreffs die Verbringung der sterblichen Hülle, die dann wohl nicht mehr meine ist, bleibe ich unentschieden und verweigere eine Antwort. Vorläufig reicht mir für diesen Fall, dass ich meine Organe zur Weiterverwendung freigegeben habe. Was mit dem Rest geschieht, scheint mir völlig belanglos.

Protected: Seltenheitswert

Sunday, 09. August 2009

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Dran!

Saturday, 08. August 2009

Unschreibbare Romane (I)

Friday, 07. August 2009

Einer der vielen Romane, die ich immer schon mal schreiben wollte, ist der von dem Junggesellen Mitte dreißig, der in der Herrenabteilung eines großen Bekleidungshauses einer wenig attraktiven Großstadt arbeitet und sich schon längst ums Leben gebracht hätte, wenn er nicht so antriebslos wäre.

Sein einzig starkes Gefühl, seit er sich erinnern kann, ist ein bodenloser Hass gegen seine Mutter, eine inzwischen pensionierte Lehrerin für Mathematik und Musik. Wann immer er in den letzten Jahren mit einem Mädchen oder einer jungen Frau vertraulich wurde, musste er ihr so bald wie möglich von diesem Hass erzählen, in den schrillsten Farben malte er diesen Hass aus, und stets gipfelten seine Tiraden in Mordphantasien von geradezu lodernder und schwärender Bestialität.

Zwar verhielten sich die Herzensdamen dieses bösen Buben im Einzelnen je nach ihrem Temperament und ihrer Tagesform sehr unterschiedlich, doch in einem Punkt gingen sie konform: Mit diesem armen Irren wollten sie keineswegs noch vertrauter werden, als es ihnen nun durch ein offenbares Missgeschick widerfahren war.

Besonders eindrucksvoll an den dramatischen Darbietungen des unglücklichen Anzugverkäufers wären für seine Zuhörerinnen jene kurzen szenischen Einlagen gewesen, bei denen er gewisse gestische Marotten und sprachliche Ticks seiner Mutter gekonnt imitierte – wenn, ja wenn sie denn das zweifelhafte Vergnügen gehabt hätten, die garstige Frau persönlich kennenzulernen. Dann nämlich hätten sie nicht schlecht gestaunt über das imitatorische Genie ihres Verehrers. So aber mussten sie die affektierten Auftritte und hysterischen Ausbrüche, die er ihnen vorspielte, für alberne und maßlose Übertreibungen halten.

Womit niemand und am wenigsten der Sohn gerechnet hätte, das geschieht. Die überaus agile Alte, die seit Menschengedenken nicht einmal über ein Schnüpfchen geklagt hatte, fällt eines lauen Julitages bei ihrer Morgengymnastik plötzlich tot um. Der Sohn ist wie verwandelt, fühlt sich von einer schweren Last befreit, wird am offenen Grab von einem Lachanfall überwältigt etc. pp. Doch dann bemerkt er, zunächst nur als schwache Ahnung, dann als zunehmenden Verdacht, schließlich als böse Gewissheit, eine unwiderstehliche Veränderung seines Verhaltens: Er übernimmt zwanghaft die Ticks und Marotten seiner Mutter. Diesmal aber spielt er sie nicht, sie mischen sich vielmehr ununterscheidbar in sein ganz alltägliches Auftreten. (Bis hierher und nicht weiter. Wie für alle meine unschreibbaren Romane gibt es auch für diesen keinen sinnvollen Schluss.)

Pushkids (III)

Wednesday, 05. August 2009

Ich weiß gar nicht mehr, wer die ohnehin schon nicht geringe Konfusion noch verschärfte, indem er die Beutelfrage ins Spiel brachte.

Üblicherweise wirft man seinen Müll in unseren reinlichen Zeiten ja nicht sozusagen ungeschützt in den Abfalleimer. Vielmehr befindet sich in diesem schmucken Gefäß ein weiterer, geringfügig kleinerer und weniger ansehnlicher Eimer. Und um auch diesen „Eimer im Eimer” vor ekligen Verschmutzungen zu bewahren, wird er mit einem Müllbeutel ausgekleidet.

Nun hatten wir bei unseren Internetrecherchen auf der Wesco-Website gesehen, dass es für die Baseboys und Pushboys aus dem Sauerland auch spezielle Abfallbeutel mit Zugband gibt. Meine Gefährtin witterte gleich Geschäftemacherei: „Da zahlt man bloß für den Namen. Ich hole die Beutel wie bisher bei ReWe oder Aldi.

Nun musste ich freilich zu bedenken geben, dass die meisten Abfallsammler von Wesco ja gerade durch ihre ungewöhnlichen Proportionen ins Auge stechen und sich eben deshalb dem Liebhaber gediegener Haushaltwaren als unverwechselbare Design-Schmuckstücke einprägen. Ich argwöhnte, dass sich möglicherweise ein für die Firma Wesco angenehmer Nebeneffekt dieser individuellen Formgebung daraus ergab, dass in ihre Eimer ausschließlich Wesco-Beutel passen. Meine Gefährtin murmelte etwas, das so klang wie „was nicht passt, wird passend gemacht”, aber damit konnte sie kaum sich selbst, geschweige denn mich überzeugen. „Du glaubst doch nicht, dass ich einen weit über hundert Euro teuren Abfalleimer kaufe, der für die Ewigkeit halten soll, um dann ewig an irgendwelchen unpassenden Billigbeuteln herumzuzerren!”

Als wir an diesem Punkt unserer warenkundlichen Recherchen in Sachen Abfalleimer angelangt waren, hätte ich nicht mehr darauf gewettet, dass wir überhaupt noch einmal zu einem neuen Eimer kommen würden. Seit etlichen Tagen entsorgten wir sehr zur Freude eines munteren Fruchtfliegenschwarms unsere Küchenabfälle provisorisch in Plastikeinkaufstüten, die wir an die Klinke einer Zimmertür hängten.

(Wird fortgesetzt.)

Jetzt erst recht!

Tuesday, 04. August 2009

Es gibt in allen Schichten und Professionen und gab zu allen Zeiten wie auch heute noch vereinzelte Menschen, die sich durch einen heroischen Starrsinn aus der gewöhnlichen Gemeinschaft hervortun, oft zu deren Belustigung, fast immer zu ihrem eigenen Schaden. Diese knorrigen Solitäre, einsamen Kämpfer für eine unbezweifelte „Wahrheit”, gehen eher aufrecht vor die Hunde, als dass sie nur einen Fingerbreit von ihren Überzeugungen abrückten. Solch ein armer Tropf war der norwegische Erzähler Knut Hamsun, dessen Geburtstag sich heute zum 150. Mal jährt.

Als ich vor achtunddreißig Jahren erstmals Hunger las, war dies – neben der gleichzeitigen Begegnung mit Kafkas Amerika und Büchners Lenz – einer der Glücksfälle, die mich auf kürzestem Weg zu einem anspruchsvollen Lesergeschmack führten. Hamsuns Debutroman von 1890 wurde dann hundert Jahre nach seinem Erscheinen noch einmal bedeutsam für mich, als ich eine anorektische Phase durchmachte und bis auf 59,2 Kilo herunterhungerte.

Wenige Wochen vor seinem frühen Tod Ende 1993 hatte ich eine kurze Korrespondenz mit dem aus Essen stammenden Helmut Salzinger. Ich wollte mich bei ihm beliebt machen und sandte Hamsuns Mysterien als rororo-Erstauflage nach Odisheim. Der Gärtner im Dschungel bedankte sich, dies sei ein merkwürdiger Zufall. Er habe das Buch einst als Kind im Bücherschrank einer Tante in Essen gesehen, bevor das Haus und damit auch die Mysterien ein Opfer des Bombenhagels wurden. Nun werde er es also endlich lesen. Ich weiß nicht, ob die Zeit dazu noch gereicht und ob ihm der Roman gefallen hat.

Die Welt ist klein! Heute ist es ausgerechnet Brigitte Kronauer, die Knut Hamsun in der Süddeutschen Zeitung zum 150sten gratuliert – auch sie eine gebürtige Essenerin. (Das ist schon erstaunlich, denn wesentlich mehr nennenswerte Schriftsteller hat meine Heimatstadt im vorigen Jahrhundert nicht hervorgebracht.) Kronauer empfiehlt, nachdem sie über Hamsuns politische Verirrungen berichtet hat: „Man halte sich an seine Werke. Zu eigenem Nutzen und Gewinn lese man wenigstens einmal im Leben Hunger, erst recht den darauf folgenden, genialen Roman Mysterien, in dem es der Held noch einfallsreicher, ja epiphanischer versteht, an einer (diesmal klein-)städtischen Gesellschaft zu verzweifeln.” (Brigitte Kronauer: „Die unendliche Beweglichkeit meines bißchens Seele”;in: SZ Nr. 177 v. 4. August 2009, S. 12.) – Ich zögerte einen kurzen Augenblick, bevor ich vor zwei Wochen meine fünfzehnbändige Hamsun-Werkausgabe (München: Albert Langen, 1921-30) dann doch in eine Kiste für die neue Wohnung packte und nicht in eine Kiste für das Außenlager. Nun bin ich froh über meine Entscheidung, auch eingedenk des wahnwitzigen Nachrufs, den der Norweger am 2. Mai 1945 auf Adolf Hitler veröffentlichte. (Vgl. Robert Ferguson: Knut Hamsum – Leben gegen den Strom. A. d. Engl. v. Götz Burghardt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1992, S. 555.)

Eine Rezitation von Hunger gibt es von dem großartigen Mimen und Vorleser Oskar Werner, für Menschen, die das Selbstlesen bereits verlernt haben, ein nahezu gleichwertiger Ersatz. Ich selbst werde mir wohl bald einmal Hamsuns spätes Tagebuch Auf überwachsenen Pfaden gönnen.

Pushkids (II)

Monday, 03. August 2009

Als Bewohner der achtgrößten Stadt Deutschlands waren wir voller Zuversicht, in der City gleich mehrere Haushaltswarengeschäfte, Design-Studios oder Kaufhausabteilungen zu finden, wo wir die verschiedenen Modelle des bekanntesten Abfalleimerfabrikats würden in Augenschein nehmen können. Zwei enervierende Stunden belehrten uns eines Besseren. Lediglich in einem alteingesessenen Fachgeschäft am Theater waren drei Exemplare der Produktlinie „Baseboy” vorrätig, in Weiß, Rot und Neusilber, Fassungsvermögen 20 Liter.

Das waren nun die üblichen Treteimer, wie man sie schon aus den 1950er-Jahren kannte, die mit der speziellen Wesco-Erfolgsstory nur bedingt etwas zu tun hatten. Ihren Namen konnten wir uns nicht recht erklären. Bedeutete das englische „base”  nicht so viel wie gemein, niedrig, niederträchtig, minderwertig, unedel? Oder spielte es auf den laut Herstellerwerbung „extrem standfesten Sockel” an, auf dem der Behälter ruht, eben auf seine Basis? Mein Hauptargument gegen ein vorschnelles Umschwenken vom Pushboy auf den Baseboy war aber, dass der Tretmechanismus des Letzteren gewiss komplizierter und somit anfälliger für Defekte wäre als der primitive, aber grundsolide Kippmechanismus des Pushers. Und wir suchten ja schließlich einen Abfalleimer für die Ewigkeit. Immerhin waren wir nun doch einigermaßen verunsichert und vertagten die Kaufentscheidung, wozu auch das wenig enthusiastische Auftreten des Verkäufers und der stolze Preis von 169 Euro beitrugen.

Um so bald wie möglich zu einem hieb- und stichfesten Entschluss zu kommen, besprachen wir das Thema nun mit allen unseren Freunden. Dabei stellte sich heraus, dass es ebensoviele Ansichten übers optimale Wegschmeißen gibt wie Wegschmeißer. Nur zwei Beispiele. Eine erfahrene Hausfrau gab zu bedenken, dass beim Versenken schmieriger Lebensmittel durchs Pushmaul des Pushboys dessen Verschmutzung nie ganz zu vermeiden sei. „Da bekommt ihr Spaß, wenn es alle zwei Wochen heißt, den festgetrockneten Schmodder abzubürsten!” Und ein Hobbykoch aus der Nachbarschaft plädierte mit Nachdruck für den Treteimer: „Der Einsatz von drei Extremitäten beim Wegwerfen – rechter Fuß auf dem Pedal, linke Hand hält den Teller, rechte Hand schiebt mit der Gabel die Reste in die Tonne – ist und bleibt ergonomisch einfach unübertroffen!”

Ich bin manchmal kindisch. Zum Beispiel dann, wenn ich eine einmal gefasste Meinung noch verteidige, wenn sie schon längst als widerlegt gelten kann. So führte ich nun für den Pushboy ins Feld, dass er dank seines imposanten 50-Liter-Volumens nur selten geleert werden müsse, weniger als halb so oft wie der Baseboy. Der Einwand meiner Gefährtin folgte auf dem Fuße: „Den Riesensack darfst dann aber du zur Mülltonne schleppen. Und außerdem: Wenn der Abfalleimer so selten geleert wird, fängt’s bald an zu stinken. Und die Wolken von Fruchtfliegen, die dann unsere Küche heimsuchen, sehe ich auch schon lebhaft vor mir.”

Ich verzog mich eingeschüchtert an meinen Schreibtisch und verglich am Monitor die Farbmuster der diversen Wesco-Eimer. Was das anging, taten sich Pushboy und Baseboy nicht viel. Was aber, wenn ich mich jetzt rettungslos in den Pushboy in Silber verlieben würde? Das war der einzige Ton, in dem der Baseboy nicht lieferbar war. Nein, Unsinn, auch damit würde ich nicht durchkommen.

(Wird fortgesetzt.)

Pushkids (I)

Sunday, 02. August 2009

Ein wesentlicher Stressfaktor beim Umzug ergab sich aus der allgegenwärtigen leidigen Frage: „Aufbewahren oder wegwerfen?” Wir entdeckten Dinge, die zu besitzen wir längst vergessen und die wir in den vergangenen viereinhalb Jahren niemals entbehrt hatten. Uns begegneten zahllose Fehlkäufe, unwillkommene Geschenke von dubiosester Provenienz, angeknackste, aber doch noch nicht restlos defekte Sächelchen, Krimskrams von ausschließlich sentimentalem Wert, originelle Staubfänger und provozierend hässliches Zeugs, das vielleicht doch noch zu dokumentarischen Zwecken taugte.

Erschwert wurde das Abwerfen dieses vielgestaltigen Ballasts durch den vertrauten Umstand, dass wir uns nur in der Minderheit der Fälle über Wert oder Unwert eines jeden Einzelstücks einig wurden. Zudem befand ich mich aus bekannten Gründen in diesen Konfliktfällen stets in der schwächeren Position. Wer zehntausend Bücher um sich herum angestaut hat, sollte sich hüten, seine Gefährtin wegen lächerlicher fünf Dutzend Paar Schuhe einen Messie zu schimpfen.

Nachdem wir uns wochenlang über das Bleiberecht toter Gegenstände in unserem Haushalt gestritten hatten, beschlossen wir, uns zum Ende dieser Zerreißprobe mit einem nützlichen neuen Gegenstand zu belohnen: einem besonders schönen, soliden und zweckmäßigen Küchenabfalleimer! In den mehr als drei Jahrzehnten unserer häuslichen Gemeinschaft hatten wir etliche kleine, mittlere und große Mülleimer aus Kunststoff oder Metall in unserer Küche beheimatet, alle hatten ihre funktionalen oder ästhetischen Nachteile gehabt und waren schnell verschlissen, was aber dank ihres geringen Preises leicht zu verschmerzen war. Warum sollten wir uns jetzt nicht einmal einen Abfalleimer für die Ewigkeit gönnen?

Nach oberflächlicher Orientierung über das gehobene Abfalleimerangebot verständigten wir uns bald darauf, dass eigentlich nur eins jener stilvollen Entsorgungsgefäße aus dem Hause Wesco in Frage kam. Schon die Erfolgsstory der Firma M. Westermann & Co. aus dem sauerländischen Arnsberg war uns rundweg sympathisch: „Schon bald nach seiner Gründung im Jahr 1867 spezialisierte sich das Unternehmen auf die Verarbeitung von Blechen für Haushaltwaren und baute das Sortiment stetig aus. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hielt der ,Ascheimer‘ Einzug in das Produktsortiment und nach dem Krieg produzierte Wesco seinen ersten ,Treteimer mit Fuß‘.” (Wesco-Website) Den ganz großen Durchbruch verdankt Wesco aber einer glücklichen Fügung. Egbert Neuhaus weilte als jüngster Spross im Familienbetrieb Anfang der 1970er-Jahre als Austauschstudent in Texas. Dort fielen ihm die typisch amerikanischen Abfallbehälter mit einem Fassungsvermögen von 50 Litern und mehr auf, die ursprünglich für die Gastronomie entwickelt worden waren, dank der leichtsinnigen Mentalität der Wegwerfgesellschaft jedoch längst auch Einzug in die Privathaushalte gefunden hatten. Bald produzierte Wesco nach dem Vorbild der amerikanischen Trash cans ähnlich geräumige Abfallsammler, die in Anlehnung an den Schriftzug auf der großen Einwurfklappe hierzulande auf den Namen „Pushboy” getauft wurden.

So machten wir uns am ersten Tag nach der erfolgreichen Wohnungsübergabe von der neuen Wohnung aus auf den Weg in die Essener Innenstadt, um unseren ersten und letzten Pushboy zu erstehen. (Fortsetzung folgt.)

Letzter Umzug

Saturday, 01. August 2009

Nach gezählten siebzig Tagen und einer gefühlten drei viertel Ewigkeit bin ich wieder daheim in meinem Weblog. Unterdessen war ich mit allerlei Verrichtungen befasst, die so gar nicht zum Repertoir meiner erprobten Fähigkeiten und erwiesenen Begabungen gehören, die meistenteils Anstrengungen ungeübter Muskeln, Knochen und Gelenke erforderten und deren erfolgreiche Bewältigung eine motorische Geschicklichkeit der Extremitäten voraussetzte, über die ich allenfalls in den vordersten Gliedern meiner Schreibfinger gebiete. Das Abenteuer, das mir solche Schindereien abverlangte, hört auf den harmlosen Namen Umzug.

Wenn Benjamin Franklin 1757 in Poor Richard’s Almanack den Stoßseufzer zum Himmel schickte, Three removes are as bad as a fire!, dann scheint mir dies nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen noch untertrieben. Dieser Umzug war ein Flächenbrand, durch den ohne Unterlass Kapitän Haddocks Mille millions de mille sabords! trampelten. Wäre ich nicht schon immer ein herzhafter und rücksichtsloser Flucher gewesen, ich hätte diese frohe Kunst unweigerlich gelernt, auf dem langen und beschwerlichen Weg aus der alten in die neue Wohnung.

Bei allen Verletzungen und Verstörungen, Beschädigungen und Beschämungen einer gar schröcklichen Zeit – die sich paradoxerweise einerseits ins Unermessliche zu dehnen schien, wenn ich nämlich mit diesen unüberschaubaren und nicht enden wollenden Plackereien befasst war, während sie andererseits rasend schnell verstrich, angesichts des gnadenlos näher rückenden, definitiven Auszugstermins aus dem gekündigten Wahnsitz Nummer 10 – war doch die schlimmste der Qualen der notgedrungene, wenngleich vorübergehende Verzicht aufs Schreiben.

Einen solchen Tort werde ich mir nie, nie wieder antun. Dies Haus, Wahnsitz Nummer 11, verlasse ich nur mehr in Rückenlage und mit den Füßen voran! Und bis dahin will ich keinen Tag mehr verstreichen lassen, dem ich nicht an dieser Stelle je nach Gusto meinen Tadel oder meine Jauchzer hinterherschicke. Wenn ich zum Schweigen verurteilt bin, werde ich ganz kümmerlich und miesepetrig und stumpfsinnig. Das darf sich niemals mehr wiederholen!

(An dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle Helfer: Heinrich F., Mario R., Ronald K., Christoph K., Johannes M., Hannerlore M., Jakob T., Christoph Sch., Dominik V., Gabi N., David P., Tim T., Ludger C., Susanne B., Thomas B., Söhnke N., Pablo F., Ulf G., Christian F., Benedikt R., Paul H. und meine Kinder.)

Ausnahme

Friday, 22. May 2009

Doch noch mal kurz da.

Es muss zwischendurch ein Überraschungsbesuch vermeldet werden. Seit vorgestern bin ich stolzer Besitzer der deutschen Übersetzung von Teil I des so sehnlich erwarteten Meisterwerkes als Vorab-Leseexemplar des Verlages und habe bereits die ersten 50 Seiten gelesen. Es muss! Das kann um keinen Preis vermieden werden.

Wenn Bolaño dieses Niveau bis zuletzt und ohne Längen und Wiederholungen hält und wenn schließlich das Ganze sich als etwas Gerundetes erweist, das mehr vorstellt als die Summe seiner fünf Teile, dann habe ich nach vielen Jahren erfolgloser Suche endlich einen Roman gefunden, der es verdient, neben meine fünf, sechs Lieblinge gestellt zu werden. (Es erübrigt sich wohl eigens darauf hinzuweisen, dass ich von meinen Lieblingsromanen die ersten fünf niemandem persönlich und schon erst recht nicht potenziell allen verraten will und den möglichen sechsten aus verständlichem Grund keinem verraten kann?)

Ich habe laut gelacht und stumm und still gestaunt!

Und was bei allem das Beste und Schönste ist: Ich liebäugele unterm Eindruck dieser Lektüre tatsächlich wieder mit dem Gedanken, mich auf meine alten Tage doch noch mal an ein Romänchen zu machen. War die Gelegenheit je so günstig? – Und schon wieder weg. Bis zum August.

[Dieser Beitrag geht an Beate Scherzer von der Buchhandlung proust in Essen.]

Niemand daheim

Sunday, 10. May 2009

„Diesesmal habe ich Ihnen durch meinen Bedienten sagen lassen, daß ich nicht zu Hause wäre, nach dem Billet aber, das Sie mir deswegen geschrieben haben, werde ich bei dem nächsten Besuch, womit Sie mich beehren werden, die Ehre haben es Ihnen auf der Treppe selbst zu sagen. Ich bin pp.”

(Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. Heft L, Nr. 164. Göttingen 1796.)

Karawanserei

Friday, 08. May 2009

Gelegentlich nimmt mein Streben nach intellektueller Redlichkeit krankhafte Formen an. Besonders beim Zitieren von Textstellen aus zweiter oder dritter Hand beschleicht mich ein schlechtes Gewissen, worauf ich weder Kosten noch Mühen scheue, näher an den Ursprung der durchgereichten Worte heranzukommen. Zuletzt geschah mir dies im Eröffnungsartikel zur Serie Wohnende, wo ich Samarqandi nach Idries Shah nach Lisa Alther zitierte, Letztere in einer deutschen Übersetzung von Gisela Stege.

Besonders störten mich in diesem Zitat eines Zitats die drei Auslassungspunkte, denn ich weiß nur zu gut, dass man durch die Unterschlagung von verbindenden Textstellen die Aussage eines Autors verfälschen, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehren kann. Wie peinlich wäre es doch, wenn mir ein kritischer Leser nachweisen könnte, dass jener Samarqandi aus dem 13. Jahrhundert mit seinem Satz keineswegs etwas über die prägende Bedeutung von Berufen habe sagen wollen, was für jeden deutlich erkennbar sei, der sich nur die Mühe mache, die von Lisa Alther unterschlagene Stelle bei Samarqandi oder mindestens doch bei Idries Shah (1924-1996) nachzulesen. – Um wieder ruhig schlafen zu können, besorgte ich mir also dessen Caravan of Dreams in einer deutschen Übersetzung. Dort fand ich die fragliche Passage unterm Titel „Rang und Nation” in voller Länge. (Die von Lisa Alther weggelassenen Stellen habe ich durch Kursivsetzung kenntlich gemacht.)

„Verschiedene Gruppen innerhalb der Gemeinschaft stellen in Wirklichkeit ,Nationen‘ dar. – Hüte dich vor Leuten, die dir Fragen stellen, zu denen sie sich bereits eine Meinung gebildet haben, die sie bloss bestätigt haben möchten oder mittels derer sie dir – unbewusst – Ablehnung entlocken wollen, um damit ihre eigene Überzeugung zu stützen. – Die Verbindung mit solchen Menschen ist nicht nur fruchtlos: sie ist das Merkmal des Unwissenden. – Der Klerus, die Ärzte, Literaten, Adligen und Bauern könnte man tatsächlich als ,Nationen‘ bezeichnen; denn jede dieser Gruppen ist ihren eigenen Sitten und Denkgewohnheiten verhaftet. Die Vorstellung, dass diese Leute, bloss weil sie in demselben Land wohnen und dieselbe Sprache sprechen, gleich sind wie du, ist eine Haltung, die es zu überprüfen gilt. Alle Erleuchteten lehnen letztendlich diese Annahme ab.” (Idries Shah: Karawane der Träume. Lehren und Legenden des Ostens. A. d. Engl. v. René u. Clivia Taschner. Basel: Sphinx Verlag, 1982, S. 193.)

Meine Befürchtung hat sich also als gegenstandslos erwiesen. Tatsächlich wirken sogar die beiden Sätze über Menschen, die nur immer wieder ihre vorgefassten Ansichten bestätigt sehen wollen, wenn nicht wie ein Fremdkörper, so doch wie ein Einschub, der mit dem eigentlichen Kerngedanken der Passage nur bedingt etwas zu tun hat.

So gesehen hätte ich mir die 8,90 €, die mich das Buch im Antiquariat gekostet hat, gut sparen können. Nun kommt aber ein zweiter, vielleicht ebenfalls krankhafter Prozess in Gang, der eine Kompensation der verschwendeten Mittel herbeizuführen sucht. Ich beginne, mich für ein Buch zu interessieren, das mich sonst allein schon wegen seiner Umschlagillustration auf Distanz gehalten hätte [s. Titelbild]. – Und nun entdecke ich dies und jenes, das mir Spaß macht, wie das Sprichwort: „Wenn du ein Schreiber sein willst, so schreib und schreib und schreib.” (Ebd., S. 200.)

Protected: Lothar Baier

Thursday, 07. May 2009

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Bummelant?

Tuesday, 05. May 2009

Manche Innovationen sind uns bereits so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir erstaunt sind, wenn wir von ihrem verhältnismäßig geringen Alter erfahren. So bin ich baff, dass es Kreuzworträtsel vor hundert Jahren noch nicht gab. Ich hätte geschworen, dass diese crossword puzzles zu Zeiten von Lewis Carroll (1832-1898) längst auf der Welt waren – oder, falls nicht, dass sie spätestens dieser große Rätselfreund und Wortakrobat, Schöpfer des Jabberwocky, ersonnen hätte.

Neuerdings vertreibe ich mir eine tägliche Wartezeit, zu der mich das Alter nötigt, mit dieser unschuldigen und anspruchslosen Zerstreuung. Ich gestehe gern, dass ich keineswegs den Ehrgeiz habe, solche strapaziösen Kopfzerbrecher wie Um die Ecke gedacht von Eckstein aus dem ZEITmagazin oder Das Kreuz mit den Worten von CUS aus dem SZ-Magazin zu lösen. Ich bevorzuge vielmehr die guten alten Schwedenrätsel, bei denen man die Fragen nicht erst auf dem Umweg über Zahlen herbeischaffen muss, weil sie in den sogenannten „Blindkästchen” bequemerweise gleich zur Stelle sind. Den bekannten Nachteil dieser Variante nehme ich gern in Kauf, dass sie nämlich mit einem verhältnismäßig geringen Repertoire gesuchter Begriffe auskommen müssen, weil die Fragen aus Platzgründen kaum mehr als zwei, drei Worte lang sein dürfen. Auch habe ich nicht den Ehrgeiz, jedes Rätsel lückenlos zu lösen. Meist fehlen mir zuletzt so entlegene Realien wie ein „Ort in Hordaland (Norw.)” oder ein „kanadischer Wapitihirsch“, was meinem Selbstbewusstsein wenig schadet. Ich kann Odda und den Elk zwar in den Auflösungen am Ende des Rätselheftes nachschlagen, doch das scheint mir wenig sinnvoll, denn solche verbalen Exotika haben weder in meinem aktiven noch in meinem passiven Wortschatz Platz und Nutzwert.

Was mir hingegen wirklich Spaß macht, ist das spielerische Training planvoller Suche nach Synonymen und der Entschlüsselung von Definitionen, das diese Rätselform für eine Weile bietet. Im günstigsten Fall bringt sie mich sogar zum Nachdenken über den engen Rahmen der Wortsuche hinaus. So wollte mir eben ein Synonym für „flanieren” mit sieben Buchstaben partout nicht einfallen. (Titelbild: Ausschnitt aus einem unvollständig gelösten Schwedenrätsel; aus: Schwedenrätsel Großband Nr. 49. Hrsg. v. Gerhard Melchert. Hamburg: Martin Kelter Verlag, o. J., S. 24.) Erst nachdem ich vier Buchstaben durch senkrecht kreuzende Begriffe beitragen konnte, wurde klar, dass der Rätselsteller nur „bummeln” gemeint haben konnte. (Hätte ich schon eher seine Bekanntschaft gemacht, wer weiß, vielleicht hätte ich mich dann Kohlenpottbummler genannt.)

Das Wort „bummeln” kenne ich aus meiner Kindheit aus folgenden Verwendungen: „Wir machen heute einen Einkaufsbummel (resp. Schaufensterbummel).” – „Wir fahren mit dem Bummelzug.” – Einkaufsgänge an der Hand meiner Mutter, durch die Essener Innenstadt, waren jedenfalls alles andere als entspanntes Flanieren, sondern im Gegenteil schreckliche Hetzereien,  weil von Geschäft zu Geschäft Preise verglichen werden mussten, damit zuletzt doch das Hemd oder die Hose bei C & A gekauft werden konnte: „Bummel doch nicht so!” Die Bevorzugung einer lahmen Zugverbindung, mit Zwischenhalten in jedem Kleinkleckersdorf, wurde durch die Verwendung des Wortes Bummelzug, das wohl Gemütlichkeit vorgaukeln sollte, kaum verzeihlicher, wenn das Abteil gestopft voll war mit quengelnden Kindern, zeternden Müttern und Zigarre rauchenden Vätern. Und der Schaufensterbummel an Sonntagen auf Rüttenscheider und Huyssenallee verdiente zwar seinen Namen, weil er langsam, ziel- und zwecklos war, trug aber ebenfalls wenig dazu bei, mich mit dem Bummeln anzufreunden.

Wie schön also, dass es die unverbrauchten und nicht vorbelasteten Wörter aus anderen Sprachen gibt, die im Kern etwas sehr Ähnliches oder gar das Gleiche bedeuten, aber frei sind von den quälenden Erinnerungen aus widrigen Umständen. So flaniere ich denn und verbitte mir, ein Bummelant geschimpft zu werden.

Nichts ist älter (I)

Monday, 04. May 2009

… als die Zeitung von gestern? Ach was, eine gut abgehangene Zeitung vermag mir geradezu Aktualitätskicks zu verpassen, dass es eine wahre Freude ist. Messiemäßig horte ich darum auch stets einen pfundigen Vorrat vor sich hin gilbender in- und ausländischer Blätter, hauptsächlich Feuilletons, Wissenschafts- und Gesellschaftsteile, gelegentlich aber auch Fetzen aus anderen Ressorts, auf dass mir in faden Stunden der inspirierende Input nicht ausgehe. Dann grapsche ich blindlings ins Volle und lasse mich überraschen, welche Gedankenmelodie der Zufall meinem Hirnkasten abnötigt.

Heute also ein noch nahezu taufrisches Blatt, die Seite 34 aus Nr. 43 der diesjährigen FAZ vom 20. Februar. Dort widmet Anja Hirsch den soeben im Piper-Verlag erschienenen ersten beiden Bänden einer neuen Ausgabe von Sándor Márais Tagebüchern vier muntere Spalten. Nun wüsste ich gern, ob diese Edition meiner siebenbändigen Ausgabe aus dem Oberbaum-Verlag von 2001 etwas voraushat. Wie soll ich mir aber folgenden Satz der Rezensentin erklären? „Vereinzelt erschienen auch hierzulande bereits Auszüge, unter anderem zwei [?] Bände im Oberbaum Verlag.” Ein Blick in den Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek hätte doch ausgereicht, um diesen plumpen Fehler zu vermeiden!

Die Oberbaum-Ausgabe ist, wie ihre Leser wissen, ein editorisches Kuriosum ohnegleichen. Nach einem ersten Band, der „Auszüge, Fotos, Briefe, Dokumentationen” bringt, folgen in Band 2 die Tagebücher von 1984 bis zum Freitod des Autors 1989, dann geht es weiter mit Band 3 und den Jahren 1976 bis 1983 und so fort in umgekehrter Chronologie, bis wir schließlich im siebten und letzten Band bei den Einträgen aus den Kriegsjahren 1943 und 1944 angelangt sind.

Die Frage, ob ich mir nun zu meiner vorhandenen noch eine weitere Ausgabe der Tagebücher jenes ungarischen Diaristen zulegen soll, muss ich mir also selbst beantworten. Die FAZ-Rezension ist da wenig hilfreich, ich bin auf meinen Spürsinn angewiesen. Die eben erschienenen Piper-Bände der Jahre 1943 bis 1945 haben zusammen über 900 Seiten, in meiner Oberbaum-Ausgabe kommen dieselben drei Jahre gerade einmal auf 274 Seiten. Wenn es dort im Impressum heißt: „Textkritische, leicht gekürzte Ausgabe”, dann kann dies wohl nur als Etikettenschwindel bezeichnet werden. (Immerhin erklärt diese Rechnung, dass die neue Ausgabe laut Anja Hirsch auf stolze 14 Bände angelegt sein soll. Sibylle Mulot im Spiegel spricht allerdings von einer laut Verlag „heute noch nicht endgültig feststehenden Zahl von Bänden”.) Fraglos muss die FAZ-Rezensentin ihr Handwerk erst noch lernen. Da sie nicht einmal sachlich korrekte Informationen liefert, erstaunt ein Satz wie dieser kaum mehr: „Diese Bände gehören neben Julien Green, Virginia Woolf und viele andere manische Jahrhundert-Überschreiber gestellt.” Ja, was denn nun? Erst hievt Anja Hirsch Márai auf ein Niveau mit zwei ganz großen Tagebuchschreibern des 20. Jahrhunderts – und dann relativiert sie dieses höchste Lob gleich wieder, indem sie von vielen anderen spricht, die offenbar auch auf einer Höhe mit den drei Vorgenannten liegen.

Zum Abschluss und zur Erholung von solcherlei schummriger Ungefährheit und windelweicher Ungefährlichkeit ein Zitat aus Sándor Márais Tagebuch. Man schreibt das Jahr 1944, Budapest liegt wie halb Europa in Trümmern. Der Romancier, dem das Romaneschreiben gründlich vergangen ist, blättert in alten Illustrierten: „Mir fällt ein sieben Jahre altes Esquire-Heft in die Hand. Ich studiere die Annoncen. All diese Whiskys, Automarken, Tennisschläger, Schlangenlederschuhe, Edelsteine, modisch geschnittenen Herrenhemden, die aus rätselhaften Materialien hergestellte Damenunterwäsche, diese Welt, die von den Raffinessen des Details nie genug bekommt -, gibt es sie tatsächlich noch irgendwo? Wieder muß ich daran denken, daß ich in Budapest drei Tage vergeblich auf der Suche nach einem Schuster war, der mir einen Flicken aufsetzt.” (Sándor Márai: Tagebücher 7. 1943-1944. Ausgew. u. a. d. Ung. übers. v. Christian Polzin. Hrsg. v. Siegfried Heinrichs. Berlin / St. Petersburg: Oberbaum Verlag, 2001, S. 194.)

[Fortsetzung: Nichts ist älter (II).]

Wohnende (II)

Sunday, 03. May 2009

Seit Erfindung der Treppe gibt es dreierlei Wohnweisen: unten, oben und dazwischen.

Der Mieter im Parterre gewinnt am schnellsten Land, wenn das Haus unsicher wird, eroberte also etwa in den Bombennächten des letzten Krieges regelmäßig die besten Plätze im Keller; aber auch im zivilen Brandfall hat er die besseren Karten, bleibt ihm doch der freie Fall ins Sprungtuch erspart; andererseits muss er aber vor Dieben besonders auf der Hut sein, die den Weg durchs Fenster notfalls per Räuberleiter bewältigen können. (Wohnsinn 8, 9, 10 und 11.)

Der Mieter unterm Dach thront über allen, genießt eine weite Aussicht und quält sich tagtäglich im Treppenhaus, in jungen Jahren nur auf-, in späteren dann auch abwärts. Er überlegt sich dreimal, ob er noch für ein Viertelstündchen vor die Tür gehen soll, zu einem kleinen Abendspaziergang durch die laue Frühlingsluft. Des Straßenlärms ist er leidlich enthoben, nicht aber der Flüche der Paketboten. (Wohnsinn 1, 3, 4, 5 und 6.)

Alles, was sich zwischen diesen beiden Hemisphären tummelt, also die überwiegende Mehrheit der Etagenhausbewohner, führt ein nicht so klar akzentuiertes Grauzonendasein, hat welche unter und welche über sich, fühlt sich vielleicht unbewusst eingequetscht, umso mehr, wenn sich außerdem ein Nachbar zur Rechten und ein Nachbar zur Linken bemerkbar machen und die Wände, wie üblich, noch dünner sind als die Decken und Böden. (Wohnsinn 2 und 7.)

Ich habe alle drei Wohnweisen intensiv erfahren und weiß, wovon ich rede, wenn ich sage: Allein schon diese Lokalisation ist die halbe Miete und entscheidet gegebenenfalls über Wohl und Wehe des Wohnenden.

Wohnende (I)

Sunday, 03. May 2009

Nicht unwesentlich bestimmt sich der Flaneur als ein Umwegegeher. Er hat eingesehen, dass auf den geraden Strecken, den kürzesten Verbindungen zwischen zwei Punkten wenig zu finden ist und meist nur das Erwartbare, von Gewissheiten und Plänen Entwertete. Das Stöbern des Flanierenden hingegen geschieht planlos, wohl auf der Suche, aber ohne Wissen nach was. Müßig zu sagen, dass die Bewegung des Flanierens nicht auf Straßen und Wege beschränkt ist, sich vielmehr auch in ganz anderen Zielgebieten unternehmungslustiger Neugier bewähren kann.

Weit abseits von jenem weitläufigen Thema, das ich ab heute einzukreisen beginne, stieß ich auf folgende Einsicht des persischen Physikers und Heilkundigen Najib al-Din Abu Hamid Muhammad ibn Ali ibn Umar al-Samarqandi: „Die verschiedenen Gruppen der menschlichen Gesellschaft sind, angesichts der Realität, eigentlich ,Nationen‘ […]. Man könnte Kleriker, Ärzte, Literaten, Adelige und Bauern im Grunde als Nationen bezeichnen; denn jede Gruppe hat ihre eigenen Gebräuche und Denkschemata. Die Idee, sie seien genau wie man selbst, nur weil sie im selben Land leben oder dieselbe Sprache sprechen, ist eine Vorstellung, die des Überdenkens bedarf.”

Für alle, die es interessiert, hier der Routenplan für den Umweg. Ich fand diese Passage als Motto in Lisa Althers herzerfrischend unbefangenem Roman Hautkontakte (a. d. Am. v. Gisela Stege. Berlin – Frankfurt/M – Wien: Verlag Ullstein, 1977, S. 5), die sie wiederum der Sammlung alter sufistischer Geschichten von Idries Shah, Caravan Of Dreams, entnommen hat (London: The Octagon Press, 1968). Althers Buch habe ich mir erst neulich antiquarisch besorgt, weil ich eine kurze Episode daraus, Fesselnde Ehe, erneut mit Erfolg bei meiner Lesung in Oberhausen zum Besten gegeben hatte und gern einmal den Kontext kennenlernen wollte, in dem sie steht. Ich kannte diese groteske Geschichte um einen peinlich missglückten sexuellen Exzess, bei dem ein Paar Handschellen eine verhängnisvolle Rolle spielt, aus dem von Hermann Kinder herausgegebenen „Handbuch der literarischen Hocherotik”, Die klassische Sau (Zürich: Haffmans Verlag, 1986, S. 446-451), das ich 1986 von dem inzwischen verstorbenen Verlagsvertreter Jac Flessenkemper vor 23 Jahren zum Geburtstag geschenkt bekam. Jacs Widmung auf dem Vorsatz: „Trau keinem unter 30!”

Zurück zu al-Samarqandi. Der Gedanke, den er uns in aller Bescheidenheit ans Herz legt, ist ebenso schlicht wie berückend. Wenn man die Menschen nach ihrer Nationalität, nach ihrer Sprache oder ihrem Heimatland unterscheidet und hieraus Schlüsse auf ihre „Gebräuche und Denkschemata” ziehen zu können meint, dann ist es ebenso statthaft und sinnvoll, nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe zu fragen, denn diese ist mindestens ebenso prägend für ihr Verhalten und ihr Denken. Ich kann dieser Idee nur beipflichten, und dies sogar aus eigener Erfahrung, war ich doch unzweifelhaft in jenen 17 Jahren als Händler in einem offenen Ladengeschäft ein anderer Mensch als in den darauf folgenden zwölf Jahren, als ich einer Bürotätigkeit nachging.

Ich bin sogar davon überzeugt, dass es noch eine Reihe weiterer Gruppenzugehörigkeiten für jeden in der Zivilisation beheimateten Menschen gibt, von denen jede einzelne mehr Wirkung für seine „Gebräuche und Denkschemata” hat als seine Staatsangehörigkeit! Zum Beispiel sind Menschen ja nicht nur nebenbei Essende und Trinkende, weshalb Jean Anthèlme Brillat-Savarin im Aphorismus 4 zu seiner Physiologie des Geschmacks vielleicht etwas vollmundig erklärt hat: „Sage mir, was du ißt, und ich will dir sagen, was du bist!” (A. d. Frz. v. Emil Ludwig. Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1979, S. 15.) Aber auch darum soll es hier nicht gehen, sondern um uns Menschen als Wohnende. Und was den Leser unter dieser Überschrift künftig erwartet, sind ein paar Beobachtungen und Gedankensplitter zu einer noch zu schreibenden „Psychophysiologie des Wohnens”.

Wohnsinn (XI)

Thursday, 30. April 2009

[Wahnsitz ab August 2009.]

Wohnsinn (X)

Thursday, 30. April 2009

[Wahnsitz von Januar 2005 bis Juli 2009.]

Protected: Lächerlich

Wednesday, 29. April 2009

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Unfassbar

Tuesday, 28. April 2009

Zwei Top-Meldungen konkurrieren heute auf der Titelseite der SZ um meine Aufmerksamkeit: Bayern feuern Klinsmann (mit Bild) und Schweinegrippe erreicht Europa (ohne Bild, denn ein paar mit Mundschutz maskierte Mexikaner gab’s schon gestern). Indes taugt auch der arbeitslose Trainer hinterm Steuer seines Autos gut zur Illustration der Pandemiepanik, schaut er doch drein, als hätte er sich diese Seuche bereits eingefangen und mit seiner Entlassung die letzte Chance verpasst, von Dr. Rüdiger Degwert mit einer Anstaltspackung Tamiflu versorgt zu werden.

Wenn mich schon Aufmacher und Eckenbrüller auf Seite eins mit ihrem unfreiwilligen Zusammenspiel – Bananenflanke von Libero auf Linksaußen – in Feiertagslaune versetzen, dann weiß ich aus Erfahrung, dass mich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Seite vier der eine oder andere krause Kommentar beglücken wird, wie gemacht zur Vorführung in meinem apokalyptischen Kasperltheater.

Und richtig! Werner Bartens schafft es, auf Teufel komm raus dem Grippethema 134 Zeilen abzuringen, die dem besorgten Leser beim Frühstück zwar nicht verraten, was etwa zu tun sei, um nicht zu den Abermillionen Toten zu zählen, die demnächst zu beklagen sein könnten, aber ihm doch immerhin die tröstliche Gewissheit geben, dass selbst der kluge Kommentator von der SZ, was das angeht, in keiner komfortableren Lage ist. Und außerdem: „Es kann sein, dass die Schweinegrippe in wenigen Tagen vorbei sein wird, manche Infektionen begrenzen sich aus unbekannten Gründen selbst.” Nun ja, warum auch nicht? Theoretisch denkbar ist ja sogar, dass erfolglose Fußballtrainer freiwillig zurücktreten, wenngleich mir ein konkretes Beispiel für diese Variante gerade nicht einfallen will. Das heißt aber weniger als nichts, denn was Fußball betrifft bin ich ein mindestens so blutiger Laie wie der Herr Bartens in Sachen Epidemiologie. Darum versteigt der sich auch lieber in ein Gebiet, auf dem jeder fidele Selbstdenker ein halbwegs vertrauenerweckendes Texterl hinbekommen kann: das der Wahrnehmungs-Psychologie und Erkenntnis-Philosophie: „Viren kann man nicht sehen, riechen oder schmecken. Sie sind sinnlich kaum zu erfassen, diese Eigenschaften teilen sie mit Strahlen, Genen und dem Klimawandel.” Offenbar sind das lauter Sachen, die Bartens für zugleich unsichtbar und gefährlich hält. Aber schon stutze ich und frage: Was ist an Genen gefährlich? Sind Gene nicht zuallererst einmal ausgesprochen nützlich, brav und liebenswert, geradezu lebensnotwendig? Nun ahne ich zwar, was Bartens im Hinterkopf hatte, als er die Gene hier einreihte. Hat nicht zufällig eben erst eine bayerische Agrarministerin den Anbau einer gentechnisch manipulierten Kartoffel namens Amflora zugelassen? Pfui Deibel, denkt da der Verbraucher, aber ich muss das Zeug ja nicht essen. „Den meisten Menschen”, so Werner Bartens, „fehlen […] Phantasie und naturwissenschaftliche Kenntnisse”, um diese und ähnliche Bedrohungen wahrzunehmen. Gleichzeitig registriert er eine „mediale Pandemie”: „Den Viren gleich verbreiten sich Informationen in Windeseile um den Globus, seriöse Berichte wie gehetzte Panikmache.” Was geschieht, wenn auch und gerade die seriösesten Berichte unweigerlich zu Panik führen, sagt der Kommentator lieber nicht. Und er enthält uns auch eine genauere Schilderung dessen vor, was er sich im Zusammenhang mit der Grippegefahr unter Panik vorstellt. Gesine Schwan, die Präsidentschaftskandidatin, meinte vorige Woche im Redaktionsgespräch beim Münchner Merkur: „Wenn sich dann [in zwei bis drei Monaten] kein Hoffnungsschimmer auftut, dass sich die Lage verbessert, dann kann die Stimmung explosiv werden.” Dafür musste sie landauf, landab und selbst von ihren Sympathisanten kräftige Prügel einstecken, der Art, sie würde soziale Unruhen ja geradezu herbeireden. Wenig später dazu befragt, mit welchen Szenarien sie denn rechne, stellte sie bei FOCUS Online klar, sie rechne nicht mit brennenden Barrikaden. „Wir haben aber in der gegenwärtigen Krise die Verantwortung, weder zu dramatisieren oder gar Ängste zu schüren noch die Realität auszublenden.” Das könnte, wenn das Virus es will, wortwörtlich nun auch bald Ulla Schmidt sagen, unsere Gesundheitsministerin.

Werner Bartens hat in seinem Meinungsallerlei noch einen Wurstzipfel schwimmen, und der schmeckt so: „Die vage Zeitangabe, wann das Super-Virus entstehen könnte, und die Verdrängung des Unsichtbaren führten dazu, dass die meisten Menschen solche Warnungen nicht ernst nahmen. […] Jetzt könnte eine neue und gefährliche Grippe entstanden sein. Doch niemand außer ein paar Experten wollte die permanente Bedrohung vor dem Ernstfall zur Kenntnis nehmen. Sie war wohl zu schleichend und zu abstrakt.” Leider verrät uns der Kommentator nicht, was denn zur Vorbeugung hätte getan werden können, wenn die Warnungen vor der permanenten Bedrohung von den meisten Menschen und nicht nur von ein paar Experten zur Kenntnis und ernst genommen worden wäre. Und dass es einer besonderen Phantasieleistung bedarf, sich die vielleicht bevorstehende Grippe-Pandemie vorzustellen, ist ebenfalls Unsinn. Bartens erwähnt ja selbst den Musterfall, die berühmte „Spanische Grippe” der Jahre 1918 und 1919, die mittlerweile sehr detailreich dokumentiert ist. Vermutlich eine halbe Milliarde Menschen, ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung, erkrankte seinerzeit durch die Infektion mit dem Influenzavirus vom Subtyp A/H1N1, geschätzte 50 Millionen starben weltweit daran. Heute wären es bei gleichen Anteilen 225 Millionen Tote, das entspricht etwa der Bevölkerung Indonesiens.

Was offenbar den Verstand der meisten Zeitgenossen übersteigt und sie zu den unsinnigsten Scheinerklärungen und Spiegelfechtereien verführt, das ist nicht die Tücke des Unsichtbaren, die Unwägbarkeit des Unberechenbaren, die Unfassbarkeit des Unbegreiflichen, wie Werner Bartens sich selbst und uns Lesern weismachen will. Es ist schlicht und einfach die Unfähigkeit, angesichts globaler Bedrohungen einer gewissen Kategorie und Dimension unsere prinzipielle Ohnmacht zu erkennen und einzugestehen.

Favicon

Tuesday, 28. April 2009

Kürzlich entdeckte ich im Angebot eines Versandantiquars einen Titel, der meine Neugier weckte: Die Bibliothek der Zukunft von Dieter E. Zimmer, über „Text und Schrift in Zeiten des Internets”, erschienen im Ullstein Taschenbuch Verlag in Berlin („früher 9,95 €, jetzt 4,50 €”).

Das Büchlein ist acht Jahre alt, für diese Thematik also allenfalls noch von historischem Interesse. Es befasst sich auf 393 Seiten laut Prospekt „mit allen Fragen der Umwälzung”: „E-Book, virtuelle Weltbibliothek, E-Text, Hypertext, Enzyklopädien, Fachzeitschriften, Katalogrecherche, Geschichte der Textverarbeitung, Urheberrecht, Die Sterblichkeit der Information, www-Fakten und Zahlen.” Noch vor einem Jahr hätte ich so etwas für die Abteilung „Anachronismen und Kuriositäten” meiner Bibliothek bestellt. Jetzt, da ich nicht weiß, wo und wie meine Bücher und ich künftig wohnen werden, nehme ich von solchen Anschaffungen schweren Herzens Abstand.

Ich hätte Zimmers Buch übrigens gleich neben mein zwölf (!) Jahre altes SmartBooks Computer-Lexikon von Peter Fischer gestellt, in dem als Suchmaschine zwar schon Yahoo verzeichnet ist, nicht jedoch Google. Dafür sind dort noch rührenderweise uralte typographische Termini wie „Hurenkind” und „Schusterjunge” verzeichnet. Und vom Begriff „Icon”, der mittlerweile sogar schon in den Duden aufgenommen wurde, wird man allen Ernstes auf „Ikone” verwiesen, um dort die Erklärung zu lesen: „Bildsymbol, Sinnbild in grafischen Benutzeroberflächen oder Menüs. Beispiel: Gänsekiel für Textverarbeitungsprogramm.”

Apropos Icon. Unnötig zu sagen, dass ein ganz neuer Begriff wie „Favicon”, eine Legierung aus favourite und icon, in Fischers smartem Lexikon noch nicht vorkommt. Es benennt „ein kleines, 16×16 oder 32×32 Pixel großes Bildsymbol oder Logo, das in der Adresszeile eines Browsers links von der URL angezeigt wird und meist dazu dient, die zugehörige Website auf wiedererkennbare Weise zu kennzeichnen.” (Wikipedia)

Seit gestern ist die Adresse meines Weblogs mit einem solchen Favicon versehen. Mein Bildsymbol ist, versteht sich, der Zylinder, jener schwarze Hut, der im Weltende des Jakob van Hoddis dem Bürger vom spitzen Kopf flog. Was weiter geschah? Siehe Titelbild (von Wilhelm Busch).

Protected: Omnibus

Monday, 27. April 2009

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tweet 2

Monday, 27. April 2009

hallo allerseits, euer gott ist unter die mikroblogger gegangen. bevor der papst den gleichen weg einschlägt will ich euch nur eins sagen:

Gefälligkeit

Sunday, 26. April 2009

„Der Betreiber der Website revierflaneur.de ist um Fehlerfreiheit in formaler und inhaltlicher Hinsicht bemüht.” So lautet der erste Satz zur Sorgfalt meiner Texte dieses Weblogs, die ich am 27. Juli 2008 im Impressum versprochen habe.

Welche Mühen sich im Einzelnen aus diesem anspruchsvollen Vorsatz ergeben, das wird der Leser nur ermessen können, wenn er selbst einmal probiert hat, einen in jeder Hinsicht richtigen Text herauszubringen. Vom Buchstabendreher bis zum fehlenden Komma, vom falschen Fall bis zur hässlichen Wiederholung lauern Fehler und Makel in jeder Zeile. Dagegen helfen nur Wachheit und Übung, Sorgfalt und Fleiß – und selbst damit kommt man nicht ins Ziel, denn bekanntlich ist man leider oft blind für die eigenen Versehen. So kann ich mich glücklich schätzen, dass eine ausgezeichnete Korrektorin jeden einzelnen meiner Texte unmittelbar nach der Veröffentlichung auf Herz und Nieren prüft.

Ich habe es aber insofern besonders glücklich getroffen, als diese strenge Gegenleserin mein Geschreibsel nicht nur auf formale Mängel durchsieht, sondern weit darüber hinaus auch ein feines Gespür für mancherlei andere Schwächen hat. – Dafür ein Beispiel aus jüngster Zeit.

In meinem Beitrag AtD VII.10 schrieb ich gestern den Satz: „Zeitweise war ich mir beim Pynchon-Projekt vielleicht wie jemand vorgekommen, der versteckte Anspielungen reihenweise abknallt wie die Karnickel bei der Treibjagd.” Weil ich so selten „Karnickel” schreibe, ganze drei Mal bisher in diesem Weblog, musste ich der letzten Gewissheit zuliebe noch einmal im Duden nachschlagen, ob man nicht etwa „Kanickel” schreibt, ein Zweifel, der so abwegig nicht ist, da man ja auch nicht „Karninchen” schreibt. Meine gute Seele mit dem scharfen Blick und dem noch schärferen Verstand erspähte aber einen ganz anderen Lapsus: „Treibjagd macht man auf Hasen u. a., Kaninchen (im Bau lebend) jagt man mithilfe von abgerichteten Frettchen oder Raubvögeln.” (Ich lasse die „Treibjagd” bewusst im gestrigen Artikel stehen und verlinke von dort auf den heutigen, als kleine Hommage an M. C.)

Ein merkwürdiger Zufall ist, dass letzten Montag mein Freund H. F. gesprächsweise einen ganz ähnlichen Fehler monierte. Im Beitrag Schnee von gestern hatte ich geschrieben: „Mich selbst erinnern sie [meine Blog-Texte] an die Schwimmer beim Angeln, die das Anbeißen der Beute signalisieren sollen. Wenn tief unter der spiegelglatten, friedvollen Wasseroberfläche ein riesiger Raubfisch mit der Nase an den Köder stößt, dann löst er damit bloß ein ganz feines Zucken im treibenden Schwimmer aus, kaum wahrnehmbar.” Zum Angeln von Raubfischen, so mein Freund, setze man keine Schwimmer ein, die kämen nur bei Friedfischen zur Anwendung. Das stimmt zwar und es war mir ebensowenig bekannt wie die Technik der Kaninchenjagd. Aber hier möchte ich doch einwenden, dass ich ja in dieser Metapher gar nicht behauptet habe, Angler, Angel, Schwimmer und Köder hätten es auf den Raubfisch angelegt.

[Titelbild: Wilhelm Busch.]

Protected: Ein Elend

Thursday, 23. April 2009

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Protected: Erdtag $$

Wednesday, 22. April 2009

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En pointe

Wednesday, 22. April 2009

Eine nette Anekdote erzählt Schlingensief unterm Datum vom 24. Januar [2008], er wacht gerade aus einer sanften Vollnarkose auf, die ihm vor der Bronchioskopie verabreicht wurde:

„Da stand eine Mutter an einem Kinderbettchen gegenüber. Im Dämmerzustand habe ich sie gebeten, sie solle doch mal zu mir kommen. Ich habe sie gefragt: Was hat Ihr Kind? Was ist mit Ihrem Kind? Sie sagte, das rollt immer so komisch auf den Fußballen ab, das läuft immer nur ganz vorne auf den Zehenspitzen. Wissen Sie, warum Ihr Kind das tut?, sagte ich. Weil Ihr Kind einfach besonders intelligent ist. Ihr Kind ist einfach ein hochintelligentes Wesen, ein Autist. Das sind die, die auf Zehenspitzen durch die Welt laufen. Die haben so viel zu denken, dass sie auf dieser Erde nur ganz vorsichtig gehen können. Und das ist bei Ihrem Kind so. Ihr Kind ist ein Genie, habe ich im Halbschlaf gemurmelt. Und die Mutter hat mich angestrahlt, war wahnsinnig glücklich in dem Moment und hat auch ihr Kind so schön angelächelt, als hätte sie es neu begriffen. Und als ich weggefahren wurde, hat sie mir zugelächelt. Das war wunderschön.” (Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 59.)

Angeblich hat nun Alexander Kluge, der seit Jahren immer mal wieder den väterlichen Schutzengel für Schlingensief mimt, etwas herausgefunden, „was der Leser ohnehin weiß: Christoph Schlingensief selbst ist dieses Kind.” (Christopher Schmidt: Der Dreckskerl da drinnen; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 90 v. 20. April 2009, S. 14.) Schön, dass Schmidt weiß, was der Leser weiß. Ich weiß, dass Schlingensief keinen Geringeren als mich meint, passt seine Beschreibung des auf Spitzen gehenden Knaben doch zum Verwechseln auf mich. Einziger Schönheitsfehler: Ich bin kein Kind mehr, sondern gar ein paar Jährchen älter als Schlingensief. Aber vielleicht hat es sich ja nicht um eine reale Wahrnehmung, sondern um einen Fiebertraum gehandelt?

Was die Schulmedizin, unter deren Messer sich Schlingensief begeben musste, dem Spitzengeher aus seinem Traum angetan hat, konnte man mal für kurze Zeit bei Westropolis bewundern. Ein Foto meines operierten rechten Fußes brachte die Leser dieses Kulturblogs allerdings so in Rage, dass ich dieses Bild durch eins von Arno Schmidts Häuschen im heimeligen Schneegestöber ersetzen musste. (Die diversen Kommentare kann man immer noch dort nachlesen.)

Hier bin ich ja nun mein eigener Herr und kann meinen autistischen Fuß herzeigen, wie es mir gerade passt.

Vorschnelligkeit

Tuesday, 21. April 2009

„Ich hab jetzt einfach eine andere Schnelligkeit. Ich hab auch gemerkt, wie viel Energie andere aufbringen. Wenn ich in ein Café gehe: Die Zeitung wird geblättert, da wird noch Kaffee … dann hier das Winken, vorne der Stuhl, das muss noch vorne sein, man muss hinten sitzen, vorne rechts … Das ist ein Wahnsinn an Energie, die der Mensch besitzt, ja? Und die Hälfte würde wahrscheinlich schon reichen.”

So Christoph Schlingensief morgen im Interview bei Beckmann in DasErste. Nun habe ich zwar weder eine Glotze noch kann ich in die Zukunft schauen, aber ich bin mittlerweile so langsam geworden, dass die Zukunft schon hinter mir liegt.

Und weil ich so schön langsam bin, kann mir naturgemäß nicht entgehen, dass Christoph hier „Schnelligkeit” sagt, wo er doch eigentlich „Langsamkeit” meint. Auffällig auch, dass er rasend schnell spricht, als müsste er in die ihm gewährte Sendezeit so viel wie eben möglich hineinquetschen. Schlingensief klopft sich auf die Schulter, dass er nur zu dieser einen Talkshow geht mit seiner Leidensgeschichte und seinem Buch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Das soll ein Fortschritt sein?

„Die ersten vier Wochen sind entscheidend.” Damit meint er die ersten vier Wochen nach der Krebsdiagnose.

Ich werde wohl immer die letzten für die wichtigeren halten.

Schnee von gestern

Tuesday, 21. April 2009

Nachdem die Magnolie in der Weißbachstraße sich bereits vor ein paar Tagen ihrer Blüten entledigt hat, „schneit” es nun auch blassrosa von den japanischen Zierkirschen herab. Heute vor genau zwei Monaten war das Pflaster vorm Haus noch mit richtigem Schnee bestäubt.

Ein sechstel Jahr. Mir kommt der Zeitraum zwischen diesen beiden Fotos vor wie eine halbe Ewigkeit. Seither bin ich tatsächlich ein anderer geworden – wie schon so oft, mögen meine besten Freunde sagen und lächeln. Wieder mal eine Metamorphose, ja! Lacht nur! Aber diesmal ist es ernst. Seit langer, langer Zeit geht es endlich wieder an die Substanz.

Schade nur, oder vielleicht im Gegenteil ganz gut, dass man davon vermutlich in diesen brav vor sich hinplätschernden Notizen vom Tage wenig bis gar nichts merkt.

Mich selbst erinnern sie an die Schwimmer beim Angeln, die das Anbeißen der Beute signalisieren sollen. Wenn tief unter der spiegelglatten, friedvollen Wasseroberfläche ein riesiger Raubfisch mit der Nase an den Köder stößt, dann löst er damit bloß ein ganz feines Zucken im treibenden Schwimmer aus, kaum wahrnehmbar. Sehr leicht könnte es auch von der schwachen Brise herrühren, die von Land kommt und einen zarten Hauch von Kaffeeduft mit sich bringt.

Es ist halb fünf und die Tante des Hafenmeisters setzt sich gerade zu ihrem gemütlichen Viertelstündchen auf die Veranda, das sie sich, wie sie nicht müde wird zu betonen, wahrlich verdient hat.

Zuckerpott putt

Monday, 20. April 2009

Es sei, so schrieb ich hier unterm 18. September vorigen Jahres, „ein kleines Wunder, dass er unterdessen nicht irgendwann einmal in Scherben gegangen ist, denn das Porzellan ist für seine Größe verhältnismäßig dünn und an unserem Frühstückstisch herrschte, als unsere Kinder noch klein waren, oft ein rechtes Tohuwabohu. Klopf auf Holz: toi, toi, toi!”

Die Rede war von unserem Zuckerpott. Nun ist er perdu, oder putt, wie es in der Kindersprache heißt. Nachdem mir Ende März ausgerechnet eine triviale Maggiflasche – wie peinlich! – auf den Zuckerpott gefallen war und er seither einen feinen Riss in seiner dünnen Haut hatte, ging er am Ostersonntag endgültig in die Brüche. Indirekt trug ich auch daran die Schuld, weil ich den Zuckerpott auf eine wacklige Gartenbank gestellt und dann dort vergessen hatte. Milan wackelte daran und – pardauz!

Dreizehn Scherben!

Nun sind wir auf der Suche nach einem angemessenen Ersatz, was sich als gar nicht so einfach zu erweisen scheint. Wir suchen ja wieder ein ähnlich bauchiges Gefäß, mit einem Fassungsvermögen, das ausreichend groß ist und uns bei unseren zahlreichen süßen Gästen nicht zwingt, alle nasenlang Zucker nachzufüllen. Ein Deckel muss nicht sein, der würde nur stören und ohnehin ganz weit hinten im Küchenschrank verschwinden.

Es soll nach Möglichkeit auch kein langweiliges Massenprodukt sein. Neulich entdeckten wir eine Blumenvase aus Porzellan, die von der Form und Größe her wenigstens in etwa mit unserem altgedienten Pott Ähnlichkeit hatte. Aber die Öffnung war etwas arg eng, wie Ulla fand. Und zudem schien die schneeweiße, schmucklose Vase uns beiden dann doch zu langweilig-beliebig. Vermutlich werden wir am ehesten noch auf einem Flohmarkt fündig, die Freiluftsaison hat ja gerade begonnen. Oder sollte ich das Ereignis zum Anlass nehmen, mir den Zucker ganz abzugewöhnen?

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Monday, 20. April 2009

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Korbes et al.

Friday, 17. April 2009

Morgen lese ich vor angemeldetem Publikum in einer Oberhausener Psychotherapie-Praxis.

Die Einladung dorthin verdanke ich Ullas Freundschaft zu Eva, einer der beiden Therapeutinnen, die seit vorigem Jahr mit ihrer Freundin und Geschäftspartnerin Eva zu Gast bei meinen Literarischen Soireen ist.

Ungewohnt an dieser Situation ist, dass ich vor mehrheitlich Fremden lese. (Selbst bei der Siemsen-Matinee im Grillo-Theater am 26. Oktober vorigen Jahres setzte sich etwa die Hälfte meines Publikums aus meinen langjährigen „Fans” zusammen.)

Deshalb ging ich bei der Komposition des Programms auf Nummer sicher und wählte sieben nicht allzu lange Texte aus, die hoffentlich erheitern werden, ohne mit ihrem teils etwas makabren Hautgout allzu sehr zu brüskieren. Von den dreißig Plätzen in dem hellen, freundlichen Gruppenraum der Praxis sind nach Auskunft der beiden Evas zwei Drittel durch Voranmeldungen besetzt. Ob alle angemeldeten Personen tatsächlich erscheinen werden, bleibt zudem abzuwarten. Immerhin hat sich das frühlingshafte Osterwetter gestern verabschiedet. Ein spontaner Biergartenbesuch dürfte also kaum als Konkurrenz zu meiner Soiree gefährlich werden.

Wie üblich spiegelt sich in meiner Textauswahl einerseits mein aktuelles literarisches Interesse wieder, insofern ich Kostproben von Alfred Polgar und Victor Auburtin aufgenommen habe; andererseits habe ich auf einige meiner erprobten und bewährten „Evergreens” zurückgegriffen, die zum Thema – Klitzekleine Katastrophen – passen, so etwa die schröckliche Geschichte des verschluckten Auges von Hermann Harry Schmitz [siehe Titelbild] und Herr Korbes von den Gebrüdern Grimm. Besondere Mühe habe ich mir mit den Programmzetteln gegeben, die ich als limitierte, nummerierte und signierte Einblattdrucke auslegen werde.

Mittwochenend

Thursday, 16. April 2009

Gestern beantwortete Team2 vom Abo-Service der SZ meine Reklamation mit folgender E-Mail:

„Sehr geehrter Herr Hessling, vielen Dank für Ihre Nachricht bezüglich der fehlenden Wochenendbeilage vom 11. 04. 2009. Wegen technischer Probleme bei der Produktion lag diese Beilage der Samstagsausgabe vom 11. 04. 2009 nicht bei. Leider ist die Beilage vergriffen. Unsere Vertriebsleitung teilte uns jedoch heute mit, dass die Beilage nachgedruckt wird und morgen am 15. 04. 09 der SZ beigelegt werden soll. Sollte die Beilage morgen nicht dabei sein, bitten wir nochmals um eine kurze Mitteilung, wir werden dann versuchen von München aus diese nachzuliefern. Freundliche Grüße i. A. […].”

Und tatsächlich, der heutigen Süddeutschen Zeitung liegt die achtseitige Wochenendbeilage von Nr. 84 bei, wie auf der Titelseite dieser Nr. 86 angekündigt: „Aus technischen Gründen fehlte die Wochenend-Beilage in einer Teilauflage unserer Osterausgabe. Wir bitten, dies zu entschuldigen. Süddeutsche Zeitung Wochenende wird heute nachgeliefert.” Das ist sehr erfreulich.

Schade, dass wir Leser bei dieser Gelegenheit nicht erfahren, was genau denn die genannten „technischen Gründe” waren. Eigentlich erwartet man an dieser Stelle eine Formulierung wie „durch einen technischen Fehler”. So klingt es ja geradezu, als sei das Versäumnis der Beilegung begründet gewesen, und zwar sogar technisch und nicht etwa bloß menschlich. Technische Gründe gelten ja allgemein als von vornherein entschuldigt. Insofern leuchtet es nicht recht ein, wofür sich die SZ-Redaktion dann eigentlich meint entschuldigen zu müssen.

Aber egal. Ich bin jedenfalls froh, nun stolzer Besitzer der so sehnlich erwarteten Zeitungsblätter zu sein, zumal sie erwartungsgemäß einen Artikel enthalten, der in unmittelbarem Zusammenhang zu einem Schwerpunktthema meines Weblogs steht. Nun weiß ich also endlich, warum ich mit geradezu triebhafter Hartnäckigkeit auf Nachlieferung dieser Wochenend-Beilage drängen musste. Doch davon vielleicht später einmal mehr.

Querulanz

Tuesday, 14. April 2009

Manchmal kann ich mich mit etwas partout nicht abfinden. Nachträglich lässt sich meist gar nicht mehr rekonstruieren, was es eigentlich und speziell war, das mir so sehr gegen den Strich ging. Aber wenn es mich wieder einmal erwischt hat, gibt es kein Halten mehr und ich muss so lange auf meinem wirklichen oder vermeintlichen Recht bestehen, bis ich meinen Dickkopf durchgesetzt habe. Das hat mir schon manche Blessuren beschert und zudem viel Zeit und Kraft gekostet. Und dennoch: Wenn es wieder so weit ist, komme ich gegen die Versuchung nicht an. So auch diesmal.

Diesmal hat mich meine Tageszeitung erwischt – oder ich sie, ganz nach Standpunkt. Ich mache es mir hier leicht und zitiere wörtlich die E-Mail, die ich heute an die zuständige Abo-Service-Abteilung geschickt habe:

„Sehr geehrte Damen und Herren, als Abonnent in Essen erhielt ich am Samstag die Süddeutsche Zeitung (Nr. 84) ohne die auf der Titelseite angekündigte Beilage ,Wochenende‘. Ich reklamierte dies bei Ihrem Abonnenten-Service unter Tel. 0180 5455900. Mir wurde die Nachlieferung noch für Samstag fest zugesagt. – Heute, Dienstag, erhielt ich per Bote ein zweites Exemplar, leider wieder ohne den Wochenend-Teil. Nach erneuter Reklamation unter der genannten Nummer erklärte mir ein Herr W., dass leider die komplette Auflage der Oster-SZ in meiner Region ohne den Wochenend-Teil zugestellt worden sei und mir die Beilage auch nicht nachträglich zugestellt werden könne. Er bot mir eine Gutschrift für dieses Exemplar der SZ an.

Das hilft mir nun leider nicht weiter, denn ich benötige den Wochenend-Teil der Nr. 84 unbedingt! Hätte ich bereits am Samstag erfahren, dass er mir über die SZ nicht zur Verfügung gestellt werden kann (wie der übrigens sehr freundliche Herr W. hartnäckig beteuerte), dann hätte ich Freunde in einer anderen Region bitten können, mir ein Exemplar am Kiosk zu besorgen. – Ich vertraue darauf, dass Sie einen Weg finden werden, mir als treuem Abonnenten und Leser Ihrer Zeitung den so dringend benötigten Wochenend-Teil nachträglich doch noch zugänglich zu machen. – Mit freundlichen Grüßen Ihres Manuel Hessling.”

Jetzt bin ich gespannt auf die nächste Episode. Möglich, dass die SZ mir zum Beispiel ersatzweise eine Kompensation anbietet, als Trostpflästerchen für den entgangenen Wochenend-Teil. Vielleicht erhalte ich eins der zahlreichen Präsente aus dem SZ-Shop, etwa „das Notizbuch zum Sammeln eigener Aufzeichnungen und Geistesblüten. Nicht nur für Golfer, sondern für alle – jeden Tag. Hochwertig ausgestattet mit Zeichenband, Einstecktasche und Verschluss.” Will ich aber nicht! Wie ich mich kenne, würde ich es umgehend zurückschicken, versehen mit einer Geistesblüte auf der ersten der 192 Seiten, die sich gewaschen hätte. Aber warten wir’s ab.

Minimixa

Tuesday, 14. April 2009

Papst Benedikt XVI. gibt die Richtung vor und seine Getreuen machen’s nach, wo immer sich eine Gelegenheit bietet. Das festtägliche Ablassen Ärgernis erzeugender Provokationen gehört mittlerweile schon zum postmodernen Ritus der katholischen Kirche. Diesmal war es erneut Bischof Walter Mixa (67), der sich absichtsvoll im Ton vergriff – und prompt sprang die liberale Presse darauf an, und in den Internetforen schäumte der Volkszorn.

Was hat Mixa nun eigentlich gesagt? Die vom Nationalsozialismus und Kommunismus begangenen Massenmorde seien eine unmittelbare Folge des um sich greifenden Atheismus gewesen. Wieder einmal habe ich allen Grund, solch einen offenbar tiefgläubigen Kirchenmann zu beneiden. Wie gemütlich muss er es doch haben, da er sich seine Welt und deren Geschichte mit so schlichten Schwarzweißmalereien zurechtlegen kann.

Leider ist diese neueste Pointierung des klerikalen Standpunkts – nennen wir den Quatsch mal so – kaum zu einer Erwiderung tauglich. Noch wer ihn halbwegs ernst nähme, machte sich so lächerlich wie etwa jene(r) „Tobermory” im Spon-Forum, der/die sich zu dieser Erkenntnis aufschwingt: „Nicht jeder Atheist ist ein potentieller Massenmörder. Umgekehrt ist nicht jeder Katholik ein Widerstandskämpfer.” Wer hätte das gedacht?

In die gleiche unterste Schublade gehört heuer zu Ostern der Protestschrei von Markus Hörwick (52), Sprecher des Fußball-Clubs Bayern München e. V., der etwas gefunden hat. Es war aber kein Osterei, sondern „vielleicht die schlimmste Entgleisung, die es in den deutschen Medien jemals [!] gegeben hat.” Vermutlich kennt Hörwick den Stürmer nicht, sonst müsste ihm die Geschmacklosigkeit seines Superlativs unmittelbar einleuchten.

Mittlerweile sind wir dort angelangt, wo Fußball längst viel mehr als die wichtigste Nebensache und Religion längst viel weniger als die unwichtigste Hauptsache der Welt ist: ganz unten. Schlechte Zeiten für Zeitkritiker.

Hotdog

Monday, 13. April 2009

Bekanntlich spiele ich persönlich ja am liebsten Schach. Dennoch verweigere ich mich nicht, wenn meine Tochter wieder einmal eins jener neuzeitlichen Gesellschaftsspiele zu einem geselligen Beisammensein mitbringt, bei denen die Zeit wie im Flug vergeht, man oft genug ziemlich dumm aus der Wäsche schaut und gelegentlich sogar etwas über sich und seine Mitspieler lernen kann. Einen Spielverderber will ich mich nicht schimpfen lassen.

Heute war Cranium an der Reihe, ein kreatives Denk- und Ratespiel, bei dem man unter anderem seine Teamkollegen durch Pantomimen, Zeichnungen (mit offenen oder geschlossenen Augen), Melodiengesumme und ähnliche Albernheiten dazu bringen muss, vorgegebene Namen oder Begriffe zu erraten.

Als ich an der Reihe war, stellte sich mir die Aufgabe, mittels eines Klumpens grünen Knetgummis einen Hamburger darzustellen, jene Delikatesse aus der Fast-Food-Küche, die sich so großer Beliebtheit erfreut und die, wie ich vom Hörensagen weiß, eine nicht geringe Schuld an der adipösen Verunstaltung unserer Jugend trägt.

Ich hatte 60 Sekunden Zeit, die Hamburger-Skulptur zu kneten. Als sie unter meinen geschickten Händen Gestalt annahm, scholl mir aus dem Kreise meiner Teamkollegen entgegen: „Hotdog! Hotdog!” Verzweifelt bemühte ich mich, die Konturen noch präziser herauszuarbeiten, aber das erlösende Wort „Hamburger” wollte meinen Mitspielern einfach nicht über die Lippen kommen.

Als die Minute abgelaufen war, musste ich mich darüber belehren lassen, dass eine Wurst zwischen zwei Brötchenhälften mitnichten ein Hamburger ist, wie ich immer angenommen hatte, sondern eben ein Hotdog; und dass es sich bei einem Hamburger um eine gegrillte Rinderhackscheibe zwischen zwei Brötchenhälften handelt. „Bist du denn noch nie bei McDonalds gewesen?” Doch, vielleicht drei- bis fünfmal insgesamt, aber dann habe ich mir immer nur eine Portion Pommes frites gekauft. In den folgenden zehn Minuten wurde ich von jenen Spielteilnehmern, die mich noch nicht so gut kennen, verstohlen beäugt wie ein seltenes Insekt. Aber daran bin ich ja gewöhnt.

Stumpf

Monday, 13. April 2009

[Ohne Worte.]

Vier Söhne

Saturday, 11. April 2009

[Ohne Worte.]

Pizzaraten

Saturday, 11. April 2009

Wenn uns wieder mal zu später Stunde die letzte Straßenbahn Linie 6 Richtung Pestalozziplatz vor der Nase weggefahren war, vertrieben wir uns die Zeit bis zum Eintreffen der ersten Bahn am nächsten Morgen mit Ratespielen.

Solange die Straßenbeleuchtung noch ein fahles Licht spendete, spielten wir „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.” Oder blau, grün, gelb. Das war dann die Zipfelmütze des Weihnachtsmannes auf einem Werbeplakat für die Aidshilfe undsoweiter.

Ab drei Uhr brannte nur noch eine Lampe über dem Fahrplan des Wartehäuschens. Ihr Lichtkegel erhellte gewöhnlich einen großen Flatschen Erbrochenes, denn ganz in der Nähe befand sich die Pizzeria Marianna, die für ihre verdorbenen Zutaten bekannt war, weshalb sie von uns und allen regelmäßigen Besuchern dieses Kiezes strikt gemieden wurde, nicht so hingegen von arglosen Durchreisenden, die es nach Verzehr einer Pizza in aller Regel gerade noch bis zur Haltestelle schafften, wo sie dann undsoweiter.

Herbie war beim Pizzaraten unübertroffen. Wenn Wuzz und ich wie aus einem Munde auf Pizza Toscana tippten, weil wir einen öligen Schinkenstreifen und drei halbe Champignons erspäht hatten, korrigierte Herbie hämisch: „Von wegen! Was ist denn das da? Eine Krabbe. Und das? Scheibsken Salami. Capricciosa, Capricciosa!”

Erdreistete man sich, die Zuverlässigkeit seines Auges in Zweifel zu ziehen, war Herbie durchaus imstande, einem die Beweismittel handgreiflich nahezubringen. So gewann Herbie immer. Vielleicht lag es daran, dass Pizzaraten im Jahr drauf von Autoquartett abgelöst wurde.

Umspült

Thursday, 09. April 2009

„Seit Ende 32 u. insbesondere seit Frühling 33 verbrauche ich einen Theil meiner Lebenskraft im Kampfe um die Möglichkeit, im Reiche der reinen transzendentalen Geistigkeit leben u. die mir anvertraute Lebensaufgabe durchführen zu können. Die Sintflut der allzumenschlichen Menschlichkeit, die mich umspült, das gewaltsam Hineingerissenwerden in diese Weltlichkeit (da ich doch nur sein darf in der tranquillitas animi [geistigen Gelassenheit] des ,unbetheiligten transzendentalen Zuschauers‘, als reiner Functionär des Absoluten), erfordert immer neue Selbstüberwindungen, Anspannungen, Kraftverluste. Dazu Zwang zu äußerer Geschäftigkeit, Ratgeben, helfen, mitsorgen, vielfältige – weltgebundene Correspondenzen. Sie wissen wohl, daß ich evangelischer NichtArier bin, also mit den Familien meiner Kinder mitbetroffen. Denken können Sie sich auch, was es für mich bedeutete, daß mir das Recht abgesprochen ist mich noch deutschen Philosophen nennen zu dürfen. […] Es ist freilich nicht leicht hinzunehmen, wie die redlichsten Arbeitserwerbe eines Lebens u. die wahrhaft für die Zukunft eines neuen Menschthums entscheidenden Entdeckungen aus letzter, transzendentaler Selbstbesinnung, in die verderblichsten Modephilosophien karrikiert, entseelt, verdorben, kastriert werden. Aber ich bin solange in splendid Isolation, solange ich in Seelenruhe leben kann, statt meinen Horizonten durch die trüben, übelriechenden Nebel der niedrigen Weltlichkeit entfremdet zu sein.”

So schreibt der 74-jährige Philosoph Edmund Husserl unterm Datum vom 17. Mai 1934 aus Freiburg im Breisgau an den ihm befreundeten Schriftsteller Rudolf Pannwitz, der sich schon 1921 auf die kroatische Insel Koločep zurückgezogen hatte. (Hier zitiert nach der zum Einstieg in das schwierige Denken des Philosophen trefflich geeigneten Anthologie Husserl. Ausgewählt u. vorgestellt v. Uwe C. Steiner. München: Diederichs, 1997, S. 87 f.)

(Nebenbei bemerkt haben Pannwitz und Husserl beide ein Werk zur Krise des abendländischen Denkens geschrieben: Die Krisis der Europaeischen Kultur von Rudolf Pannwitz erschien 1917 im Verlag von Hans Carl in Nürnberg; Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie von Edmund Husserl wurde posthum erst 1954 als Band VI seiner Gesammelten Werke, der „Husserliana”, herausgegeben.)

Edmund Husserl wurde nach seiner Emeritierung 1928 Schritt für Schritt aus der offiziösen deutschen Philosophie hinausgedrängt. 1933 wurde er gegen seinen Willen beurlaubt, drei Jahre später entzog man ihm die Lehrerlaubnis. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zwang ihn, aus der von Arthur Liebert in Belgrad gegründeten philosophischen Organisation auszutreten, und lehnte 1937 sein Ersuchen ab, am IX. Internationalen Kongreß für Philosophie in Paris teilzunehmen. Im Sommer 1937 wurde das Ehepaar Husserl aus seiner Freiburger Wohnung in der Lorettostraße 40 vertrieben. Schließlich erteilte ihm sein Nachfolger auf dem philosophischen Lehrstuhl in Göttingen in seiner Funktion als Rektor gar für alle Gebäude der Universität Hausverbot. Der hatte in der 5. Auflage seines Hauptwerkes von 1941, drei Jahre nach dem Tod seines Lehrmeisters, die Widmung – „Edmund Husserl in Verehrung und Freundschaft zugeeignet” – pflichtschuldigst entfernt. Sein Name: Martin Heidegger.

Heute vor 150 Jahren wurde Edmund Husserl im mährischen Proßnitz, heute Prostějov, geboren.

Endspiel

Wednesday, 08. April 2009

Wenn ich den Zeitkritikern des neuen Jahrhunderts lausche, habe ich immer ein flaues Gefühl. Meine verhaltene Zustimmung ist jedenfalls Lichtjahre entfernt von der rückhaltlosen Euphorie, die ich für die 68er-Rebellen empfand, für die Yippies und Spontis, Situationisten und Provos, LSD-Propheten und Orgon-Forscher, Antipsychiater und Happening-Artisten meiner wilden Jugendjahre.

Wenn ich mir die Lamentos der saturierten Linken und selbstgefälligen Grünen heute anhöre, und selbst noch bei den radikaleren Statements außerparlamentarischer Initiativen wie Attac oder von NGOs wie Greenpeace, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese braven Weltfürsorger allesamt den Schuss noch nicht gehört haben. Sie glauben offenbar allen Ernstes, dass auf althergebrachte Art und Weise noch was zu retten ist. Und wenn ich höre, wie jemand über steigende Spritpreise klagt und wenig später über die Finanzkrise jammert mit dem ironischen Kommentar, immerhin sei jetzt das Benzin wieder billiger, dann möchte ich gern einwenden, dass die schlechten Nachrichten in diesen Trendmeldungen leider gerade die scheinbar guten sind – und die eigentliche Katastrophe die unbewusst zynische Reaktion solcher Zeitgenossen. Aber das versteht ja kaum einer.

Als 1972 der Club of Rome Die Grenzen des Wachstums beschrieb und fünf Jahre später mit der Studie Global 2000 im Auftrag von Jimmy Carter diese prophetische Warnung mit einer Fülle von Fakten untermauert wurde, da fanden solche Hiobsbotschaften immerhin noch bei den kritischen und wohlmeinenden Zeitgenossen eine gewisse Resonanz. Wer sich heute erdreistet, die naheliegendsten, offensichtlichsten Tatsachen über unsere unmittelbare Zukunft in den Blick zu nehmen und etwa die Daseinsbedingungen der nach der Jahrtausendwende Geborenen gegen Ende ihres Lebens zu prognostizieren, der findet kein Gehör mehr. Die Gefahren, die uns aus der nachhaltigen und irreversiblen Schädigung und Zerstörung unserer Umwelt drohen, sind zu groß, als dass die meisten von uns sie noch als reale Bedrohung wahrnehmen könnten; sie sind, nach einem Wort von Günther Anders, „überschwellig”.

Jetzt hat ein Buch mein Interesse geweckt, das scheinbar anachronistisch genug ist, genau diesen verstörenden Blick über die Schwelle zu wagen. Es heißt Endgame, sein Autor ist der „Anarcho-Primitivist” – so wird er tatsächlich genannt – Derrick Jensen (* 1960) und es liegt seit Kurzem in einer zweibändigen deutschen Übersetzung vor.

Ein paar editorische Merkwürdigkeiten sind vielleicht ganz interessant. Im amerikanischen Original hat Band 1 den Untertitel The Problem of Civilization, Band 2 heißt schlicht Resistance. Daraus macht der Pendo-Verlag, der die deutsche Ausgabe herausgebracht hat, Zivilisation als Problem und Das Öko-Manifest – Wie nur 50 Menschen das System zu Fall bringen und unsere Welt retten können. Befremdlich auch, dass Pendo das Erscheinen von Band 2 auf seiner eigenen Internet-Seite bisher noch nicht annonciert hat! Bezeichnend, dass heute in keiner einzigen Buchhandlung meiner Vaterstadt, nicht bei Thalia und nicht bei der Mayerschen, und erst recht natürlich nicht bei den kleineren Läden, auch nur ein einziges Exemplar dieses Buches vorrätig war. Und nach solchen vielversprechenden Hinweisen verwundert es mich nicht, dass keiner meiner sonst stets gut über zeitkritische Novitäten auf dem Buchmarkt informierten Freunde je von Jensens Endgame gehört hat. Selbst einen deutschen Wikipedia-Artikel über diesen Autor sucht man bisher vergeblich. – Na, wenn das mal kein ganz heißer Tipp ist!

[Demnächst mehr zu Endgame unter dieser Adresse.]

Krieg dem Kriege (IV)

Tuesday, 07. April 2009

Heute nun bin ich bei meiner Menschenrauch-Lektüre bis zu jenem Streit zwischen Klaus Mann und Christopher Isherwood vorgedrungen, den Mann in seinem Wendepunkt auf den 15. Juli datiert hat. (Den Konflikt aus der Sicht von Klaus Mann habe ich in meinem ersten Beitrag dieser Reihe ausführlich zitiert.)

Interessanterweise bringt nun Nicholson Baker eine Darstellung aus der Perspektive des pazifistischen Kontrahenten, oder doch immerhin nach dessen Tagebuch: „Christopher Isherwood traf sich zum Mittagessen mit Thomas und Katia Mann und ihrem Sohn Klaus. Isherwood und Klaus Mann gerieten in Streit über den Krieg. Klaus Mann verlangte von Isherwood ein öffentliches Bekenntnis zur Sache der Alliierten – sein Schweigen werde falsch ausgelegt. Klaus Mann bezeichnete sich zwar als Pazifisten – er persönlich könne niemanden töten. Doch jetzt sei Pazifismus nicht angebracht. ,Wenn man zulässt, dass die Nazis alle umbringen, dann lässt man auch den Untergang der Zivilisation zu.‘

Isherwood brachte ein Argument vor, das er von Aldous Huxley gehört hatte: ,Die Zivilisation stirbt ohnehin an Blutvergiftung, sobald sie die Waffen ihrer Feinde einsetzt, also Verbrechen mit Verbrechen vergilt.‘ Mann entgegnete, Bekenntnisse zum Pazifismus könnten nur den Nazis und der fünften Kolonne nützen. ,Genau deshalb halte ich ja den Mund‘, sagte Isherwood. Es war der 8. Juli 1940.” (Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. A. d. Am. v. Sabine Hedinger u. Christiane Bergfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2009, S. 236; zit. nach Christopher Isherwood: Diaries. Vol. 1. Ed. by Katherine Bucknell. New York: HarperCollins, 1996, S. 99 f.)

Tatsächlich fand das Gespräch zwischen Mann und Isherwood wohl weder am 8. noch am 15. Juli 1940 statt, sondern am 7. Juli, denn Klaus Mann schreibt unterm Datum vom 8. Juli in seinem Tagebuch: „Gestern, Christopher Isherwood hier zum Lunch. Nett. Mit ihm geschwommen. Viel geredet. (Zum Problem des integralen Pazifismus, à la Aldous Huxley. – Auden’s unklare Stellung. Christophers eigene Unklarheiten und mannigfache Bedenken. Mir alles nicht ganz verständlich. Trotzdem Sympathie für seine Integrität und Bemühtheit.)” (Klaus Mann: Tagebücher 1940-1943. Hrsg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995, S. 47.)

Um die Ansichten und die daraus folgenden Verhaltensweisen komplizierter und vielschichtiger Zeitgenossen zu verstehen, muss man sie auseinandernehmen wie Küchenmaschinen und anschließend wieder zusammensetzen [s. Titelbild]. Wenn sie dann noch funktionieren, sind sie ihr Geld wert.

tweet 1

Monday, 06. April 2009

1500 blogger trafen sich jüngst in berlin unterm motto shift happens, um über die zukunft ihres metiers zu fachsimpeln. beobachter meinten,

Dilemma

Monday, 06. April 2009

Wie geht er mit folgender Situation um? Er fühlt sich gegenwärtig, von einigen kleineren, unbeträchtlichen Einschränkungen einmal abgesehen, ausgezeichnet, so gut wie schon lange nicht mehr, besser als seit vielen Jahren. Seine Tage verbringt er in großer Gelassenheit, genießt seinen bescheidenen Wohlstand, verfügt über seine Zeit nach Gutdünken, erledigt den größten Teil von dem, was er sich vornimmt, ohne allzu große Anstrengung, hat Freude an seiner selbstbestimmten Arbeit und kommt gut mit jenen engeren Mitmenschen aus, an denen ihm wirklich gelegen ist.

So weit, so gut – wäre da nicht ein gewisses ungewisses Morgen, an dem all diese erfreulichen Lebensumstände mit einem Male in Frage gestellt sein können. Damit ist, um genau zu sein, in etwa einem Jahr zu rechnen. Soweit nicht ein unwahrscheinlicher Glücksfall dazwischentritt, geht dann sein Dolce Vita, das hier allerdings nicht mit Müßiggang gleichzusetzen ist, unweigerlich dem Ende entgegen. Der Quell seines Wohlbehagens versiegt, die Gnadenfrist vor seiner unausweichlichen Verarmung ist abgelaufen.

Freilich wäre er der Letzte, der sein Heil allein aus materiellen Gütern ableiten wollte. Aber es ist andererseits nicht zu leugnen, dass ohne einen gewissen Mindestkomfort seine Arbeit bald zum Erliegen kommen muss. Dass diese Voraussetzungen üblicherweise als Allüren eines verschrobenen Exzentrikers bewertet werden, macht es nicht gerade leicht, Verständnis für sie zu finden. Aber was das betrifft, war er noch nie verwöhnt. In der Rolle des unvernünftigen Kauzes hat er sich vielmehr längst gemütlich eingerichtet.

Worin besteht dann aber sein Problem? Da er nun doch so präzis weiß, woran er ist, nahezu auf den Tag genau weiß, wieviel Zeit ihm noch bleibt, auf Heller und Cent weiß, welche Mittel ihm zur Verfügung stehen, könnte er ja eigentlich mit großer Gelassenheit sein Ziel, sein seit vielen Jahren um vordringlicherer Forderungen willen aufgeschobenes Lebensziel endlich erstreben und erreichen, sein geplantes Werk verwirklichen, tun, was er nicht lassen kann.

Stattdessen ist er gehemmt durch die Sorge um die Zukunft. Er wird von Vorstellungen gepeinigt, die eine ferne Zeit betreffen, und kann darum die Gegenwart nicht so nutzen, wie es im günstigsten Falle möglich und für die Verwirklichung seines Ideals auch nötig wäre. Er zerbricht sich den Kopf über Schwierigkeiten, die erst in einem Jahr konkret werden. Und das ist doch eine sehr ferne Zeit, oder? Jedenfalls wäre es so, wenn er die Gegenwart, jeden einzelnen heutigen Tag, vollkommen ausschöpfte. Genau dies gelingt ihm aber nicht, wenn er in Kummer und Sorge an den fernen Tag denkt, an dem sich unabweisliche Fragen stellen, was dann werden soll, wovon er bitteschön denn leben, wie er wohnen soll. – Das ist das ewige Dilemma, der eigentliche Grund für unsere eingebildete Sterblichkeit.

irgendeine

Sunday, 05. April 2009

die gute frau mit
harter hand
mund

aufgebracht an einem tag wie
heute gestern übermorgen
verwandt geküsst mein

herzverbrannt gedankenasche tand und gold
das böse hirn am seidenband
mein rostger nagel
heiß und hold
und rund

du dirn
bleib bei mir
steh mir bei dein atem

geh
mit mir
hinüber ins grau

Protected: Titelromane

Sunday, 05. April 2009

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Duftnote

Friday, 03. April 2009

Eine Zeit ohne Wörter heißt ein frühes Buch des Kölner Schriftstellers Jürgen Becker (*1932), eins der ersten Bücher überhaupt, die ich mir als fünfzehnjähriger Schüler von meinem Taschengeld gekauft habe. Wer will das wissen? Ich wüsste gern, wie ich damals dazu gekommen bin, mir von meinen paar Groschen ausgerechnet dieses Bilderbuch zu kaufen. (Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1971.)

Auf ungefähr 200 unpaginierten Seiten enthält Beckers Buch Schwarzweißfotos des Autors von Straßen und Häusern, Wiesen und Wäldern, Schienen und Mauern, Spiegelungen und Schatten. Menschen kommen vor, aber sozusagen nur am Rande. Ganz auf Wörter verzichtet das Buch nicht, auf einigen verstreuten durchnummerierten fotolosen Seiten erscheinen wenige Wörter, die wie Ankündigungen oder Titel der nachfolgenden Bilder gelesen werden können und vielleicht wollen: „Der letzte Satz in den Umgebungen.” „Dreißig Minuten in der alten Umgebung.” „Die näherkommende Katastrophe des Autobahnzubringerbaus” usw. bis „Gegenstand in der Dellbrücker Landschaft. Für meinen Vater und seine Familien.

Beckers Fotos sind nicht brillant, nicht professionell, keine Kunst. Vielleicht könnte man sie dokumentarisch nennen. Beim oberflächlichen Durchblättern baut sich vorübergehend diese oder jene Erwartung auf, wie das Ganze zu verstehen sein könnte, die aber an anderer Stelle und durch andere Fotos bald schon wieder enttäuscht wird. Das macht das Bilderbuch, ganz wie man es nimmt, zu einem frustrierenden oder gerade interessanten Coffee Table Book.

Die Tristesse, die von der überwiegenden Mehrzahl der Aufnahmen ausgeht, erschien mir seinerzeit, wenn ich mich recht entsinne, wie beißender Spott; eine Anklage gegen unsere bundesrepublikanische, eben beginnende Siebzigerjahrewelt, die ihre Zukunft schon damals hinter sich zu haben schien. Erst jetzt, in der vielbeschworenen „Krise”, wird diese vorzeitige Überlebtheit offenkundig, die feine Nasen frühzeitig erschnupperten. Insofern könnte man Beckers stilles Buch prophetisch nennen, wenn es denn eine Botschaft hätte.

Ich frage mich, ob man heute noch oder wieder solch ein Fotobuch machen könnte. Ob ich es könnte. Mit meinen Snapshots hatte ich ganz ursprünglich vielleicht so etwas vor. Ich bin vermutlich davon abgekommen, weil es mich zu sehr deprimierte, als meine Stimmung ohnehin nicht die beste war. Jetzt, da ich gelegentlich wieder lächle, kann ich in sparsamer Dosierung ein Trauerbild dieser Art einstellen. Wer’s nicht mag und nicht erträgt, möge die Augen niederschlagen.

Zufallsfund

Friday, 03. April 2009

Bei antiquarischen Buchbestellungen via Internet kauft man manchmal die Katze im Sack, falls nämlich die Beschreibung des ersehnten Buches lückenhaft ist. Dann gibt es lange Gesichter, wenn mehr oder weniger versteckte Mängel – vom Eselsohr bis zur Kugelschreiberwidmung auf der Titelseite: „Ewig bleipst Du unvergesslich Deine Elly aus Kirchhellen zum Weihnachts-Feste 1956″ – die Freude an einer Erstausgabe von Jürgen Thorwalds Das Jahrhundert der Chirurgen dämpfen.

Gelegentlich, leider nur sehr selten, werden solche Enttäuschungen aber kompensiert durch unerwartete Vorzüge eines alten Buches, die gewiss auch dem anbietenden Antiquar entgangen sind, denn sonst hätte er ein Vielfaches des Preises verlangen dürfen und zweifellos auch erhalten.

Soeben traf – ich kann aus verständlichen Gründen leider nicht präziser werden – die illustrierte Ausgabe eines weniger bekannten expressionistischen Lyrikers bei mir ein, die mich unmittelbar nach dem Auspacken nicht gerade zu Ausrufen der Begeisterung hinriss. Der dunkelblaue Pappeinband war im oberen Drittel durch Sonnenlicht ausgeblichen. Zudem haftete dem Bändchen ein intensiver Kellergeruch an. Beides hatte die Beschreibung des Anbieters im Katalog unterschlagen.

Lustlos blätterte ich das Büchlein durch, um zu prüfen, ob wenigstens die zwölf Stahlstiche vollständig und unversehrt enthalten seien, als plötzlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier herausfiel und vor mir auf dem Boden landete.

Um es kurz zu machen: Es handelt sich um einen handschriftlichen Brief des Philosophen und Zivilisationskritikers Günther Anders vom 10. Dezember 1982 (Ausschnitt s. Titelbild). Wenn man weiß, wie sehr ich diesen Autor schätze, wird man begreifen, dass mich dieser Zufall geradezu in einen Freudentaumel versetzte. Damit ist mancher Ramsch, den in den letzten Monaten weniger freundliche Stimmungen des Schicksals in meine Bibliothek gespült haben, gnädig verziehen. Und nun scheint sich endlich auch der Frühling durchzusetzen. Vielleicht wird 2009 ja doch ein ertragreiches Jahr?

Protected: Iwan

Thursday, 02. April 2009

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