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Artikel-Nr. 0001-1535

Tuesday, 12. October 2010

initialenvonkarlvalentin

Valentin, Karl: Sturzflüge im Zuschauerraum. Der gesammelten Werke anderer Teil. Hrsg. v. Michael Schulte. M. e. Vorw. v. Kurt Horwitz.  München: R. Piper Verlag, 1969. – 308 & 3 S. & 17 unpag. Kunstdruck-Taf. m. 22 Abb., 20,4 x 12,2 cm, OLw. m. montierten Leinenrücken- u. -deckelschildern, Fadenheftung. – Ohne den OSchU., Einband etwas angestaubt, an den Gelenken minimal eingerissen, eine Ecke bestoßen, Schnitt angestaubt, Bleistiftwidmung auf Vorsatz, leicht muffig, insgesamt noch gut. – Erstausgabe dieser Zusammenstellung.

Die Anschaffung dieses Buches fällt wohl in die Zeit, als ich Karl Valentins filmisches Werk mittels VHS-Videocassetten ,aufarbeitete‘. Das dürfte so Anfang der 1980er-Jahre gewesen sein. Was mich damals in Bann schlug, war die Totalität seines Gesamtwerks als eine alle Lebensbereiche durchdringende Besessenheit. Er war ja nicht bloß Schriftsteller, Komiker, Sänger, Musiker, Tänzer, Pantomime, Kostümschneider, Maskenbildner, Schauspieler, Stimmenimitator, Kunstraucher, Hanswurst, Dadaist, Surrealist usw., sondern auch noch Filmregisseur, Hörspieldramaturg, Requisiteur, Photograph, Sportler, Akrobat, Chef & Geliebter (von Liesl Karlstadt), Tierzüchter, Dompteur, Dressurreiter und nicht zuletzt Museumseinrichter. Sein legendäres Karl-Valentin-Museum verfolgte mich als Phantom einer optimalen Antibürgerwohnung. Es in der Realität anzuschauen – denn es gibt ja wohl eine Touristenattraktion dieses Namens in München –, das kam für mich gar nicht in Betracht; erstens, weil ich meine phantastische Imagination um keinen Preis mit der sicher ernüchternden Realität konfrontieren wollte, und zweitens, weil ich ohnehin nicht reise. Aber ich baute mir desto lieber in meinem Souterrain in der Frankenstraße 215 mein eigenes Kuriositätenkabinett zusammen, das zugleich zur Bühne meiner Literarischen Soireen XXIX bis CIV (1. November 1991 bis zum 1. August 2008) werden sollte. Zuvor aber benamste ich meinen zweiten Sohn nach ,Karl dem Großen‘.

Irritierend bis heute erscheint mir an Valentin zweierlei. Erstens, dass er es vermochte, eine dermaßen avancierte, geradezu avantgardistische Komik unbemerkt ganz nah ans ,gemeine Volk‘ heranzuschmuggeln. Und zweitens, dass ein Mann von dieser Herzensgüte – denn wie soll man ohne Herzensgüte ein erfolgreicher Humorist sein? – dermaßen herzlos mit seinen engsten Mitmenschen, hier: besagter Liesl Karlstadt umgehen konnte.

Das anlässlich dieses Abschieds von einem schönen Buch besonders zu würdigende Detail ist rein äußerlich, die beiden auf Deckel und Rücken montierten Papieretiketten, vorn die ineinander verschlungenen Initialen [s. Titelbild]. Dabei fällt mir auf, dass K ja nun nicht nur der erste Buchstabe von Karl, sondern auch von Karlstadt ist. Aber wir wollen die Buchstabenmystik nicht zu weit treiben: Liesl hieß mit bürgerlichem Namen Elisabeth Wellano.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 26,35 Euro geht dieses Buch in den Besitz von Valentin Hessling über. [In diesem Fall wurde der Rechnungsbetrag bereits beglichen von Ursula Heßling anlässlich des heutigen, 25. Geburtstags unseres Sohnes.]

Abschied von meiner Bibliothek

Saturday, 09. October 2010

veronicadaphnistristan

Mit vierzehn Jahren kaufte ich von meinem Taschengeld, drei D-Mark wöchentlich, meine ersten eigenen Bücher. In der Buchhandlung Neher im Eckhaus Rüttenscheider Straße 75 in Essen, drei Minuten von der elterlichen Wohnung im Süthers Garten entfernt, kosteten die billigsten Taschenbücher von rororo, dtv oder aus der Fischer-Bücherei damals 2,80 DM. Bis dahin hatte sich die Leseratte, die ich immer schon war, aus den objektiv überschaubaren, subjektiv als unerschöpflich empfundenen Beständen der Stadtbibliotheks-Filiale im Rüttenscheider Sparkassenhaus versorgt, zu der man über einen Aufzug und durch lange, merkwürdig riechende Flure gelangte: ,Vorsicht, nicht stürzen! Heute frisch gebohnert!‘ Ich lieh gern aus, aber die Rückgabe nach vier Wochen war häufig mit Wehmut verbunden, nämlich immer dann, wenn ich mich in einem Buch verloren hatte. Dann riss ich mir vor der Theke, hinter der eine distinguiert-vertrocknete Bibliothekarin hockte, ein Stück meiner selbst aus der Seele. Für eine halbe Ewigkeit, denn damals waren ja ein paar Monate schon eine sehr lange Zeit, keimte in mir das unstillbare Verlangen, irgendwann einmal selbst viele Bücher zu besitzen. Wieviele Bücher? Jedenfalls genug. Was wäre denn aber jemals wohl genug? Das würde sich wohl einstmals erweisen. So legte ich in zunächst bescheidenen wöchentlichen Taschenbucherwerbungen den Grundstock zu meiner hoffentlich irgendwann einmal unübertrefflich großen, vor allem aber unfassbar inhaltsreichen Bibliothek.

Die Bücher, die ich las, verdrehten mir den Kopf, machten mich rebellisch, ließen mich an der Schulweisheit zweifeln und bald auch an der Schule selbst verzweifeln, warfen mich aus der Bahn und hätten zweifellos im Handumdrehen eine gescheiterte Existenz aus mir werden lassen, wenn eben diese scheinbar so schädlichen Bücher mich nicht zugleich doch auch mit einer gewissen Belesenheit ausgestattet hätten, die mir in einem eher zufällig zustande gekommenen Bewerbungsgespräch in der größten Buchhandlung am Platze trotz fehlender Abschlusszeugnisse das Wohlwollen des Geschäftsführers verschaffte, damit einen Ausbildungsplatz und in den folgenden siebzehn Jahren eine Karriere als Buchhändler, die mich in die glückliche Lage versetzte, meine private Bibliothek zu erweitern, in einem Maße, was die Menge betrifft, und in einer Weise, was die Qualität angeht, wie ich’s mir zuvor niemals hätte träumen lassen. Damit wir uns recht verstehen: Ich habe mir in diesen langen Jahren meiner buchhändlerischen Tätigkeit niemals auch nur ein einziges Reclamheft widerrechtlich angeeignet. Wohl aber habe ich alle Vorteile genutzt, die sich mir so nah an der Quelle boten: vom Kollegenrabatt über die Leseexemplare bis hin zu der rechtzeitigen Information über interessante Neuerscheinungen. Aber der Sinn stand mir nicht allein nach den jeweils aktuellsten Provokationen, sondern ich versorgte mich auch auf Flohmärkten und aus Antiquariaten mit verschollenen Kuriositäten vergangener Widerständigkeit. Und während ich nebenher an meinem eigenen ,Meisterstück‘ arbeitete, dem vieltausendseitigen Buch Zufall (unveröffentlicht), metastasierte mir unter der Hand eine wildwüchsige ,Zufallsbibliothek‘ zum Monstrum.

Damit ich’s nicht vergesse! Neben diesem Leben als Bücheran- und -verkäufer (sowie nebenbei natürlich auch Bücherleser) lebte ich noch das frisch fromm fröhlich freie Leben eines unpapierenen Liebhabers, Ehemanns und Kindsvaters, als hungriger, durstiger, politischer, ästhetischer, friedliebender, kampflustiger, ängstlicher, kranker, trotzköpfiger, zweifelnder, verbitterter, großmäuliger, unmäßiger, süchtiger, handzahmer, waidwunder, vergesslicher, wetterwendischer, sturer, nachtragender, kompromissloser, anbiedernder, gnadenloser, katzbuckelnder, hochfahrender, widersprüchlicher, konsequenter Durchschnittstrottel der extraordinären Art. Dieses mit sich selbst identische Doppelleben wäre umsonst gelebt, hätte es nicht seinen Eindruck geschunden und würde es nicht seinen Ausdruck finden: in eben meiner unvergesslich individuellen Bibliothek. Jede Anschaffung war ja das Testament einer überschäumenden, orgasmischen Erkenntnis-Euphorie: Das ist es! Und wie ich diesen ständig wachsenden Fundus durch all die Jahre mit mir geschleppt habe, vom Süthers Garten in die Friederikenstraße, von hier in die Steinhausenstraße, von dort in die Giesebrechtstraße, von hier in die Carmerstraße (Geburt zweier Kinder), von dort in die Huffmannstraße (Geburt eines Kindes), von hier in die Trappenbergstraße (Geburt zweier Kinder), von dort in die Frankenstraße, von hier in die Messelstraße und von dort zuletzt hierher in die Oberstraße – das ist eine nahezu unglaubliche, jedenfalls heroische Geschichte, die zu erzählen mir aber meine angeborene Bescheidenheit zumindest an dieser exponierten Stelle verbietet. Und nun? Jetzt stehen all diese abertausend Bücher halbwegs sicher in einer Halle nahebei und werden Stück für Stück erfasst, wie die Rekruten vor der Schlacht. Kanonenfutter! Ich habe mich entschlossen, mich von jedem einzelnen von ihnen zu trennen. Was dereinst so hochfahrend aufgebaut wurde, muss nun peu à peu wieder abgetragen werden. Aber kommentarlos? Doch weißgottnicht! An den Kommentaren soll es nicht hapern.

Und wie? Dieser Bücherberg verdient es doch wohl, ebenso liebevoll und bedächtig abgetragen zu werden, wie er einst aufgeschichtet wurde, oder? Mein letzter Umzug war nicht nur für mich persönlich, sondern erst recht für meine Bibliothek eine Beinahe-Katastrophe, ein traumatisches Desaster erster Ordnung. Was ich aus der Garage in der Frankenstraße noch mit knapper Not in den Keller in der Messelstraße hinübergerettet hatte, das fand nun in der jetzigen Wohnung überhaupt keinen Platz mehr. In einhundertdreiundfünfzig Kartons verpackt, schwebte der größte Teil meiner erlesenen, mit unsäglicher Mühe aus tausendundeinem Zufallsglück zusammengetragenen Büchersammlung über einem Abgrund aus Verschimmeln, Vermodern und Vergessen. Wohin damit? Unsere neue Wohnung hatte bloß wenige Zimmer, noch weniger fensterlose Wände, tiefe Decken. Wohin mit meinen seitenreichen Schätzchen? Tageweise befiel mich Panik. Da konnte ich fünfzig Kisten in Rolf Rexhausens Konsumanstalt an der Theodorstraße zwischenlagern. Für weitere knapp vermessene vierzig Kisten wurde mir die befristete Unterbringung im Venusweg avisiert. So verlockend der Straßenname sein mochte, so finster bleckte doch die Perspektive mit den fauligen Zähnen, dass meine lieben Bücher dort in unerreichbare Ferne verrückt sein würden! – Trübselig saß ich mit unserer Hündin Lola an einem nasskalten Septembermorgen auf einer der beiden Bänke paar Meter neben unserer neuen Wohnung auf der Hundekackwiese, als mein Minuten später entzückter Blick auf den Garagentoren vis-à-vis zu ruhen begann, wo ein Zettelchen meine erwachende Aufmerksamkeit fesselte. Was war denn das? Ein glückliches Geschick! – Dort hinten sind sie nun untergebracht, meine ungeschätzten, unschätzbaren Lieblinge, tausendundeine Köstlichkeit, geschöpft mit bittrer Zunge aus dem Sumpf des Niedergangs, der Vermoderung, dem ewigen Vergessen entrungen. Ist denn nicht der Titel ,muffig‘ ein Ehrenzeichen, Siegel vielmehr der Unvergänglichkeit? Otto hieß, glaube ich, der Suhrkamp-Vertreter, der dem Staub nachsagte, das beste Konservierungsmittel für Bücher zu sein.

Tausendfünfhundert meiner vielfach liebkosten Bücher habe ich mittlerweile sorgfältig eingetragen in meine persönliche Liste bei ZVAB. Das ist nur ein Bruchteil, aber immerhin schon einmal ein Anfang. Achtundvierzig Bücher habe ich auf diesem Wege vom 9. Mai bis zum 7. Oktober dieses Jahres verkauft, für 1.221,50 Euro. Ich weiß nicht, ob das mehr oder weniger Geld ist, als ich zum Erwerb dieser Bücher einmal, einstens, ehedem eingesetzt habe. Das ist mir auch etwas gleichgültig, nicht wenig, nicht viel, kaum einerlei, mehrenteils wurscht, überdies schnuppe! Doch so kann es ja nicht weitergehen, kaum mit meinen armen Büchern, erst recht nicht mit mir, der ich doch ein Könner bin. Was ich kann, das ist: Bücher erkennen. Bücher finden, Bücher lesen, Bücher bewerten und schließlich auch Bücher verkaufen, denen ich meinen Stempel aufgedrückt habe – und denen ich künftig mein Urteil mit auf den Weg geben werde. – Und das wird diese Bücher adeln in einem Maß, das seinesgleichen suchen wird. (Auf den Weg? Ja, auf welchen Weg denn? Selbst diese Frage zu beantworten wird kostbarer sein, als den Weg zu beschreiten.) Und darum habe ich mich heute entschlossen, meinen Büchern künftig einen Abschiedsgruß mit auf den Weg zu geben, sowohl ganz materiell in Gestalt eines Zertifikats in der jeweiligen Büchersendung an den zahlenden Käufer, als auch virtuell, parallel als Artikel in meinem Weblog. Da wird die Rede sein von den Umständen und Zusammenhängen des Bucherwerbs, von den Erfahrungen meiner Lese, von Hinter- und Vordergründen, von Assoziationen und Dissoziationen, von Crash und Crux. Die leere Gemengelage des Ver- und Missverstehens wird hier, auf diesen Fundamenten, Höhen, Tiefen und Zwischensphären ihr Stelldichein feiern mit der Hohlheit des Understatements. So mag der Ausverkauf des vom Munde meiner Kinder bitter abgesparten Geistesschatzes doch noch die eine oder andre Süßigkeit zu ihrem Troste abmelken. – Sei’s drum; koste es, was es wolle!

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XVII & Schluss)

Saturday, 28. August 2010

scanpuzzleeins

Ursprünglich hatte ich geplant, hier noch ein paar Bemerkungen über die losen ,Fundstücke‘ in alten Büchern zu machen, die man in Trödelkisten literaturferner Ramscher und in Kellerregalen oder Koffern auf Speichern verstorbener Onkel und Tanten findet: Notizzettel, Kalenderblätter, Fahrkarten, Fotos, Kinobilletts, Glanzbilder, Ansichts- und Visitenkarten, Briefe, Werbezettel und vielerlei mehr [s. Titelbild]. Meist sind diese papierenen Einleger wohl als Lesezeichen verwendet worden. Dann ist es interessant festzuhalten, zwischen welchen beiden Seiten genau man sie gefunden hat, denn das könnte Auskunft geben über einen Schwachpunkt des Buches, an dem beim früheren Leser das Interesse erlahmte. Vielleicht ist er ja aber auch über der Lektüre plötzlich verstorben? Doch auch das könnte schließlich ,literarische Gründe‘ gehabt haben, wer weiß … Diese waghalsige Spekulation lässt vielleicht ahnen, welche exotische Landschaft sich der Phantasie bei diesem Thema darbietet. Ich verkneife mir das Thema dennoch auf ein anderes Mal, denn eigentlich gehört solches Treibgut ja nicht wesentlich, sondern bloß zufällig zum Buch. Der Antiquar wird ein Fundstück nur dann im Buch belassen, wenn ein inhaltlicher Zusammenhang zu seiner vorübergehenden Unterkunft feststellbar ist, beispielsweise wenn es sich um eine Rezension des Buches handelt oder gar um einen Brief des Autors an den Leser. In allen anderen Fällen gehört es in den Papierkorb – oder in eine Kuriositätensammlung von der Art, wie ich sie tatsächlich seit langer Zeit zusammengetragen habe [s. die willkürlich zusammengestellten Kostproben im Titelbild].

Hier bleibt mir nur, zum Abschluss noch eine grundsätzliche Bemerkung über die Buchbeschreibung als warenkundliche Facharbeit des Altbuchhändlers loszuwerden.

Das Buch ist, wenn ich nicht sehr irre, das am höchsten diversifizierte Industrieprodukt der Warenwelt. So viele verschiedene Artikel, wie es von dieser Ware gibt, kann kein anderes Handelsgut auch nur annähernd vorweisen.

An dieser Stelle mache ich erst mal einen Absatz und atme tief durch, denn es lohnt sich vielleicht für den Leser, über diese möglicherweise gewagte Behauptung gründlich nachzudenken. – Gibt es nicht vielleicht doch ein serienmäßig hergestelltes Produkt, dessen Vielfalt in seiner Diversifikation das Buch in den Schatten stellt? Kleidungsstücke als Gattung würden mir am ehesten noch einfallen; oder vielleicht auch Nahrungs- und Arzneimittel? Hierbei fällt es aber doch schwer, um bei letztgenannten zu bleiben, eine Charge von der anderen zu unterscheiden, während die Unterschiede verschiedener Buchauflagen durchaus sinnfällig hervortreten können. Wesentlicher ist aber noch ein anderer Unterschied: Pharmazeutika und Lebensmittel sind Verbrauchsgüter mit einer mehr oder weniger kurzen Verfallsdauer. Und selbst Textilien nutzen sich ab, fallen den Motten zum Fraß, kommen aus der Mode und wandern spätestens nach ein paar Jahrzehnten in die Kleidersammlung und zuletzt in den Reißwolf. Barbaren, die Bücher in Altpapiercontainer werfen, sieht man in hiesigen Breiten hingegen eher selten.

Was folgt daraus? Die Zahl verschiedener Bücher auf Erden vermehrt sich ständig, denn auch die vor vielen Jahrzehnten erschienenen sind fast ausnahmslos noch existent, wenn nicht in allen einzelnen Exemplaren – dafür hat in Europa allein schon der Zweite Weltkrieg mit seinen Städtebombardements gesorgt –, so doch in etlichen Einzelstücken. Je größer die Auflage war, umso höher ist in aller Regel die Zahl der ,Überlebenden‘. Und je betagter diese Bücher sind, desto mehr unterscheiden sie sich voneinander, obwohl sie doch beim Verlassen der Buchfabrik einander ähnelten wie ein Ei dem anderen. Somit individualisiert die Zeit nun auch noch die einzelnen Exemplare ein und derselben Auflage, nämlich durch genau jene Spuren, die ich in den Folgen XI bis XVI dieses Kleinen Einmaleins der Buchbeschreibung aufgezählt habe. Vielleicht ist es insofern nicht zu gewagt zu sagen: Kein serienmäßig hergestelltes Ding auf dieser Welt verdient so sehr wie das Buch die Liebe und die Achtung des menschlichen Individuums, weil kein anderes ihm in seiner Einzigartigkeit so sehr entspricht.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XVI)

Thursday, 26. August 2010

unterstreichungenundmarginaliebbeispemann

Sehr verbreitet ist das freihändige Unterstreichen oder Anmarkern einzelner Worte, das Markieren von Textzeilen, ja ganzer Absätze, das Anstreichen längerer Passagen am Rand und das Niederschreiben kurzer oder auch längerer Marginalien auf dem Außensteg oder als ,Fußnoten‘ auf dem Fußsteg. Verwendet werden hierzu weiche oder harte Bleistifte, Kopier- und Buntstifte in allen Farben, Kugelschreiber, Federhalter, Tintenfüller, in neuerer Zeit auch Textmarker in allen möglichen und unmöglichen Farben, vorzugsweise in floureszierenden oder gar phosphoreszierenden Gelb- oder Grüntönen.

Meist sind solche Hinterlassenschaften eifriger Leser nicht oder nur mit einem Aufwand zu beseitigen, den der Wert selbst des lupenrein sauberen Buches nicht rechtfertigt. Und doch kann ich nicht leugnen, dass mich gelegentlich die individuellen, manuellen Hinzufügungen in Büchern mehr beschäftigen und bewegen als der ,neutrale‘ Inhalt der Bücher selbst, werfen erstere doch eine Reihe von Fragen auf, die nicht bloß detektivisch veranlagten Sammlern manch reizvolle Stunde des Grübelns und Spekulierens bescheren können.

Was mögen das etwa für Menschen sein, denen es offenbar ein unabweisliches Bedürfnis ist, alle paar Seiten ihrer heftigen Zustimmung oder auch ebenso heftigen Ablehnung expressiven Ausdruck zu verleihen, indem sie den Blattrand mit Ausruf- oder Fragezeichen garnieren? Von solchen wohl meist cholerisch veranlagten Lesern findet man dort eine reiche Vielfalt stakkatohafter Kurzkommentare dieser Art: ,Ach was!‘ – ,So, so.‘ – ,Wiedenn-wodenn-wasdenn?‘ – ,Seit wann?‘ – ,Unsinn?‘ – ,Hört, hört …‘ – ,Olala!‘ – ,Nett gesagt.‘ – ,Sehr wahr!‘ – ,Damals schon?‘ – ,Prüfen!‘ – ,Siehe oben S. 80.‘ – ‚Äußerst fragwürdig.‘ – ,Überholt.‘ – ,Pfui!‘ – ,Schön wär’s ja!‘ – ,Autor wiederholt sich.‘ – ,Etc. pp.‘ – ,Kommt mir bekannt vor.‘ – ,Quelle?‘ – ,Bravo!‘ – ,Oha!‘ – ,Ich glaub’s nicht!‘ – ,Wenn das so einfach wär …‘ – ,Muss wohl heißen: Pessimismus! – ,Heute kaum noch. (s. EU!)‘ – ,Rechenfehler?‘ – ,Empörend!‘ – ,Lachhaft!!‘ – ,Falsch!!!‘ usw. (Alle Beispiele aus einem vom unbekannten Vorbesitzer kraftvoll annotierten Exemplar der Memoiren eines prominenten deutschen Nachkriegspolitikers.) Solche Leser erwarten offenbar von der Lektüre keineswegs neue Einsichten, gar die Korrektur eigener Vorurteile. Sie wissen längst schon, was falsch ist und was wahr. Und so lesen sie Bücher allein deshalb, um ihre unumstößlichen Wahrheiten bestätigt zu sehen, ganz gleich, oder der Autor mit ihnen einer Meinung ist (dann applaudieren sie ihm), oder ob er das Gegenteil behauptet (dann pfeifen sie ihn aus).

Gänzlich andere Motive muss man jenen fleißigen Stricheziehern unterstellen, die mit ihren diversen Stiften zwischen den Zeilen unterwegs sind, um das eigentlich Wesentliche eines Textes (genauer: das, was sie dafür halten) aus dem vielen Unwesentlichen (genauer: aus dem, was sie dafür halten) herauszuschälen und für alle Zeiten blitzschnell verfügbar zu machen. Für diese leicht ungeduldige Sorte Leser zählen vor allem die konkreten Ergebnisse ihrer Bemühungen. Sie stellen gern Fragen wie: ,Und was heißt das jetzt unterm Strich?‘ – ,Aber was folgt für mich ganz konkret daraus?‘ – ,Lässt sich das auch in einem einfachen Satz auf den Punkt bringen?‘ Für solche Menschen wurden vermutlich einst die Zehn Gebote des alttestamentlichen Dekalogs ersonnen. Die Folgen sind bekannt! Als ,terrible simplificateur‘ hat zuerst Jacob Burckhardt diesen gefährlichen Typus bezeichnet, der danach trachtet, alle Weisheit dieser Welt an seinen plumpen Fingern abzählen zu können und ganze Bibliotheken zu einer Handvoll Thesen einzudampfen.

Rührend wird aber selbst dieser Thesen- und Parolenschmied gelegentlich; wenn er nämlich die Kontrolle über seinen Stift verliert und ganze Absätze, ja seitenweise jede Zeile unterstreicht. Dann führt er sein Vorhaben unwillkürlich selbst ad absurdum, denn abwegig ist es ja von vornherein insofern, als ein Buch nun einmal genau den Umfang hat, den es hat. So ist es hinzunehmen, so ist es zu belassen, da gibt es nichts hinzuzutun oder wegzunehmen. Und auch zu streichen oder hervorzuheben ist da nichts. Wenn man schon partout einen Extrakt aus einem Buch für sich persönlich ziehen will, dann tue man dies doch in einem separaten Heft und verunziere nicht das feine Buch mit seinen ungehobelten Einfällen [s. Titelbild].

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XV)

Wednesday, 25. August 2010

istkameradberghausheimgekehrt

Eine solche Aufwertung des einzelnen Buchexemplars durch seine erwiesene edle Herkunft begegnet uns nicht nur in Gestalt des prominenten Besitzvermerks, sondern weit häufiger als Widmung des Autors an den Leser. ,Doppelt getrüffelt‘ ist ein gewidmetes Buch natürlich dann zu nennen, wenn auch der namentlich genannte Empfänger und also Vorbesitzer des Buches eine prominente Person ist. (Ganz nebenbei: Mir ist der Bekanntheitsgrad eines Zeitgenossen, ganz gleich durch welche medialen Sensationen er erreicht sein mag, schnurzpiepegal. Ich bitte darum, die Erläuterung solcher wertsteigernden Effekte auf dem Antiquariatsmarkt nicht dahingehend misszuverstehen, dass etwa meine persönliche Wertschätzung eines konkreten Buches auch nur im geringsten von solchen Autographen beeinflussbar sei. Auch hier kommt es mir zuallererst auf den Inhalt an.)

Heutzutage in den Zeiten der Lesereise, auf die die armen Bücherschreiber von ihren Verlegern gehetzt werden, damit sie bloß nicht so bald dazu kommen, ein neues Buch zu schreiben; in diesen traurigen Zeiten also wird der Antiquariatsmarkt geradezu überschwemmt von signierten Büchern. Ein tschechischer Autor steht bei mir im Verdacht, auf den Vorsatz jedes einzelnen Exemplares eines seiner Bücher schwungvoll mit violettem Filzstift seinen Namen hingeschneit zu haben. Da wäre dann ausnahmsweise ein unsigniertes Exemplar das rarere und folglich teurere!

Meist bleibt als Ergebnis solcher Signierstunden, nach erschöpfender Lesung und nach der sich anschließenden nicht minder strapaziösen Fragestunde, kaum mehr als ein unleserliches Autogramm in ein paar Dutzend Büchern. Was soll das? Aber manche der in langer Schlange Anstehenden sind sich nicht zu schade, beim Poeten am Signierfließband um eine spezielle Zueignung nachzusuchen: „Herr G., könnten Sie vielleicht bitte schreiben: ,Für die hagere Inge diesen dicken Butt, Ihr G. G.‘? Was tut man nicht alles für die treuen Fans!

Viel interessanter sind da oft die Widmungen der unbekannten Schenker an nicht minder unbekannte Empfänger, zum Geburtstag, zur Eheschließung, zur Scheidung, nach bestandener Prüfung oder zu sonst einem bedeutsamen Anlass – den man manchmal nur indirekt erschließen kann.

Das oben [s. Titelbild] reproduzierte Beispiel fand ich auf dem Vorsatzblatt der zweiten Auflage von Sven Hedins Amerika im Kampf der Kontinente (Leipzig: F. A. Brockhaus, 1943). Da heute nicht mehr jeder Leser Sütterlinschrift fließend entziffern kann, hier meine Transkription: „Herrn Kamerade [!] Berghaus | mit herzlichen Wünschen für | sein Wohlergehen und für | eine gesunde Heimkehr gewidmet | von den Berufskameradinnen | und Berufskameraden in | der Heimat. | Dessau, Weihnachten 1943.“ Das Buch liegt vor mir wie neu und ungelesen. Ob es den besagten Kameraden Berghaus an der Front überhaupt noch erreicht hat? War er vielleicht in einem der U-Boote im Atlantik im Kampfeinsatz gegen alliierte Kriegs- und Handelsschiffe? Und bedurfte er dort vielleicht der moralischen Stärkung durch dieses amerikakritische Buch? Solche anonymen Widmungen, die immerhin Fragen aufwerfen und zum Nachdenken anregen, finde ich jedenfalls wesentlich reizvoller als die Auftragssentenzen von Bestsellerromanciers auf Erfolgstournee.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XIV)

Tuesday, 24. August 2010

tyssensexlibrisvonmasereel

Nun also zu den ganz bewussten Kennzeichnungen, die die Eigentümer oder Nutzer von Büchern an oder in diesen auf unterschiedliche Weise vornehmen.

Früher war es im europäischen Bürgertum ein weit verbreiteter Usus, die Bücher der privaten Bibliothek mit einem persönlichen Exlibris zu versehen, also mit grafisch gestalteten Einklebzetteln, deren Motiv oft einen Bezug zum Namen, zum Beruf, zu den Vorlieben oder Leidenschaften oder auch zu Charaktereigenschaften des Bücherfreundes hatten. Solche manchmal sehr geschmackvollen Klebebildchen können das Buch im günstigsten Fall sogar aufwerten. Dies gilt natürlich erst recht, wenn das Exlibris von einem bedeutenden Künstler wie Frans Masereel entworfen wurde [s. Titelbild]. Manchmal ziert das Exlibris den Innendeckel, manchmal den Vorsatz, gelegentlich findet man es auch auf dem Frontispiz gegenüber der Titelseite, wenn dieses frei ist. Der Niedergang der stilvollen Klebebilder begann spätestens mit der Verbreitung von anonymen Exlibris-Zetteln als Dutzendware, bei denen der Name auf gepunkteter Linie von Hand eingetragen werden musste. So wurde aus einer noblen Sitte im Handumdrehen eine schnöde Unsitte, die aber erfreulicherweise bald wieder verschwand. Da kann man seinen Namen ja gleich ins Buch schreiben, was soll das doch jedenfalls beliebige und beziehungslose Bildchen dabei?

Und schon sind wir beim handschriftlichen Besitzvermerk, der mit dem Exlibris immerhin noch das Motiv gemeinsam hat, nämlich das Buch vor Diebstahl, Verlust durch Verwechslung – oder durch die Vergesslichkeit (,Vergesslichkeit‘?) der Mitmenschen zu schützen. Denn bekanntlich haben Bücherleiher ja neben anderen Schwächen die Angewohnheit, die Rückgabe zum vereinbarten Termin zu verpassen. Leiher und Verleiher verlieren sich aus den Augen, und erst Jahre später, etwa bei einem Umzug, fallen ersteren dann die fremden Bücher wieder in die Hände. Oft erinnern sie sich nicht mehr, von wem sie sie geborgt hatten. In diesen und ähnlichen Fällen ist es für alle Beteiligten erfreulich, wenn Bücher einen Besitzvermerk tragen. Wo dieser im Buch angebracht wird, ist Geschmacksache. So findet man Namenszüge oder Stempel im vorderen oder hinteren Innendeckel, auf dem Vorsatzblatt und auf dem Schmutztiel. Keinesfalls darf man jedoch die Titelseite hiermit verunstalten – eigentlich müsste man sogar sagen: beschädigen! (Vgl. hierzu meine Ausführungen über die Bedeutung der Titelseite.)

Ob man es nun beim Eintrag von Vor- und Familiennamen belässt, ob man die vollständige Anschrift hinzusetzt (die sich freilich von Zeit zu Zeit ändern kann), ob man das Datum der Anschaffung vermerkt, den Ort des Erwerbs, den Namen der Buchhandlung bzw. des Antiquars oder gar, so es sich um ein Buchgeschenk handelte, den Namen des Schenkers, das bleibt jedem Sammler selbst überlassen. Verwendet man einen Tintenfüller oder gar Kugelschreiber, so ist die Eintragung nur schwer und jedenfalls kaum spurlos zu entfernen, was für das Buch in aller Regel eine Wertminderung auf dem Antiquariatsmarkt bedeutet. Andererseits sind radierfähige Besitzvermerke, etwa mit weichem Bleistift, kein wirksamer Schutz gegen Diebstahl oder Unterschlagung.

Ganz selten geschieht es, dass dem Stöberer auf dem Bücherflohmarkt ein Buch in die Hände fällt, das durch den Besitzvermerk als verschollenes Erbe eines ganz Großen identifizierbar ist. Entdeckte ich zum Beispiel die Erstausgabe von Theodor Lessings Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen mit dem datierten Namenszug von Franz Kafka auf dem Vorsatz, würde mein Sammlerherz einen Sprung von hier bis nach Hannover machen.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XIII)

Sunday, 22. August 2010

loecherigerschutzumschlagkarllerbs

Naturgemäß betreffen echte Beschädigungen zuallererst den Bucheinband, dann erst das ,Innenleben‘, den papierenen Buchblock mit dem geistigen Inhalt des körperlichen Objekts. Schließlich dient ja der Einband dem Schutz dieses Wesenskerns. Wenn er Angriffe aller Art abwehrt und dabei selbst oberflächlichen oder auch tiefer gehenden Schaden nimmt, so ist dies nicht mehr als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, so möchte man meinen.

Andererseits gilt manchen Bücherfetischisten ein makelloser, unversehrter Einband als der schönste Schmuck des Buches. Genau besehen nehmen solche Leute aber doch eine reine Äußerlichkeit für das Eigentliche, die Kleidung und Maskerade für das nackte Wesen, für das sie gemacht sind. Spätestens an dieser Entgleisung wird deutlich, dass Bücherliebhaber nicht unbedingt auch Leser sein müssen, et vice versa. Ich kannte einen Sammler, der mir stolz ein wunderbar gebundenes Exemplar von Boccaccios Decamerone unter die Nase hielt, das er vor vielen Jahren bei einem Antiquar in Palermo erstanden hatte: Ganzleder, goldgeprägte Titel auf Rücken und Deckel, echte Bünde, dies alles in tadelloser Erhaltung. Bei genauerer Untersuchung dieses Schmuckstücks erwies es sich allerdings als Blindband, enthielt es doch nur lauter unbedruckte Seiten. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn auf dieses kleine Defizit hinzuweisen, und beließ ihn in seinem Glauben, einen Schatz in seiner Sammlung zu bergen.

Einbände können Flecken aller Art aufweisen. Sie können einreißen, was ihnen bei Pappeinbänden besonders häufig an den viel strapazierten Gelenken widerfährt. Aber auch Leinenbände neigen dort zu Verschleiß. Sie können Stauchungen erleiden, vorzugsweise am Kapital oder an der Basis des Rückens. Auch die Ecken sind oft gestaucht oder gar umgeknickt. Der Buchblock reißt vielfach an den Innengelenken aus dem Einband, einzelne Lagen oder Seiten können sich lösen, wozu besonders die vorderen und hinteren Partien des Buches neigen. Schließlich ist der Schnitt rundum anfällig gegen Beschädigungen durch spitze, scharfe, harte und schwere Gegenstände oder durch Stürze von hohen Regalbrettern, wodurch Seiten zudem knickspurig werden oder einreißen können.

Eine besondere Erwähnung verdienen an dieser Stelle die Buchumschläge, die ja insofern eine schon beinahe dekadente Übertreibung bedeuten, als sie zum „Schutz des Schutzes“ dienen, indem sie nämlich den schützenden Einband ihrerseits einhüllen und die oberflächlichsten Abnutzungen von diesem fernhalten sollen. Schutzumschläge sind daher folgerichtig die ersten Opfer von Beschädigungen. Sie ziehen Flecken förmlich an, bleichen aus, reißen ein und werden knickspurig [s. Titelbild]. Es gibt tatsächlich Sammler, die darum die Schutzumschläge ihrer Bücher in separaten Behältnissen aufbewahren und die Bücher, so sie sie doch einmal aus dem Schrank nehmen, um gar darin zu lesen, ersatzweise in lederne Futterale kleiden, um sie so vor allen Gefahren zu bewahren.

Und dann gibt es noch Beschädigungen durch unbewussten Vandalismus, etwa durch Kleinkinder, die die Schwarz-Weiß-Illustrationen in einer Klassikerausgabe in einem unbeobachteten Moment mit Wachsmalstiften kolorieren, oder durch unwissende Hausangestellte, die die rückseitig unbedruckten Seiten herausreißen und als Einkaufszettel nutzen. Hier gilt tatsächlich der alte Satz des Terentianus Maurus: Habent sua fata libelli.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XII)

Saturday, 21. August 2010

schiefgeleseneladychatterley

Während die Alterung ihre Spuren auch an einem ungenutzten, ungelesenen Buch hinterlässt, wird die Abnutzung, wie schon ihr Name sagt, erst mit dem Gebrauch fühlbar oder sichtbar. Ein von mehreren Personen gründlich gelesenes Buch ist auch für den Laien erkennbar nicht mehr ,wie neu‘ und damit nicht mehr als ,neuwertig‘ anzubieten, wenngleich es im Einzelfall gar nicht einmal so einfach ist, seinen Verschleiß präzis auf den Begriff zu bringen.

Oft ist es lediglich eine gewisse Lockerung der Lagen oder Seiten im Einband, die den Eindruck von Abgenutzheit erweckt; oder eine leichte Stumpfheit des Kopf-, Vorder- und Fußschnitts; vielleicht auch ein unbestimmtes Gefühl von Abgegriffenheit, sowohl des Umschlags als auch des Einbands. Diese schwachen, aber doch nicht zu leugnenden Abnutzungsspuren sind weit davon entfernt, Buchschäden im eigentlichen Sinn zu sein. Der erfahrene Buchfreund spürt aber untrüglich, dass dieses gute Stück, das er da in Händen hält, von einem anderen Liebhaber schon viele Male zur Hand genommen wurde, oder vielleicht auch durch viele Hände vieler Liebhaber gegangen ist. Das Buch ist also gleichsam ausgespült und zugleich aufgeraut vom Schweißflor und Profil der unbekannten Hände, die nach ihm gegriffen, in ihm geblättert und zwischen seinen Seiten nach Freude, Ablenkung, Belehrung oder Erkenntnis gegraben haben.

Die offensichtlichste Spur vielfachen Gebrauchs eines Buches ist die Schiefstellung seines Rückens, wie bei einem in die Jahre gekommenen Lastenträger oder Möbelpacker. Solche ,schiefgelesenen‘ Bücher [s. Titelbild] können übrigens allenfalls dann geheilt werden, wenn sie fadengeheftet sind. In diesem Fall nimmt sie der Buchbinder vollständig auseinander und zieht neue Fäden ein. Bei Paperbacks oder Hardcover-Bänden, die gelumbeckt sind, kann die ,Schieflage‘ nur vorübergehend behoben werden, indem die Verleimung zum Rücken hin abgeschnitten, der Buchblock aufgeraut und wiederum nach dem Lumbeckverfahren verleimt wird. Die zuletzt beschriebene Reparatur kann man natürlich nicht beliebig oft wiederholen, weil der Bundsteg irgendwann aufgebraucht ist und somit Textverlust droht. Sie wird sich bei solch minderwertigen Büchern allerdings auch ohnehin kaum lohnen.

Während das schiefgelesen Buch in die Verantwortung der Hersteller fällt und nicht etwa in die der Leser, die diesem Buchleiden keineswegs durch eine besonders schonende Technik des Umblätterns entgegenwirken können, muss man eine lange Reihe anderer Gebrauchsspuren aufs Schuldkonto banausischer Leser schreiben. Ich will gar nicht von den hässlichen ,Eselsohren‘ sprechen, die offenbar vor Erfindung des Lesezeichens die einzige Möglichkeit waren, eine Leseunterbrechung im Buch zu markieren. Ich habe mir sagen lassen, dass man in einigen unzivilisierten Ländern noch viel rabiater verfährt, indem man die gelesenen Blätter augenblicks aus dem Buch rupft und einer rein physischen Zweitnutzung zuführt!

Die Verwendung von Wurst- oder Käsescheiben als Lesezeichen ist hingegen wohl ähnlich selten anzutreffen wie der Missbrauch des Buchs als Fliegenklatsche oder als Wurfgeschoss zum Vertreiben von Nagetieren.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XI)

Saturday, 21. August 2010

schutzumschlaglichtrandig

In den ersten zehn Folgen habe ich jene Erkennungsmerkmale eines Buches vorgestellt, die allen Exemplaren eines Titels gemeinsam sind, wenn sie in jungfräulicher Reinheit, eins wie das andere ununterscheidbar gleich, die Druckerei und Binderei verlassen und als makellose Neuerscheinungen in den Buchhandlungen eintreffen. Das sind, wie wir gesehen haben, der Autorenname und gegebenenfalls die Namen weiterer Mitarbeiter, der Titel auf dem sauberen Titelblatt, Name und Ort des Verlags, das Erscheinungsjahr, der Umfang nach Seiten, das Format, die Einbandart und zuletzt noch fallweise die graphische Gestaltung.

Sobald aber das einzelne Buch seinen ersten privaten Besitzer erreicht hat, ist es einer Vielzahl von erodierenden, makulierenden, gar ruinierenden Geschehnissen ausgesetzt, die Spuren auf seinem empfindlichen Corpus hinterlassen und es damit unterscheidbar machen von allen Geschwistern seiner Auflage, und zwar in der Regel ein für alle Male. Fast immer mindern solche Spuren den ästhetischen oder praktischen Wert des Buches. Es wird aber auch von Fällen zu reden sein, in denen im Gegenteil eine manchmal sogar erhebliche Wertsteigerung zu verbuchen ist, wenn nämlich diese Spuren Rückschlüsse auf die Provenienz eines Buches erlauben oder dieses spezielle Exemplar sonstwie veredelt wurde. (Vielleicht eröffne ich hier gelegentlich eine neue Serie, in der ich einige der solcherart ,getrüffelten‘ Bücher meiner Bibliothek vorstelle und erzähle, wie sie in meinen Besitz gelangten.)

Was nun die Art der Spuren betrifft, die fast alle Bücher nach einer gewissen ,Lebenszeit‘ an sich tragen, so kann man vier große Gruppen unterscheiden: Alterung, Abnutzung, Beschädigung und Kennzeichnung.

Alterungsspuren können selbst bei pfleglichem Gebrauch und schonender Lagerung auftreten, etwa wenn das Papier von so schlechter Qualität ist, dass es mit den Jahren nachdunkelt, der Schutzumschlag oder Einband lichtrandig wird usw. Ein privater Sammler wird die Ansprüche professionell eingerichteter Archive kaum herstellen können, die ihre Bestände bei gleichbleibender Luftfeuchtigkeit und Temperatur konservieren und so dem Zahn der Zeit mit allerdings beträchtlichem Kostenaufwand trotzen. Immerhin wird man den legendären ,Bücherwurm‘, der früher als tierischer Buchschädling gefürchtet war, in heute üblichen hygienischen Verhältnissen einer Wohnung mit Standardkomfort kaum mehr antreffen. Auf der Hut sein sollte man allerdings vor versteckten Verfallsbeschleunigern im Buch. So kann die an sich ja verständliche Gewohnheit, Kritiken und Rezensionen zwischen den Seiten des besprochenen Buches zu verstecken, nach etlichen Jahren für böse Überraschungen sorgen, wenn nämlich solche Zeitungsartikel, auf billigstes Papier gedruckt, nachgedunkelt sind und die Bräunung auf die Buchseiten überschlug. Auch Werbekarten des Verlags haben gelegentlich einen solchen unwillkommenen Effekt. Nicht nur das Raumklima, sondern auch das Sonnenlicht kann zu sichtbarer Alterung führen, wenn die Einbände oder Buchrücken ihm dauerhaft ausgesetzt sind und hierdurch ausbleichen. Solche Verfärbungen sind besonders unschön, wenn unterschiedlich große Bücher nebeneinander standen und sich darum die Bleiche fleckenweise abzeichnete. Austrocknung des Leims tritt besonders bei der ersten Generation gelumbeckter Bücher häufig auf, als diese Bindetechnik noch nicht ausgereift war. Trotz aller Vorsicht führt dies bald zum Bruch der Bindung, in manchen Fällen bis hin zur ,Loseblattsammlung‘. Buchumschläge mit Cellophan-Kaschierung, eine Mode – oder eigentlich Unsitte – der 1960er- und 1970er-Jahre, verlieren ihren glanzvollen Teint auch ohne menschliches Zutun von den Rändern her durch Abplatzen der hauchdünnen Kunststofffolien. (Hilft man nach, um die hässlichen Fransen und Fetzen loszuwerden, reißt man leicht auch schon mal Fehlstellen in die darunterliegende Farbschicht. Dies fällt dann allerdings in die Kategorie ,Beschädigung‘.)

Und schließlich können auch lästige Geruchsspuren zur Beeinträchtigung des Buchgenusses beitragen. Möglicherweise rührt der strenge Duft daher, dass Bücher ihr Heim mit starken Rauchern teilen mussten? Weit häufiger begegnen in den Kisten der Trödler und Flohmarkthändler Bücher, die durch feuchte Lagerung muffig geworden sind, wogegen es noch kein Heilmittel zu geben scheint. Der Erfinder eines nachhaltigen ,Bücherdeodorants‘ würde sich jedenfalls große Verdienste unter den Sammlern erwerben und könnte mit dem Verkauf eines patentierten Mittels an sie und die Händler reich und berühmt werden.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (X)

Thursday, 19. August 2010

papagustavegei

Vor dem Zeichen war das Bild. Und so müssten eigentlich die Bilderbücher vor allen Lesebüchern Erwähnung finden. Immerhin spiegelt sich diese Entwicklungsgeschichte noch immer in dem Weg, den jedes Kind beschreitet, wenn es vom Seher zum Leser wird. Mein Vater hat meiner Ungeduld nachgegeben und mir lange vor der Einschulung eine appetitliche ,Bild-Buchstaben-Karte‘ gemalt und geschrieben: A a wie Apfel, B b wie Banane, C c wie Citrone und so fort bis Z z wie Zwetschge. Die ABC-Bücher und Fibeln für die I-Männchen sind die ersten Bücher, die den Weg in die neue Welt des Lesens, Verstehens und Phantasierens bereiten.

In den Büchern der Erwachsenen spielen Bilder meist eher eine Nebenrolle, zur gelegentlichen Illustration des Erzählten oder als schmückende Dekoration. Man mag ja sogar prinzipielle Einwände gegen solche Bebilderungen finden, die schließlich die Vorstellungskraft des Lesers in engere Bahnen lenkt und insofern seine Phantasie nicht beflügelt, sondern beschneidet. Bei Sach- und Fachbüchern können Abbildungen hingegen eine nahezu unverzichtbare Ergänzung sein. Botanische oder zoologische Monographien sind ohne Pflanzen- bzw. Tierbilder kaum vorstellbar, und auch ein Schachbuch erleichtert dem Nutzer den Nachvollzug erheblich, wenn das eine oder andere Stellungsbild eingestreut ist.

Jede literarische Epoche kennt aber auch für ihre poetischen Werke Meister der Bildkunst, die dem Sprachkunstwerk eine so kongeniale Visualisierung zur Seite stellen, dass ihre kretaive Leistung verdient, als gleichrangig gewürdigt zu werden. Dennoch ist es üblich, in Bücherverzeichnissen den Schriftsteller immer an erster, den Illustrator an zweiter Stelle zu nennen. Das mag seine Berechtigung schon deshalb haben, weil ja dieser sein Werk meist lange vollendet hat, bevor jener zum Pinsel oder Buntstift greift. Und schon gar wird sich der Umschlag- oder Einbandgestalter damit zufriedengeben müssen, in der Liste der Mitwirkenden an einem Buch erst an dritter oder vierter Stelle genannt zu werden.

Zweifelhaft wird die Rangfolge aber bei einer neueren Gattung illustrierter Bücher, den Comics. Denn hier arbeiten Autoren (wie z. B. René Goscinny) oft so eng mit Zeichnern (wie in diesem Fall Albert Uderzo) zusammen, dass man eine Vorrangstellung weder aus der zeitlichen Abfolge ihrer kreativen Leistungen noch aus deren Bedeutung für das Ergebnis ableiten kann.

Schließlich gibt es noch Bücher, bei denen die Abbildungen ganz im Vordergrund stehen oder die sogar ausschließlich Bilder zeigen und auf Text ganz verzichten, wie Bildbände mit Malerei oder Photographien. Hier sollte es im Regelfall natürlich der Künstler sein, der als Urheber des Werkes genannt wird, und nicht etwa ein Herausgeber oder Verfasser des Vorworts.

[Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus der Umschlagillustration von Volker Kriegel zu dem 1987 im Haffmans-Verlag in Zürich erschienenen Buch Flauberts Papagei von Julian Barnes.]

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (IX)

Tuesday, 17. August 2010

gelumbecktegrimmausgabe

Materialkundlich gesehen besteht das traditionelle Buch mindestens aus 1. Papier und 2. Druckfarben: dem sog. Buchblock; zudem aus 3. Bindemitteln wie Fäden oder Klammern, 4. Pappe und Bezugsstoff wie Leinen, Leder, Kunststoff, Pergament u. ä. sowie 5. Leim: dem sog. Einband. Letzterer hält die losen Seiten oder Lagen zusammen, schützt sie gegen Verschmutzung oder Beschädigung und verleiht dem Buch Stabilität, die für eine aufrechte Lagerung im Regal oder Bücherschrank zweckmäßig ist.

Je nachdem, ob der Einband als handwerkliches Einzelstück von einem Buchbinder gefertigt oder maschinell und serienmäßig für eine komplette Buchauflage produziert wurde, spricht man von einem Handeinband oder von einem Verlagseinband. Die wenigen von Hand gebundenen Bücher in meiner Bibliothek kann ich an den Fingern beider Hände abzählen. Über die drei Bände von Heinrich Manns Kaiserreich-Trilogie habe ich früher bereits einmal berichtet und noch früher sogar Abbildungen der kostbaren Einbände ins Netz gestellt.

Was nun die weit überwiegende Zahl der industriell gebundenen Bücher in meinen Regalen betrifft, so wäre, würde ich sie nach Erscheinungsjahr sortieren, ein trauriger Niedergang der Produktqualität unübersehbar. Im Gefolge des Taschenbuchs, das seinen Massenerfolg (ab 1950) dem niedrigen Preis verdankte, welcher wiederum durch die Einführung der Klebebindung nach Emil Lumbeck (1886-1979) möglich war, begannen die Verlage Mitte der 1960er-Jahre, auch bei gebundenen Büchern auf die haltbare Fadenheftung zu verzichten und den Buchblock zu lumbecken. Und nur wenige Jahre später entwickelten die Buchhersteller Verfahren, die es ermöglichten, Pappdeckel mit feinen Prägeprofilen zu versehen, die auf den ersten Blick selbst beim Fachmann den Eindruck einer Leinenstruktur vortäuschten. Erst recht ließen sich natürlich Laien von dieser Camouflage täuschen.

Diese beiden objektiven Verschlechterungen der materiellen Buchqualität erfolgten natürlich aus reinen Kostengesichtspunkten und unter Konkurrenzdruck. Wozu Geld in den Luxus einer Buchausstattung investieren, den kaum ein Leser wahrnimmt? Dann steckt man die eingesparten Mittel doch lieber in die Werbung oder erhöht den Umsatz durch Preisnachlass. Mit der Verbilligung der Bücher blieb der Anspruch auf der Strecke, mit ihrem Erwerb einen dauerhaften Wert anzuschaffen. Bezeichnend für diesen Trend zum Ex-und-hopp-Buch war auch die Entwicklung des Schutzumschlags, dessen immer grellere, glänzendere Erscheinung den Blick von der Verödung des Inhalts, nämlich des Buches selbst ablenkte. [Das Titelbild zeigt die vierbändige Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm aus dem Eugen DiederichsVerlag, in wundervoll verzierten Halbleinenbänden mit Lesebändchen – aber gelumbeckt!]

So sind in den letzten Jahrzehnten selbst halbwegs akzeptable Verlagseinbände in der Massenproduktion immer seltener geworden, wobei das deutsche Verlagswesen im internationalen Vergleich sogar noch vorbildlich ist. Der neueste Schrei ist die alberne Masche, in billigst gebundene Bücher und selbst in manche Taschenbücher Lesebändchen zu kleben, als wären mit dieser albernen Überflüssigkeit die eigentlichen Mängel auszugleichen. Ich habe übrigens noch nie ein gelesenes Buch gesehen, bei dem das Lesebändchen sich nicht unter der Nutzung in ein verschmutztes, ausgefranstes, geradezu unappetitliches Etwas verwandelt hätte. Für die kleine Schar anspruchsvoller Buchkäufer, die sich noch einen Rest sinnlicher Empfänglichkeit für solche Dinge bewahrt haben, gibt es eine Handvoll ambitionierter Verlage, die die Kultur des schönen, zweckmäßigen und haltbaren Buches pflegen. Die Andere Bibliothek, von Franz Greno und Hans Magnus Enzensberger 1985 gegründet, hat hier Maßgebliches geleistet und vorgeführt, dass ein solches Unternehmen mindestens für eine Zeit existenzfähig sein kann. Einige kleinere Verlage, wie die Friedenauer Presse in Berlin, der Weidle Verlag in Bonn oder zuletzt der Düsseldorfer Lilienfeld Verlag, haben solide und zugleich entzückend schöne Bücher vorgelegt, doch man muss immer um die Existenz dieser kleinen Unternehmen bangen.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (VIII)

Monday, 16. August 2010

vonhierbisdortwirdgemessen

Nach dem Seitenumfang ist eine weitere quantitative Eigenschaft des Buches sein Format. Zwar das Bemühen der Buchhersteller, ihren Produkten durch ein auffallendes Äußeres besondere Aufmerksamkeit zu verschaffen, bisweilen seltsame Blüten getrieben, trotzdem begegnen uns runde, selbst drei- oder fünfeckige Bücher sehr selten. Gewöhnlich hat das Buch eine rechteckige Form, wobei das Hochformat die Regel und das Querformat seltene Ausnahme ist.

Traditionell wurden die Formatbezeichnungen von Büchern aus der Zahl der Bogenfalzungen abgeleitet. Ein einfach gefalzter Bogen ergab einen Folio-Band, zweifach einen Quart-, dreifach einen Oktav-Band. In England galten aber andere Bezeichnungen und Maße als in Frankreich und Deutschland, und so hat sich mittlerweile international eine Maßangabe aus Breite mal Höhe in Zentimetern durchgesetzt. Die Breite steht traditionell an erster Stelle, weil dies irgendwann einmal für die Papiermaße eingeführt wurde. Ich halte diese Regel aber für unsinnig, da die Höhe erstens wichtiger für den Nutzer ist. (Regalabstände!)

Zweitens aber kann die Höhe eines Buches, als Entfernung von der oberen zur unteren Einbandkante, immer exakt angegeben werden. Zur Ermittlung der legt man das Lineal an der rechten Kante des Einbanddeckels an und misst bis zum Buchrücken. Doch da wird es problematisch! Der Rücken ist bekanntlich bei den meisten gebundenen Büchern ab einer bestimmten Buchdicke rund. Nun weiß man nicht, an welcher Stelle genau man das Lineal ablesen soll. Gilt der ,höchste‘ Punkt der Rundung als Messpunkt? Ich habe mich entschieden, die Falzkante des Gelenks zu meiner persönlichen Messnorm zu erklären [s. Titelbild] und entgegen der geltenden Regel die Breite erst an zweiter Stelle zu nennen. Ist also der erstgenannte Messwert kleiner als der zweite, so handelt es sich um ein Querformat. Außerdem runde ich nicht wie üblich auf ganze Zentimeter, sondern gebe millimetergenaue Messwerte an.

Eins meiner größten Bücher ist übrigens (mit 43,4 x 33,2 cm) Arno Schmidts Julia oder die Gemälde, eins meiner kleinsten eine Miniaturausgabe von Rosa Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis (5,2 x 4,0 cm).

Und dann hat ein Buch, und sei es noch so seichten Inhalts, immer auch ein Gewicht. Selbst ,leichte‘ Bücher können also ganz schön schwer sein. Spätestens bei meinen zahlreichen Wohnungswechseln wurde mir dies ein ums andere Mal wieder bewusst, und zwar immer schmerzlicher, ließ doch mit den Jahren mein körperliches Leistungsvermögen nach, während der Umfang meiner Bibliothek, und damit ihr Gesamtgewicht, stetig zunahm. Ich kannte mal einen Berliner Antiquar, der einen Teil des Warenbestandes in seiner Mietwohnung lagerte, gestapelt immer ganz behutsam längs der Zimmerwände, denn der Holzfußboden knarrte bedenklich und er träumte nachts von einem Durchbruch in die darunterliegende Wohnung. Vielleicht liegt das Durchschnittsgewicht gebundener Bücher bei 400 Gramm, dann bringt es eine Bibliothek von fünftausend Bänden auf zwei Tonnen. Das sollte man sich vor Augen führen, bevor man sich gerade für diese unbequeme Sammelleidenschaft entscheidet.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (VII)

Sunday, 15. August 2010

ossiwienerverbesserungseiteeins

Werke des Geistes nach quantitativen Gesichtspunkten zu beurteilen, das kann nur einem Banausen in den Sinn kommen. Vielleicht fährt ein solcher gerade deshalb alljährlich nach Bayreuth, weil die Wagner-Opern „so imposant lang“ sind. Da hat man doch was für sein Geld! Und beim Flächengigantismus der Malerei des zu Ende gehenden Jahrzehnts fragt man sich ebenfalls, ob diese Quadratmeterprotzerei sich nicht bloß einer neureichen Klientel andienen will, die mangels ästhetischer Argumente die Auswahl ihres Wandschmucks damit begründet, dass sie die riesigen Wände in ihren Villen „schließlich irgendwie vollkriegen“ muss.

Beim Buch hingegen kommt selbst der kulturloseste Einfaltspinsel kaum auf den Gedanken, dass sein Wert sich an der Zahl der Seiten ablesen ließe. Allenfalls in jener fernen Zeit, als die Alphabetisierung der Bevölkerung sich noch auf eine kleine Minderheit beschränkte, konnte der große Rest des Volks die Bibel allein schon deshalb für das ,Buch der Bücher‘ halten, weil sie nun mal eine besonders dicke Schwarte ist. Ich habe hier und dort bereits ein paar Gedanken zum dicken Buch in unserer Zeit geäußert. Nun geht es um den Umfang unterm Gesichtspunkt einer quantitativen Bemessungsgröße, ohne jede inhaltliche Wertsetzung.

Man kann die prinzipielle Frage stellen, wieviele Seiten denn mindestens zusammengebunden sein müssen, damit das Ergebnis überhaupt als Buch bezeichnet werden kann. Üblicherweise nennt man acht oder sechzehn oder auch zweiunddreißig Seiten im Verbund, in dieser Größenordnung meist bloß durch Metallklammern zusammengehalten, eher Heft als Buch. Solche Gebilde haben in der Regel keinen festen, sondern einen flexiblen, biegsamen Einband. Doch auch tausend Seiten dicke Bücher kommen heute flexibel gebunden auf den Markt. Es käme aber wohl niemand auf den Gedanken, einen solchen schwergewichtigen Band ein Heft zu nennen. Also müssen wir uns damit begnügen, dass die terminologisch Abgrenzung des Buches nach quantitativen Kriterien unscharf bleibt.

Immerhin kann man aber bei jedem Buch die Seitenzahl unzweideutig präzis angeben, wenngleich auch hier ein paar Tücken lauern und der Antiquar Vorsicht walten lassen muss, damit ihm keine Ungenauigkeiten oder gar Fehler unterlaufen. So genügt es beispielsweise nicht, hinten im Buch nach der letzten gedruckten Seitenzahl Ausschau zu halten und allenfalls noch die paar eventuell folgenden, nicht nummerierten Seiten hinzuzuzählen. Gerade bei älteren Büchern kommt es vor, dass ein vorgeschalteter Teil – bestehend z. B. aus dem Vorwort, einer Einleitung, Widmungen, dem Inhaltsverzeichnis etc. – mit römischen Zahlen versehen wird, bevor die arabische Paginierung des ,eigentlichen‘ Werkes beginnt. (Vollständig römisch paginierte Bücher sind hingegen sehr selten; s. Titelbild.) Sodann sind oft Abbildungen im Buch verstreut, die auf einem besonderen Kunstdruckpapier wiedergegeben werden. Diese Blätter fallen meist aus der durchgehenden Seitenzählung heraus und sollten gesondert erwähnt werden. Und schließlich ist es üblich, dass nicht mehr zum eigentlichen Inhalt gehörige Seiten am Schluss, welche der Verlag häufig zu Werbezwecken nutzt, getrennt angegeben werden.

Eine genaue Angabe des Umfangs eines Buches sieht dann zum Beispiel so aus: XVI & 356 & 12 S. & 16 unpag. Kunstdruck-Taf. m. 22 ungez. Abb.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (VI)

Saturday, 14. August 2010

zehntausendmalkristianiaboheme

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1969. – In dieser Form erscheinen die Verlagsangaben in der Regel in den antiquarischen Buchbeschreibungen. Dabei wäre der Ortsname in den meisten Fällen entbehrlich, denn schließlich ziehen solche Firmen ja nicht dauernd von einer Stadt zur anderen. Der über hundert Jahre alte Verlag von Ernst Rowohlt, um im Beispiel zu bleiben, ist dabei schon verhältnismäßig mobil gewesen. Er wurde 1908 in Leipzig gegründet, residierte nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Stuttgart und Baden-Baden, bevor er 1950 nach Hamburg umzog und 1960 sein bis heute letztes Domizil in Reinbek fand. Weil Verleger meist eitle Menschen sind, breiten sie ihre Firmengeschichte mindestens alle 25 Jahre in detailreichen Chroniken aus. Diese Bücher können, neben den von besonders selbstverliebten Verlegern alljährlich herausgegebenen Verlagsalmanachen, wertvolle Rechercheinstrumente für den Antiquar sein.

Die – neben dem Namen des Autors und dem Titel – wichtigste bibliographische Angabe ist jedenfalls das Erscheinungsjahr. Eine Liste mit Veröffentlichungen eines Autors wird in aller Regel hiernach, also chronologisch in der Reihenfolge von deren Erscheinen geordnet sein. Dagegen könnte man mit Fug und Recht einwenden, dass doch vielmehr das Jahr der Entstehung bzw. Fertigstellung eines Schriftwerkes viel aussagekräftiger sei als das Jahr seiner Publikation, die ja nicht selten durch mancherlei Zufälle erst viele Jahre später, gelegentlich gar erst lange nach dem Tod des Autors erfolge. Mag sein! Und doch gilt als eigentliches ,Geburtsjahr‘ eines Buches das seiner ersten Vervielfältigung durch den Druck, die ja seinen öffentlichen Auftritt vor einem größeren Publikum erst möglich macht. Zudem ist der Entstehungszeitpunkt, oder richtiger: -zeitraum weit öfter unbekannt und auch nicht mehr ermittelbar, wohingegen indirekte Hinweise es meist erlauben, auch jene eher seltenen Bücher, in denen sich keine Jahreszahl ihres Erscheinens finden lässt, aufs Jahr genau zu datieren.

So wird das gelegentlich unvermeidliche Kürzel o. J. (für ,ohne Jahresangabe‘) oder lateinisch s. a. (für ,sine anno‘) nach manchmal geradezu detektivischen Ermittlungen vom Antiquar zu ergänzen sein durch einen Zusatz in eckigen Klammern, wie [ca. 1850], [zw. 1956 u. 1963] oder [nach 2004]. Hierbei können übrigens auch die sonst eher ungeliebten handschriftlichen Eintragungen der Vorbesitzer antiquarischer Bücher, wie Anschaffungsvermerke oder Widmungen, von großem Nutzen sein. In vielen Fällen hilft auch ein Blick in den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, der mittlerweile auch online verfügbar ist und für die meisten undatierten deutschen Bücher des 20. Jahrhunderts erfreulich zuverlässige Jahresangaben ausweist.

Für den Antiquar, der schließlich mit dem Verkauf alter Bücher seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, ist das Erscheinungsjahr eines Buches, das er in Händen hält, aber noch aus einem anderen Grund bedeutsam. Viele Sammler haben sich nämlich auf den Erwerb von Erstausgaben (EA) spezialisiert. Dies mag der Laie für eine Narretei halten, unterscheiden sich doch spätere Auflagen ein und desselben Titels meist weder äußerlich noch vom Inhalt her von den Exemplaren der ersten Auflage. Es ist hier nicht die passende Gelegenheit, diese vermeintliche Marotte nach allen Dimensionen menschlicher Leidenschaft auszudeuten. Die Folge besagter Spezialisierung ist jedenfalls, dass Erstausgaben stets einen deutlich höheren Preis erzielen als alle weiteren Nachauflagen – selbst wenn diese ,um wichtige Zusätze erweitert‘, ,korrigiert‘ oder ,überarbeitet‘ erscheinen.

Und natürlich steigt der Preis einer Erstausgabe noch, wenn diese in einer verhältnismäßig kleinen Auflage erschien und das Buch anschließend ein ,Renner‘ wurde, es auf astronomische Auflagenzahlen brachte und sich zum ,Kultbuch‘ oder ,Klassiker‘ mauserte.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (V)

Friday, 13. August 2010

widmungandenunbekanntenverleger

Wenn jemand ein Buch geschrieben hat, dann hat er vier Möglichkeiten. Entweder verbrennt er es, dann ist es aus der Welt und er hat seine Ruhe. Oder er versteckt es in seiner Schublade, dann ist es mindestens fürs Erste aus der Welt, aber seine Ruhe hat er damit noch nicht, denn immerhin weiß er, dass da das Buch im Versteck lauert und vielleicht einmal hervorkommt, und sei es nach seinem Tod, und dann doch noch in die Welt hüpft, und was dann? Drittens kann er hergehen und es auf eigene Rechnung vervielfältigen, sagen wir hundert Stück per Xerokopierer® und Bindomatic®, um sie dann persönlich in der kleinen Welt seines Freundes- und Bekanntenkreises zu verschenken. Um seine Ruhe ist es dann voraussichtlich endgültig geschehen, denn er wird sich den Kopf zerbrechen, ob die vielen Lobesworte, die er anschließend zu hören bekommt, nicht falsche Komplimente sind, bis er irgendwann eines der per Hand gewidmeten und nummerierten Exemplare in einer Flohmarktkiste entdeckt, versehen mit überaus schmerzvollen Randnotizen und zum Preis von zwei Euro.

Darum wählt der Buchschreiber, der es wissen will, die vierte Variante, schickt die hundert xerokopierten und bindomaticgebundenen Exemplare seines Erstlingswerks per Post an zunächst bedeutende, dann aufstrebende, schließlich experimentierfreudige Verlage, erhält zunächst Absagen auf Vordrucken, dann Vertröstungen in persönlicher Form und schließlich Zusagen unter der Voraussetzung, dass er für einen Teil der Produktionskosten selbst aufzukommen bereit ist. Wenn ihm überm Schreiben noch nicht aller Realitätssinn abhandengekommen ist, lässt er es dabei bewenden. Er freut sich, dass ihn die wertvolle Erkenntnis, zum Schriftsteller nicht geboren zu sein, so wenig Zeit und Geld gekostet hat, um sich alsbald einer anderen Freizeitbeschäftigung zuzuwenden. Gehört er hingegen zu jener Sorte von Sturköpfen, die sich jede durch professionelle Gutachter erteilte Abfuhr nur als weitere Bestätigung ihrer vermeintlichen Genialität erklären können, dann wird die Irrfahrt richtig teuer und dauert schlimmstenfalls lebenslänglich.

Andererseits wächst die Produktion von Büchern und anderen Druckerzeugnissen in Deutschland Jahr für Jahr, sowohl in absoluten Stückzahlen (über eine Milliarde) als auch nach Zahl der verschiedenen Titel (mehr als hunderttausend). Folglich werden die Verlage, die diese Papierflut zu verantworten haben, immer wieder neue Autoren entdecken, denn es sterben ja auch ständig welche weg, deren Auswurf unmöglich allein durch Mehrarbeit der verbleibenden kompensiert werden kann. Schließlich herrscht aufseiten der Leser unausrottbar das Vorurteil, nach dem die jeweils allerneuesten Bücher den älteren unbedingt vorzuziehen sind, wie ja auch alle anderen Produkte wie Elektrogeräte, Fahrzeuge, Nahrungs- und Genussmittel, Hygieneartikel usw. laufend optimiert und den sich wandelnden Bedürfnissen und Moden angepasst werden.

Wenn bei meinem Leser aus dem bis hierher Gesagten der Eindruck erwachsen sollte, ich stünde dem Verlagswesen als solchem und auch den einzelnen Verlagen eher kritisch gegenüber, so bin ich gut verstanden worden. Aber noch in den finstersten Keller verirrt sich ab und zu ein Streifchen Licht. Und so will ich zum versöhnlichen Abschluss meiner Ausführungen über Buchverlage doch ein Gutes hervorheben, das sie immerhin durch ihre Namen als Bestandteil der Buchbeschreibung mit sich bringen.

Dem erfahrenen Leser, Sammler, Händler von Büchern wird nämlich durch kaum eine andere autobiographische Angabe mehr über ein ihm unbekanntes Buch und seinen Autor verraten, als eben durch dessen Zugehörigkeit zu einem Verlagsprogramm, das ihm vertraut ist. Wenn mir jemand sagt, dass ein Buch bei Diogenes oder Droemer Knaur, bei Lambert Schneider oder Langenscheidt, bei Kiepenheuer & Witsch oder Matthes & Seitz erschienen ist, dann weiß ich es auf einer imaginären geistigen Landkarte zu lokalisieren, weit zuverlässiger als durch das Lesen einer Inhaltsangabe oder Zeitungskritik. Hierfür sei den Verlagen gedankt!

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (IV)

Thursday, 12. August 2010

derassrebhuehnerfuerseinlebengern

„In der arbeitsteiligen Wirtschaft des sozialistischen Staats ist ein Industrieprodukt wie das Buch naturgemäß Ergebnis von vieler Menschen Hände Arbeit. Papierhersteller, Setzer, Drucker, Buchbinder, Packer, Typografen, Grafiker, Layouter, Lektoren und andere produzierende und gestaltende Werktätige begleiten das Buch auf seinem Weg von der Idee zum konkreten Objekt.“ So oder ähnlich könnten die ersten beiden Sätze in einem Berufsschulbuch über Das Druck- und Verlagswesen in der DDR für Lehrlinge in Buchhandel und Verlag gelautet haben. Da bei der Lektoratstätigkeit die Hände keine vorrangige Rolle mehr spielen, hätte man deren Aufnahme in die Liste als eine jener vielen kleinen Unredlichkeiten der Volksgenossen im Kombinat ,Lehren und Lenken‘ hinnehmen müssen, die immer dann unterlaufen, wenn sich das Denken entlang ideologischer Leitlinien bewegen muss. Immerhin träfe auf die Lektoratsarbeit aber wieder zu, was im dritten Satz über die namenlosen Helfer gesagt worden wäre: „All diese Menschen verschwinden hinter ihrer fachkundigen Arbeit und sind namentlich im fertigen Buch nicht vermerkt, obwohl doch ohne sie dieses Produkte niemals den Markt erreichen und die Bürger belehren oder erfreuen könnte.“

Wem wird also dann die Ehre zuteil, mit seinem bürgerlichen Namen neben dem Autor als Mit-Urheber oder Koproduzenten irgendwo im Buch, wenn nicht gar auf der Titelseite genannt zu werden? Bei Neuausgaben älterer, vielleicht schon ,klassischer‘ Werke ist es oft ein Herausgeber, der sich um die Neuedition besondere Verdienste erworben hat, indem er die früheren Ausgaben verglich, vielleicht gar Manuskripte des Autors hinzuzog und so zu einer fehlerfreien, gar historisch-kritischen Ausgabe zu gelangen. Vielleicht gibt es den prominenten Verfasser des Vor- oder Nachwortes, der seinen guten Namen und ein paar kluge Gedanken zur Verfügung stellt, um dem Buch eines etwa bislang unterschätzten Autors zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen? Manche Bücher bedürfen zum Verständnis des Laien fachkundiger Erläuterung, für die ein Kommentator sorgt. Und große Verantwortung für die Lesbarkeit bei allen im Original fremdsprachigen Werken trägt schließlich der Übersetzer, ohne dessen schwierige Arbeit uns ein Großteil der Weltliteratur unzugänglich bliebe. Alle diese ,Autoren in der zweiten Reihe‘ verdienen es, im Buch genannt und somit auch in die bibliographische Beschreibung aufgenommen zu werden, um ihnen im Erfolgsfall für ihre Leistungen die gebührende Anerkennung zollen, andernfalls aber auch berechtigte Kritik an die zuständige Adresse richten zu können.

Und dann gibt es noch, beosnders bei wissenschaftlichen Werken, die Danksagung der Verfasserin an all die offen oder im Verborgenen mitwirkenden Helfer, die sie auf dem beschwerlichen Weg bis zum nun endlich fertig vorliegenden Werk begleitet, sie mit Rat und Tat unterstützt, ihr in schwierigen Phasen Mut zugesprochen und ihr in zahllosen Detailfragen unschätzbar wertvolle Tipps gegeben haben, bis hin zu Tante Mienchen mit ihrem beruhigenden Kamillentee und Kater Bonifatius, der etliche überaus störende Fliegen fing.

Ob es eine solche Reverenzlitanei verdient, in eine antiquarische Autopsie aufgenommen zu werden, außer vielleicht als originelle Dekoration, das ist Geschmacksache und vielleicht davon abhängig, ob unter den genannten Personen namhafte Geistesgrößen auszumachen sind, deren Glanz auf die Danksagende abstrahlt. Letzteres wird häufiger einmal bei einem Vorbild, Freund oder Lehrer des Autors der Fall sein, der von ihm mit einer gedruckten und damit öffentlich gemachten Zueignung oder Widmung bedacht wurde.

Es stehen also gelegentlich im Buche sehr viele (Personen-)Namen, die neben dem Autor, in der zweiten oder dritten Reihe, ihren Platz finden; den nach dem Verfasser wichtigsten habe ich dabei allerdings aus guten Gründen noch ausgespart, da er nur mit einer Einschränkung hinzugehört: den Verleger. Er soll in der nächsten Folge zu seinem Recht kommen.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (III)

Wednesday, 11. August 2010

zweibuechergegeneinanderausgespiegelt

Wie heißt dieses Buch? Wie heißt dieses Buch? – Nein, ich beginne nun nicht, in ganzen Sätzen zu stammeln. Vielmehr halte ich in meiner linken Hand ein ganz reales Buch, während ich die erste Frage stelle. Und dann gebe ich mir selbst die Antwort auf diese Frage, indem ich den Titel des Buches nenne. Der Mathematiker, Logiker, Konzertpianist, Taoist und Zauberer Raymond M. Smullyan hat es geschrieben. Es heißt im amerikanischen Original What Is the Name of This Book?, in der deutschen Übersetzung Wie heißt dieses Buch? – Gleichzeitig halte ich in der rechten Hand ein Buch des Geschichtsprofessors, Pataphysikers und ständigen provisorischen Sekretärs des ,Ouvroir de Litterature Potentielle‘ (OuLiPo), Marcel Bénabou, das den paradoxen Titel hat: Pourquoi je n’ai écrit aucun de mes livres, zu Deutsch: Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe.

In dieser Pose wollte ich gleich eingangs deutlich machen, dass uns das Stichwort ,Titel‘ auf ein überaus doppelbödiges, schwankendes, sumpfiges, verspiegeltes, nebliges Gelände entführt. Wenn Bénabou keines seiner Bücher geschrieben hat, besser: wenn er keines jener Bücher verfasste, die auf der Titelseite seinen Namen tragen, wie er gleich im Titel seines Buches Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe? vorausschickt, das ebenfalls seinen Namen trägt, wer hat dann eben dieses Buch geschrieben, in dem erklärt werden soll, warum er keines seiner Bücher schrieb? Und darf man denn überhaupt diesem Geständnis über die vermeintliche Nicht-Autorschaft von Bénabous Büchern trauen, wenn doch selbst dieses Geständnis eingestandenermaßen nicht von Bénabou stammt? Ebensogut könnte der Titel seines Buches dann lauten: Pourquoi je n’ai écrit ce livre?

Da der Autorenname allein kaum taugt, ein Buch schon äußerlich unverwechselbar zu machen oder gar inhaltlich zu kennzeichnen – weil erstens Autoren eine Neigung haben, wenn schon dann gleich mehrere Bücher zu veröffentlichen; weil zweitens verschiedene Personen gelegentlich den gleichen Namen tragen und solche Duplizitäten auch den schreibenden Stand nicht verschonen; und weil schließlich Personennamen nur zufällig einmal etwas über den Träger und damit vielleicht auch indirekt über das Ergebnis seiner Tätigkeit, hier: das geschriebene Buch aussagen – da also ein Buch mit nichts als dem Namen seines Verfassers auf dem Titel ebenso nichtssagend wie verwechselbar ist, verzichtet kein Autor auf die Gelegenheit, alles was er drinnen mit hunderttausend Worten sagen will, draußen mit einer Handvoll, allenfalls einem knappen Dutzend Wörtern immerhin anzudeuten.

Als die Geschichte der gedruckten Bücher ihren Anfang nahm, waren deren Autoren noch wesentlich spendabler mit den Auskünften, die sie im Titel dem möglichen Käufer und Leser erteilten: So heißt einer der ersten Erfolgsromane der deutschen Literatur: Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch | Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten | genant Melchior Sternfels von Fuchshaim | wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen | was er darinn gesehen | gelernet | erfahren und außgestanden | auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Drei Jahrhunderte später sind die Romantitel auf wenige Buchstaben geschrumpft: Knulp (Hermann Hesse 1915), Hiob (Joseph Roth 1930), Bin (Max Frisch 1945), Watt (Samuel Beckett 1953), Pnin (Vladimir Nabokov 1957), Frost (Thomas Bernhard 1963); bis hin zu einbuchstabigen Titeln wie V. (Thomas Pynchon 1963) und A (Andy Warhol 1968). Seither geht’s langsam wieder aufwärts. So erscheint in diesem Jahr ein Roman von Jan Faktor mit dem schon fast barock anmutenden Titel Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag.

Was will eigentlich der Titel eines Buches beim potenziellen Käufer bezwecken? Die Autoren schlagen ihren Verlegern oft Titel vor, von denen sie annehmen, dass sie neugierig machen könnten auf den Inhalt. Den Verlegern hingegen ist mehr daran gelegen, dass die Titel einprägsam sind, damit sie bei der Mund-zu-Mund-Propaganda nicht dauernd auf der Strecke bleiben. Bei der unüberschaubar großen Zahl von Büchern gibt es in der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Leser naturgemäß nur sehr wenige Titel, die wirklich im Gedächtnis vieler Leser haften bleiben. So überrascht es nicht, dass die Buchtitel der Romane dieser Sommersaison 2010 zum überwiegenden Teil völlig nichtssagend sind. Bei aller bemühten Originalität nahezu bedeutungslos sind Namentitel wie Juja, Thennberg, Kornblum, Ben, Harold, Robinson und Julia, Pascolini, Die Erdbeeren von Antons Mutter, Der Sturz des Friedrich Voss, Alles über Sally, I am Airen Man, Axolotl Roadkill, Die Akte Rosenherz, Hellersdorfer Perle, Spaziergänger Zbinden, Kokoschkins Reise, Mihriban pfeift auf Gott, Sevilla, Grunewaldsee, Berlin Palace, Von Dschalalabad nach Bad Schallerbach und Hummeldumm. Kaum wesentlich mehr zur Anregung konkreter Vorstellungsinhalte liefern solche Ein-Wort-Titel wie Schonzeit, Kennung, Meeresstille, Schaumschwester, Silberfischchen, Heimaturlaub, Runterkommen, Horchen, Vorliebe, Bodenlos, Möchtegern, auch dann nicht, wenn sie um den bestimmten Artikel ergänzt werden: Der Liebespakt, Die Herrenausstatterin, Das Fenster, Die Leinwand, Der Koch, Das Matratzenhaus. Nicht viel besser bestellt ist es um die folgenden blässlichen Titel, bei denen man sich kaum vorstellen kann, dass es sie nicht schon mindestens einmal gegeben hat, und zwar vermutlich in allen bedeutenderen Nationalliteraturen der Welt: Die komische Frau, Die verlorenen Stunden, Der Sommer in dem Folgendes geschah, Zur falschen Zeit, Und dann diese Stille, Das Beste daran, Vorläufige Ankunft, Wenn Du wiederkommst, Ans Meer, Durch den Wind, Die Welt ist im Kopf, Komödie des Alterns, Wir vier, Roman unserer Kindheit, Ich weiß nicht und Das war ich nicht. Immerhin einen leichten Kitzel auf dem präfrontalen Kortex lösten bei mir folgende Titel aus: Vom Atmen unter Wasser, Einladung an die Waghalsigen, Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand, Und im Zweifel für dich selbst, Der Mann der durch das Jahrhundert fiel, Sogar Papageien überleben uns, Am Anfang war die Nacht Musik und Kolonie der Nomaden. Kein richtiger ,Kracher‘ ist darunter, zum Beispiel so etwas wie Kühe in Halbtrauer. Aber wirklich unsterblich gute Romane sind ja ebenfalls sehr selten, warum sollte es sich dann mit den Titeln anders verhalten.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (II)

Tuesday, 10. August 2010

leoperutzdrittekugeltitel

Auf den Autorennamen folgt in Bücherlisten in aller Regel der Titel des Buches. Der äußerlich augenfälligste Platz für dieses Gespann sind am Objekt der Auflistung selbst der Buchrücken und Buchdeckel. Maßgeblich für die einwandfreie Identifikation eines Buches ist jedoch die Titelseite, als Vorderseite des Titelblatts. Um welche Seite genau handelt es sich dabei aber? Jedenfalls ist es eine Seite ganz weit vorn im Buch, bevor dessen eigentlicher Inhalt beginnt. Und prinzipiell handelt es sich um eine rechte Buchseite; oder, was aufs Gleiche hinausläuft, um die Vorderseite eines Blattes. Daher trüge die Titelseite jedenfalls eine ungerade Seitenzahl, so sie denn mit einer Seitenzahl versehen wäre. Allerdings haben die ersten vier, sechs oder gar acht Seiten eines Buches in aller Regel gar keine Seitenzahlen, meist begegnet dem Leser die Ziffer 7 als erste Seitenzahl im Buch. Rechnet man von dort zurück, so ist die Titelseite oft eine Seite 3 oder 5, aber darauf ist kein Verlass. Was man immerhin noch sicher von ihr sagen kann: Sie ist in jedem Falle die dritte Seite der sog. Titelei. Hierunter versteht man nun wieder etwas ganz eigenes, nämlich folgende vier Seiten in dieser Reihenfolge: Schmutztitel, Frontispiz, Titelseite und Impressum. (Die Seiten eins, zwei und vier in diesem Quartett werden weiter unten noch eingehend zu würdigen sein.)

Was steht nun eigentlich auf der Titelseite? Was ist dort üblicherweise zu lesen? Name des Autors, Titel des Buches, Name (und gelegentlich auch Ort) des Verlags. Weitere Informationen – wie Untertitel, Gattungsbezeichnungen, Namen von Herausgebern oder Übersetzern usw. – können hinzukommen. Und in aller Regel sind die paar Worte in einer größeren Schrifttype gesetzt als der Rest des Buches, sein eigentlicher Inhalt.

Warum ist nun das Titelblatt für ein Buch so bedeutungsvoll, dass es seinen antiquarischen Wert erheblich mindert, wenn es bekritzelt, bestempelt, beschädigt oder gar vollständig entfernt ist? Ganz einfach deshalb, weil das Buch mit diesem Blatt seine Identität verliert. Es geht ihm ähnlich wie dem Seemann Gales in B. Travens Roman Das Totenschiff: Es hat in diesem Fall kein Alter, keine Herkunft und keinen verbürgten Namen; es existiert offiziell gar nicht und hat insofern auch keinen irgendwie bestimmbaren Wert. Es ist ein nichtswürdiges Nichts. Und es ist bezeichnend, dass Bibliotheken sich mit ihren Stempeln vorzugsweise auf der Titelseite verewigen, denn damit berauben sie das Buch für alle Zeit seiner Möglichkeit, in der freien Welt (des Marktes) eine Rolle zu spielen, ganz so wie der Souverän, der seinem Sklaven ein Brandzeichen auf die Stirn presst, ihn für alle Zukunft an sich bindet.

In einer verschollenen Anthologie von Erzählungen rund um das Thema Buch habe ich vor langer Zeit einmal die Geschichte eines pathologischen Bibliomanen gelesen, der sich aufs Sammeln von Titelblättern spezialisiert hatte. Er stahl diese, wann immer sich ihm die Möglichkeit dazu bot: aus den Büchern der Buchhandlungen und Antiquariate, aber auch aus Privatbibliotheken und sogar aus Kirchen, wo manchmal eine alte Bibel unbeaufsichtigt auf dem Altar auslag. Er besaß ein eigens gefertigtes Spezialmesser, welches ihm erlaubte, das Titelblatt mit einer einzigen blitzschnellen Handbewegung herauszutrennen, und zwar so überaus geschickt, dass selbst ein geübtes Auge nicht mehr erkennen konnte, dass sich an dieser Stelle je ein Blatt Papier befunden hatte. Der Urheber dieses seltenen Falls von Vandalismus und Buchfrevel war im Volksmund unter dem Namen Bookripper bekannt. Ich weiß nicht mehr, durch welches Missgeschick er schließlich zur Strecke gebracht wurde, sehr genau erinnere ich mich aber an sein Motiv. Er war auf der Suche nach der perfekten Titelseite, bei der einach alles stimmt: das Verhältnis von Höhe zu Breite des Blattes, die Art und Farbe der Schrifttype, die Proportionen der Zeilenlängen und Schriftgrößen, aber auch etwaiger Schmuckleisten und Ornamente bis hin zur harmonischen Einbettung eines Verlagssignets oder gar einer Illustration.

Heute hätte es ein solcher Titelseiten-Fetischist leichter. Er müsste nicht die Bücher selbst beschädigen, um seine Kollektion zu bereichern, sondern könnte sich mit Scans der edlen Buchtitel begnügen. – Mein Titelbild heute zeigt das Frontispiz (von Wilhelm Schulz) und die Titelseite von Leo Perutz: Die dritte Kugel. (München: Albert Langen, 1915.)

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (I)

Wednesday, 04. August 2010

hiobromaneineseinfachenmannesvonjosephroth

Listen gleich welcher Art müssen stets nach einem beherrschenden Ordnungsprinzip ausgerichtet sein, damit das einzelne Objekt, das in ihnen gelistet ist, schnell auffindbar bleibt. Meist sind die Objekte alphabetisch, gelegentlich auch numerisch geordnet, wobei in jedem Fall der ordnende Begriff, gleich ob Wort oder Zahl, als sog. Lemma am Anfang der Objektbeschreibung steht. Bei Bücherlisten ist es bewährte Tradition, dass Familien- und Vornamen des Autors eines Schriftwerks das maßgebende Lemma für die Sortierung bilden. Diese schlichte Konvention ist im Regelfall unproblematisch, birgt in Einzelfällen allerdings mancherlei Tücken.

Was, wenn ein Buch einen Autorennamen gar nicht vorweisen kann? An der altisländischen Edda haben vermutlich verschiedene Verfasser mitgewirkt, von denen Snorri Sturluson bloß ein zufällig namentlich bekannter ist. Auch das Nibelungenlied oder die Bibel haben entweder viele Autoren oder keinen. In solchen Fällen tritt üblicherweise der Titel als Lemma an die Stelle des Autors. Auch Lexika, Wörterbücher und ähnliche Nachschlagewerke sind meist das Ergebnis kollektiver Mitwirkung zahlreicher Beiträger, weshalb Duden oder Brockhaus unter ihren Titeln gelistet werden. Es sei denn, dass sich ein namentlich auf der Titelseite ausgewiesener Herausgeber um die Zusammenstellung der Texte aus verschiedenen Quellen besonders verdient gemacht hat. In diesem Falle gebührt ihm ersatzweise das Recht an der vakanten Autorschaft. Den Bärenanteil solcher Fälle machen Anthologien aller Art aus. In seltenen Fällen ist aber keinerlei Urheber eines Druckwerks angegeben. Die Verfasser politischer oder pornographischer Schriften hatten in weniger liberalen Zeiten gute Gründe, ihre Identität hinter einem Pseudonym zu verstecken oder solch heikle Bücher gleich anonym erscheinen zu lassen. Manchmal verbergen sich hinter einem fingierten Personennamen wie Nicolas Bourbaki auch ganze Autorenkollektive.

Der sorgfältige Antiquar wird bemüht sein, Pseudonyme zu lüften und auch die Autoren anonymer Werke zu ermitteln. Hierfür gibt es Nachschlagewerke und auch schon Listen im Internet. Grundsätzlich gilt aber für die sachgerechte Autopsie, dass zunächst lediglich jene Angaben zu vermerken sind, die dem vorliegenden Buch selbst entnommen werden können, genauer: der Titelseite; also nicht etwa dem Umschlag, Buchrücken oder -deckel. Alle Ergebnisse etwaiger detektivischer Nachforschungen des Antiquars sind in eckige Klammern […] zu setzen.

Mancherlei Tücken bergen zudem Namen aus fremden Sprachen. Die Akzente bei dem Franzosen Prosper Mérimée richtig zu platzieren ist noch eine vergleichsweise leichte Übung, da geht die korrekte Schreibweise des Tschechen Václav Beneš Třebízský schon etwas schwerer von der Hand. Immerhin ist mittlerweile die Darstellung selbst exotischer Sonderzeichen dank PC und Textverarbeitungs-Programm möglich. Verwirrung entsteht immer wieder bei ostasiatischen Autoren, weil Vor- und Familienname verwechselt werden. In der dortigen Namensordnung steht, ähnlich wie in manchen Gegenden Bayerns, der Familienname an erster und der Vorname an zweiter Stelle: Ono Yoko. Als die Japanerin im Okzident reüssierte, passte sie ihren Namen an und nannte sich hinfort Yoko Ono. Vorsichtshalber sollte man bei Japanern, Chinesen, Koreanern oder Vietnamesen immer prüfen, ob der Titel die konventionelle oder die westlich angepasste Reihenfolge wiedergibt, bevor man sich zum Beispiel für die Sortierung und Ablage unter „Ono, Yoko“ entscheidet.

Dass ein Autoren- oder Herausgeber-Name als entscheidendes Ordnungswort korrekt wiedergegeben werden muss, ist unmittelbar einleuchtend, denn als Lemma erfüllt er nur dann seine Funktion, wenn er das Objekt, das ihm zugeordnet ist, in jeder noch so langen Auflistung gleichartiger Objekte bequem auffindbar macht. Aber natürlich birgt der Name darüber hinaus noch weit mehr Erkenntnismöglichkeiten über das mit ihm verbundene Objekt. Was ist zur Biographie der Person zu ermitteln, die sich hinter diesem Namen verbirgt? Welche Werke hat sie gegebenenfalls noch verfasst oder herausgegeben? Und welche Rückschlüsse erlauben diese biographischen und bibliographischen Hintergründe auf das vorliegende Werk? – Mir wird bei dieser Gelegenheit bewusst, dass ich als Büchermensch vermutlich wesentlich mehr Namen von Autoren kenne, deren Bücher ich gelesen habe oder doch vom Hörensagen kenne, als Namen von Mitmenschen meiner realen Lebenswelt. Ist das befremdlich; oder gar erschreckend? Lebe ich, Schatten meiner selbst, auf weite Strecken aus zweiter Hand in einer irrealen Parallelwelt, auf Kosten der authentischen Realitätserfahrung?

Ich und der Grimme Online Award

Monday, 19. April 2010

unterholz

Wie ich gerade zu meinem maßlosen Entsetzen feststellen musste, ist mein Weblog für den diesjährigen Grimme Online Award vorgeschlagen worden. Dieser Preis wird seit 2001 vom Adolf-Grimme-Institut vergeben, um „Qualität im Netz“ zu fördern und die Aufmerksamkeit auf herausragende publizistische Online-Angebote zu lenken, die einem hochwertigen Qualitätsanspruch gerecht werden. So weit, so gut. Die Preise werden in den drei Kategorien – Information, Wissen und Bildung, Kultur und Unterhaltung – vergeben. Hier wird’s schon kitzlig, denn ich bin in allen diesen Ressorts aktiv und wüsste nicht, was mir am meisten am Herzen liegt: Die Vermittlung aktueller Informationen, begleitet von vertiefenden Analysen? Der Wissenstransfer im Dienste von Bildung, Beratung und Aufklärung meiner Leser? Oder deren Unterhaltung auf formal und inhaltlich hohem Niveau, durch die Darstellung kreativer Konzepte abseits des Meinstreams? Aber vielleicht ist ja gerade für solche Wanderer zwischen den Welten, Flaneure abseits ausgetretener Pfade wie mich die vierte Kategorie erfunden worden, der Grimme Online Award Spezial. Er prämiert innovative und qualitativ herausragende Konzepte und Beispiele für publizistisch relevante Web-Angebote sowie publizistische Einzelleistungen von besonderer Qualität, die den ersten drei Kategorien nicht zuzuordnen sind.

Obwohl jeder Internet-Nutzer und Online-Anbieter zwischen dem 15. Januar und dem 15. März 2010 jedes beliebige deutschsprachige Internetangebot vorschlagen konnte, zähle ich auf der nunmehr geschlossenen Vorschlagsliste nur 1.420 Webadressen. Das finde ich einerseits lächerlich wenig, soll es doch schon vor Jahren mehr als eine Million Weblogs in Deutschland gegeben haben. Andererseits ist es schauderhaft viel für die bedauernswerten sieben Mitglieder der Nominierungskommission, die nun vor der Aufgabe steht, alle eingereichten Vorschläge zu sichten und eine Vorauswahl zu treffen, die dann zur Preisfindung an die ebenfalls siebenköpfige Jury weitergereicht wird. Ich habe mir die Liste mit den 1.420 Links eben mal ausgedruckt. Sie ist 19 Seiten lang, obwohl ich die Schrift auf 8 Punkt heruntergedimmt habe. Da die Kandidaten strikt in der Reihenfolge des Eingangs aufgeführt werden, die letzten zuoberst, ergibt sich ein buntes Durcheinander. Ich stehe an Position 1.035, zufällig zwischen www.scoolz.de und www.karrierebibel.de. Dem „Schüler Magazin“ direkt vor mir fehlt schon im Untertitel was, nämlich ein Bindestrich. Im Forum geht’s dort um Penislängenvergleich und die Frage, wann endlich die Brüste wachsen. Von hinten raunt ein smarter Wirtschaftsjournalist mir ins Ohr, dass ich mich mit meiner speckigen grauen Kordjacke besser gleich ins Wachsfigurenkabinett, Abteilung Moorleichen begeben soll. Das ist Jochen Mai, Autor eines Buches namens Karrierebibel, in dem definitiv alles drinsteht, was ich für meinen beruflichen Erfolg, zum Beispiel als Blogger, wissen muss. Und da dieser ultimative Ratgeber gar nicht ultimativ genug sein kann, ergänzt Jochen Mai dessen Inhalte auf seiner gleichnamigen Website regelmäßig um die allerneuesten Erfolgsrezepte.

Ich bin weder jung im Sinne von Scoolz noch erfolgreich im Sinne der Karrierebibel. Wie konnte ich mich nur auf diesen Webcontest verirren? Wer hat sich diesen grausamen Scherz mit mir erlaubt? Und was kann ich dagegen tun?

Leider geben die Statuten des Preises keine Auskunft über einen Fall wie meinen. Vermutlich ist der durchschnittliche Blogger rattenscharf auf diese Auszeichnung. Ich wüsste ja gern, wie viele der übrigen 1.419 Online-Anbieter sich selbst beworben und wie viele einen guten Freund vorgeschickt haben, weil ihnen dieses Ranschmeißerische nicht so liegt. Rätselhaft ist ja übrigens auch, dass die Verantwortlichen beim Adolf-Grimme-Institut direkt nach Ablauf der Frist von zweitausend eingegangenen Vorschlägen tönten. Vielleicht gehören ja die fehlenden 581 Webadressen unbescholtenen Leuten meiner Kragenweite, die sich augenblicklich ans Institut gewandt und um Löschung ersucht haben? Oder der Dublettenabgleich wurde erst nach Herausgabe der Pressemeldung vorgenommen?

Sei es, wie es sei. Vielleicht lassen die Verantwortlichen des Grimme Online Award im Eduard-Weitsch-Weg ja in regelmäßigen Abständen eine promovierte Praktikantin nach „Grimme Online Award“ googeln. Die stößt dann vielleicht auf diesen Beitrag in meinem Blog und liest folgendes Statement: „Liebe Damen und Herren der Nominierungskommission des Grimme Online Award! – Lassen Sie sich von meinem Weblog www.revierflaneur.de nicht aufs Glatteis führen. Zwar ist sein äußeres Erscheinungsbild schlicht und bescheiden. Zwar drückt der Autor seine wenigen Gedanken klar und deutlich aus und bemüht sich dabei um die Einhaltung aller geltenden Regeln der deutschen Sprache und Schrift. Hinter dieser Fassade aus Wohlanständigkeit und Korrektheit tun sich jedoch Abgründe auf! Auf Schritt und Tritt lauern Anarchie und Aufruhr, Verführung der Jungen und Alten zu Trotz und Widerspruch, Verhöhnung der Werktätigen und Erfolgreichen, Leugnung gängiger Glaubenssätze, Zweifel an unumstößlichen Wahrheiten – und dies alles in so geschickter Tarnung, dass es Ihnen gar nicht aufgefallen wäre, hätte ich Sie hier nicht darauf gestoßen. Jede lautere Zweckorientierung, wie Sie sie in Ihrer Ausschreibung zum Ausdruck bringen, ist diesem Weblog wo nicht fremd, so doch verdächtig. Machen Sie sich und mich nicht unglücklich! Lassen Sie die Finger von diesem Blog! – Ihr Revierflaneur.“

Vom Ständer geschüttelt (I): DUMMY

Sunday, 18. April 2010

dummy

Immer schon habe ich mich für jene eher randständigen Periodika interessiert, die im Schatten der Massenpresse zwar ein karges Dasein fristen, dabei aber oft einen Wagemut und Erfindungsreichtum an den Tag legen, von dem die Großen nur träumen können. (Und wenn sie schlau sind, kupfern sie dort ab, was das Zeug hält. Bekanntestes Beispiel: Als die twen 1971 einging, war der Stern deren beste Kopie und schrieb sich von da an konsequenterweise stern.) Mehr noch als das Layout und die Bebilderung interessieren mich allerdings die Texte, die bei der Illustrierten-Kritik, wie könnte es anders sein, meist nicht in den Mittelpunkt der Bewertung gestellt werden. Manch augenfreundliches Magazin erweist sich dann bei näherer, lesender Erkundung als ein karges Stoppelfeld, auf dem Stotterer herumstolpern und sich doch Autoren nennen. – Ich werde ab heute sporadisch brandneue, bereits etablierte oder vor langer Zeit eingegangene Heftserien des deutschsprachigen Pressehandels vorstellen und mit dem Fokus auf ihre sprachliche Werthaltigkeit taxieren.

Den Anfang mache ich heute mit DUMMY, das sich im Untertitel „Unabhängiges Gesellschaftsmagazin“, manchmal auch „Das Gesellschaftsmagazin aus der Hauptstadt“ nennt und vierteljährlich jeweils zum Beginn der neuen Jahreszeit in einer Druckauflage von 45.000 Exemplaren erscheint. Das Heft hat das Format 222 x 287 mm und soll es auf einen Umfang von ca. 148 Seiten bringen. Mir liegt mit Nr. 26 das aktuelle Frühjahrsheft vor, das sich mit nur 114 Seiten bescheidet. Laut einer Umfrage vom März vorigen Jahres deckt sich die Leserschaft ziemlich genau mit den Sinus-Milieus der „Postmateriellen“ und „Modernen Performer“, die jeweils zehn Prozent der Bevölkerung in der BRD ausmachen. Es sind dies einerseits die aufgeklärten Nach-68er mit liberaler Grundhaltung, postmateriellen Werten und intellektuellen Interessen; andererseits die junge, unkonventionelle Leistungselite, die beruflich wie privat ein intensives Leben führt, auf Multi-Optionalität und Flexibilität Wert legt und sich für Multimedia-Technologie begeistert. Jetzt wissen wir, wer die Leute sind, die für ein solches Heft einmal im Quartal 6 Euro am Kiosk lassen (bzw. einmal jährlich 24 Euro zzgl. Porto und Versandkosten überweisen), was sie bei einem monatlichen Haushaltseinkommen von 2.500 Euro netto nicht allzu sehr schmerzen dürfte. Jedes Heft widmet sich einem auf dem Titel deklarierten gesellschaftlich relevanten Thema und wird von jeweils anderen Grafikern gestaltet. Sogar die Typographie des Titels DUMMY ist auf jedem Heft eine andere. Auf dem Mediadatenblatt des Magazins heißt es, DUMMY treffe „mit seinem publizistisch einmaligen Konzept […] punktgenau die Lebenseinstellung“ seiner Zielgruppen. Schon möglich, aber was genau an dem publizistischen Konzept nun so einmalig sein soll, wird nicht verraten. Themenheft-Magazine gibt es viele und gab es schon immer. Ich nenne nur als seit vielen Jahren erfolgreiche Beispiele zwei Hefte aus der Schweiz, das Du-Magazin und das Magazin Folio der Neuen Zürcher Zeitung; und das legendäre, von Benneton gesponserte Colors-Magazine von Tibor Kalman und Oliviero Toscani. Aber vielleicht darf man solch vollmundige Selbstanpreisung nicht allzu wörtlich nehmen. (Immerhin sollte Herausgeber Oliver Gehrs gelegentlich einmal veranlassen, dass das Wort „Millieu“ auf dem Datenblatt korrigiert wird.) Doch nun schauen wir uns ganz vorurteilsfrei an, was die DUMMY-Redaktion aus dem Thema „Provinz“ gemacht hat.

Noch vor dem Editorial überfällt sie uns mit einem Zitat aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels: „Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.“ Soll uns hier also mit Berufung auf die sozialistischen Klassiker die Gleichung Provinz = ländliche Gebiete = idiotische Bevölkerung aufgedrängt werden? Ganz abwegig ist das ja nicht einmal, denn laut Wikipedia bezeichnet Provinz wenigstens in der Umgangssprache „das Gebiet außerhalb der Hauptstadt oder an der Peripherie eines Landes, manchmal mit abwertender Konnotation: Da aktuelle Moden oder Sitten oft zuerst in den Städten auftreten und diese im ländlichen Raum noch wenig bekannt sind, gilt dieser als eine rückständige, ‚provinzielle‘ Gegend.“ Der Wert eines im besten Sinn aufklärerischen Magazins über Provinz könnte also etwa darin bestehen, mit solchen oberflächlichen Verallgemeinerungen und realitätsfernen Vorurteilen zu brechen und sich in der Provinz auf die Suche nach einer neuen, posturbanen Avantgarde zu begeben. Schaut man sich aber die fünf ernst zu nehmenden Textbeiträge des Heftes an, dann behandeln vier von ihnen tatsächlich den hinterwäldlerischen Idiotismus der Provinz, nämlich im schwäbischen Donzdorf, in einem Dorf in Märkisch-Oderland nahe Strausberg, in Bielefeld und in dem Dorf Bagwa in der Ukraine. Allein der fünfte Artikel führt aus dieser bedrückenden Engherzig- und -stirnigkeit hinaus und stellt uns das Deep Springs College in der kalifornischen Wüste vor, wo Elitestudenten neben ihrer akademischen Ausbildung Kühe melken und Felder bewässern, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren.

Womit aber füllt die DUMMY-Redaktion die übrigen zwei Drittel des Heftes? Da gibt es zur Einstimmung ein Interview mit dem Humangeografen Peter Dirksmeier, der gleich eingangs das Thema des Themenheftes abschießt, indem er die Frage verneint, ob es überhaupt noch einen Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, Metropole und Provinz gebe. Ein kurioser Sprachführer Kolonial-Deutsch aus dem Jahr 1916 wird vorgestellt, anhand von vier Seiten im Faksimile. Die zwei- und dreibuchstabigen Ortskürzel auf den Autonummernschildern der Republik haben die Redaktion zu einem despektierlichen Assoziationsspiel verleitet, mit peinlich unlustigem Ergebnis. Charlotte Roches Ex Eric Pfeil erinnert sich leider an die Wirkung seines provokanten Outfits als Pubertierender in Bergisch Gladbach. Eine Geschichte über das isoliert lebende Volk der Sentinelesen ist so dünn, dass sie nur noch mittels 16-Punkt-Schrift auf Artikellänge hochgefüttert werden kann. Das kommentierte Verzeichnis separatistischer Abspaltungen weltweit, von Abchasien bis Xinjiang, mutet mich ebenfalls wie ein von der Not abgepresster Lückenbüßer an. Und noch dünner wird die Luft! Streichholzschachtelgroße Bildchen und ein fußnotenartiger Textstreifen verlieren sich auf den Seiten über eine Pendlerin zwischen Berlin und Spremberg. Zum Ausklang erfahren wir auf einer Seite, was die Taliban ihren Frauen verbieten, in Gestalt einer Top-Ten-Liste, was nicht nur geschmacklos, sondern auch unsinnig ist, denn nach welchen Kriterien wurde denn die Reihenfolge von 1 bis 10 festgelegt? Den traurigen Abschluss bildet eine herablassende Kritik der Zeitschrift Landlust aus der Feder von Herausgeber Oliver Gehrs. Die Landlust tritt gewiss weit weniger ambitioniert auf als das DUMMY, hält aber vielleicht, was sie verspricht.

Einen Artikel habe ich bewusst noch nicht erwähnt, weil ich ihn für den versöhnlichen Abspann aufbewahren wollte, denn er ist der einzige, den ich wirklich gelungen finde. Vielleicht liegt das auch daran, dass er von einem journalistischen Profi verfasst wurde. Hartmut Palmer ruft sich unter dem Titel In einem fernen Land die Bonner Kneipe „Provinz“ in Erinnerung, in der in den 1980er-Jahren Gerhard Schröder und Joschka Fischer ihr Herz füreinander entdeckten. Dazu werden zeitgenössische Fotos von Axel Greinert gezeigt, an denen ich mich gar nicht satt sehen kann. Und hier blitzt sogar mal ein Erkenntnislicht aus dem Trüben. Nie habe ich die provinzielle Verspießerung der 68er so barrierefrei studieren können wie auf diesen Bildern. – Fazit: Das Heft wirkt auf mich, als wäre ihm die Puste ausgegangen und es traue sich bloß noch nicht, sich aus dem Rennen zu nehmen.

Antiquariat (II)

Thursday, 15. April 2010

paradisenow

Mehr als ein Vierteljahr ist nun ins Land gegangen, seit ich die Eröffnung meiner Firma – Manuel Hessling Antiquariat Revierflaneurhier bekannt gab. Unvorhergesehene Widrigkeiten aller Art hemmten meine Unternehmungslust ein ums andere Mal. Erst jetzt, so scheint’s, kann ich endlich Nägel mit Köpfen machen.

Heute habe ich die ersten hundert Bücher aus dem Lager gezogen, sie abgestaubt, durchgesehen, auf versteckte Mängel geprüft und auf ihren Verkaufswert taxiert. Ich stellte eine bunte Mischung zusammen, ließ mich dabei vom Zufall bestimmen, suchte nicht nach besonders wertvollen Preziosen. Schließlich sollte es ja ein represäntativer Querschnitt sein, den ich da sozusagen als Kostprobe an den Internet-Vertrieb melden würde. Wenn ich meine komplexen Gefühlsregungen bei dieser Arbeit auf einen einfachen Begriff bringen müsste, so würde ich sagen: Es beschlichen mich „gemischte Gefühle“ – und diese halten auch noch an.

Einerseits bin ich froh, mich nun endlich zu diesem Schritt durchgerungen zu haben: mich nämlich von einem großen Teil meiner längst über jedes vernünftige Maß hinaus angeschwollenen Bibliothek zu trennen. Andererseits sind mit manchem Buch, das ich in der Hand und in meinem Herzen wäge, so viele intensive Erinnerungen verbunden, dass es mir manchmal erscheint, als würde mit dieser Trennung ein Stück meiner eigenen Geschichte ausradiert.

Dies gilt besonders für Bücher, die ich noch als Jugendlicher von meinem schmalen Taschengeld gekauft habe. Nach langem Zögern und Zagen habe ich mich damals speziell zu diesem Buch durchgerungen und dafür auf ein paar andere verzichtet, die mit ihm konkurrierten. So war es zum Beispiel mit dem kleinen Bildbändchen The Living Theater – Paradise Now. (Ein Bericht in Wort und Bild. Text Erika Billeter. Fotos Dölf Preisig. Bern München Wien: Rütten+Loening Verlag, 1969.) Das habe ich vermutlich 1972 in einem Modernen Antiquariat an der Rüttenscheider Straße gekauft, für 3,95 DM statt 9,80 DM. Wie beneidete ich damals die lebensfrohen Akteure der Theatertruppe von Julian Beck (1925-1985) und Judith Malina (*1926). Ich hätte am liebsten mit meinen 16 Jahren die Schule geschmissen und wäre aufgebrochen, um mich diesen spielfreudigen Hippies anzuschließen. Wenn ich heute in dem Büchlein blättere, das ich schon seit vielen Jahren nicht mehr in die Hand genommen habe, dann fühle ich mich sofort wieder in diese Jugendträume hineinversetzt.

Ich schreibe 18,00 Euro hinein und verabschiede mich von ihm mit einem wehmütigen Lächeln. Vielleicht ist das viel zu teuer? Aber es ist mir lieb und teuer. Billiger gebe ich’s nicht her. Wahrscheinlich werde ich mit diesem Unternehmen auf keinen gründen Zweig kommen. Aber warten wir es ab.

Filmkritik-Kritik (I)

Tuesday, 13. April 2010

colinfirthinbank

Vorgestern habe ich mir an der Seite meiner Gefährtin in der Essener Lichtburg den ersten Film des Modedesigners Tom Ford angeschaut. Es waren auffallend viele attraktive junge Männer in Begleitung älterer Herren im Kino. Das ist erfreulich, denn heute kann kein Produzent mehr auf seine Kosten kommen, wenn er ausschließlich ein cineastisch motiviertes Publikum anspricht. Die mimische Leistung des Hauptdarstellers, Colin Firth als George Falconer, hat A Single Man eine Oscar-Nominierung eingebracht. Das internationale Echo auf den Film, nach dem gleichnamigen Roman von Christopher Isherwood von 1964, war durchweg positiv, und auch hierzulande war das Urteil nahezu einhellig. Einen „traumwandlerisch schönen, traurigen Film“ nennt ihn Rainer Ganserma in der SZ. Ein „bravouröses Regiedebüt“ hat Peter Zander von der WELT gesehen und bescheinigt dem Regisseur, Drehbuchautor und Produzenten Ford eine verblüffende Stilsicherheit. Harald Peters von der gleichen Zeitung spricht von einem „eigenwilligen, wundervollen Werk“. Für die Kritikerin der ZEIT, Anke Leweke, ist A Single Man nicht nur ein Film, der „schön anzusehen ist“, „sondern auch ein schöner Film“. Michael Althen schließlich stellt Fords Debüt in der FAZ gar in die Tradition eines Klassikers wie Le feu follet von Louis Malle. Selbst im linken Freitag, von dem man am ehesten angenommen hätte, dass er sich mit dem Sujet und insbesondere mit dem auf Hochglanz polierten Milieu dieses Streifens schwertun würde, findet Matthias Dell nur lobende Worte und die überraschende Einsicht, der Film sei „auf subtile Weise […] politisch.“

Wenn sich alle Welt in einem Urteil dermaßen einig ist, dann kann die Versuchung für einen kämpferischen Geist unwiderstehlich werden, trotzig das gerade Gegenteil zu behaupten. So gab’s auch ein paar Zuschauer, genauer: ein Zuschauerpaar in der Lichtburg, das ein Viertelstündchen vor Schluss des Films das Kino verließ. Während ich mich noch fragte, welche Erwartungen hier enttäuscht worden waren, hatte die Frau an meiner Seite schon eine Erklärung parat: „Die konnten es bestimmt nicht länger aushalten und mussten dringend heim ins Bett!“

Da sind die Gründe, warum Ekkehard Knörer vom Perlentaucher den Filmgenuss wohl auch gern vorzeitig abgebrochen hätte, offenbar ganz anders gelagert. Gleich im ersten Absatz seiner Besprechung nennt er A Single Man unverblümt ein „Machwerk“. Was seinen Kolleginnen und Kollegen gerade als der besondere Vorzug des Films erschien, die Perfektion des Designs bis ins kleinste Detail, das nennt Knörer mit Bezug auf dessen Optik „fortgesetzte platte Redundanzproduktion“, während seine feinen Ohren „von der maximal minimal [sic] pathetisierenden Musik“ gepeinigt wurden, dass er sich fühlte „wie mit nassem Handtuch geprügelt“. Die ästhetische Konzeption nennt er eine der „streng gescheitelten Trauerkloßhaftigkeit“; und unterm Strich muss er feststellen, „dass im Leben eines durch und durch falschen Films eine echte Regung ein Ding der Unmöglichkeit ist.“ Wer dächte da nicht an Adornos bekannte Sentenz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“? Und wenn man deren Kontext kennt, nämlich den 18. Aphorismus unter dem Titel Asyl für Obdachlose in Minima Moralia (Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin u. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1951, S. 55-59), dann trifft diese Assoziation ins Herz der Diskussion über diesen Film, denn hier wie dort geht es nach meinem Dafürhalten ums Wohnen der Unbehausten in einer keinen Schutz mehr bietenden Welt.

Wenn es in A Single Man eine Szene gibt, an die sich jeder erinnert, dann ist es jene Rückblende, in der Literaturprofessor George Falconer (Colin Firth) „am Telefon vom Tod seines Freundes erfährt und ihm beschieden wird, dass die Familie auf seine Anwesenheit bei der Beerdigung keinen Wert lege – wie er versucht, die Fassung zu wahren, wie er seine versagende Stimme zur Disziplin zwingt und wie ihn nach dem Ende des Gesprächs dann die bleierne Gewissheit in den Sessel drückt und seine Augen überlaufen lässt, während es draußen in Strömen regnet, ist so erschütternd, dass es quasi alles beglaubigt, was den Film sonst nur an der Oberfläche zu bewegen scheint.“ So hat es Michael Althen empfunden. Und nun halten wir dagegen, was Ekkehard Knörer gesehen hat und wie er es bewertet: „Die Szene, in der George Falconer am Telefon vom Tod des geliebten Mannes erfährt, wird als schauspielerische Glanzleistung gepriesen. Aber auch und gerade an ihr ist alles ausgestellt. Tom Ford setzt seinen Hauptdarsteller ins perfekt eingerichtete Bild und lässt ihn wie ein gelehriges Tier im Zoo echtes Gefühl performieren. Der tut das, ringt virtuos um Fassung, aber gelangt übers Klischee einer solchen Situation kein Jota hinaus.“ Und darauf folgt besagter Satz vom durch und durch falschen Film. Was hat Knörer denn eigentlich sehen wollen? Einen Dokumentarfilm?

Ich für mein Teil habe den Film genossen. Und jedem, der sich bei diesem Genuss selbst im Wege steht, darf ich mein aufrichtiges Beileid aussprechen.

Vorlesepein (II)

Sunday, 11. April 2010

glasbuchlese

Über die Frage, wie zeitgemäße „Dichterlesungen“ in Buchhandlungen und auf anderen Bühnen heute auszusehen haben, wurde jüngst im Branchenmagazin buchreport kontrovers diskutiert.

Prof. Dr. Stephan Porombka (*1967), der an der Universität Hildesheim Kulturjournalismus und Literaturwissenschaft lehrt, eröffnete am 7. März die Debatte, als er forderte, dass sich die Vermittler von Literatur bewusster mit der Medienkonkurrenz auseinandersetzen müssten: „Es wird zunehmend wichtig, Literatur weniger im reinen Sinn zu denken und sich stattdessen stärker gegenüber den anderen Künsten und Medien zu öffnen, um vor allem auch ein jüngeres Publikum zu gewinnen.“ Porombka wendet sich sodann gegen die klassische Autorenlesung, weil sie einen veralteten Literaturbegriff repräsentiere, der – so wörtlich – „aus der Perspektive der Mediengesellschaft überholt ist, weil er nicht den gegenwärtigen Umgängen mit Texten entspricht.“ – Mal davon abgesehen, dass es den Plural von „Umgang“ in der hier gewählten Wortbedeutung nicht gibt: Was ist denn der gegenwärtige Umgang mit einem Text, zum Beispiel mit einer Erzählung wie Bartleby von Herman Melville? Liest man ihn nicht mehr Zeile für Zeile, von links nach rechts? Und was muss man anstellen, um bei einer öffentlichen Präsentation dieses Textes dem gegenwärtigen Umgang zu entsprechen? Im Background eine Lightshow abfackeln? Den Text als Rap intonieren? Da kann ich nur den Schreiber Bartleby zitieren: “I would prefer not to.”

So ließ der Widerspruch nicht lange auf sich warten. Der Leiter des Literaturhauses Hamburg, Dr. Rainer Moritz (*1958), hält in seiner Entgegnung vom 7. April gar nichts von Porombkas forschen Forderungen, und zwar gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Konkurrenz in der hochtechnisierten Mediengesellschaft: „Wo die Literatur heute stärker denn je mit dem Internet, dem Film oder der Musik konkurriert, muss sie vor allem zeigen, dass sie ein Angebot macht, über das Internet, Film oder Musik nicht verfügen. Literarische Texte ernst zu nehmen und an ihre stille ästhetische Wirkung zu glauben heißt eben nicht, sie mit anderen Kunst- und Kommunikationstypen zu vermengen.“ Besser hätte ich es selbst nicht sagen können – und genau diesem Rezept bin ich bei meinen Literarischen Soireen stets treu geblieben, wenngleich ich im Verlauf eines Titanic-Abends mal ein Papiermodell des Luxusliners vorführte.

Porombka hatte, vermeintlich treffsicher, ein Schmähwort für die von ihm zum Anachronismus erklärte Veranstaltungsform gefunden. Er nannte sie „Wasserglaslesung“, weil neben dem Buch vor dem Autor meist nichts als ein Glas Wasser auf dem Lesepult steht – vorzugsweise kohlensäurefrei, damit der Rezitierende und seine Zuhörer nicht durch Rülpser vom reinen Textgenuss abgelenkt werden. Es bietet sich geradezu an, den Begriff als einen Ehrentitel aufzugreifen und in aller Unschuld offensiv für eine Reihe von bewusst schlichten Autorenlesungen zu verwenden, wie sie Moritz beschreibt, „wo es kein Brimborium, keine Musikbeschallung, keine Powerpoint-Präsentation, keine Weinverkostung gibt, allenfalls ein fundiertes Gespräch mit dem Autor, der zuvor seine Sätze auf die Zuhörer hat wirken lassen.“

Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass der Verzicht auf das besagte Brimborium allein noch nicht zwingend eine gelungene Lesung nach sich zieht. Und ich muss sogar einräumen, dass der größere Teil der vielen Wasserglaslesungen, die ich in meinem langen Leser- und Buchhändlerleben aussitzen musste, zum Weglaufen war. Doch daran hätte multimedialer Hokuspokus auch nichts geändert, vielleicht allenfalls davon abgelenkt.

[Hier geht es zum ersten Artikel dieser Folge: Vorlesepein (I).]

Einmal sterben reicht

Saturday, 10. April 2010

manfeyn

In den letzten Tagen habe ich vor dem Einschlafen ein äußerst unterhaltsames, vergnügliches, aufmunterndes Buch gelesen – das ich allerdings als Betthupferl nicht weiterempfehlen kann, denn es treibt einem die Müdigkeit aus. Sollte man zudem wie ich die Schlafstatt noch mit einer Bettgenossin teilen, so macht man sich durch gelegentliche unbezwingbare Lachanfälle unbeliebt. Die Rede ist von einer Sammlung autobiographischer Geschichten aus der Feder des US-amerikanischen Physikers Richard P. Feynman (1918-1988), die deutsch unter dem bezeichnenden Titel „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!“ erschienen ist. (A. d. Am. v. Hans-Joachim Metzger. München: Piper, 1987.)

Dabei hat Feynmans Erzählweise etwas an sich, was mich sonst auf die Palme bringen kann. Sie laufen nämlich in aller Regel darauf hinaus, dass uns Lesern keine andere Wahl bleibt, als Feynman unbedingt für den blitzgescheitesten, hinterlistigsten, witzigsten, unbeugsamsten und mutigsten Kerl aller Länder und Zeiten zu halten – kurzum für eins jener einsamen Genies, denen nur einer das Wasser reichen kann, nämlich ebenderselbe, und deren es in der besseren Gesellschaft des 20. Jahrhunderts mehr gibt als Einzelsocken in der Großwäscherei.

Tatsächlich war ich ungefähr bei Seite 80 nahe daran, das Buch wegen dieser nur notdürftig mit etwas Understatement gemilderten Posiererei aus der Hand zu legen. Doch dann beschloss ich, an Feynmans offenkundige Freude an der Selbstdarstellung für die restlichen 380 Seiten einfach keinen Anstoß mehr zu nehmen und mich ganz auf das zu konzentrieren, was er sonst noch, nämlich über den Rest der Welt zu sagen hat. Diesen Entschluss habe ich nicht bereut, denn er hat, was das betrifft, eine ganze Menge zu sagen. (Gegen Ende des Buches scheinen ihm übrigens selbst Gewissensbisse wegen seiner Protzerei gekommen zu sein, denn da treibt er das Understatement auf die Spitze, indem er zum Beispiel steif und fest behautet, dass der 1965 an ihn verliehene Nobelpreis für Physik ihm nur Ärger und Verdruss gebracht habe.)

Wenn ich die geistige Grundhaltung von Feynman auf einen einzigen Begriff bringen sollte, so würde ich sagen, er ist wo er geht und steht unorthodox. Wenn etwas stets und zu allen Zeiten auf diese Weise gemacht worden ist, und sei es mit den allerschönsten Erfolgen, so ist es für Feynman eine unabweisbare Herausforderung, es gerade auf eine völlig andere, womöglich entgegengesetzte Weise zu tun. Im schlimmsten Fall stellt sich heraus, dass es so nicht klappt, aber dann hat Feynman doch immer noch eine wertvolle Erfahrung gemacht. Wenn alle Welt behauptet, dass sich ein Tresor, der mit einer sechsstelligen Zahlenkombination verschlossen ist, nie und nimmer in einer halben Stunde öffnen lässt, dann führt Feynman einem staunenden Publikum ein ums andere Mal vor, dass er solche Tresore im Handumdrehen öffnet. (Wohlgemerkt handelte es sich dabei nicht um Geldschränke in irgendwelchen Banken, gefüllt mit schnödem Gold oder Geld, sondern um die Tresore in Los Alamos, die die Pläne für die ersten Atombomben enthielten, an deren Bau er mitwirkte.) Wenn er den Psychiatern der Musterungskommission Rede und Antwort stehen muss, um seine Tauglichkeit für die US-Army zu prüfen, antwortet er wahrheitsgemäß auf jede einzelne Frage, mit dem Ergebnis, dass er als „unnormal“ ausgesondert wird, und rekonstruiert dieses „Verhör“ zu unserer großen Freude Wort für Wort, damit wir nie vergessen, welch fragwürdige Größe die „psychische Normalität“ nach den Kategorien der Psychiatrie ist. Wenn er zu einem Kongress nach Japan eingeladen wird, verlässt er sofort die ausgetretenen Pfade des Wissenschaftstourismus und logiert gegen alle Widerstände nicht im Tagungshotel, sondern in einem Hotel im japanischen Stil, wo er nebenbei herausfindet, warum er bis dahin keinen Fisch gemocht hat und ihn nun ganz köstlich findet. Wenn alle Stammgäste einer Bar mit Oben-ohne-Tänzerinnen sich weigern, für den in Bedrängnis geratenen Besitzer einzutreten, weil sie um ihren guten Leumund fürchten oder sich einfach schämen, springt Feynman in die Bresche und kann nichts dabei finden, Nackttänzerinnen zu bewundern. Wenn Feynman in ein Gremium berufen wird, das die Freigabe neuer Mathematiklehrbücher zu verantworten hat, dann liest Feynman im Unterschied zu seinen Kollegen alle ihm vorgelegten Bücher gründlich von der ersten bis zur letzten Seite, findet sie überaus verbesserungsbedürftig und sorgt damit für einen Eklat. Und damit habe ich noch nichts über den Bongo-Trommler, den Aktzeichner, den Halluzinationsforscher, den Entzifferer eines Maya-Buches und über eine ganze Reihe weiterer Erscheinungsformen von Richard P. Feynman gesagt.

Da hat offenbar jemand in vollen Zügen ein sehr vielseitiges und unterhaltsames Leben gelebt. Und dazu passt auch, was Feynman kurz vor seinem Tod zum Besten gab: “I’d hate to die twice. It’s so boring.”

Sentimentale Reise, gelumbeckt

Friday, 09. April 2010

yorick

Worauf ich seit bald zwanzig Jahren warte, das ist endlich eingetreten. Der kongeniale Tristram-Shandy-Übersetzer Michael Walter (*1951) hat nun auch Laurence Sternes zweites großes, kleineres Werk ins Deutsche übertragen: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick (Berlin: Verlag Galiani, 2010).

Durch diesen Paukenschlag wurde ich erstmals auf den jungen Berliner Galiani-Verlag aufmerksam, der im vergangenen Herbst als Kiepenheuer&Witsch-Imprint von Wolfgang Hörner und Esther Kormann aus der Taufe gehoben wurde. Hörner hat selbst das Nachwort zu diesem Büchlein geschrieben, dem wir entnehmen, dass es schon mit der Übersetzung des Originaltitels – A Sentimental Journey trough France and Italy – ein Problem gab. Das Adjektiv “sentimental” war im Englischen ein Neologismus. Wie sollte man es ins Deutsche übertragen? Der bis heute meistgedruckte Übersetzer des Buches, Johann Joachim Christoph [nicht Christian, wie Hörner S. 328 fälschlich schreibt!] Bode (1730-1793), entlehnte hierfür das von Lessing gerade neu gebildete Wort „empfindsam“, das auf kurzem Weg bald zur Bezeichnung einer literarischen Bewegung herhalten durfte. Bodes Übersetzung wurde nicht nur viele Male neu aufgelegt, sondern auch von manchem vorgeblichen Neuübersetzer stillschweigend oder ausdrücklich zugrunde gelegt und lediglich modernisiert, wie Hörner in seiner Auflistung der überaus zahlreichen deutschsprachigen Ausgaben zwischen 1768 und 1963 vermerkt. Auch ich besitze eine solche Bode-Bearbeitung (Lawrence Sterne: Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Übers. v. J. J. Bode. Bearb. u. Nachw. v. Franziska Meister. M. e. Titelill. u. 39 Federzeichn. v. Curth Georg Becker. Hamburg: Dr. Ernst Hauswedell & Co., o. J. [1946]). Sie kann ich gelegentlich zum Vergleich hinzuziehen, denn der Neuübersetzung geht naturgemäß der Ruf voraus, sexuelle Anspielungen des Autors deutlicher werden zu lassen als Bode und seine Zeitgenossen und Nachfolger in einer noch so viel „keuscheren“ Ära – und es könnte durchaus interessant sein, diese Differenz im Einzelfall nachzuvollziehen. Doch darüber ein anderes Mal. Heute will ich mich nur mit der materiellen Ausstattung dieses neuen Buches befassen.

Als in den Jahren 1983 bis 1991 im Zürcher Haffmans-Verlag die Erstausgabe der Walter’schen Tristram-Shandy-Übersetzung erschien, da imitierte diese Ausgabe sogar die Editionsweise des Originals. Jenes wie diese erschienen über einen Zeitraum von acht Jahren in neun Einzelbänden. Nun hätte man auch bei der Sentimental Journey ähnlich verfahren und die beiden ersten Teile des fragmentarisch geblieben Werkes in zwei separaten Bänden erscheinen lassen können, aber dann wäre die Ausgabe vermutlich zu teuer geworden. Was ich nicht bitter genug beklagen kann, ist ein anderer Mangel. Der Nachtwächter Bonaventura hat in einer frühen Blog-Rezension die Ausstattung des Buches gelobt und mit einer Einschränkung als „vollkommen“ bezeichnet. Wie gern würde ich mich diesem Lob anschließen, doch die Einschränkung bedeutet nun einmal das Schlimmste, was man einem Buch überhaupt antun kann: Es ist gelumbeckt!

Was das heißt, habe ich an anderer Stelle bereits einmal deutlich gemacht. Auf alle anderen offensichtlichen Vorzüge des Einbands, die Bonaventura aufzählt, könnte ich dankend verzichten: auf den flexiblen, bedruckten Leineneinband, auf die abgerundeten Ecken und schon erst recht auf das modisch gewordene Lesebändchen, das ohnehin bald ausfranst und schmuddelig wird – wenn das Buch nur fadengeheftet wäre! Manchmal ersehne ich die Zeiten der Interimsbroschur zurück, wo ein fadengeheftetet Buchblock bloß in etwas stärkeres Papier eingeschlagen war. Damit ging man zu einem Buchbinder seiner Wahl und ließ das Buch nach den eigenen Vorstellungen prachtvoll in Leinen, Leder oder Pergament für die Ewigkeit einfassen, ganz nach Gusto und Geldbeutel – und nur dann, wenn der Inhalt diesen Einsatz verlohnte. Dies wäre ja in diesem Falle durchaus angeraten, denn das Buch besticht durch eine exquisite Typographie, eine exzellente Übersetzung, solide Anmerkungen und ein informatives, illustriertes Nachwort, wie Bonaventura richtig anmerkt. Desto bedauerlicher, dass es für den entscheidenden Lebensfaden, an dem doch alles hängt, nicht gereicht hat.

Wo bleibt die Initiative zur Rettung der Buchkultur, die sich auf die Fahnen schreibt, das elendigliche Lumbecken wenigstens bei wertvollen Büchern zu bekämpfen und vor allem die Buchkäufer für den kleinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen Lumbeck und Fadenheftung zu sensibilisieren? Sonst werden in hundert Jahren auch die wertvollsten Bücher aus unserer Ära nur noch eines sein: traurige Loseblattsammlungen!

[Titelbild: Federzeichnung v. Curth Georg Becker aus der erwähnten Ausgabe von Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, S. 122.]

Protected: Monte Verità

Thursday, 08. April 2010

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Gleichgewicht des Schreckens

Wednesday, 07. April 2010

trinity

Gestern haben US-Außenministerin Hillary Clinton (*1947) und US-Verteidigungsminister Robert Gates (*1943) ein neues Strategiepapier der Obama-Regierung zum zukünftigen Umgang ihres Landes mit Atomwaffen vorgestellt. Diese 2010 Nuclear Posture Review (NPR) gilt vorläufig für die nächten fünf bis zehn Jahre und wurde allgemein als ein Fortschritt auf dem Weg zu einer globalen atomaren Abrüstung begrüßt, wobei die Meinungen wie üblich auseinandergingen, ob es sich hierbei nun um einen kleinen oder großen Fortschritt handelt.

Ich persönlich musste wieder einmal feststellen, dass mein eigenes Wissen über diese für die Zukunft der Menschheit doch so existenzbestimmende Frage lückenhaft bis falsch ist. Ich hatte bisher nämlich angenommen, dass die USA als freiheitlicher und friedliebender Staat Atomwaffen nur dann einsetzen würden, wenn ein feindlicher Aggressor sie zuvor mit Atomwaffen angegriffen hätte oder ein solcher Angriff unmittelbar bevorstünde und anders nicht abgewendet werden könnte.

Nun lese ich in dem gestern veröffentlichten Fact Sheet des U. S. Department of Defense Office of Public Affairs: “The United States will not use or threaten to use nuclear weapons against non-nuclear weapons states that are party to the Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT) and in compliance with their nuclear nonproliferation obligations.” Mit anderen Worten: Die USA hätten bisher auch Staaten mit Nuklearwaffen angreifen können, die solche Waffen nicht einmal selbst besitzen, geschweige denn sie gegen die USA zum Einsatz gebracht hätten oder dies wenigstens angedroht hätten. Und auch nach der neuen Selbstverpflichtungs-Erklärung schließen die USA nicht aus, Staaten mit Nuklearwaffen zu attackieren, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben haben, ganz gleich ob diese nun über solche Waffen verfügen oder nicht (#2.1 des Fact Sheet). Zurzeit sind dies allerdings nur die beiden erklärten Atommächte Indien und Pakistan sowie die beiden „vermutlichen“ Atommächte Israel und Nordkorea. Wenn ich es recht verstehe, dann könnten die USA somit selbst nach den fortschrittlichen neuen Regeln ein Atombömbchen auf meine Heimatstadt fallen lassen, wenn Deutschland unter Einhaltung der dreimonatigen Kündigungsfrist seine Zugehörigkeit zum Atomwaffensperrvertrag aufkündigen würde.

Aber keine Panik! Schließlich wollen die USA künftig nur unter „extremen Umständen“ und zur „Verteidigung ihrer vitalen Interessen“ zu diesem allerletzten Mittel greifen (#2.2 des Fact Sheet). Was das genau heißen würde, möchte ich mir vorläufig nicht ausmalen. Schließlich gibt es ja Szenarios, mit denen man weitaus wahrscheinlichere Katastrophen heraufbeschwören kann. Da ist z. B. noch immer die ungeklärte Frage, wie die mit Kernkraftwerken bestückten Staaten einen terroristischen Angriff dieser unzureichend gepanzerten Objekte durch gezielte Flugzeugabstürz oder panzerbrechende Waffen verhindern wollen. Fest steht wohl, dass selbst in Deutschland mindestens sieben Reaktoren gegen einen solchen Anschlag nicht ausreichend geschützt sind (Brunsbüttel, Philippsburg 1, Isar 1, Biblis A und B, Neckarwestheim 1 und Unterweser). Wie es im benachbarten Ausland aussieht, etwa in Tschechien oder im mit AKWs geradezu bepflasterten Frankreich? Ich will es lieber gar nicht wissen.

Einerseits soll man auch kleine Fortschritte begrüßen, in einer Welt, die zu Hoffnung so wenig Anlass gibt. Andererseits darf man sich nicht durch solche kleinen Fortschritte darüber hinwegtäuschen lassen, wie weit wir noch immer von einer langfristig stabilen Friedenssicherung auf diesem Planeten entfernt sind.

Hörfunk (IV)

Sunday, 04. April 2010

nightflight

Gute Nachrichten für Alan-Bangs-Fans! Der Deutschlandfunk-Ableger DRadio Wissen hat den Meister der Popmusikansage – welch ein Euphemismus – zur Wiederbelebung seines legendären Nightflight gewinnen können.

In einer Preface-Sendung wurde Bangs von Nail Al Saidi und Julia Rosch in der „Redaktionskonferenz“ am 31. März 2010 zu seiner bewegten Geschichte am Mikrofon befragt. Man merkte dem zuletzt von den Sendern nahezu kaltgestellten Moderator an, wie sehr er den Augenblick dieses Comebacks herbeigesehnt hat. Und ich war erleichtert, ihn hier in alter Frische vernehmen zu können.

Was Bangs sagt, ist niemals nur so dahingesagt – und kommt ihm doch ganz entspannt über die Lippen. Da redet einer, der es nicht nötig hat, mit einem festen Konzept im Kopf durch die Sendung zu marschieren. Ein Gedanke ergibt sich organisch aus dem anderen.

Der Zuhörer wird mal zustimmen, mal anderer Meinung sein, das ist oft genug ja auch eine Frage des (Musik-)Geschmacks. Aber unterhaltsam sind diese nächtlichen Monologe immer gewesen. Das liegt zu einem guten Teil wohl auch daran, dass Bangs getrost darauf verzichten kann, seine Sendezeit mit langweiliger Faktenhuberei und degoutanten Skandalgeschichten zu füllen. In seinen besten Sendungen war die Musik schließlich nur der angenehme Ausgangpunkt für kluge Meditationen über Literatur und Kunst, die Liebe und das Leben, Ängste und Sehnsüchte, Versuchung und Verzweiflung, Glück und Unglück, Irrtum und Erlösung. Und es spricht einiges dafür, dass Bangs an diese schöne Tradition auf dem neuen Nightflight anknüpfen will. So hat er zum Beispiel angekündigt, in einer Sendung seine Begeisterung für Herman Melvilles Bartleby zu bekunden und zu erklären. (Damit rennt er bei mir natürlich offene Türen ein; vgl. meine XXIII. Literarische Soiree). Hoffentlich gewährt man ihm bei diesem Sender und in diesem Format die nötigen Freiräume, um seine unkonventionellen Spaziergänge durch die Popmusikgeschichte und -gegenwart ohne Fußfesseln und Scheren im Kopf unternehmen zu können.

Ab heute und künftig immer sonntags von 23:05 Uhr bis Mitternacht lauschen wir also neugierig bei DRadio Wissen auf Alan Bangs und seinen neuen Nightflight. Ich wünsche guten Start, weiten Flug und sichere Landung und werde hier sicher zu gegebener Zeit meine Meinung über das neue Hörfunk-Highlight kundtun.

[© Titelbild: Umschlagillustration von Lutz Kober zu Alan Bangs: Nightflights. Das Tagebuch eines Dee Jay. Düsseldorf u. Wien: Econ Verlag, 1985.]

Google fünf Jahre verspätet

Friday, 02. April 2010

googleverspaetet

Heute erfreut uns Google wieder einmal mit einem seiner lustigen Rätselbilder, die in unregelmäßigen Abständen die sechs bunten Buchstaben des Firmennamens aus chronikalischem Anlass verschönern.

Zum 2. April 2010 sehen wir also eine dunkelrote Blüte, der ein zwergenhaftes Mädchen im schulterfreien Abendkleid entspringt, zwei weiße Garnrollen und ein Nadelkissen mit sieben Stecknadeln.

Woran soll diese Kinderbuchillustration erinnern? Wenn wir mit dem Mauszeiger über das Bild fahren, werden wir schnell belehrt: „200ster Geburtstag von Hans Christian Andersen“ steht in dem ALT-Tag, das sich dann öffnet [s. Titelbild]. Klickt man auf das Bild, so erscheinen nacheinander noch vier weitere Illustrationen.

Nun weiß ich allerdings genau, dass der 200. Geburtstag des dänischen Märchendichters heute vor genau fünf Jahren gefeiert wurde. Ich selbst habe nämlich am 1. April 2005 eine Literarische Soiree zu seinen Ehren veranstaltet und mit meinen Gästen sozusagen in diesen Geburtstag reingefeiert.

Hans Christian Andersen wurde am 2. April 1805 (nicht 1810!) in Odense geboren, da beißt keine Maus einen Faden von ab. Google ist mit 100 Milliarden Dollar zurzeit die wertvollste Marke der Welt – und sollte nicht in der Lage sein, das korrekte Geburtsjahr eines weltberühmten Märchendichters zu ermitteln? Nun wurden die Andersen-Bilder nicht nur bei Google Deutschland, sondern auf allen Google-Homepages weltweit gezeigt – und natürlich auch bei Google Dänemark! Allerdings ist überall sonst die Datierung im ALT-Tag korrekt: „HC Andersens 205-års fødselsdag“ heißt es z. B. in Dänisch. Bloß die deutschen Google-Betreuer waren so bräsig, das Jubiläum um fünf Jahre abzurunden. Vielleicht mochten sie nicht glauben, dass ein so „unrunder“ Geburtstag wie der 205te solchen Aufwand rechtfertigte.

Erstlesealter (II)

Wednesday, 31. March 2010

dasroteu

Als im Zeichen des Krebses Geborener des Jahrgangs ’56 war ich zur Einschulung Ostern 1962 noch nicht alte genug. Aber längst war ich begierig darauf, das Lesen zu lernen, damit ich endlich unabhängig würde von meinen Vorlesern, den Eltern und der Großmutter. Anfangs hielt mein Vater dem Drängen noch stand und erbat sich Geduld, denn es hieß nicht ganz zu Unrecht, dass es riskant sei, den Kleinen vor der Einschulung zu viel beizubringen, denn sie könnten sich dann im Unterricht leicht langweilen. Schließlich gab er doch nach und zeichnete eine Tabelle. In der linken Spalte standen in seiner gestochen scharfen Technikerschrift die Druckbuchstaben in der großen und kleinen Version, in der rechten Spalte daneben ein Gegenstand, der mit dem betreffenden Buchstaben anfing: A für Apfel, B für Birne und so weiter bis Z wie Zigarette.

Zunächst kam ich nur quälend langsam voran, aber dann ging es immer besser. Und ehe ich mich’s versah, las ich einfache Texte wie die Bildunterschriften in den beiden dicken Wilhelm-Busch-Bänden nahezu so schnell wie ein Großer, wenngleich mir manches „schwere Wort“ doch noch ein Rätsel blieb.

Wohl zu meinem achten Geburtstag 1964 schenkte mir mein Vater dann meinen ersten richtigen Roman. Es war ein Jugendbuch von Wilhelm Matthießen (1891-1965) mit einem geheimnisvollen Bild auf dem Einband und dem nicht minder geheimnisvollen Titel Das Rote U. Er selbst habe dieses Buch als Junge gelesen und sehr spannend gefunden – und jetzt sei er gespannt, wie es mir wohl gefiele.

Inzwischen weiß ich, dass gerade im besagten Jahr eine überarbeitete Neuauflage dieses Jugendbuch-Klassikers erschienen war, mit neuen, zeitgemäßeren Textzeichnungen von Irene Schreiber. Das Rote U erschien zuerst 1932 im Hermann Schaffstein Verlag in Köln, damals und bis zum 117. Tausend mit dem Titelbild und den Textzeichnungen von Fritz Loehr. Insbesondere die Kleidung auf diesen Bildern, die Schiebermützen und die knielangen Jungenhosen, aber auch die Formen der Autokarosserien und ein Polizist mit Helm entsprachen nicht mehr der Wirklichkeit Anfang der 1960er-Jahre. Anlässlich der Neuausgabe wird der Verlag für das Buch geworben haben, mein Vater erinnerte sich an seine Jugendlektüre – und so fand Das Rote U den Weg in mein Kinderzimmer. Ich war ebenso hingerissen von der Geschichte wie die abertausend Kinder in den dreißig Jahren zuvor. Und die Pointe, dass ausgerechnet der von allen verachtete Klassenprimus Ühl sich hinter dem geheimnisvollen Roten U verbarg, war sozusagen das Ü-Tüpfelchen dieses Krimis.

Dass sich hinter dem Verfasser dieses wunderbaren Lesevergnügens allerdings ein übler Nazi verbarg, ein überzeugter Antisemit und Kirchenhasser, Verfasser solcher Hetzschriften wie Israels Ritualmord an den Völkern und Der zurückbeschnittene Moses (beide 1939), das habe ich erst viel später erfahren und mein Vater wusste es vermutlich auch nicht. Natürlich ist Das Rote U immer noch ein stiller Bestseller, längst auch als Taschenbuch bei DTV verfügbar. Dass auf der Website dieses seriösen Verlages in der ausführlichen Vita die politischen Abwege des Wilhelm Matthießen mit keiner Silbe erwähnt werden, ist schon einigermaßen erstaunlich. Noch kurioser finde ich es aber, dass auf der Website des Schaffstein Verlages Matthießen zwar als einer von sechs Jugendbuch-Autoren aufgelistet wird. Klickt man aber seinen Namen an, so erscheint die Auskunft: „Sie sind nicht berechtigt, diesen Bereich zu sehen. – Sie müssen sich anmelden.“ Wie das mit dem Anmelden funktionieren soll, bleibt aber ein Rätsel. So fordert der allererste Krimi meiner Kindertage mehr als vier Jahrzehnte später erneut meine Neugier und meinen Spürsinn heraus. Wie überaus spannend!

[Zur ersten Folge dieser Serie geht es hier.]

Ich werde immer daran denken

Wednesday, 31. March 2010

timmulrichs

Gestern noch, bei einem weiteren Besuch im Folkwang-Museum, fiel mein Blick vom neuen Eingangsportal über die Alfredstraße auf die zehn paarweise angeordneten Säulen in der kleinen Grünanlage neben dem Glückaufaus, deren Profile im schrägen Anschnitt gleich viele Buchstaben erkennen lassen: vier U, vier M, ein R, ein A. Diese unscheinbare Skulptur steht hier, fast versteckt oder immerhin doch gut getarnt, seit bald zwanzig Jahren. Hätte ich nicht aus verschiedenen Gründen ein besonderes Verhältnis zu ihr und ihrem Schöpfer, dann hätte ich sie auch gestern kaum wahrgenommen. Und selbst mir fiel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal auf, dass die Buchstabenflächen auf den sechs kleineren Säulen heller sind als die auf den hohen. Aus der Distanz von mehr als hundert Metern glaubte ich zunächst, dass dieser Eindruck bloß durch einen zufälligen Schattenfall hervorgerufen worden sei. Oder ist dieser farbliche Unterschied vielmehr auf Witterungseinflüsse zurückzuführen?

Gerade lese ich zufällig in der Zeitung, dass Timm Ulrichs, von dem diese Umraum betitelte Skulptur stammt, heute seinen 70. Geburtstag feiert. Meine erste persönliche Begegnung mit diesem Künstler hätte um ein Haar am Nikolaustag 1972 stattgefunden, denn da trat Ulrichs im großen Saal des Folkwang-Museums auf, im Rahmen der legendären Veranstaltungsreihe Selbstdarstellung, die der damalige Geschäftsführer des Kunstrings Folkwang ins Leben gerufen hatte. Mich hatte wohl wieder einmal ein Migräneanfall aus der Bahn geworfen – und so entging mir dieses Ereignis, von dem mir aber Freunde berichteten. Was ich verpasst hatte, wurde mir spätestens klar, als ich im Jahr darauf den Sammelband mit den Protokollen dieser Reihe in Händen hielt. (Selbstdarstellung. Künstler über sich. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath. Düsseldorf, Droste, 1973; über Timm Ulrichs S. 199-222.)

An Timm Ulrichs bewunderte ich von Anfang an, bewundere ich bis heute dreierlei: erstens seinen Ideenreichtum; zweitens seine Sorgfalt und Konsequenz bei der Verwirklichung; und drittens seinen speziellen, in seinen besten Kunststücken geradezu ontologischen Humor.

Dass er zudem ein überaus kämpferischer, für seine Überzeugungen mit allen Kräften eintretender Haudegen sein kann, das erfuhr ich anlässlich einer Jurysitzung, die ich als Zaungast verfolgen durfte. Beinahe wäre es zu dieser persönlichen Begegnung, 27 Jahre nach der ersten verpassten Gelegenheit, auch wieder nicht gekommen, denn diesmal war Ulrichs krank, lief mit tropfender Nase die präsentierten Bewerbermappen ab und schnäuzte sich alle paar Minuten – nein, nicht in Taschentücher, sondern in Klopapier, das er von einer aus den Toiletten des Hauses stiebitzten Rolle abriss.

Bei der großen Veranstaltung aus Anlass von Werner Ruhnaus 85. Geburtstag im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier traf ich Timm Ulrichs dann am 14. April 2007 wieder, dort entstand auch das Titelfoto. Mit Ruhnau hat Ulrichs ja eins gemeinsam: Beide wollen in der Künstler-Nekropole Kassel beigesetzt werden. Für Timm Ulrichs war jede humane Lebensäußerung, vom Haarwuchs bis zur Sonnenbräune, Inspirationsquelle seiner künstlerischen Tätigkeit, warum sollte also sein Tod da eine Ausnahme machen? Ich frage mich allerdings, ob der Gedenkstein, den er bereits 1969 für seine Grabstelle angefertigt hat, durch die neueren Bestattungspläne seine „Gültigkeit“ verliert? Er trägt die Aufschrift: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“ Das Spiel mit Paradoxien war schon immer eins der Grundmotive der vergänglichen Kunst von Timm Ulrichs. Und ich werde darum gern immer daran denken, ihn zu vergessen. Aber noch lebt er ja, und hoffentlich lange, denn ich habe zurzeit verdammt viel anderes, das ich mit aller Gewalt vergessen muss.

Protected: Verwechslung (II)

Wednesday, 24. March 2010

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Selbstbeschreibung (II)

Tuesday, 23. March 2010

manuel

Ich bin nun zehn Jahre älter als mein Vater je geworden ist. Das ist eine einigermaßen befremdliche Vorstellung, denn streng genommen folgt ja aus ihr, dass ich nicht mehr zu einem so viel älteren, erfahreneren, weiseren Mann aufblicken müsste, als der er mir erinnerlich ist, wenn ihn eine Zauberhand etwa für einen Tag aus dem Paradies, in dem er unzweifelhaft jetzt wohnt und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, in unser irdisches Jammertal zurückversetzen würde, sondern im Gegenteil ich diesem vergleichsweise jungen Spund die Welt erklären müsste, die sich in den seit seinem Tod vergangenen gut vierzig Jahren doch nicht wenig verändert hat.

In Sonderheit – welch schönes Wort! – seine Heimatstadt Essen würde ihn durch ihr vielfach gewandeltes Gesicht verblüffen und vielleicht auch erschrecken. Ich höre seine so liebe, so warme Stimme sagen: „Ach, das Hotel Essener Hof gibt es nicht mehr? Und was ist das da für eine Autounterführung vorm Ruhrkohlehaus? Hier stand doch früher die Stern-Brauerei, da roch es immer so unangenehm … und was ist das jetzt für ein Wolkenkratzer? Na, typisch, die Strommafia musste sich ja behaupten. Und diesen Gebäudekomplex nennt ihr also ,Rostlaube‘? Sehr passend. Das soll eine Universität sein? Da kann ich ja nur lachen. Ich jedenfalls würde da nicht studiert haben wollen. Und wo um alles in der Welt ist denn das schöne Althoff-Haus geblieben? Ach nee, Karstadt hieß das ja schon sechs Jahre lang, als ich so plötzlich abtauchen musste, oder besser: weggerissen wurde. Der Limbecker Platz ist jetzt also kein Platz mehr? Sondern ein untertunneltes Kaufzentrum? Sind die Essener den völlig verrückt geworden? Aber immerhin gibt es die Lichtburg ja noch. Gegenüber war Baedeker, wie heißt der Laden jetzt? Und sogar das Filmstudio neben dem Glückaufhaus ist noch da. In diesem Kino haben deine Mutter und ich, neun Monate vor deiner Geburt, den Film mit Spencer Tracy gesehen, von dem du deinen Vornamen hast: Manuel. Ach, lass uns doch mal zur Gruga fahren, wo deine Schwester auf der Rollschuhbahn ihre Kreise zog. Weißt du noch?“

Ja, ich weiß noch. Das war so laaangweilig! Ich bekomme schon Kopfschmerzen, wenn ich bloß daran denke. Und dieses Wehwehchen kann man ruhig Kotzschmerzen nennen, denn es drehte mir zuverlässig den Magen von zuunterst zuoberst. (Doch davon vielleicht später einmal.)

Nun mag man mich fraglos fragen können, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht in Essen, sondern beispielsweise in Hannover groß geworden wäre. Und wenn ich nicht 1956, sondern 1856 oder 1556 erstmals das Licht der Welt erblickt hätte. Und wenn ich nicht als Bub, sondern als Mädchen und nicht bei armen Leuten, sondern in einem wohlhabenden Hausstand und nicht mit kaputten Füßen, sondern kerngesund und nicht als Leuchte, sondern als trübe Funzel unter die Menschen gekommen wäre. Statt als unangepasster Bürger der BRD als angepasster Bürger der DDR? Aber was änderte das schon groß?

Hier stehe ich also, gehe ich also – bin wie ich bin und kann nicht anders.

Nichts ist älter (II)

Monday, 22. March 2010

stapel

… als die Zeitung von gestern. Ich weiß: Das hatten wir schon. Nun müssen wir aber noch hinzulernen, dass nichts näher liegt als die alte Zeitung aus Wien, zum Beispiel, der Wirkungsstätte von Karl Kraus. Von meinem findigen Massmedia-Navigator Conrad Kurzleb habe ich gelernt, dass man sich nimmer auf die überregionale Mainstreamjournaille verlassen soll. Oft wachsen die bundschillerndsten Sumpfdotterblümchen gerade auf den Glatzen der Provinzredakteure. Und so machte ich mir schon vor Jahr und Tag, neben zahllosen weiteren Zuträgern, meinen gutmütigen Wiener Freund Osram Gleißner gefügig, der mich seitdem in unregelmäßigen Intervallen mit den nach seinem maßgeblichen Dafürhalten spritzigsten Artikeln aus dem Kurier seiner Heimatstadt versorgt. Die schafft er notfalls auch durch Eis und Schnee heran, denn Osram hat sich auf ein sog. „Trafik-Rabatt-Abo“ verpflichtet. Und zwar „klebenslang“, wie er sagt, „da ich nicht weiß, wie das Kündjen funzioniert.“ Ich will ihm dann raten, einfach Hugo Portisch zu fragen, der sei ja bekannt dafür, komplizierte Vorgänge einfach zu erklären. Aber dann beiße ich mir jeweilen flugs auf die Zunge. Ich wäre ja schön blöd, mir durch diesen Tipp meine unregelmäßigen Zeitungsschnitzelzusendungen aus Wien zu verscherzen.

Bei Licht besehen ist der Kurier ja auch längst nichts anderes mehr als ein Produkt aus der Palette des WAZ-Konzerns direkt vor meiner Haustür. Und „Palette“ sollte man in diesem Zusammenhang besser in Anführungszeichen setzen, denn das Farbspektrum der unter diesem Dach versammelten Blätter reicht gerade einmal von hellocker bis mattbeige; was aber andererseits nicht ausschließen muss, dass gelegentlich ein dort erscheinender Artikel einen ganz eigenwilligen Farbreiz entfalten kann. Um nun schneller als erwartet auf den Punkt zu kommen: Mein Held des Tages heißt Peter Pisa und ist Kulturredakteur beim Wiener Kurier. Er hat sich einfallen lassen, oder sein Vorgesetzter hat ihn dazu gezwungen, am 29. Januar des Jahres Sándor Márais kleinen Roman Befreiung zu besprechen, der (aus dem Ungarischen und aus dem Nachlass übersetzt von Christina Kunze) kurz zuvor bei Piper erschienen ist.

Was dabei herauskam, darf ich getrost als staunenswert bezeichnen, ganz unabhängig davon, ob Márais Buch, der Anlass dieser Rezension, nun wirklich wert war, veröffentlicht zu werden. Schon der Einstieg ist eine Wucht: „Budapest wartet. Worauf warten die Menschen? Auf den Tod? Oder auf das Leben?“ – Und nur wenige Zeilen später erfahren wir, wie die Geschichte ausgeht: „Erzsébet tritt auf die Straße, vorbei an einem toten Soldaten der Roten Armee. Der hatte sie im Keller vergewaltigt. Er wirkte gar nicht böse. Hatte er gedacht, im Krieg vergewaltigen zu müssen? Erzsébet sagt auf der Straße: ,Es scheint, ich bin frei.‘ Niemand antwortet.“ Ist die Geschichte, an der Sándor Márai nach Auskunft des Rezensenten „gewiss nicht viel gefeilt“ hat, nun wert, von uns gelesen zu werden? Das Manuskript verstaute der Ungar, der sich dessen vermutlich auch nicht so recht sicher war, tief in einer Truhe in San Diego, bevor er am 22. Februar 1989 seinem Leben ein Ende setzte. Können wir Nachgeborenen uns nun ganz unvorbelastet an diesem literarischen Fund delektieren? Nein, denn „um sich über diesen Fund freuen zu können, musste nur noch der Schriftsteller wiederentdeckt werden. Das geschah Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Roman Die Glut.

In aller Unschuld spricht hier der Kulturredakteur des Kurier aus, was wir längst schon ahnten. Hätte es nicht 1998 das große Trara um Márais Roman Die Glut gegeben, wohl eines seiner schwächeren Werke, mit knapper Not dem Kitsch entkommend, dann würden keine gierigen Verlagsagenten in muffige Truhen hinabtauchen, auf der Suche nach einem Kassenknüller à la Kreuzung aus Márais Glut und dem zeitnah 2003 in der „Anderen Bibliothek“ erschienenen Dokument Eine Frau in Berlin von der Anonyma.

Das größte Rätsel der hier rezensierten Rezension bleibt aber ihr Titel: Leiden macht niemanden besser. (Ich gestehe, ich las erst falsch Leiden macht niemand besser. Also im Sinne von: „Die Leiderei kriegt niemand besser hin als Sándor Márai, diese melancholische Trauerfunzel.“ Aber da habe ich Pisa nun wirklich einmal Unrecht getan.) Macht denn Leiden nicht im Gegenteil immer besser? Ich immerhin hoffe doch sehr, dass mich das Leiden an dieser Buchbesprechung wenigstens ein kleines Stück weit optimiert hat.

Protected: Popularität (II)

Sunday, 21. March 2010

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Pedifest (II)

Sunday, 21. March 2010

hurryup

[6] Wenn ich die fünf Punkte meines Pedifests vom November 2008 heute wieder lese, so muss ich schmunzeln über mein damals offenbar nicht nur ironisch gemeintes Vorhaben, mich mit einem solchen Kredo des „Selbsttransporttechnikverweigerers“ an die Spitze einer neuen politischen Avantgarde zu stellen. Es fehlte zur Vereinsmeierei dann ja nur noch die Ausgabe von Mitgliedsausweisen und die Bestellung eines Kassenwarts.

[7] Und wenn ich mich gedanklich zurückversetze in den Urzustand einer frühesten Euphorie durchs Schreiben, vermutlich also in mein sechzehntes Lebensjahr, dann verdankte ich auch damals schon diese Hochstimmung an der Schreibmaschine dem Abfassen von grundstürzenden, blutrünstigen, weltverbessernden Pamphleten, Unglaubensbekenntnissen, Manifesten.

[8] Der feine Nervenkitzel bei der Niederschrift, die zur jedesmaligen Übertreibung noch immer abgefeimterer Unverschämtheiten inspirierende Nickligkeit, die trotzige Gegenfrage auf den doch so billigen Einwand, dass ich mich mit meiner über jedes vernünftige Ziel hinausschießenden Radikalität außerhalb jeder sozialen Verträglichkeit stelle („Na, und?“), ohne darauf je eine plausible Antwort zu erhalten – das waren die prägenden Erfahrungen meiner Jugendzeit.

[9] Die hätten mich für die praktischeren Lebensertüchtigungen eines reiferen Erwachsenendaseins gänzlich unbrauchbar gemacht, wäre meinem lebensmüden Versagenskonzept (ich schrieb damals an einem provisorisch Scheiterhaufen betitelten Abgesang) nicht die Treffsicherheit meiner Abermillionen Spermatozoen und die Empfängnisbereitschaft von fünf Oocyten in die Quere gekommen. Der Rest war peripatetische Abgeklärtheit.

[10] Und dann? Dann verlässt unsereiner eben (oder gern auch uneben) die abgezirkelten Wandelhallen, die sich einem experimentierfreudigen Gespinsthirn über kurz oder lang freilich als Labyrinthe weit eher denn als Schubladensysteme offenbaren, um hinauszuschreiten in eine yottabytebreite und -hohe und -tiefe Webspaceweite, die einen Anfang vor einer Adler nicht kennt, wohl aber ein Ende im Zufall.

Findling (II)

Saturday, 20. March 2010

platz2

Mein Bekenntnis zum Leben in dieser Unstadt namens „Revier“ gilt unverbrüchlich, trotz aller Anfeindungen selbst von Teilen meiner Nachkommenschaft, die mir verübeln, ihnen solch einen vermeintlich gesichts- und geschichtslosen Siedlungsraum zur Kulisse ihrer Kindheit und frühen Jugend aufgenötigt zu haben. Ich selbst fand es immer eher zweckdienlich, aus der Lokalität meiner Herkunft gerade keinen Stolz ableiten zu können. Die Städte, die hier zu einem großen Klumpatsch auf die hügelige Wald- und Wiesenlandschaft geschüttet wurden, gehen ineinander über und haben insofern nicht einmal eine Grenze. Wenn ich mit meinen Eltern Mitte der 1960er-Jahre aus dem Urlaub von der holländischen Nordseeküste heimkehrend in dieses Revier unter den grauen Himmel von Marxloh und Sterkrade abtauchte, dann wusste ich nie genau, ob ich nun noch in Oberhausen oder schon in Mülheim war.

So knüpfte sich mein Heimatgefühl immer schon einzig an den unmittelbaren Umkreis meiner jeweiligen Wohnstätten, Arbeitsplätze und Einkaufsgelegenheiten. Ich denke, man könnte mich in jede beliebige Stadt der Welt versetzen, ich würde es nirgends anders halten und mich nach einer Gewöhnungszeit von etwa einem halben Jahr dort heimisch fühlen. Und wozu soll denn übrigens auch sonst eine Stadtlandschaft gut sein, wenn nicht zur möglichst bequemen, möglichst unauffälligen Bereitstellung der fundamentalen Lebensgrundlagen? So wie ich im Traum nicht daran denke, meinen Schlafplatz in einem Museumssaal einzurichten, so wenig verlangt es mich danach, inmitten von Sehenswürdigkeiten beheimatet zu sein, die ohne Unterbrechung von einer Meute knipsender und juchzender Touristen heimgesucht werden. Venedig kann sehr kalt sein? Venedig markiert vielmehr schon lange den absoluten Minuspunkt sozialer Thermik.

Der Wartberg-Verlag in Gudensberg-Gleichen hat zwei erfolgreiche Buchreihen aufgelegt, die dem Bedürfnis der Menschen entgegenkommen, sich im gleichförmigen Strom der Zeit und im konturlosen Einerlei ihrer lokalen Herkunft doch in einer individuellen Besonderheit wiedererkennen zu können. Auf dass ich mich in meinem zufällig vor bald 54 Jahren begonnenen irdischen Dasein nicht ganz so einsam fühle, bietet mir der Wartberg-Verlag den Band Wir vom Jahrgang 1956 – Kindheit und Jugend an. Und damit ich weiß, dass ich als Kind und Jugendlicher in meiner Heimatstadt nicht ganz so einsam war, wie ich mich zeitweise fühlte, gibt es aus dem gleichen Verlag das Büchlein Aufgewachsen in Essen in den 60er und 70er Jahren. In diesen beiden reich illustrierten Bänden wird mir zum Gesamtpreis von 25,80 € das lauwarme Gefühl einer Gemeinschaftlichkeit angetragen, die sich allerdings bei näherer Einlassung eher als Wechselbad erweist. Vielleicht rührt diese Ambivalenz ja aber auch bloß daher, dass ich eben kein „waschechter Essener“ bin wie Walter Wandtke, der Journalist und Autor letztbesagten Büchleins, der laut Klappentext seit 20 Jahren das Essener Stadtgeschehen beobachtet und mich mitnehmen will „auf eine authentische Reise durch die Kindheit und Jugend der 60er und 70er Jahre“ in meiner Vaterstadt.

Wenn die persönliche Ursprungsstätte schon so gar nichts an außergewöhnlichen Besonderheiten aufzuweisen hat, dann müssen eben wohlfeile Wiedererkennungswerte über den Frust hinwegtrösten, aus einer Gegend zu stammen, die im internationalen Vergleich eher als No-Name-Produkt durchs Raster anspruchsvollerer Provenienzwettbewerbe fällt. „Essen – Die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt!“ So verspricht es uns Essenern der Wartberg-Verlag auf der Rückseite seines „Aufgewachsen-in-Essen“-Buchs. Aber der gleiche Slogan steht mit zuverlässiger Regelmäßigkeit auch auf den übrigen Büchern der Reihe: „Aachen, Aschaffenburg, Bamberg, Bielefeld, Bochum, Bonn, Braunschweig, Bremen, Celle, Chemnitz, Darmstadt, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Freiburg, Fürth, Gelsenkirchen, Gera, Gießen, Göttingen, Halle, Hamburg, Hamm, Hannover, Heilbronn, Ingolstadt, Jena, Kaiserslautern, Karl-Marx-Stadt, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Koblenz, Köln, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Ludwigshafen, Lüneburg, Mainz, Mannheim, München, Münster, Neuss, Nürnberg, Ost-Berlin, Paderborn, Pforzheim, Regensburg, Rostock, Schwerin, Solingen, Ulm, Velbert, West-Berlin, Wiesbaden, Wolfenbüttel, Wuppertal und Würzburg – die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt.“

Mit gleichem Recht könnte man etwa auch sagen: Nichts ist gleichförmiger als die vermeintliche Differenz! Oder noch allgemeiner: Nichts ist trivialer als des Menschen sterbliches Streben nach Originalität.

[Titelbild: © Stadtbildstelle Essen, hier als Ausschnitt gescannt von dem besprochenen Band © Wartberg-Verlag.]

Aus der Mitte (II)

Saturday, 20. March 2010

bloodygolfballs

Marcus von Hochstengel schätzt diese verregneten Wochenenden im Spätwinter nicht sehr, wenn er einerseits die Schnauze voll hat vom Indoorgolfen, andererseits aber die Trainingsbedingungen unter freiem Himmel an Kneippsches Wassertreten erinnern und der Trolley alle nasenlang im Morast steckenbleibt. Zudem hat er schlecht geschlafen wegen dieser schwelenden Steuersache, die noch längst nicht ausgestanden ist. Jetzt ist schon von tausendeinhundert Verdächtigen die Rede, die die Fahnder einen nach dem anderen unter die Lupe nehmen wollen. Eigentlich vertraut er ja dem Rat seines in fiskalischen Angelegenheiten wesentlich beschlageneren Bruders. Max meint, dass er sich notfalls auf seine tragisch verunglückte Frau zurückziehen soll. Aber dass er so eine Strafe vermutlich abwehren kann, ist ja nur die eine Seite der Medaille und auch eine saftige Steuernachzahlung kein Zuckerschlecken.

Immerhin steigt von Hochstengels Laune, wenn ihm wieder einfällt, dass er die bald sechsjährige Tochter nun endlich in einer Privatschule bei Luzern hat unterbringen können. Das verwöhnte Blag hat ihm in den vergangenen Wochen wahrlich den allerletzten Nerv geraubt. Gerade jetzt wieder vernimmt sein feines Ohr, dass Naomi beim BattlefieldSpielen im Salon auf ihrem Laptop reihenweise Heckenschützen des Vietcong eliminiert.

Aber die pinkfarbenen Koffer seines halbverwaisten Töchterchens stehen gepackt in der Empfangshalle. Spätestens in einer Stunde müsste Kurt mit dem Wagen zurück von der Waschanlage kommen und ihn erlösen. Dann bräche der Chaffeur mit Naomi Richtung Schweiz auf. Marcus von Hochstengel konnte noch nie so recht glauben, dass sich Karoline diesen Wechselbalg tatsächlich bei ihm eingefangen hatte. Weder die Segelohren noch die engstehenden Augen kamen bei seinen gräflichen Ahnen vor. Und schon gar nicht hatte Naomi diese hässlichen Ausrutscher ihrer Physiognomie von ihrer unseligen Mutter geerbt. Deren tadelloses, nahezu berückend schönes Äußeres war ja schließlich der einzige Grund gewesen, warum er Karoline Dorffmann vor den Traualtar geführt hatte.

Von Hochstengel beschließt, sich die Zeit bis zu Kurts Rückkehr mit einer Trainingsstunde in seiner Fitnesshalle zu vertreiben. Hinter seiner Tischtennisplatte ist eine Ballwurfmaschine aufgebaut, die wahlweise Konterbälle, Unterschnittbälle, hohe Abwehrbälle und Topspins servieren kann, von soft bis superhart. Marcus geht in Abwehrstellung und legt den Schalter um. Er hat diesmal nicht den Hauch einer Chance.

Dass es Naomis Idee gewesen sein sollte, das Magazin der Wurfmaschine zur Abwechslung mal mit Golfbällen zu befüllen, das konnte sich der herbeigerufene Hausarzt „eigentlich nicht vorstellen“. Die Reise nach Luzern wurde angesichts dieses tragischen Unglücksfalls zunächst einmal abgesagt.

Habent sua fata libelli (II)

Friday, 19. March 2010

azorno

Dieser Tage ist Nr. 74 von Das Schreibheft erschienen, ein Heft zu Ehren der Lyrikerin und Alfabetkünstlerin Inger Christensen (1935-2009).

Meine erste Begegnung mit dem einzigartigen Werk der Dänin ereignete sich vor über dreißig Jahren. Weil mir damals nur sehr wenig Geld zur Verfügung stand, kaufte ich gern aus den Ramschkisten. Es erwies sich, dass dort oft Bücher angeschwemmt wurden, die für durchschnittliche Leser offenbar „zu schwierig“ waren. So kommt es, dass seit dem 24. Oktober 1979 der schmale Roman Azorno in meinem Regal steht. Statt 6,00 DM erwarb ich ihn für nur 2,95 DM. Die Übersetzung von Hanns Grössel aus dem Jahr 1972 ist die erste deutsche Buchausgabe von Christensen überhaupt und sollte es für lange sechzehn Jahre auch bleiben. Sie erschien in der avangardistischen „Reihe Fischer“, die 1970 mit Daniil Charms Fälle aufgemacht hatte. Die großen Verlage leisteten sich damals noch solche ambitionierten Extravaganzen. So gab es seit 1968 die quietschgelbe „Reihe Hanser“, seit 1970 die „Sammlung Luchterhand“ in ihren Klarsichtfolienumschlägen, seit 1972 in schrillem Pink „Das Neue Buch“ im Rowohlt-Verlag und so fort.

Der Pappeinband von Azorno in komplementärem Lila und Grün ist so grell gestaltet, dass es fast in den Augen schmerzt [s. Titelbild]. Über die Arbeit an diesem Roman von 1967 hat sich die Autorin 1986 in einem Gespräch mit Jan Kjærstad so geäußert: „Die ersten Seiten sind extrem langsam geschrieben. Sie haben sehr lange gelegen. Dann war der Rest des Buches plötzlich in drei Wochen fertig, mit verschlossener Tür, kein Unterschied zwischen Tag und Nacht, wieder und wieder dieselbe Schubert-Platte gespielt, fast in einer Stimmung wie der Welt abhanden gekommen.“ (Eine Kombination von der Welt und mir selbst. Jan Kjærstad im Gespräch mit Inger Christensen. A. d. Norw. v. Angelika Gundlach; in: Schreibheft Nr. 74, März 2010. Essen: Rigodon Verlag, 2010, S. 133.) – Aber welche Schubert-Platte denn?

Viel später, am 1. November 2003, las ich auf meiner neunundneunzigsten Literarischen Soiree aus Inger Christensens großem Gedicht das von 1969, das soeben im Verlag Kleinheinrich erstmals in deutscher Übersetzung, wiederum von Hanns Grössel, erschienen war. (Auf der Rückseite des deutschen Azorno-Bändchens war der dänische Titel Det übrigens provisorisch noch mit Es eingedeutscht worden.) Und neulich erst fischte ich wieder ein Romänchen von Christensen aus dem Ramsch, Das gemalte Zimmer, im Original erschienen 1976, zwanzig Jahre später dann in deutscher Übersetzung, überflüssig zu sagen von wem. Dafür zahlte ich 3,95 €, statt der ursprünglich verlangten 22,80 DM. Bücher haben nicht nur ihre wechselvollen Schicksale, sondern auch ihre wandelbaren Preise.

Und so lautet der vorletzte Satz von Azorno: „Als der Park zugemacht werden sollte und der Springbrunnen zusammensank, so daß die Wasseroberfläche ruhig wurde, entstand einen Augenblick Stille, alles wurde still, doch nie völlig still, da das Geräusch der Bewegungen von den vielen Menschen rasch zunahm, da das Geräusch all dessen, was ich geschrieben hatte, rasch zunahm und meiner Erlebnisfreiheit Grenzen setzte, aber in der Stille dieses Augenblicks standen wir auf, hörte ich die ganze Zeit Batsebas Atem und küßte sie, in diesem Augenblick, als wir einander küßten, erlebten wir zum erstenmal in unserem Leben die milde Abendluft.“ (Azorno, a. a. O., S. 97.)

Heute (II)

Thursday, 18. March 2010

pflastersteine

Heute sind 617 Tage nach Heute (I) vergangen, rund zwanzig Monate und zweieinhalb Wochen, oder etwas weniger als ein 32stel (schreibt man orthografisch richtig so?) meines bisherigen Lebens. Vor ein paar Tagen hielt ich noch für möglich, dass meine Tage gezählt sein könnten: Blut im Urin! Nach allerlei mehr oder weniger unangenehmen, mehr oder weniger interessanten Inspektionen meines Urogenitaltrakts beim Facharzt weiß ich nun: Meine Nieren sind bis auf ein paar harmlose Zysten ohne Befund, meine Prostata ist für mein Alter eher ungewöhnlich klein, meine Harnblase zeigt nicht die Spur einer gut- oder gar bösartigen Geschwulst. Für das Blut gibt es also keine rechte Erklärung, was ich einerseits beruhigend, aber andererseits doch auch nicht restlos zufriedenstellend finde. Wäre ich ein Tier, würde ich vermutlich an meiner blassrot gefärbten Pisse geschnuppert haben, leicht irritiert, um dann zur Tagesordnung überzugehen, etwas verstört für den Moment, sorglos für den Rest meiner Tage. Da ich aber ein Mensch bin, malte ich mir aus, wie schrecklich meine verbleibende, kurze Zukunft nun werden könnte, nachdem ich die niederschmetternde Diagnose erfahren haben würde: unmittelbar bevorstehendes Nierenversagen oder Prostatitis oder Blasenkrebs oder alles zusammen oder von jedem etwas, jedenfalls nur noch ein stetiges Abwärts ohne Hoffnung. Das ist nun mal die hässliche Kehrseite der Medaille, in deren Vorderseite ich die schöne Welt spiegeln kann, als ein beliebiges Exemplar des ersten vernunft- und phantasiebegabten Hirntiers auf Terra, mit der Begabung zum sprach- und schriftlichen Ausdruck. Pling!

Heute nutzte ich das erstmals frünglingshafte Wetter, das mir im Fall einer bitteren Diagnose sicher wie der blanke Hohn erschienen wäre, nun aber meine ohnedies gute Laune noch um einen weiteren Hub liftete, zu einer kleinen Exkursion mit Lola in den Wald und an den Bach, wo ich zahlreiche Fotos machte und dabei schon im Voraus litt, weil ich wusste, dass es schwer werden würde, mich für eins von ihnen zu entscheiden, als Titelbild für diesen Artikel über heute, den 18. März 2010. Anschließend schoss ich mich aus dem Grünen ins Graue, mitten hinein in die europäische Kulturmetropole des Jahres, die City von Essen, und dort zunächst in die Stadtbibliothek im Gildehofcenter, wo ich Bücher über Joseph Roth und Jan Vermeer zurückgab und jeweils zwei Bände aus der Robert-Walser- bzw. Hermann-Broch-Werkausgabe auslieh; dann in die Buchhandlung proust dicht nahebei, wo ich das vorbestellte und druckfrisch eingetroffene Buch Verirren von Kathrin Passig und Aleks Scholz abholte und mit der geistreichsten Buchhändlerin Westdeutschlands ein Pläuschchen hielt: über die Leipziger Buchmesse, die heute eröffnet; über Lenka Reinerová (1916-2008), die letzte Prager Autorin deutscher Sprache, die im stolzen Alter von 90 Jahren als „Jahrhundert-Zeugin“ neben Johannes Heesters und anderen Urgesteinen 2007 zur Buchmesse in Leipzig aufgetreten war, der einzigen, die Beate Scherzer bisher besucht hat, wobei Reinerová klargestellt habe, dass sie mitnichten die letzte noch lebende Zeitzeugin sei, die Franz Kafka (1883-1924) noch erlebt habe, wie aus den Lebensdaten beider doch unmittelbar erhelle, was so nicht ganz stimmt, denn die achtjährige Reinerová hätte durchaus an den vierzigjährigen Kafka noch eine Erinnerung bewahrt haben können. Knirsch!

Heute überschlugen sich wieder einmal die Ereignisse in meiner weitverzweigten Familie, aber das gehört nun einmal nicht hierher. Wenn ich davon berichten und darüber schreiben dürfte, wäre dieses Weblog vermutlich noch um einiges wertvoller als Zeugnis der Zeit. Klatsch!

Heute meldet die Zeitung vom Tage mir leider nichts, denn sie wurde mir nicht zugestellt. Oder, wenn sie mir zugestellt wurde, dann erreichte sie mich immerhin nicht. Jedenfalls fand ich sie nicht vor im Briefkasten neben der Haustür, noch im zusätzlich angebrachten Briefkasten im Carport der Vermieterin neben dem Haus. Und nachdem ich bei einer stark verschnupften Call-Center-Mitarbeiterin das Ausbleiben meiner Süddeutschen Zeitung reklamiert hatte, die mir deren Nachlieferung fest zusicherte, warte ich jetzt um vier Uhr nachmittags immer noch auf deren Eintreffen. Ob dies nun an der mangelhaften Zustellung liegt oder anderer Erklärungen bedarf, das weiß ich noch nicht, aber ich werde es zweifellos herausbekommen, denn meine Neugier ist ebenso phantasievoll wie hartnäckig. Immerhin versorgt mich die SZ ja auch online mit den wichtigsten Nachrichten vom Tage. Vielleicht sollte ich die monatlichen 43,90 € doch künftig einsparen? Raschel!

Heute werde ich in Robert Walsers Prosa aus der Berliner, Bieler und Berner Zeit stöbern, ein weiteres Mal mit Lola in den Wald gehen, dazu überirdisch schöne Musik hören, mit meinem jüngsten Sohn Tortellini a la Manuele essen und dann … Seufz!

Lichtblicke (II)

Wednesday, 17. March 2010

lichtblick

Hier stehe ich nun erstmals im Dunklen. So schön ich meinen Artikel vom Juli 2008 über die schlampige Simenon-Übersetzerin (1990) und den in diesem Einzelfall nicht minder schlampigen ZEIT-Kolumnisten (Januar 2008) immer noch finde – und so sehr es mich nach wie vor tröstet, dass mir immerhin ein vereinzelter elmore, und nun wohl für alle Ewigkeit, in meiner Indignation Gesellschaft leistet: Welche Fortsetzung ist zu diesem Klageschrei denkbar, der in einen klitzespitzen Juchzer mündete?

Die von mir dort monierten Zersetzungserscheinungen der Sprache in den Weblogs: das haarsträubende Kauderwelsch der dumpf schmatzenden, glucksend delirierenden Analphabeten aus der zweiten Reihe, das Gestotter und Gestammel, Gemecker und Gemümmel unberufener Tastenschinder – all diese zum Himmel stinkenden Unerfreulichkeiten, die den Ehrentitel „Satz“ nicht verdienen, haben sich erwartungsgemäß unterdessen noch immer weiter aufgesteilt. Man schaut nicht mehr drüber über diesen Mount Unflat, halb aus Nichtwollen, halb aus Nichtkönnen geschissen und geschmiert.

Lichtblicke? Einen Karl Kraus der Blogosphäre habe ich noch nicht entdeckt – was aber nicht viel heißen muss, denn der weltweite Netzraum von heute ist nicht annähernd so überschaubar wie der Zeitungsmarkt der österreichischen k. u. k. Monarchie vor hundert Jahren. Ich bin schon froh, wenn ich gelegentlich Weblogs aufspüre, die wenigstens die Standards der besseren Printmedien erfüllen, was Orthografie und Interpunktion, Grammatik und Syntax, Wortwahl und Stil betrifft – und die stammen dann leider meist von Nischennistern, Nerds und Geeks, deren Anliegen ich für so randständig halte, dass mich ihr rechtschaffenes Bestreben kaum mit dem sonstigen Tiefstand der Blogsprache versöhnen kann.

Aber was nicht ist, kann ja noch werden, und so will ich diese Rubrik vorläufig am Köcheln halten. Nach einem Winter, den selbst ich – der die meteorologischen Laiendiskurse meiner Mitmenschen an den Unterstellhäuschen der öffentlichen Personennahverkehrsmittel als ununterbietbar sinnfreien Neodadaismus erleidet und in Zeiten, da sich das Klima wandelt, Wettermäkeleien geschmacklos nennt – zuletzt doch als reichlich nervtötend empfand, passt es zudem sehr gut zum ersten frühlingshaften Tag des Jahres und seinen auf die Mauern der Stadt gespritzen Sonnenflecken, wenn ich die Hoffnung auf Lichtblicke auch in virtuellen Sphären, wenigstens für ein Weilchen noch … wachhalte.

Und einen ganz kleinen literarischen Lichtblick möchte ich zum Abschluss dieser Überbrückungshilfe doch noch beisteuern, wenngleich nicht aus einem Blog, sondern ganz konventionell aus einem Buch. Ich habe unterdessen entdeckt, dass besagter ZEIT-Kolumnist schon früher einmal über Georges Simenon geschrieben hat, über dessen Roman Betty, dann auch über Die grünen Fensterläden, was wohl seine bzw. seines Kumpanen Claus Philipp Lieblingsromane von diesem Autor sind. (Tod eines Schauspielers; in Franz Schuh: Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2006, S. 170-179.) Soll ich es nun Zufall oder Vorsehung nennen, dass Schuh gerade in diesem Stückle auf die Rolle des Übersetzers zu sprechen kommt? Er zitiert zunächst eine Passage über den Nerz, den Bettys Gatte seiner Frau spendiert, um dann anzumerken: „Simenons Pelzmantelsatz, übersetzt von Raymond Regh, macht winke, winke mit dem Zaunpfahl.“ Lichttupfer auf einem Zaun habe ich fürs Titelbild leider nicht herzaubern können. Stattdessen liefere ich immerhin den Lichteinbruch ins Schlafzimmer meiner Mutter vor der Wohnungsauflösung.

Wälzer (II)

Tuesday, 16. March 2010

waelzer

Erst vor ein paar Tagen habe ich mir im Rahmen einer Lesertypologie die Frage gestellt, woran es liegen mag, wenn Leser es nicht übers Herz bringen, ein einmal gekauftes und „angefangenes“ Buch vor der Zeit aus der Hand zu legen, es vielmehr bis zur letzten Seite auslesen, es sich bis zum bitteren Ende einer womöglich längst schon geahnten Enttäuschung einverleiben müssen. Am Geiz? Ich finde es, bei aller Scheu vor übereilten Verallgemeinerungen, in diesem Zusammenhang interessant anzumerken, dass nach meiner langjährigen sorgfältigen Beobachtung die Liebhaber dicker Bücher bei den zwanghaften „Auslesern“ überrepräsentiert sind.

Was ich völlig vergessen hatte und heute nur dank der selbstverordneten Revision älterer Blogbeiträge entdecke: Ich habe mich, was den bevorzugten Umfang des Lesestoffs angeht, hier vor Jahr und Tag schon einmal geäußert. Aber wie falsch, wie unwahr, oder mindestens doch: wie ungenau waren meine seinerzeitigen Ausführungen! Diesen Artikel würde ich am liebsten löschen, aber ich will ja zu meinen Schwächen und Fehlern stehen. Fast kommt es mir so vor, als würde man den Büchern, wollte man sie zuallererst nach dicken und dünnen unterscheiden, ähnliches Unrecht tun, als bewertete man Menschen nach ihrem Kontostand.

Ob mein Entschluss, Pynchons Against the Day in der deutschen Übersetzung gründlich zu lesen und zudem noch in meinem Weblog ausführlich zu kommentieren, ursprünglich aus diesem schwächelnden Artikel Wälzer (I) resultierte, wie das negative Ergebnis einer arithmetischen Gleichung? Ich fürchte es fast. Bekanntlich kam dieses bestenfalls manierierte, schlimmstenfalls hirnverbrannte Vorhaben vor fast einem Jahr zum Stillstand. Was wäre wohl daraus geworden, hätte ich mich stattdessen für die Exegese von Jonathan Littells Die Wohlgesinnten entschieden? Wir wissen es nicht und werden es nie erfahren.

Beide Bücher verstauben nun in meinen Regalen. Längst haben die emsigen Verlagsmaschinerien wieder eine Vielzahl dicker Romane in die Buchhandlungen geklotzt. Und wieder war ich hin- und hergerissen [s. Titelbild]. Soll ich mir nun das Haupt- und Lebenswerk von David Foster Wallace (1962-2008) gönnen, die endlich erschienene Übersetzung von Infinite Jest? Schließlich hatte ich ja anlässlich seines Todes von eigener Hand den bisher einzigen Nekrolog in diesem Weblog erscheinen lassen. Oder soll ich mich auf 2666 einlassen, das Meisterwerk des Chilenen Roberto Bolaño (1953-2003)?

Wie schon bei Pynchon und Littell zähle ich mal wieder die Wörter. Für Bolaño komme ich auf 390.000 und für Wallace (die „Anmerkungen und Errata“ mitgerechnet) auf 520.000 Wörter. Für Unendlicher Spaß spricht, dass ich hier das amerikanische Original immerhin zum Vergleich heranziehen kann; und tatsächlich habe ich mir schon im Januar vorigen Jahres, perfektionistisch wie ich bin, die Paperback-Ausgabe von Little, Brown and Company zugelegt. Für 2666 hingegen lässt sich anführen, dass mich dessen erstes Kapitel (von insgesamt fünf) bereits in einer Leseprobe erreicht und aufs Höchlichste entzückt hat. Wieder einmal eine schwere Entscheidung. Eins steht aber jetzt schon fest: Zu solch einem mikroskopischen Leseprotokoll wie bei Pynchons Gegen den Tag lasse ich mich nicht noch einmal verführen. Und sollte ich gar beider Bücher nach hundert Seiten überdrüssig werden, hindert mich nichts, sie in die staubige Stubenecke zu pfeffern. Fort mit Schaden! Nichts ist unersetzlicher als die über dürftiger Lektüre verschwendete Zeit.

Dieda (II)

Monday, 15. March 2010

selection

Die fatalen Generalisierungen – die Spießer, die Großkopferten, die Proleten, die Türken, die Glatzen, die Amis, die Muchels, die Männer, die Juden, die Ärzte etc. ad lib. et inf. – waren Angriffspunkt und Zweifelsfall meiner Zeitkritik im Juni 2008, als ich nur halb im Scherz auf der Suche nach der Wurzel allen Übels die gleichmacherische Begriffsbildung als möglichen Hauptübeltäter dingfest machen wollte. Wer mit vager Geste am gemütlichen Biertisch meint, „Dieda!“ in einen Topf werfen zu dürfen, der ist unter ungemütlicheren Umständen auch bereit, „Dieda!“ mit präzisem Fingerzeig ins Gas zu schicken [s. Titelbild, Selektion an der Rampe in Birkenau].

Dass dergleichen schreckliche Vereinfachungen und Vereinheitlichungen im Umgang mit den Mitmenschen überhaupt in Betracht kommen können, um dann eine für viele verführerisch bequeme Denkgewohnheit zu werden, setzt eine Hypertrophie der menschlichen Gemeinwesen voraus, ist eine Folge der Verstädterung. Wo man sich nicht mehr mit Namen kennt; wo man das passierende Gegenüber nurmehr im Ausnahmefall grüßt; wo das Erscheinungsbild der anderen im öffentlichen Raum das von anonymen Fremden ist – da bedarf es zur Orientierung eben solch grobschlächtiger Zusammenfassungen der wimmelnden Individuen unter beliebiges Akzidentia.

Der Begriff der Masse drängt sich hier in den Vordergrund. Wann immer ich mich diesem Begriff nähere, beschleicht mich das schlechte Gewissen, Elias Canettis theoretisches Hauptwerk Masse und Macht (1960) immer noch nicht gelesen zu haben. Seit fast dreißig Jahren steht dieses Buch in meinem Regal, sogar in einem vom Autor im Oktober 1973 signierten Exemplar. Vermutlich hat mir Canetti mit den Ausführungen über dessen Entstehungsgeschichte in seiner Autobiographie so viel Respekt eingeflößt, dass ich mich an diesen spröden Brocken nicht mehr wohlgemut herantraue. Zudem wären ja auch die anderen Klassiker zum Thema „Masse“ – von Gustave Le Bon (1895), Siegfried Kracauer (1927), José Ortega y Gasset (1930), Hermann Broch (1948) und David Riesman (1950) – noch einmal vorzunehmen und im Hinblick darauf abzuklopfen, ob sie für meine Fragestellung etwas hergeben: „In welchem Verhältnis steht das neuzeitliche Phänomen der Masse und dessen Wahrnehmung durch das Individuum zu des letzteren Bereitschaft, andere Individuen ihrer Einzigartigkeit zu entledigen und sie anonymisierend, typisierend und schließlich generalisierend diffusen Gruppen zuzuschlagen?“

Was für ein vertracktes Wort „Masse“ im Sprachgebrauch über das Soziale ist, das hat mir jüngst noch H. G. Adler deutlich gemacht, bei dem ich las: „Der Nationalsozialismus verwandelte den Menschen aus einer zur Autonomie berufenen und berufbaren Persönlichkeit bedenkenlos in einen behandelten Gegenstand. Darin war die nationalsozialistische Herrscherklasse unbedingte Anhängerin ihrer materialistisch denkenden und empfindenden Zeit, die schon vorher und auch außerhalb dieses Machtbereiches von Menschen und Völkern mit einem pseudokollektivistischen Ausdruck als von ,Masse‘ zu reden wagte. Das Phänomen ,Masse‘ als eine beliebige Vielzahl von Menschen psychologisch zu untersuchen, müssen wir uns versagen, aber wir weisen darauf hin, daß in dem Augenblick, wenn man von Menschen als ,Masse‘ zu reden beginnt, das menschliche Bewußtsein gestört ist, mag auch der aktuelle Zustand des Menschen zulassen, sich als ,Masse‘ bezeichnen und behandeln zu lassen, während die gleichen Menschen gegen den viel weniger beleidigenden Ausdruck ,Vieh‘ sich sofort verwahren würden.“ (Das geistige Antlitz der Zwangsgemeinschaft; in: H. G. Adler – Der Wahrheit verpflichtet. Hrsg. v. Jeremy Adler. Gerlingen: Bleicher Verlag, 1998, S. 121.) – Erstaunlich übrigens, dass im aktuellen Wikipedia-Artikel über „Masse (Soziologie)“ Wilhelm Reichs The Mass Psychology of Fascism (1933) keine Erwähnung findet.

Dass sich im Rassenwahn meiner Vorfahren die distanzierte „Zusammenfassung“ von Mitmenschen zum Zwecke ihrer Auslöschung vollzogen hat, also mit einer Konsequenz, die an Schrecklichkeit bisher nicht übertroffen wurde, nämlich bis zur Konzentration der Enteigneten im Lager und bis zum Hineinpressen der Entkleideten in die Kammern, das hat den Blick auf die dürftigen, scheinbar harmlosen Ursprünge des generalisierenden Taxierens leider nicht geschärft. Im Gegenteil! Wenn ich zwischen dem Holocaust und der Gleichmacherei der Rhetorik über die Hartz-IV-Empfänger, die Kinderlosen oder die Steuerbetrüger ad lib. et inf. einen Zusammenhang herstelle, dann ziehe ich mir leicht den Vorwurf zu, die Banalisierung des Bösen zu betreiben. Nichts liegt mir ferner.

Otto N. (II)

Sunday, 14. March 2010

footprint

Am 22. April 2008 schrieb ich unter der Titelzeile Otto N. (I): „Den nächsten Spiegel kaufe ich frühestens in 26 Wochen. Bis dahin werde ich regelmäßig montags, unter der Headline ,Otto N.‘, von der ganz individuellen, originellen, exzentrischen Auswertung dieser ,Mittelmäßigkeit‘ zehren können. Nur 13 €-Cent als Vorabinvestition für jeden dieser Blog-Beiträge – da kann ich doch wahrlich nicht meckern! – Danke, Spiegel!“

Das ist nun auch schon wieder fast zwei Jahre her. Ich habe keineswegs allwöchentlich 26 Montagsglossen zu meinen individuellen, vielleicht gar individualistischen Abweichungen von Otto Normalverbrauchs Verhaltensunauffälligkeiten verfasst. Statt hier mit Otto N. (XXVII) einen dann fälligen oder längst überfälligen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Normdeutschen zu ziehen, kehre ich nun erstmals wieder zu diesem im weiteren Sinn demoskopisch-statistischen Thema zurück. Und tatsächlich gibt es einen aktuellen Anlass, mich erneut mit den Schrecknissen der Normalität auseinanderzusetzen. Axel Hacke berichtet in seiner jüngsten Glosse Das Beste aus aller Welt über einen Test, dem er sich unterzogen hat: „Auf der Internetseite der Grünen Jugend Kreis Gütersloh habe ich meinen ökologischen Fußabdruck errechnet. Der ökologische Fußabdruck ist die Fläche, die ein einzelner Mensch benötigt, um auf der Erde leben zu können. Also: Ein durchschnittlicher Deutscher braucht für seinen Lebensstandard 4,8 Hektar, ein Inder aber nur 0,7. Ich musste Fragen nach meiner persönlichen Lebensführung beantworten, wie viel ich also Auto fahre, ob ich Energiesparlampen benutze, wie groß meine Wohnung ist, dann dauerte es ein paar Sekunden, Ergebnis: ,Zur Deckung deines Lebensstils benötigst du 5,1 Hektar … Würden alle Menschen leben wie du, bräuchte die Menschheit 2,7 Erden. Du liegst im Bereich des deutschen Durchschnitts, aber weit entfernt von einem nachhaltigen Lebensstil.‘“ (Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 10 v. 12. März 2010, S. 50.)

Warum Hacke ausgerechnet den Online-Rechner der Grünen Jugend Kreis Gütersloh gewählt hat, um die Größe seines ökologischen Fußabdrucks zu ermitteln, das bleibt rätselhaft. Vielleicht um der Originalität halber? Ich komme unter dieser Adresse nach Beantwortung der 33 teils reichlich befremdlichen Fragen auf einen Anspruch von 2,5 globalen Hektaren (gha), und es wären 1,3 Planeten erforderlich, wenn man Kants Kategorischen Imperativ auf meine Lebensführung übertragen würde.

Wesentlich seriöser erscheint mir z. B. der Footprint-Rechner des österreichischen Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft. Dort werden die vier großen Lebensbereiche Wohnen, Ernährung, Mobilität und Konsum unterschieden und getrennt abgefragt. Im Gesamtergebnis komme ich diesmal auf 3,2 gha, wobei ich im Bereich Mobilität am besten abschneide (0,00 gha), immerhin noch unterdurchschnittliche Werte bei Wohnen und Ernährung erreiche (0,77 bzw. 0,81 gha) und lediglich beim Konsum über dem Durchschnitt liege (1,62 gha).

Dass ich aber bei aller vermeintlichen Beschränkung und radikalen Abweichung von der herrschenden Normalität dennoch einem Lebensstil fröne, zu dessen dauernder Befriedigung eine 1,8-fach größere Erde erförderlich wäre, wollten es mir alle 6,8 Milliarden Menschen auf der Welt gleichtun – das ist allerdings ernüchternd! Ich frage mich sogar, ob es unter den Existenzbedingungen einer deutschen Großstadt überhaupt möglich ist, meinen ökologischen Fußabdruck so weit zu reduzieren, dass er eins zu eins mit den maximalen Produktivitätskapazitäten unseres Globus zusammenpasst.

(I) ff.

Saturday, 13. March 2010

solitaersignal

Anlässlich der Titelrevision (und -amputation um die überflüssige Datumsangabe) musste ich feststellen, dass ich viele Male eine (I) hinter einen Titel gesetzt habe, ohne irgendwann eine (II) darauf folgen zu lassen. Offenbar versprach ich mir von dem angeschnittenen Thema noch weitere nahrhafte und appetitliche Tortenstücke. Doch drängten sich allzu bald andere Themen in den Vordergrund und ich vergaß, dass ich da eine Fortsetzung angekündigt hatte, die ich bis heute schuldig geblieben bin. Nun will ich die Gelegenheit ergreifen, diese zwei Dutzend Artikel daraufhin zu überprüfen, ob sich auch aus der Distanz eine Fortführung ihres jeweiligen Themas lohnt – oder ob ich sie als Solitäre stehenlassen und dann konsequent die Nummerierung (I) löschen soll.

Und dies sind die Überschriften der Auftaktartikel, die noch darauf warten, durch adäquate Nachfolger zu bloggologischen Sequels veredelt zu werden: Otto N., Dieda, Wälzer, Lichtblicke, Heute, Habent sua fata libelli, Aus der Mitte, Findling, Webstalking, Pedifest, Popularität, Nichts ist älter, Selbstbeschreibung, Verwechslung, Erstlesealter, Vorlesepein, Robinsontag, Homo immobilis, Blickweiten, Abwege, Texttraum, Q’s Gequatsche, Manchmal und Lesertypologie. – Na, bin ich nicht fleißig?

In den kommenden Tagen werde ich mir diese potenziellen Rohrkrepierer einen nach dem anderen vorknöpfen und auf ihre konkrete Welthaltigkeit und abstrakte Sinnhaftigkeit hin abklopfen. Erweist sich deren Aussage im Einzelfall als ideelle Eintagsfliege, dann wird ihr Zickzackflug augenblicklich abgeklatscht und stillgelegt. Trägt aber der Gedankenflug aus dem usprünglichen Einfall über den inspirierten Urmoment hinaus, dann wäre ich doch der Letzte, einem solchen Sebstläufer den nötigen Entfaltungsraum vorzuenthalten. Dann mögen (II) ff. sehen, wo sie ihren Weg und ihr Ziel finden.

An diesem Beispiel wird vielleicht besonders gut nachvollziehbar, warum ich das Weblog als schriftliche Ausdrucksform so reizvoll finde. Es gestattet mir als work in progress zu jedem Zeitpunkt eine Wiederaufnahme alter Motive, fordert mich dazu heraus, mich immer wieder mit älteren Gedanken aus neuerer Sicht zu konfrontieren und sie fortzuspinnen, sooft sie über den Tag hinaus Lebenskraft behaupten.

Die Nummerierung – mal in Klammern, mal ohne, mal in römischen, mal in arabischen Zahlen – wurde bei Gelegenheit dieser Revision übrigens vereinheitlicht. Ab sofort sind Fortsetzungsartikel immer durch römische Zahlen in Klammern kenntlich gemacht. Und wenn meine Zeit es zulässt, werde ich demnächst am Ende jedes einzelnen Fortsetzungsartikels zu allen anderen Artikeln der Serie, älteren wie früheren, verlinken.

Titelrevision – und plötzlich ganz viel Raum

Thursday, 11. March 2010

arbeitsplatz

Eine kleine Bemerkung in eigener Sache. Aus Gründen, die mir mittlerweile selbst nicht mehr einleuchten, habe ich die Titel meiner Webartikel in diesem Blog von Anfang an so aufgebaut: Wochentag, Komma, Tagesdatum, Monatsname, Jahreszahl, Doppelpunkt, Titel, ggf. Nummerierung (in Klammern oder ohne, in römischen oder arabischen Zahlen).

Schon nach der ersten Veröffentlichung eines Beitrags am 25. März 2008 war mir klar, dass ich hier eine Redundanz produzierte, denn unter meinem Titel Dienstag, 25. März 2008: Netzschach steht in kleiner Schrift, vom System automatisch generiert, noch einmal: Dienstag, 25. März 2008. (Zumindest wenn man den Artikel im Archiv aufruft; aber auch in der aktuellen Ansicht wird das Publikationsdatum angezeigt, allerdings ohne den Wochentag.)

Manchmal neige ich leider zu „Sturness“, und so trotzte ich allen behutsamen Nachfragen besorgter Freunde, warum ich denn und ob ich nicht. Das sei doch eigentlich nicht nötig, das mit dem Datum zu Anfang des Titels. – „Schon gut, schon gut!“ So endeten für gewöhnlich vonseiten der banausischen Mäkler an den Existenzgrundlagen meines Blogs diese Dispute, und dessen über alle Zweifel erhabener Schöpfer zog sich in seinen Schmollwinkel zurück.

Die bitteren Folgen solcher Halsstarrigkeit bekam ich alle Tage (und besonders an den Donnerstagen im September = 19 Buchstaben + 1 Leerzeichen) zu spüren, wenn nämlich für meine Titel nur noch wenig Platz blieb in dieser einen Titelzeile. Das zwang mich zu einer geradezu asketischen Verknappung beim traurigen Rest meiner Überschriften, eine Not, die ich mir lange genug als Tugend verkaufte. Jetzt ist aber Schluss mit diesen Sperenzchen!

Ab sofort verzichte ich auf die Datumsangabe in der Titelzeile und streiche sie auch rückwirkend aus den mittlerweile 550 „alten“ Artikeln. (Das kann trotz der praktischen QuickEdit-Funktion bei WordPress ein paar Tage dauern.) Ab sofort darf ich also auch längere Titel verwenden! Dabei fühle ich mich etwa so, als hätte ich zwei Jahre lang mit einem Knebel im Mund sprechen müssen, der jetzt in seiner monströsen Überflüssigkeit vor mir auf dem Tisch liegt. Ich muss mich nun wohl bezähmen, die neu gewonnene Freiheit nicht über Gebühr zu strapazieren.

Lesertypologie (I)

Wednesday, 10. March 2010

typen

Menschenklassifikationen sind ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Es gibt teusendundein Kriterium der Klassifizierung, da sind der Phantasie des Menschensammlers wahrlich keine Grenzen gesetzt. Aus verständlichen Gründen interessiert mich besonders eine Typologie meiner Mitmenschen, nämlich die nach ihrem Verhalten als Leser.

Im Hinblick hierauf sind zunächst grundsätzlich Nichtleser von Lesern abzugrenzen, welch letztere dann etwa in Gelegenheits- und Vielleser geschieden werden können, oder in freiwillige und Zwangsleser. Bevor man in einem weiteren Schritt, was vielleicht am nächsten liegt, nach der Art der Lektüre fragt, z. B. die Gruppen der Krimileser, Leser historischer Sachbücher oder Gedichtleser bildet, gibt es aber noch einige andere Merkmale zur Unterscheidung, die die spezielle Art und Weise des Lesens betreffen. Hier gibt es eine Reihe von spezifischen Eigenarten, die mir bei meiner Beobachtung des Leserverhaltens in meiner weitläufigen Bekanntschaft und früher auch bei meinen Kunden immer wieder begegnet sind.

So gibt es gar nicht wenige Leser, die ein Buch grundsätzlich bis zur letzten Seite, also zu Ende lesen, es „auslesen“, wie man auch sagt, ganz gleich, ob es ihnen gefällt oder nicht. Diese Leser scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie die Lektüre mittendrin abbrechen. Vielleicht geben sie die Hoffnung nicht auf, dass das Buch doch noch eine überraschende Wendung zum Guten nimmt, unterhaltsamer wird oder tiefsinniger, ganz nach ihren jeweiligen Erwartungen. Ist es zum Beispiel ein Roman, dessen Handlung voller Widersprüche und logischer Fehler steckt, dann erhoffen sie sich einen genialen Clou, der im Nachhinein diesen ganzen Blödsinn plausibel werden lässt.

Ich habe immer schon vermutet, dass es sich bei diesem Typ in der Regel um einen auch sonst zu Sparsamkeit neigenden Menschen handelt, der schlecht verträgt, bei einem nur zur Hälfte konsumierten Produkt nicht ganz auf seine Kosten zu kommen. Interessanterweise bevorzugen nach meiner Beobachtung solche Leser dicke Bücher: je dicker, desto besser. (Ob der Umkehrschluss gilt, dass Liebhaber dicker Bücher grundsätzlich Geizkragen sind? So weit würde ich nicht gehen. Überhaupt sollte man, wenn man sich mit Klassifikationen und Typologien beschäftigt, immer auf der Hut sein vor leichtfertigen Verallgemeinerungen.)

Was nun mich selbst als Leser betrifft, so gebe hier gleich offen und ehrlich zu, dass ich mich keineswegs verpflichtet fühle, ein Buch auf Teufel komm raus zu Ende zu lesen, bloß weil ich einmal die Nase hineingesteckt habe. Ich gestehe weiter, dass ich in meinem langen und wechselvollen Leserleben weitaus mehr Bücher zu lesen begonnen, als zu Ende gelesen habe. Die Gründe, warum ich die Lektüre unterbreche, oft genug dann ganz abbreche, sind sehr vielfältig. Mal hält das jeweilige Buch nicht, was die Kritik versprach. Oder es mag zwar in seiner Art ganz ausgezeichnet sein, entspricht aber momentan nicht meinem Bedürfnis. Vielleicht passt es auch bloß atmosphärisch nicht zu meiner augenblicklichen Stimmung. Dann wieder geht mir ein scheinbar unbedeutendes Detail so sehr gegen den Strich, dass ich das Buch sofort aus der Hand legen muss, wenn es hart kommt mitten im Satz. Oder aber es ereignet sich in meinem wirklichen Leben eine Trivialität, die mich zunächst nur für Stunden oder Tage aus dem Lesen eines ganz passablen Buches herausreißt. Ich bin fest entschlossen, sobald die Gelegenheit wieder günstiger ist, zu diesem Buch zurückzukehren. Das Lesezeichen steckt an der richtigen Stelle zwischen den gelesenen und den ungelesenen Seiten. Und doch finde ich nicht mehr zurück in die Zusammenhänge der Geschichte. Mit diesem und jenem Namen vermag ich keine konkreten Vorstellungen mehr zu verbinden. Ich blättere zurück und versuche, den Faden wieder aufzunehmen, stoße auf Passagen, die mir nun völlig fremd erscheinen und so vorkommen, als hätte ich sie beim ersten Lesen irrtümlich überschlagen. Schließlich gebe ich auf und greife nach einem anderen Buch, auf dessen Beginn ich ohnehin eigentlich schon neugieriger war als auf die Fortsetzung des angebrochenen, das mir nun entsetzlich fade erscheint, wenn ich nur von Ferne daran schnuppere. So treu ich als Liebhaber von Menschen bin, so untreu bin ich als Genießer von Büchern.

[Wird fortgesetzt.]

Manchmal (I)

Monday, 08. March 2010

adler

Manchmal zweifle ich, ob dieses Projekt, mein Weblog, nicht etwa bloß eine Ablenkung von etwas anderem ist, ein Platzfüller, ein Mittel, den Tag zu bestreiten. Manchmal frage ich mich, ob das Schreiben daran, seit nun bald zwei Jahren und nahezu täglich, auch nur wieder eine Sucht ist, oder mindestens eine Gewohnheit, jedenfalls eine zwanghafte Widerholung ohne Aussicht auf ein natürliches Ende, also ziellos wie das Rauchen von Zigaretten oder das Überfliegen der Tageszeitung. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, diese liebe Gewohnheit von heute auf morgen aufzugeben, wie ich schon so viele Gewohnheiten, liebe und weniger liebe, im Laufe meines unfassbar langen Lebens aufgegeben habe, um die Zeit, die dadurch frei wurde oder besser leer, mit etwas anderem zu füllen, das vielleicht weniger ziellos sein und ein natürliches Ende immerhin in Aussicht stellen könnte.

Manchmal denke ich an die weit, weit zurückliegende, lange, lange vergangene Zeit zurück, als ich noch auf einer mechanischen Schreibmaschine der Firma Adler tippte [s. Titelbild], deren einziger besonderer Service darin bestand, gelegentlich durch Umschaltung des Farbbandes ein Wort in roter Schrift schreiben zu können, ein Luxus, der sich aber bald erstens als entbehrlich und zweitens als unökonomisch herausstellte, weshalb ich nach der nahezu restlosen Abnutzung der schwarzen und der nahezu spurlosen Schonung der roten Hälfte des Farbbandes nun ein konventionell rein schwarzes Band kaufte, ohne rote Halbspur, denn das konnte man umdrehen, wenn die obere Hälfte abgenutzt war, es hielt also doppelt so lange vor und war zudem auch in der Anschaffung etwas billiger.

Manchmal erinnere ich mich in diesem Zusammenhang auch an die verschiedenen Techniken, die gegen das unvermeidliche Übel des Vertippens seitens der Schreibwaren- und -maschinenhersteller in Anschlag gebracht wurden, nachdem ja zunächst das Durchixen das Mittel der Wahl gewesen und lange geblieben war; aber diese urtümlichen Verhältnisse liegen ja geradezu im Paläolithikum der mechanisierten Schreibtechnik, und so bin ich jetzt gerade tatsächlich gerührt, dass im aktuellsten Rechtschreibduden das Verb durchixen noch vorkommt, als „ugs. für auf der Schreibmaschine mit dem Buchstaben x ungültig machen“. (Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim ∙ Leipzig ∙ Wien ∙ Zürich: Dudenverlag, 2006, S. 341. – Genau zwölf Seiten vorher steht übrigens der „Doppelklick“.) Manchmal denke ich, dass die enormen technischen Erleichterungen des Korrekturvorgangs beim Schreiben – vom Tipp-Ex-Streifen über Tipp-Ex flüssig über das Korrekturband und die Speicherschreibmaschine mit Zeilendisplay – paradoxerweise der Sorgfalt der Schreibenden und damit der Qualität ihrer Ergebnisse eher abträglich waren. Manchmal bin ich insofern ganz froh, diese mühselige Schule der Berichtigung mit meist nicht ganz sauberem Ergebnis durchgemacht zu haben und hoffe, dass sie mich zu einer Schreibdisziplin erzogen hat, die zuletzt mein Geschriebenes veredelt – und zuallerletzt dem Leser das Lesen erleichtert.

Manchmal trauere ich aber gar jener Zeit nach, als die Fehler auf dem Papier noch untilgbare Spuren hinterließen. Dann hieß es eben einfach: Auf ein Neues! Und manchmal, um endlich zu einem vorlufigen Schluss zu kommen, hoffe ich, dass die Spuren, die ich auf der Oberfläche (des Papiers, der Monitore) hinterlasse, zwar oberflächlich nahezu fehlerfrei sein mögen, sich aber irgengendwann, genauer betrachtet, als ein einziger großer Fehler erweisen, allerdings mit keinem noch so deckfähigen Liquid Paper zu tilgen.

H. G.

Sunday, 07. March 2010

hgadler

Immer wieder zieht es mich zu den negativen Kraftzentren meines Denkens zurück, deren es freilich noch einige mehr gibt als die klassische Zwillingsgestalt des Bösen im Zwanzigsten Jahrhundert: Auschwitz und Hirsohima. Wenn ich wie unlängst durch einen unangemessenen Beifall für eine Nichtigkeit aufgeschreckt bin, muss ich geradezu triebhaft in die entgegengesetzte Richtung laufen. So machte ich dieser Tage endlich mit meinem längst gehegten Vorsatz Ernst, mich dem großen Werk von H. G. Adler (1910-1988) anzunähern.

Dieser wahrhaft unentbehrliche Zeitzeuge der Shoah hat in seinem in der dritten Person verfassten Nachruf bei Lebzeiten (1970) zu seinem Vornamen erklärt: „H. G. steht für Hans Günther, dies die Namen zweier jung verstorbener Brüder der Mutter, die alle drei zu verleugnen er nie wünschte, ohne doch noch diese Namen voll zu führen, nachdem Adolf Eichmanns Vertreter für das ,Protektorat Böhmen und Mähren‘ in den Jahren 1939 bis 1945 eben so geheißen hatte.“ (H. G. Adler – Der Wahrheit verpflichtet. Interviews, Gedichte, Essays. Hrsg. v. Jeremy Adler. Gerlingen: Bleicher Verlag, 1998, S. 8.)

H. G. Adler war als Jude seit Anfang 1942 im Ghetto Theresienstadt interniert, wurde im Oktober 1944 für zwei Wochen nach Auschwitz verbracht und sodann bis Kriegsende als Zwangsarbeiter in Buchenwald interniert. Schon in seiner Zeit in Theresienstadt plante Adler, seine Beobachtungen im Lager für die Nachwelt festzuhalten und machte sich erste Notizen zu einer wissenschaftlichen Abhandlung. Die Objektivierung seiner Wahrnehmungen erleichterte ihm nach eigenem Bekenntnis entscheidend das seelische Überleben in der Hölle der Lager. Gleich nach seiner Befreiung machte er sich an die Arbeit und verfasste sein Hauptwerk Theresienstadt 1941-1945 (Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie. Tübingen: Mohr / Siebeck, 1955).

Dieses Buch ist viel mehr als nur ein Buch über das Wesen der Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager, und es leistet auch mehr als die Analyse dieser künftig immer bestehenden Option der Entmündigung, Entwürdigung und Entseelung des Menschen, deren Methoden und Techniken. Es erlaubt, zwar auf sehr schmerzvolle Weise, einen tiefen Blick in die Abgründe der conditio humana, eine sowohl präzise als auch differenzierte Gesamtschau menschlicher und unmenschlicher Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Man lese nur die Kurzbeschreibungen der 14 „Charaktere nach Typen“, die der hellsichtige Beobachter H. G. Adler, „bei allen Vorbehalten gegen schemtische Einteilungen“, in Theresienstadt unterscheiden konnte: „Gebrochene, Ängstliche, Betäubte, Gedankenlose, Pessimisten, Realisten, Optimisten, Illusionisten, Aktive, Brutale, Opportunisten, Willensstarke, Helfer, Gütige.“ (H. G. Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. M. e. Nachw. v. Jeremy Adler. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, S. 669 ff.)

In seinem bereits erwähnten Nachruf bei Lebzeiten beklagte sich Adler unverhohlen darüber, dass ein beträchtlicher Teil seines Werkes, gerade viele erzählende Schriften und die meisten seiner zahllosen Gedichte, trotz seiner hartnäckigen Bemühungen um einen Verlag unveröffentlicht geblieben waren. Dies war auch unmittelbar vor seinem Tod nicht anders, als Jürgen Serke „die Mißachtung dieses universalen Geistes“ einen Skandal nannte, „für den die deutschen Verlage verantwortlich zeichnen. Ein Skandal, in dem die anerkannten Größen der Nachkriegsliteratur, die immer wieder auf Adlers künstlerische Einzigartigkeit hingewiesen haben, wie Dummköpfe dastehen […].“ (Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien / Hamburg: Paul Zsolnay Verlag, 1987, S. 327.) Immerhin erschien zwei Jahre später der Roman Die unsichtbare Wand aus dem Nachlass, der 35 Jahre auf diese Veröffentlichung gewartet hatte. – Ich werde in näherer Zukunft einige Lesezeit darauf verwenden, H. G. Adler genauer kennenzulernen. Und ich werde über diese Begegnung gelegentlich hier berichten.

[Titelbild: H. G. Adler 1969; aus: Serke, a. a. O., S. 343.]

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Friday, 05. March 2010

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Hercooles

Thursday, 04. March 2010

wuschel

Ich liebe gute Interviews, ganz gleich in welcher Form: live, im Fernsehen, im Rundfunk, gedruckt in Zeitschriften oder Büchern, auch im Internet als Audio- oder Videopodcast. Leider sind gute Interviews sehr selten; und sehr gute Interviews gibt es beinahe nicht, so rar sind sie. Um dem Leser eine Enttäuschung zu ersparen, gestehe ich zweierlei gleich vornweg, hier im ersten meiner obligatorischen fünf Absätze: Dieser Eintrag handelt nicht von einem wirklich guten Interview. Und schon gar nicht verrate ich, welche sehr guten oder auch nur guten Interviews mir in meinem langen Hörer-Seher-Leser-Leben bisher begegnet sind. Solche Best-of-Listen sind schließlich ein kleines Vermögen wert. Und wenn ich schon hier in meinem Weblog meine Beobachtungsgabe, Fabulierfreude und Spekulationslust, meinen kritischen Verstand und meine emsige Kreativität zum Nulltarif verschleudere, dann geht mein Altruismus doch nicht so weit, auch die Früchte meiner Erfahrung und Sammelwut für lau auf dem Marktplatz des globalen Dorfes unter die Leute zu bringen.

Damit ich ein Interview gut nenne, muss eine ganze Reihe von Forderungen erfüllt sein. Jede einzelne Frage sollte sowohl den Interviewten als auch den Leser insofern überraschen, als sie sich möglichst weit von den immergleichen Standardmotiven entfernt. Wer einen Regisseur nach den nüchternen Fakten seines Films befragt, nach den Tücken der Finanzierung und den Pannen bei den Dreharbeiten, sollte den Beruf wechseln. Das Interview ist eine literarische Technik, die darauf abzielt, mehr über eine Person ans Licht zu bringen, als diese über sich selbst weiß. Insofern haftet dem Interview etwas von einer Geburt, einer Vergewaltigung oder einer Vivisektion an, je nachdem. Im Idealfall ist nach dem strapaziösen Zwiegespräch deutlich geworden, dass auch auf diese ausgefragte Persönlichkeit das weise Selbstbekenntnis zutrifft: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ (Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage. Leipzig: Haessel, 1872, S. 1.) Daraus erhellt, dass ich niemals mit einem Interview zufrieden sein kann, das mir die befragte Person rundweg sympathisch – oder vollkommen unsympathisch erscheinen lässt. Beide Bilder können nur falsch sein. Und ich erwarte nun einmal von einem Interview, dass es mir einen Menschen näherbringt, indem es ihn wahrer zeigt, als er sich aus eigenem Entschluss geben will oder kann.

Dennoch ist ein schlechtes Interview manchmal lesenswert; nämlich dann, wenn die Überzeichnung des Objekts, seine Selbststilisierung in the public eye so gnadenlos danebengeht, dass es schon wieder Spaß macht, dergleichen Wort für Wort und Satz für Satz zu verkosten. Von einem solchen Fall ist hier zu berichten. Ich meine das Interview, das Eva Karcher neulich für die SZ mit Hans Ulrich Obrist geführt hat.

Obrist (*1968) ist Hercooles. In sechs Spalten der Wochenendbeilage führt er eiskalt vor, was er ist und weiß und kann, nämlich nahezu alles. Nun ist die eitle Manie, sein Licht nicht untern Scheffel zu stellen, sondern im Gegenteil das erschreckte Publikum damit zu blenden, gerade bei jenen Semi-Prominenten weit verbreitet, die zwar Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur innehaben, aber qua Funktion notgedrungen eher im Verborgenen werkeln und im Hintergrund stehen müssen. Hierzu zählen, um jedes der drei Ressorts mit einem Beispiel zu illustrieren: Ghostwriter, Großerben und Kuratoren. Hans Ulrich Obrist gilt als einer der wirkmächtigsten Kuratoren der Gegenwart. Die SZ nennt ihn den „populärsten Kunstvermittler der Szene“, meint aber vermutlich: den in der Szene populärsten Kunstvermittler. Um seine Popularität nun auch über diese Szene hinaus zu erweitern, stapelte er seine angeborenen und erworbenen Qualitäten so hoch, dass wir dahinter den Menschen gar nicht mehr sehen können. Als gebürtigem Schweizer ward ihm Englisch, Französisch, Italienisch, Schwyzerdütsch und Deutsch sozusagen in die Wiege gelegt, im Gymnasium lernte er dazu en passant noch Spanisch und Russisch. Jetzt steht Portugiesisch auf seinem Stundenplan, weil er momentan von Brasilien „fasziniert“ ist. (Dieses Ekelwort Faszination wäre bald mal einen eigenen Beitrag wert.) Überhaupt folgt Obrist der Obsession, permanent zu lernen, „aber nicht als Zwang, sondern als Impuls“. Damit er sein tägliches Pensum schafft, hat er sich eine strenge Zeitdiät auferlegt: „Früher hatte ich den ,Da Vinci‘-Rhythmus. Wie Leonardo da Vinci […] war ich drei Stunden wach, dann folgten 15 Minuten Schlaf. So war ich zwar nie müde, aber auf Dauer ist es unmöglich, dabei ein soziales Wesen zu bleiben.“ Dann war er eine Zeitlang Espresso-Junkie. Und wofür das alles? Um immer noch größere Ausstellungen mit immer noch spektakuläreren Exponaten in immer noch außergewöhnlicherem Rahmen zu realisieren. Es verwundert nicht, dass dem Kurator zur Benennung seiner Leistungsshows nur ein Begriff aus der Welt des Sports einfallen kann: Marathon. Seine atemlos hechelnde Ausstellungsmacherei versteht er, ausgerechnet, als „Protest gegen den zunehmenden kollektiven Gedächtnisverlust“. Dass vielleicht gerade das überdrehte Spektakel, für das Obrist den Zulieferer spielt, erst besagte Amnesie verursacht, die er beklagt, das scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen.

Übrigens interviewt der Interviewte auch selbst, neben Künstlern zuletzt Architekten, Musiker, Komponisten und Wissenschaftler. Nun sind Choreographen, Tänzer und Schriftsteller „an der Reihe“. Leider bleibt ihm in der ganzen Hektik keine Zeit, uns zu erklären, warum er diese Kreativen interviewt, zumal er offenbar nicht nur Kaffee soff wie Balzac, sondern auch korrespondierte wie Voltaire: „Ich habe ein riesiges Archiv unzähliger Briefwechsel und 2000 Stunden Interviews.“ Immer ist nur von Quantitäten die Rede, selbst bei einem so noblen Akt wie dem Buchkauf: „Jeden Tag ein Buch kaufen, das ist ein wichtiges [!] Ritual.“ Zu dieser bei Licht besehen ebenso eitlen wie langweiligen Kraftmeierei passt, dass Obrist Auskünfte über sein Privatleben, um die ihn doch niemand gebeten hat, verweigert und sich (von Marco Anelli) für den Zeitungsabdruck dieses außer Peinlichkeiten aber auch wirklich gar nichts offenbarenden Interviews  im Profil ablichten lässt. (Eva Karcher: Hans Ulrich Obrist über Kunst; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 48 v. 27./28. Februar 2010, S. V2/8.)

Memento

Wednesday, 03. March 2010

judoka

Ab und zu ist es angebracht, sich seiner Vergänglichkeit wieder einmal bewusst zu werden und die Sterblichkeit dieser fleischlichen Hülle, die uns alle egalisiert, nüchtern und scharf wahrzunehmen. Die Zeit, die uns unsere Späße mit frohem Herzen und bei bester Gesundheit zu genießen einräumt, hat eben nur den einen Nachteil, endlich zu sein. Tröstlich ist da bloß, dass der Unterschied zwischen einem nach menschlichem Maß langen zu einem kurzen Leben kaum das Wesentliche ist. Auch hier dürfte Qualität, nicht Quantität das entscheidende Kriterium sein.

Übrigens kann ja die gewaltsame Verkürzung des Lebenswegs auch eine Befreiung bedeuten, wenn nämlich leidvoller Schmerz oder unleidliches Gleichmaß dieses Leben vergällte. Und dies kann nicht nur so sein, rechtbesehen ist es vielleicht sogar der üblichste Ausweg. Wann liest man denn in den Todesanzeigen schon einmal, dass ein Hingegangener lebenssatt hinüberglitt, friedlich im Schlafe verschied?

Ich werde in diesem Sommer 54 Jahre alt, so ich denn so alt werde. Würde es mich bekümmern, wenn nicht? Welche alten Rechnungen hätte ich noch offen? Was bliebe mir noch, dringend zu tun? Braucht mich die Welt? Habe ich ihr noch etwas zu geben, was nur ich allein ihr zu geben vermag? Wie stünden jene da, die mir am nächsten stehen, wenn sie auf meine Anwesenheit hinfort verzichten müssten? Kommt aus solchen Erwägungen der dringende Impuls, dem Tod mit allen Kräften zu widerstehen? Ich fürchte: Nein!

Unser Überlebenswille ist somit vermutlich nicht viel mehr als ein triebhafter Reflex, nichts ausgemacht Menschliches. Menschlicher wäre da schon die Einsicht, wie wenig an jedem von uns gelegen ist, angesichts des Übermaßes unserer Vorhandenheit. Und unser Lebenswunsch wäre insofern bloß eine romantische Reminiszenz aus der Zeit, als man noch annehmen konnte, niemand andres als gerade ich sei fähig, die Dinge zu tun, die gerade ich tun kann.

Und übrigens: Warum soll ich das Nein zum Abschluss des dritten Absatzes eigentlich fürchten? Ist die Negation der vorangestellten Frage nicht vielmehr der Schlüssel zu einer Freiheit, die alle Furcht hinter sich lässt?

Protected: „Gesundheit!“

Wednesday, 03. March 2010

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Zahlenspiele

Tuesday, 02. March 2010

ende

Im Deutschlandfunk befragte heute Michael Langer den Schweizer Soziologen Jean Ziegler (*1934) zu seinem letzten Buch, Der Hass auf den Westen (München: Bertelsmann, 2009). Gleich eingangs des eineinhalbstündigen Dialogs in der Reihe Zwischentöne entspinnt sich eine kuriose Haspelei, die ich vom Band abgeschrieben habe:

Ziegler: „Wir sind jetzt 5,7 Milliarden Menschen auf dieser Welt …“ – Langer: „Herr Ziegler, noch mehr: 6,7!“ – Ziegler: „Nein, 5,7 sind wir jetzt.“ – Langer: „5,7?“ – Ziegler: „Entschuldigung, dass ich jetzt mit Ihnen … dass ich Ihnen widerspreche. Das sollte man nicht tun, oder?“ – Langer: „Ja … doch, doch! Weiter!“

Leser dieses Blogs wissen, dass Ziegler irrt und vor ein paar Tagen sogar bereits 6,8 Milliarden erreicht wurden. Kaum ist das Gespräch zwei Minuten alt, muss sich der ausgewiesene Fachmann für globale Bevölkerungspolitik, Weltwirtschaft, Neokolonialismus und das Elend der Dritten Welt von einem einfachen Rundfunkjournalisten belehren lassen – und nimmt diese Lehre nicht einmal an! Da Ziegler anschließend hauptsächlich mit Zahlen argumentiert, müssen sein Sachverstand und seine Urteilskraft in der Wahrnehmung eines unbefangenen Hörers durch diesen doch nicht gerade unerheblichen Lapsus schwer diskreditiert sein.

Wenig später macht Ziegler uns darauf aufmerksam, dass „alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren stirbt. Wenn wir anderthalb Stunden reden, werden es über 720 Kinder sein, die verhungert sein werden.“ Auch diese Rechnung irritiert jeden halbwegs fitten Kopfrechner. Wenn alle fünf Sekunden ein Kind stirbt, dann sind das zwölf Kinder pro Minute und in 90 Minuten 1080 Kinder. Nun gut, Ziegler sagt über 720 Kinder, insofern ist seine Behauptung nicht falsch, sondern nur grob ungenau.

Aber es ist vermutlich geschmacklos, die Pedanterie hier zu weit zu treiben. Tatsache ist jedenfalls, dass knapp ein Fünftel der Todesfälle auf der Erde auf Hunger zurückzuführen sind und dass vermutlich mehr als zwei Drittel dieser Hungeropfer Kinder sind. Gleichzeitig kann aber doch Jean Ziegler nicht übersehen, dass die Zahl der Geburten, die gleichzeitig in den anderthalb Stunden seines Radiotalks zu verzeichnen sind, die der verhungernden Kinder um das zwanzigfache übertrifft. Man kann wohl kaum vermeiden, über solche Zahlen zu diskutieren, ohne sich den Vorwurf des Zynismus zuzuziehen. Zweifellos ist der moralische Furor, mit dem Ziegler „die strukturelle Gewalt der kannibalischen Weltordnung“ verflucht, sympathischer als solch morbide Arithmetik. Wenn er sich darauf beschränkt hätte, Immanuel Kant zu zitieren und die multinationalen Konzerne anzuklagen, könnten wir seiner Verzweiflung nur beipflichten. Da er aber mit Zahlen jongliert, und zwar mit Zahlen, die augenscheinlich zu groß für ihn sind, verspielt er seinen intellektuellen Kredit. Das ist bedauernswert, wo doch sein Thema auch uns sehr am Herzen liegt – aber nicht nur dort.

[Titelbild von A. Paul Weber: Das Ende (1939/40)]

Kritikremix

Friday, 26. February 2010

omanipadmehum

Als Deef Pirmasens im Blog Gefühlskonserve Anfang des Monats ein kleines Bömbchen hochgehen ließ, indem er die noch gerade minderjährige Debütantin Helene Hegemann überführte, für ihren soeben bei Ullstein erschienenen, in den Feuilletons mehrheitlich hochgelobten Roman Axolotl Roadkill ganze Passagen aus dem Roman Strobo von Airen abgeschrieben zu haben, der vorab in dessen Weblog und 2009 im kleinen Berliner Verlag SuKuLTuR erschienen war, erwog ich für einen kurzen Moment, diesem für den Springer-Konzern einigermaßen peinlichen Vorgang einen kleinen Seitenhieb zu widmen.

Bald darauf sorgte das Skandalon für ein reichlich verspätetes Silvesterfeuerwerk in allen Medien von Twitter bis zur Harald-Schmidt-Show, als feierten die Kulturmultiplikatoren nicht jahreszeitgemäß feuchtfröhlichen Karneval, sondern gierten längst schon in der furztrockenen Sauregurkenzeit des Hochsommers nach Überbrückungshilfe aus den Darkrooms der digitalen Boheme. Auf meiner spitzen Zunge schmeckte diese Brühe bald so fad, dass ich die Lust an der mittlerweile volljährig gewordenen Hegemann und ihrem geklonten Schwanzlurch verlor und mich prickelnderen Zeiterscheinungen zuwandte.

Wieder ein paar Tage später, der kürzeste Monat des Jahres zog sich über Gebühr in die Länge, erstaunten mich dann doch die bunten Blüten, die in diesem sturmumtosten Wasserglas schwammen. Durs Grünbein „„plagiiert““ in der FAZ Gottfried Benn und führt Uwe Wittstock von der WELT wie einen tumben Tanzbären an der Nase herum.

Es wird aus diesem nichtigen Anlass landauf, landab über das Urheberrecht diskutiert, als sollte es erst noch eingeführt werden. Kein Mensch scheint mehr zu wissen, wo es anfängt und aufhört. Und ganz nebenbei wird im Namen Bert Brechts geistiger Diebstahl zur kreativen Handlung umgewidmet, unter der Voraussetzung, dass der Verlag stellvertretend für seine Autorin bekannt macht, wen sie wo beklaut hat – und ganz egal, wann. Mit der Bekanntmachung darf man jedenfalls getrost warten, bis der Fall durch Zufall ruchbar geworden ist, schon erst recht, da in diesem Falle ja die Täterin im Stande kindlicher Unschuld und das professionelle Lektorat chronisch überlastet war.

Hauptsache, das Werk rechtfertigt dank seiner genialischen Originalität diese blindwütigen Regelverstöße. Dies zu behaupten ist nun freilich mit Verweis auf die Lobeshymnen aus der Zeit vor dem Ruchbarwerden des Plagiats eine leichte Übung für die gut geölte Marketingabteilung. Und weil da alle Instrumente der Absatzförderung so geschmeidig ineinandergriffen, ward schließlich doch noch mein Interesse geweckt und ich legte ein Dossier an, um bald einmal, aber doch nicht allzu bald das Büchelchen der scheinfrommen Helene und seine Wirkungsgeschichte zum Thema einer Fassadendemontage zu machen.

[Fortsetzung folgt nicht vor Ende März.]

Was’n das?

Thursday, 25. February 2010

offerten

Ich bin noch ganz verdattert. Was ist passiert? Seit nahezu zwei Jahren blogge ich jetzt hier still und heimlich vor mich hin und habe mich längst daran gewöhnt, dass meine Anklagen, Stimmungsbilder, Strafpredigten, Jammerarien und Lobeshymnen kaum einmal Resonanz finden; und wenn, dann kommt sie von ein paar versprengten Sympathisanten, die mir noch aus der Zeit meiner Westropolis-Hospitanz verbunden sind und mich gelegentlich aufmuntern zu müssen meinen.

Und jetzt das! Auf eine eher beiläufig hererzählte Episode aus meinem destabilisierten Alltag hin geht unvermittelt ein warmer Regen durchweg freundlicher Kommentare nieder, von Hansi, Hoshi, amo, saba, Mata, Ole, Paco, ch, Horst, JanDob, Julian, Brandbarth, Gerd, Leo, jules nut, Bernd das Brot, Oliver, docmed, mailo, Brent und Andi – lauter Menschen, die sich hier bisher noch nie haben vernehmen lassen. (Oder doch höchstens ganz selten einmal.)

Was hat das kleine Geschichtchen bloß an sich, dass es plötzlich einen solchen Applaus auslöst und seine Leser gar – das Wort ist nicht von mir – zu einer gründlichen Exegese veranlasst? Zu Pfennigfuchsereien garadezu? Oder gibt es vielleicht in der Blogosphäre irgendwelche Multiplikations-Mechanismen, die eine Flüsterpropaganda nach dem Schneeballprinzip in Gang setzen? Der Vorgang ist mir jedenfalls einigermaßen unheimlich.

Schon ertappe ich mich bei dem offenbar von schierer Eitelkeit erkitzelten Einfall, hier künftig in schöner Regelmäßigkeit ähnliche Alltäglichkeiten unter die Lupe zu nehmen, wie etwa: Was mir unlängst vor den Altglascontainern widerfuhr; Traurige Beobachtungen am Rande des diesjährigen Karnevalszugs; Wie mich die Zeuginnen Jehovas zum allerletzten Mal besuchten; „Würden Sie vielleicht eine Obdachlosenzeitung erstehen, der Herr?“; Stammgäste bei Starbucks usw. Aus dem Stegreif würden mir wohl zwei Dutzend ähnlich ergiebige Geschichtchen einfallen.

Aber will ich das? Ich weiß nicht so recht. Erfolg war mir immer schon verdächtig. Komplimente korrumpieren ja leicht. Immerhin mag ein wenig Zuspruch alle paar Jahre vielleicht noch hingehen. Und wenn er überhandnimmt, ist es mir bekanntlich ein Leichtes, die Gäste schleunigst wieder aus dem Haus zu ekeln. Vielleicht darf ich das Experiment wagen. Die neue Kategorie soll also Alltäglichkeiten heißen.

Wer ist dran?

Tuesday, 23. February 2010

marktstaende

Gestern Vormittag vorm Backwarenstand. Ich stehe links, in der Mitte eine ältere Dame, die sich gerade eine sehr spezielle Auswahl von Teilchen zusammenstellen lässt. Ich spüre, dass ich ungeduldig werde, nicht weil ich in Eile bin, sondern einfach vom Zuhören: „Und dann bitte noch zwei Quarktaschen. Oder nein, geben sie mir doch besser drei! Aber nicht die zerdrückte, lieber die links daneben. Nein, von mir aus gesehen links.“ Und so weiter in der Manier einer einsamen Frau, die für den Rest des jungen Tages keinen Gesprächspartner mehr findet. Dass die Backwaren seit heute vor dem Supermarkt verkauft werden, hat seinen Grund offensichtlich darin, dass der Verkaufsstand im Geschäft komplett neu aufgestellt wird. Handwerker tragen die Einzelteile des alten Standes hinaus und werfen sie krachend in einen Container. Im Hintergrund schrillt eine Säge. Zudem liegt ein feiner Nieselregen in der Luft. Jede dieser kleinen Unannehmlichkeiten ist, für sich genommen, gewiss keine Katastrophe, alle zusammen aber lassen es nicht unbedingt als wünschenswert erscheinen, vor diesem Backwarenstand Wurzeln zu schlagen. „Momentchen,“ höre ich die ältere Dame sagen, „das müsste ich passend haben.“ Dann lässt sie mit ungelenken Fingern neun Euro und 78 Cent auf den Zahlteller klappern, gestückelt in 19 einzelne Münzen. Ein Zwei-Cent-Stück fällt zu Boden, ich bin ganz Kavalier und klaube es aus dem Matsch. Misstrauisch nimmt sie es entgegen, als hätte sie befürchtet, ich könnte mich damit aus dem Staub machen. Gleichzeitig höre ich die Brotverkäuferin sagen: „Es sind aber Neuneuroneunundsiebzig! Hätten Sie vielleicht noch einen Cent für mich?“ Sofort greife ich nach meiner Geldbörse, damit dieses grausame Spiel endlich ein Ende hat. Aber ich muss feststellen, dass sich in meinem Münzfach nur ein einziges Zwei-Euro-Stück befindet. Auch die ältere Dame hat bei der Suche in ihrem Portemonnaie und in den Taschen ihres Mantels offenbar keinen Erfolg. Da kommt ihr ein älterer Herr zu Hilfe, den ich jetzt erst bemerke. Er hatte wohl zuvor auf der, von uns aus gesehen, rechten Seite des Backwarenstandes gewartet. „Sie erlauben, dass ich ihnen diesen Glückscent zum Geschenk mache?“

Die überschwängliche Begeisterung, mit der die ältere Dame dieses Präsent von ihrem Altersgefährten entgegennahm, gab mir einen kleinen Stich. Zugleich beschäftigte mich die Frage, ob dieser spendable Kavalier bereits um Backwaren angestanden hatte, als ich hinzukam; oder ob er erst nach mir an der Reihe war. Möglicherweise hatte die zwischen uns stehende Teilchenkäuferin mir den Blick auf ihn verstellt. Vor dieser provisorischen Verkaufsstelle hatte sich in der Kürze der Zeit noch keine Gewohnheitsregel etablieren können, ob sich die Warteschlange nun nach rechts oder links zu bilden hätte. Ich kam aus Richtung der Bushaltestelle und stand darum links. Dass der ältere Herr hingegen rechts stand, konnte vielleicht darauf hindeuten, dass er mit dem Auto unterwegs war, denn rechts vom Standort, eben von diesem soeben erst aufgebauten Backwarenstand, befindet sich der Parkplatz des Supermarkts, der ungefähr die gleiche Fläche in Anspruch nimmt wie der Supermarkt selbst.

Bevor ich diese Erwägungen zu einem für mich eindeutigen Ergebnis hätte führen können, hatte die Backwarenverkäuferin gegen mich entschieden, indem sie sich dem älteren Herrn zuwandte: „Und was darf’s denn für Sie sein?“

Bevor er antwortete, schaute er kurz zu mir herüber, wie mir schien aber nicht mit einem fragenden, sondern eher mit einem triumphierenden Blick. Es war einer dieser Augenblicke, in denen eine kleine Ewigkeit Platz findet und die sich uns einbrennen, als läge in ihnen eine Weisheit verborgen, die weit über die in Sekunden oder in Jahren messbare Zeit hinausreicht. Er sah mich nicht so an, als wollte er sich vergewissern, ob er wirklich vor mir an der Reihe sei; und noch nicht einmal so, als wollte er prüfen, ob ich mich mit diesem Verlauf der Ereignisse abfinden würde, obwohl ich vielleicht davon ausginge, dass die Reihe eigentlich an mir sei. Er schaute vielmehr drein, als wollte er sagen: ,Pass mal auf, Du Trottel. Ich weiß zwar besser als Du selbst, dass ich nach Dir gekommen bin. Aber Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich die Gunst des Augenblicks verstreichen lasse, in dem mich die Verkäuferin zuerst angesprochen hat.‘ Und ehe ich mich’s versah, hatte er schon das Wort ergriffen. „Ich hätte gern … ich wollte eigentlich … aber ich hörte ja gerade … dass ihre Brotschneide-Maschine ja leider … wegen dem Umbau, tja … sehr ärgerlich.“ An Stelle der drei Pünktchen muss man sich jeweils eine so lange Pause vorstellen, wie man in einer solchen Situation eben noch für möglich hält. Offenbar litt die Backwarenverkäuferin genauso wie ich, denn nachdem sie kurz „Jasoisses“ gesagt hatte und darauf seitens des älteren Herrn erst einmal gar nichts mehr kam, wandte sie sich sichtbar erleichtert mir zu: „Und bei Ihnen?“ Wie aus der Pistole geschossen stieß ich hervor: „Nur drei Brötchen. Ich hab’s auch passend.“ Und sie steckte meine drei Brötchen schon in die Tüte, als der ältere Herr, ich ahnte es ja, seiner Entrüstung Ausdruck verlieh: „Das glaube ich jetzt nicht! Wieso sind Sie denn jetzt dran. Ich war doch noch längst nicht fertig.“ – „Und deshalb sind ja auch schon wieder dran. Ich wusste, was ich wollte und hab’s auch schon.“ Hier schwenkte ich mit der Linken die Brötchentüte und legte mit der Rechten abgezählte 81 Cent auf den Teller. Und nach einem verständnisinnigen Blickwechsel mit der Verkäuferin fügte ich hinzu: „Ich dachte, wir nutzen die Zeit, bis sie mit Ihren Überlegungen zu Rande gekommen sind.“ – „Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Meinen Sie etwa, weil ich auf meine alten Tage nicht mehr ganz so schnell bin, können Sie sich hier alles erlauben? Entschuldigung, dass ich noch lebe!“ – „Aber keine Ursache. Das stört mich nur mäßig.“ Und weg war ich.

Bin ich nun hiermit zu weit gegangen? Hätte ich dem Motto folgen sollen, das da heißt: Der Klügere gibt nach? Hätte ich bis zum fernen Ende weiter mit Engelsgeduld die schikanöse Slowmotion-Darbietung dieses offenbar unter Langeweile leidenden Rentners auf der Suche nach Streit ertragen müssen? Nun weiß ich nicht, was Dr. Dr. Rainer Erlinger im SZ-Magazin auf diese Gewissensfrage antworten würde. Ich werde ihn allerdings auch nicht fragen. Ich bin nämlich nach diesem kleinen Zwischenfall völlig im Reinen mit meinem Gewissen. So einer bin ich!

Hillebille

Monday, 22. February 2010

pinwand

Ich weiß ja, dass ich gegen ein journalistisches Tabu verstoße, wenn ich aus unschuldigen, aber vielsagenden Personennamen Profit für meine polemischen Attacken schlage. Das Argument gegen solch billige Häme lautet, für seinen Namen könne ja keiner was. Prinzipiell halte ich mich auch an dieses Gebot und würde zum Beispiel niemals der Versuchung erliegen, auf Ludwig Hohl das lateinische Sprichwort nomen est omen zu münzen. Aber gelegentlich, sehr selten gestatte ich mir eine solche Namendeutung dann doch einmal und legitimiere mich hierzu mit dem Hinweis, dass die Bezüge zwischen dem Namen und der Person nicht offenkundig waren, sondern erst mit viel Phantasie und noch mehr Spürsinn ans Licht gebracht werden mussten. – „Eine Hillebille,“ so weiß die deutschsprachige Wikipedia, „ist ein Schlagbrett aus Hartholz, welches […] als primitives Signalgerät diente, wahrscheinlich aber auch als Rhythmusinstrument verwendet wurde. Sie wurde freischwebend an einem Lederriemen aufgehängt und man brachte sie durch Schlagen mit einem Klöppel zum Tönen. Auf diese Weise konnten Nachrichten von Ort zu Ort übertragen werden.“ Und ein schlauer Wanderfuchs klärt mich auf: „Bis in das 20. Jahrhundert diente die Hillebille den Holzfällern und Köhlern im Harz als Alarminstrument und zum Übermitteln von Nachrichten.“

Der studierte Politologe, Soziologe, Historiker, Philosoph und Islamwissenschaftler Sven (nicht Jens, wie die Zeitung fälschlich schreibt) Hillenkamp (*1971), ehemaliger ZEIT-Redakteur und jetzt als freier Autor in Berlin und Stockholm lebend, beschreibt in der heutigen SZ die Befindlichkeit des freien Menschen in der freien Welt und in einer Gegenwart der unbegrenzten Möglichkeiten. Seine Pointe liegt auf der Hand, jede andere wäre ja auch langweilig und unverkäuflich: Nie waren wir so unfrei wie heute, unter diesen paradoxerweise doch grenzenlos freizügigen Bedingungen. (Sven Hillenkamp: Müde geworden vor der Zeit; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 43 v. 22. Februar 2009, S. 9.) Beim Lesen dieses Zweispalters auf der ersten Feuilletonseite stellte sich bei mir der typische Feuerwerk-Effekt ein: viele bunte Lichter, mancher laute Knall – und im Hintergrund ein dumpfes Donnergrollen. Mich stört an solchen Einlassungen zum Zeitgeist regelmäßig, dass sie ihren Bezugsrahmen und ihre Adressaten nicht klar benennen. Wo genau sollen wir jenen „freien Menschen“ ausmachen, über den Hillenkamp so viel zu wissen vorgibt und mitteilen zu müssen meint? In den Industrieländern der Ersten Welt? Und dort dann in der tonangebenden upper class? Vielleicht können wir es uns mit der Ortung leichter machen und die Zielgruppe eingrenzen, indem wir sie als die kleine aber feine Minderheit der SZ-Leserschaft hierzulande identifizieren, die kaum ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmacht. (Vielleicht würde der große Rest, erhielte er Kenntnis von Hillenkamps Zeitgeistdiagnosen, müde lächelnd zur tristen Tagesarbeit zurückkehren, so er denn noch eine hat, mit dem lakonischen Kommentar: „Eure Sorgen möchte ich haben.“)

Hillenkamp, der im vergangenen Jahr bereits den Tod der Liebe verkündet hat, und zwar gleich in Buchstärke, knöpft sich also jetzt die Freiheit vor, von der ja aufgewecktere Geister gerade in den letzten Dekaden immer nachdrücklicher behaupten, dass es sie nie gegeben habe. Der vielgebildete Alarmist mit seinem primitiven Signalgerät weiß nichts von diesen Bedenken und kommt mir vor wie der Rufer in der Wüste mit der Botschaft, dass der Wald brenne. Hillenkamp schreibt: „Einst war alles Prestige ans Sein geknüpft: den Adel, die edle Herkunft. Dann ans Haben, den Besitz. Jetzt ist es ans Tun gebunden: die außerordentliche Leistung, das künstlerische Werk sowie – die jüngste Entwicklung – ans Leiden.“ Die jüngste Entwicklung? Gab es da nicht vor gut zwei Jahrtausenden eine Erscheinung, bei der sich das Prestige in besonderem Maße eben ans Leiden knüpfte, an einen qualvollen Tod am Kreuz nämlich? Und die mit ihrem Vorbild durch viele Jahrhunderte eine zahllose Gefolgschaft mobilisierte, Märtyrer für den Glauben, die durch ihr schmerzvolles Opfer ebenfalls Prestige im höchsten Maße erlangten? „Alle Zusammenhänge,“ so Hillenkamp, „in die der Mensch sich begeben kann, drohen permanent mit Kündigung. Aus dem Unternehmen, dem Team, der Kunstgalerie, der Mannschaft, der Liebesbeziehung kann das Individuum jederzeit entlassen werden.“ Auch diese Risiken bestehen schon seit einer guten Weile, nämlich seit der Abschaffung der Sklaverei und der Einführung der bürgerlichen Ehe samt Scheidungsrecht. Dass die Freiheit nur um den Preis geringerer Sicherheit erhältlich ist, das dürfte doch wohl eine angestaubte Binsenwahrheit sein, die zu finden es keiner akademischen Ausbildung bedarf.

Besonders am Herzen liegt dem studierten Kritiker des Zeitalters der unendlichen Freiheit „der junge Mensch“, der in diesem Zwangsvakuum nicht weiß, was er werden soll. Er schämt sich, „in seiner Zukunft nichts zu sein. Seine Angst ist unerträglich. Er lebt auf das Nichts hin, ist bereits das Nichts. Jeden jungen Menschen trifft heute dieser Schock – und er hält ihn fest, bis es keine Zukunft mehr gibt.“ Hier bleibt offen, ob Hillenkamp, traurig genug, die individuelle Zukunft des jungen Menschen meint – oder unser aller Zukunft, gar die Zukunft des Sonnensystems? Zuzutrauen wäre es ihm, schreckt er ja auch sonst nicht vor Absolutsetzungen und Superlativen zurück.

Bevor nun auch meine Angst unerträglich wird, nämlich davor, dass solcherart „Apokalyptik aus dem Kaffeesatz“ Schule macht, wende ich mich lieber ab und danke artig, dass mich diese Kostproben hinreichend gewarnt haben vor des Autors Schmöker über den Tod der Liebe. Da lese ich lieber noch mal Günther Anders’ Notizen zur Geschichte des Fühlens, Lieben gestern. Dieses Büchlein hat nun auch bald schon wieder ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel, dürfte aber selbst beim zweiten Lesen noch auf jeder Seite mehr Erkenntnisgewinn erzeugen als ein ganzes Billyregal voller brandaktueller Zeitseelenausdeutungen via Hillebille.

Q’s Gequatsche (I)

Sunday, 21. February 2010

q1

Ich werde jetzt nicht bei Adam und Erika anfangen und erzählen, wo und wann und wie ich Q kennengelernt habe. Vielleicht später einmal. Auch eine umständliche Beschreibung seiner Äußer- und Innerlichkeiten erspare ich mir und der Leserin. Q spricht für sich, und da er dies ohne Unterlass tut, dürfte dies fürs Erste nicht nur reichen, sondern immer ein Schlag mehr als genug sein, um sich ein Bild von diesem Quatschkopf zu machen. Weil ich aber weiß, wie hungrig die Einbildungskraft des Lesers danach giert, sich das Erscheinungsbild des Helden mit ein paar starken Strichen wenigstens näherungsweise auszumalen, gebe ich hier einen der zahlreichen Schnappschüsse preis, die ich von Q im Laufe der Jahre ohne sein Wissen gemacht habe [Titelfoto v. Revierflaneur / Osnabrück 1998].

Anfang des Monats rief Q nach längerer Pause wieder einmal an. Er meldet sich grundsätzlich nicht mit Namen, sondern stets mit der hirnverbrannten Floskel: „Altes Haus! Schräger Sims? Ganz genau: Ich bin’s!“ Sprüche dieser sinnfreien Art hat er noch etliche auf Lager. Ich habe ihn mal gefragt, woher er die eigentlich hat. Das seien volkstümlich Redensarten, die seine Tante häufig im Munde geführt habe. Ich mag das nicht so recht glauben, denn ich habe dergleichen nie jemals anderswoher als aus Q’s Munde vernommen. Und auch gelegentliche Googelei führte zu nichts. Eher schon traue ich besagter Tante zu, dass sie sich den Nonsense aus den Rippen geschnitten und ihrem Neffen als altehrwürdige Sprichwortfolklore verkauft hat. Diese Tante muss es nämlich sehr im Unterschied zu Q fausdick nicht nur hinter den Ohren gehabt haben, nach allem, was ich mir aus Q’s Berichten über sie und über seine „irreguläre Kindheit“ (Q’s Worte) mit viel Phantasie und Spucke zusammenleimen konnte. Er habe, so Q zur Abwechslung wieder einmal, einen „mittelschweren Verdacht“.

Wenn er so anfängt, mache ich mich darauf gefasst, entweder mit einer neuen Ausgeburt seiner Paranoia oder mit dem aktuellen Auswuchs seiner Hypochondrie Bekanntschaft schließen zu müssen. Ich ließ mich also mit einem kaum unterdrückten Seufzer, die Sprechmuschel des Hörers immerhin leicht vom Munde abgewandt, auf meine preußischblaue Chaiselongue sinken und fragte zaghaft: „Und der wäre?“ – „Einiges deutet darauf hin, dass dem Eskalatismus allmählich die Puste wegbleibt.“ So Q. „Tatsächlich?“ Ich sprang wie elektrisiert von der Sitzliege. „Wäre das nicht ein Widerspruch in sich?“

Ich müsste nun, damit meine Erregung verständlich wird, weit ausholen und diese Privatideologie, die sich Q seit frühester Jugend zusammengezimmert hat, in all ihren Voraussetzungen und Schlussfolgerungen, aber auch in den methodischen Vorgehensweisen ihrer Selbstvergewisserung vorstellen. (Q spricht, was letztere betrifft – gern von „szenischen Versuchsanordungen“.) Hier muss der Hinweise genügen, dass Q allen Fortschritt in der menschlichen Geschichte als zwangsläufige exponentielle Entwicklung interpretiert, ganz gleich, ob er die Zunahme der Weltbevölkerung, die Abnahme der fossilen Brennstoffe, die Kapitalkonzentration, den Schwund der Tier- und Pflanzenarten, das Aussterben der Sprachen, das Verkümmern der kulturellen Vielfalt, die Abstumpfung der individuellen Sensibilität oder die Erosion der Kreativität durch passiven Konsumismus in den Blick nimmt. Wohlgemerkt, solche Begriffe würde Q niemals verwenden, sie sind ihm vermutlich größtenteils sogar unverständlich. Q sagt sattdessen etwa: „Guck dir doch bloß an, was an Filmen gemacht wird. Immer schärferer Sex und immer härtere Gewalt für die Männer, immer seichterer Gefühlskitsch und immer grellerer Skandalklamauk für die Frauen. Stimmt nicht total, aber zu neunzig Prozent. Der Trend wird vielleicht jetzt erst deutlich. Aber es gab sie schon immer, die alte Sehnsucht des Tieres, das vor ein paar tausend Jahren in uns eingesperrt wurde und endlich wieder freigelassen werden will. Je länger es vom Ausbruch träumt, desto gefährlicher wird es.“

Ich gebe zu, dass mich anfangs Q’s Unkereien ziemlich beunruhigt haben, so grobschlächtig sein Denken auch sein mochte. Das mag auch an dem Tonfall liegen, in dem er seine Gedankengänge mitteilt und in dem immer etwas mitklingt, das ich einmal anderswo sein „Drohvibrato“ genannt habe. (Inzwischen bin ich daran gewöhnt und bleibe selbst dann verhältnismäßig gelassen, wenn Q mir von den grenzwertigeren seiner szenischen Versuchsanordungen Bericht erstattet.) Heute aber war ich wirklich nahezu fassungslos, denn die Ankündigung eines Bruchs in dem erklärten Urprinzip ewiger Eskalation hatte es noch nie gegeben, sie schien mir zudem auch deshalb sensationell, weil Q sie in einem absolut leidenschaftslosen Tonfall vortrug. Q spürte wohl meine Irritation und wiederholte seine Vermutung noch einmal in anderen Worten: „Wenn ich nicht irre, scheint der Eskalatismus neuerdings zu schwächeln.“

[Wird fortgesetzt.]

Voll Kwango

Thursday, 18. February 2010

hyänen

Im Zoo von Münster lebt ein Gorilla namens N’Kwango (* 1996). So stark er ist, hat er doch ein weiches Herz. Wenn Fatima (* 1973) traurig ist, schmilzt N’Kwangos Herz hinter dem hammerharten Brustkasten und er versucht, sie zu trösten. Das sieht dann so aus. Warum Fatima traurig ist, wissen wir nicht, können da nur mutmaßen. Vielleicht, weil sie den Tod ihrer Schwester Gana (1998-2010) nicht verkraftet hat?

Wenn man in Essen ungewöhnliche Begegnungen mit Tieren haben will, geht man ins Folkwang-Museum. Die Zeiten, als es im Essener Grugapark noch einen Affenfelsen, ein Seehundbecken und ein imposantes Aquarium samt Terrarium gab, sind längst Geschichte. Noch nicht ganz so lange zurück liegt aber die Folkwang-Ausstellung Das fotografierte Tier. Und unvergessen ist mein Eindruck von der privaten Führung, die mein alter Freund Jürgen Lechtreck als Kurator dieses modernen „Bestariums im Rahmen und hinter Glas“ für mich und meinen ältesten Sohn im Dezember 2005 veranstaltet hat.

Heute habe ich mir den gerade eröffneten Neubau des Museum Folkwang [siehe hierzu die Kommentare] angeschaut. Ein großformatiges, zwanzigseitiges Heft Eröffnung des Neubaus wird am Empfang kostenlos ausgegeben. Darin und in allen anderen Verlautbarungen, die mir bisher zu Gesicht gekommen sind, ist die adjektivische Dopplung „hell und licht“ besonders beliebt zur Beschreibung der Qualitäten dieses Bauwerks von David Chipperfield. Und was sieht man an den teuren Wänden, in den edlen Hallen? Die Zusammenstellung von Werkgruppen und Installationen der Gegenwartskunst schien mir etwas willkürlich. Immerhin war ich froh, Gerhard Richters Wolkenbild Nr. 265 endlich einmal wiederzusehen. Es hängt jetzt in Augenhöhe des Betrachters, somit viel tiefer als früher, wo es in dem großen Saal mit dem Calder-Mobile unerreichbar entrückt schien – wie Wolken ja üblicherweise auch zu sein pflegen. Hier nun kommt es mir kleiner vor als in meiner Erinnerung. Soll das so bleiben? Bitte nicht!

Eine angenehme Überraschung boten hingegen die drei kleinen Ausstellungen Raumeroberungen (mit Plakaten von Günther Kieser, Holger Matthies und Gunter Rambow), Wünsche und Erwerbungen (mit zeitgenössischen Zeichnungen) und insbesondere die imponierende Zusammenstellung von Porträts unter dem Titel Fotografie und Individuum. Wieder einmal konnte man sich überzeugen, welch großartige Sammlung Ute Eskildsen hier in den vergangen drei Jahrzehnten zusammengetragen hat. Ich wäre sofort bereit gewesen, einen Katalog mit den Fotos dieser Teilausstellung zu erwerben, musste aber mit Bedauern zur Kenntnis nehmen, dass es einen solchen nicht gibt. – Somit ist ein Besuch dieser Ausstellung (bis zum 4. April) nicht nur empfehlenswert, sondern dringend geboten: Go to Folkwang! (Eintritt 5 Euro.)

Auch heute entdeckte ich übrigens wieder ungewöhnliche Tierfotos, diesmal im Rahmen verschiedener Serien mit Schausteller-Porträts. Unvergleichlich schienen mir die Farbfotos mit nigerianischen Hyänenführern von Pieter Hugo [Titelbild aus seinem Bildband The Hyena & Other Men © Pestel Verlag]. Hatte ich nicht eine dieser Hyänen auch im Eröffnungsprospekt gesehen? Ich blätterte und suchte und kam zu dem Ergebnis, dass ich mich da wohl von ganz oberflächlichen Ähnlichkeiten hatte täuschen lassen. Übrigens sind Hyänen ja im Allgemeinen viel harmloser, als ihr schlechter Ruf uns glauben machen will.

Schweiger & Schwätzer

Tuesday, 16. February 2010

rothbristol

Neben der sechsbändigen Joseph-Roth-Werkausgabe, der Ausgabe seiner Briefe von Hermann Kesten, den Roth-Biographien von David Bronsen und Wilhelm von Sternberg und dem prachtvollen Bildband von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos (Joseph Roth. Leben und Wek in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994), den ich immer wieder von vorn bis hinten durchblättern muss, allein schon deshalb, weil ein Namenregister fehlt, müssen in diesen Tagen einer neu erwachten Roth-Begeisterung auch die Erinnerungen seines Freundes Soma Morgenstern (1890-1976) stets zur Hand sein, die mich wie schon bei der ersten Lektüre vor neun Jahren auch jetzt wieder mit mancher überaus prägnanten Anekdote beglücken (Joseph Roths Flucht und Ende. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1998).

Soeben stolpere ich dort über die Porträts zweier sehr gegensätzlicher Männer der Feder, die nebeneinander zu halten gerade deshalb reizvoll sein könnte. Mit dem ersten macht uns Morgenstern in der Redaktion der Frankfurter Zeitung bekannt, wo er 1927 als Nachfolger von Heinrich Hauser einen festen Bureau-Posten bezogen hatte. Seine Nachbarn waren dort der berühmte Siegfried Kracauer – und eben unser erster Charakterkopf, der heute vergessene Rudolf Geck (1868-1936), welcher intern nur „der alte Geck“ genannt wurde und von 1907 bis 1924 das Amt des Feuilletonchefs bekleidete. In seiner Einarbeitungszeit spürt Morgenstern, dass ihm Geck, der das Geschäft wie im Schlaf beherrscht, bei der Erledigung der täglichen Post einiges an Routine voraus hat. Während sich der Neuling noch mit der Lektüre herumplagt, steht „der alte Geck“ auf ein Pläuschchen vor seinem Schreibtisch und lenkt ihn von der Arbeit ab. Morgenstern leidet still, denn es steht ihm nicht zu, seinen Chef aus dem Büro zu weisen. Der ergreift schließlich das Wort zu folgender Grundsatzerklärung: „Lieber Herr Dr. Morgenstern, ich sehe mit Freuden, wie sie von Woche zu Woche schneller mit dem Posteinlauf fertig werden, obwohl ich ihren noch schnelleren Fortschritt, so gut ich es zuwege bringen konnte, verhindert habe. Aber ich bin, wie sie vielleicht schon gemerkt haben, ein unentwegter Schwätzer. Das war ich schon in meinen jüngsten Jahren. Ich habe auch dem Umstand, der stadtbekannt ist, schon Rechnung getragen. Als alter Schwätzer habe ich dafür gesorgt, daß alle Welt das erfahre. Ich habe eine Grabinschrift für mich entworfen und in sauberer Handschrift aufgeschrieben: Hier ruht Geck, | Ein Dichter. | Geh weg, | Sonst spricht er.“ (Morgenstern, a. a. O., S. 90 f.)

Während Joseph Roth den „alten Geck“ früher kennengelernt hatte als sein Freund, machte er die Bekanntschaft eines geradezu gegensätzlichen Unikums jener Zeit, aber eines ebenfalls heute nahezu Verschollenen, erst durch Morgensterns Vermittlung: die des hebräischen Lyrikers Abraham Sonne (1883-1950). In seinen Erinnerungen spannt Soma Morgenstern den Leser auf die Folter, wenn er den Namen zunächst gesprächsweise im Herbst 1937 in Wien aufscheinen lässt. Im dortigen Hotel Bristol [Titelbild] erörtert er mit Joseph Roth und Stefan Zweig die Appeasement-Politik von Arthur Neville Chamberlain. Morgenstern beruft sich auf einen Freund in Wien, der ein paar Jahre als Sekretär von Dr. Chaim Weizmann in London gelebt habe und viel von der Großpolitik Englands verstehe. Dieser Dr. Sonne habe gesagt, Chamberlain werde Europa Stück um Stück an Hitler ausliefern (ebd., S. 144). Bei einer späteren Gelegenheit streiten Zweig, Roth und Morgenstern über die Frage, ob England stillhalten werde, sollte Hitler den Anschluss Österreichs wagen. Dr. Sonne, der mittlerweile am Jüdischen Pädagogischen Institut lehre, habe dies verneint, so Morgenstern. „,Wer ist dieser Sonne, von dem ihr schon wieder redet?‘ fragte Roth. – ,Er war einmal ein hebräischer Dichter, hat aber das Dichten schon im Weltkrieg aufgegeben. Er stammt aus Przemyśl, Galizien.‘“ (Ebd., S. 162.) Auch Morgensterns Buch verzichtet auf ein Namenregister, weshalb man etwas stöbern, blättern und suchen muss, bis man endlich mit Dr. Abraham Sonne persönliche Bekanntschaft schließen darf. Dort erzählt er seinen Besuchern, dem nun schon gut eingeführten Trio, eine Geschichte zu der Frage, ob es außer Stefan Zweig auf der Welt noch einen zweiten Menschen gebe, der seinen Pazifismus so weit treibe, sich zu weigern ein Gewehr auch nur zu berühren. Man lese diese Geschichte selbst bei Morgenstern nach auf S. 182 f., sie hat mit dem eigentlichen Gegenstand dieses Beitrags nichts zu tun.

Dieser „eigentliche Gegenstand“ könnte als das Verhältnis von extremer Gesprächigkeit und extremer Verschwiegenheit identifiziert werden. Vielleicht sind dies ja nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Irre ich mich, oder erwirbt man nicht den Ruf eines Weisen auf sowohl kürzerem als auch bequemerem Wege, wenn man möglichst wenig von sich gibt? Und zieht man sich nicht als Vielreder und Vielschreiber sehr leicht den Vorwurf zu, ein Großmaul, eine Plaudertasche, ein Quatschkopf zu sein? Dies schien mir immer schon eine große Ungerechtigkeit und zudem ein albernes Missverständnis, wie übrigens auch das vielleicht blödeste aller Sprichworte: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich bin im Übrigen ebenso weit davon entfernt, mich mit Sonne vergleichen zu wollen, wie mit der Schwatzhaftigkeit eines Geck konkurrieren zu können. Wenn ich etwas mit ihnen teile, dann das Schicksal, nur ganz kurz und blass aus meinem Inkognito aufzutauchen – um schon wieder so gut wie weg zu sein.

Dr. Abraham Sonne, den man bei Wikipedia unter seinem hebräischen Namen Avraham Ben Yitzhak findet, ist einem größeren Leserkreis durch jenes Sonne überschriebene Kapitel im dritten Band von Elias Canettis großer Autobiographie, Das Augenspiel, bekannt geworden. (Elias Canetti: Das autobiographische Werk. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, o. J. [2001], S. 801-818.) Die wenigen Gedichte aus den Jahren 1903 bis 1910, die von Sonne auf uns gekommen sind, hat Wayne Myers aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt. Er nennt Avraham Ben Yitzhak “the great poet of silence”. Und Naomi Dison Kaplan kann in ihrem Essay The Silence of Avraham Ben Yitzhak sein literarisches Gesamtwerk der Nachkriegszeit in einem einzigen Satz abhandeln: “From about the First World War he maintained a self-imposed literary silence and published nothing except a few anonymous articles in the Viennese Jewish press, and an essay on the Yiddish writer, Mendele Mocher Sefarim, which appeared in Der Jude.

Roth im Revier (II)

Sunday, 14. February 2010

kaiserhof

In der bahnbrechenden Roth-Biographie des Amerikaners David Bronsen heißt es über die erste Revier-Stippvisite von Joseph Roth: „Im Frühjahr 1926, auf der Rückreise von einer Redaktionskonferenz in Frankfurt, machte Roth einen Abstecher nach dem Ruhrgebiet, ehe er seine Reise nach Paris fortsetzte. Die Reportagen, die daraus entstanden, stehen in krassem Gegensatz zu denen über Südfrankreich, dessen heilsamer Einfluß ihn nicht losließ. […] Das Temperament des Berichterstatters nahm vieles mit Unwillen auf. ,Dunst, Rauch, Staub‘ stoßen ihn ab. Nachdem er den organisch gewachsenen französischen Midi gepriesen hat, klagt er über die ,Enge‘ und ,die Kälte‘ des Ruhrgebietes, die ihm zur Qual werden. Er reibt sich an der Grobheit des Arbeiterlebens und der primitiven Anspruchslosigkeit der sozialen und kulturellen Einrichtungen. […] In Frankreich feierte er den Sieg der Natur. Hier schildert er den trostlosen Sieg über die Natur.“ (David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1974, S. 277 f.) In der Frankfurter Zeitung, bei der Roth damals unter Vertrag stand, erscheinen die Artikel Tübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet und Der Rauch verbindet Städte (am 9. und 18. März 1926; in: Werke 2, S. 544-549) sowie, mit etwas Verzögerung, weshalb man es in der streng chronologisch geordneten Werkausgabe leicht übersieht, ein so luzides wie zynisches Resümee seines Aufenthaltes an der Ruhr unter dem Titel Privatleben des Arbeiters (am 10. April 1926; ebd., S. 552-556). Diesem trostlosen Fazit hat die Zeitung eine „redaktionelle Bemerkung“ vorangestellt, die Bronsen zitiert: „Wir bringen diese Eindrücke von einer Reise durch das Ruhrgebiet, Eindrücke aus dem Alltag des Arbeiters, die uns um so wertvoller erscheinen, als sie unabhängig von jeder programmatischen Forderung entstanden sind. Es versteht sich von selber, daß mit den folgenden Betrachtungen prinzipielle Fragen nur aufgeworfen, aber nicht grundsätzlich beantwortet sein sollen. Es sind Impressionen, gesehen durch ein Temperament.“ (Bronsen, a. a. O., S. 278.)

Bei seinem Aufenthalt in Essen logierte Joseph Roth im Hotel Kaiserhof [Titelbild], wie wir dem Absendevermerk eines auf den 11. Februar 1926 datierten Briefes an Bernhard von Brentano entnehmen können. Darin klagt Roth: „Ich reise jetzt einige Wochen herum. Aber ohne Geld. Es ist furchtbar, so zu fahren, ich bin verzweifelt, kann meine kostspieligen Bedürfnisse nicht aufgeben und die Zeitung spart und spart erbärmlich. Es macht mir keine Freude mehr, man hat mir nicht einmal einen Vorschuß für März gegeben, ich habe keinen Vertrag, ich bin ganz trostlos.“ (Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Hrsg. u. eingel. v. Hermann Kesten. Köln / Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1970, S. 78.) Das Verhältnis zu seinem langjährigen Auftraggeber, der Frankfurter Zeitung, ist schon seit einer Weile gespannt und wird es bleiben. Im Sommer 1930 löst Roth das Verhältnis und schließt einen Vertrag mit den Münchner Neuesten Nachrichten. Auch in anderen Zeitungen erscheinen nun vermehrt seine Feuilletons.

Ab Anfang Mai 1931 bringt die Kölnische Zeitung eine längere Folge von Reiseimpressionen, aus Magdeburg, Leipzig und schließlich erneut aus dem Ruhrgebiet, beginnend in Duisburg mit Der Hafen von Ruhrort, In andern Kneipen und Gustav (24. Mai und 7. Juni; in: Werke 3, S. 320-329). Darauf folgen die Ankunft in Essen, Abend in Essen, Die Bar erster und zweiter Klasse, Die andere Bar, Der Morgen aber, Ein Ingenieur mit Namen K. und Ein Arbeiter mit Namen M. (7., 14. u. 21. Juni 1926; ebd., S. 330-346).

Wilhelm von Sternburg hat in seiner jüngst erschienen Biographie Zweifel angemeldet, ob Joseph Roth in der ersten Jahreshälfte 1931 tatsächlich eine zweite Reise ins Ruhrgebiet gemacht hat: „Am 3. Mai 1931 erscheint in der Kölnischen Zeitung der erste von 15 Artikeln, in denen er von einer Reise berichtet, die ihn nach Magdeburg, Leipzig und in das Ruhrgebiet geführt haben soll, und in denen er feuilletonistisch über Gustav den Kneipenwirt oder einen Ausflug am Sonntag plaudert. Die Daten der überlieferten Briefe geben keinerlei Ansatzpunkte, dass Roth diese Reise gemacht hat. Vielleicht schrieb er sie alle im Pariser Hotelzimmer.“ (Wilhelm von Sternberg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 393.) Ich habe eine andere Vermutung. Am 7. April 1926 hatte der Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, Benno Reifenberg (1892-1970), an Joseph Roth in Paris geschrieben: „Ich habe Ihnen für vielerlei zu danken […], für Ihre weitere Arbeit aus dem Ruhrgebiet Persönliches Leben des Arbeiters [sic] und jetzt für Ihren Bericht von den Schlachtfeldern […].“ (Gemeint ist Roths Bericht St. Quentin, Perronne, die Maisonette, erschienen in der Frankfurter Zeitung v. 2. Mai 1926.) Nach diesen einleitenden Komplimenten kommt Reifenberg bald zum eigentlichen Anlass seines Briefes: „Lieber Herr Roth, ich muß wohl nicht sagen, daß Ihr Ausscheiden aus unserer Zeitung für mich den schwersten Schlag bedeutet, den ich in diesen Anfangsjahren erleben könnte. Ich habe einfach auf Sie gerechnet. Ich brauche die Mitarbeit von Menschen meiner Generation, mit denen ich mich ohne weiteres verstehe, mit denen ich Ideen teile, die uns ohne weiteres selbstverständlich sind. Es wäre nach meiner Überzeugung eine verlorene Schlacht, wenn Ihr Name plötzlich in Berliner Blättern auftauchen müßte. Ich habe das deutlich dem Verlag mitgeteilt und nun bitte ich mir zu glauben, daß der Verlag nicht sehr viel anders als ich denkt und daß ihm sehr darum zu tun ist, mit Ihnen ein gutes Einvernehmen zu pflegen.“ (Briefe 1911-1939, a. a. O., S. 83 f.) Dank dieser Intervention konnte ein vollkommener Bruch mit der Frankfurter Zeitung vorläufig noch verhindert werden. Es kann aber gut sein, dass durch diese vorübergehende Verstimmung die Veröffentlichung weiterer, bereits vorbereiteter oder gar ausformulierter Ruhrgebiets-Artikel ins Stocken geriet und dann ganz unterblieb. Schließlich hatte ja ihr Verfasser nicht einmal einen Vertrag, wie er im oben zitierten Brief aus dem Essener Kaiserhof beklagte. Fünf Jahre später kam der viel beschäftigte Journalist dann auf die Idee, diese liegengebliebenen Blätter der Kölnischen Zeitung als brandneu zu verkaufen. Tatsächlich enthalten alle zehn Artikel keinen einzigen Hinweis, der eine eindeutige Datierung zuließe. Klang nicht übrigens auch die oben zitierte „redaktionelle Vorbemerkung“ von 1926 eher nach der Ankündigung einer längeren Folge von Artikeln? Dass daraufhin nur drei Texte erschienen, musste die Erwartungen enttäuschen, die durch die Ankündigung geweckt worden waren.

Ich vermute, dass die insgesamt 13 Revier-Feuilletons von Joseph Roth zusammengehören, nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich. Sollten gründlichere Recherchen zu diesem Gegenstand und in diese Richtung meine Annahme bestätigen, dann wäre es vorstellbar und wünschenswert, diese Kleine Reise ins Revier von Joseph Roth aus dem Frühjahr 1926 als kommentierten Separatdruck neu herauszubringen.

Texttraum (I)

Friday, 12. February 2010

trauma

Seit ich die produktive Zeit meiner Tage ganz überwiegend mit dem Verfassen von Texten verbringe, seit knapp drei Jahren also hat sich bei mir ein neuer Traumtyp eingestellt.

Diese Textträume, wie ich sie nennen will, suchen mich in unregelmäßigen Abständen heim, und zwar immer in den Morgenstunden an der Grenze zum Erwachen. Ich bin mir sogar bewusst, dass ich träume, beschließe aber, den Traum noch nicht durch vollständiges Hinüberwechseln in den Wachzustand zu beenden, weil ich gern wissen möchte, wie er ausgeht, wenn ich ihn sich selbst überlasse. Darin verbirgt sich allerdings ein Widerspruch, denn gleichzeitig bin ich mir dessen bewusst, dass ich selbst es bin, oder besser: dass es etwas in mir selbst ist, dass den Traum in allen Einzelheiten verfertigt.

Dies mag schon befremdlich genug klingen. Was mich aber wirklich immer wieder erstaunt und anfangs sogar beunruhigt hat, ist etwas anderes. In diesen Träumen spielt die Sprache – die ausformulierte Sprache in wörtlicher Rede, in gelesenen Texten, aus dem Radio oder in Büchern – die entscheidende Rolle. Und die sprachlichen Äußerungen, mit denen ich in diesen Textträumen konfrontiert bin, richtiger: mit denen ich mich selbst konfrontiere, ohne mir einer schöpferischen Leistung bewusst zu werden, sind so wohlgesetzt, teils syntaktisch erstaunlich kompliziert und doch fehlerfrei gebaut, dass ich den Zweifel nicht ganz abweisen kann, ob sie wirklich von mir allein stammen. Hinzu kommt, dass ich, ihr Träumer, von ihrem eigentlichen Inhalt oft genug selbst überrascht bin.

Der jüngste Texttraum liegt unmittelbar zurück und ich habe ihn noch in sehr frischer Erinnerung. Als gutes Beispiel will ich ihn hier möglichst genau wiedergeben. Ich befinde mich mit einem etwa 30jährigen, blonden, gut aussehenden Mann im Halbdunkel eines kleinen Häuschens, von dem ich annehme, dass es auf dem Lande gelegen ist. Ich erinnere mich, dass er irgendwann den geografischen Namen Västerbotten erwähnt, weshalb ich ihn für einen Skandinavier halte und vermute, dass wir uns in Schweden befinden. Es ist Winter, durch ein beschlagenes Fenster hinter dem Mann ist eine Schneelandschaft zu erahnen. Ich habe das Gefühl, dass noch weitere Personen sich mit uns in diesem schwach beleuchteten, aber gemütlichen Zimmer befinden, die eher zu mir gehören. Die Art, wie der Mann spricht, lässt darauf schließen, dass er uns auf eine Frage antwortet. Vielleicht sind wir Reporter, die ihn interviewen? Vielleicht sind wir aber auch neue Freunde, denen er bedeutsame Episoden aus seinem Leben erzählt, damit wir ihn besser kennenlernen. Der Mann spricht in kurzen, klaren Sätzen, nicht laut, nicht leise, nicht tonlos, aber auch nicht dramatisierend. Vielleicht könnte man seinen Tonfall am ehesten als beherrscht bezeichnen, und zwar durchaus in dem Sinne, dass er seine Stimme mit Macht beherrschen muss, weil sie sonst ausbrechen könnte. Von Anfang an habe ich, während ich ihm zuhöre, das Gefühl, dass das, was er uns erzählt, auf etwas Ungutes hinauslaufen wird. Und ich bin ganz sicher, dass ich ihn unter keinen Umständen unterbrechen darf. Dies erzeugt in mir ein deutliches, aber nicht unerträgliches Gefühl von Ausgeliefertsein. Vermutlich ist es die Neugier, die ich gleichzeitig empfinde, die mir die Lage des stummen Zuhörers dennoch halbwegs erträglich macht. Zugleich weiß ich ja, siehe oben, dass ich dies nur träume. „Nein,“ sagt der blonde Mann, „ich bin nicht gern in diesem Haus. Es ist nicht etwa deshalb, weil an dem Haus selbst etwas zu beanstanden wäre. Es ist günstig gelegen. Es hat für einen bescheidenen Menschen wie mich genug Komfort. Und dennoch kehre ich nur hierher zurück, wenn es nicht vermeidbar ist. Die Heizung hat ihre Mucken, gewiss. Auch das Regenrohr verstopft im Herbst, und das Wasser pläddert anschließend gegen die Fenster, was ganz schön an die Nerven gehen kann. Aber damit lässt sich ja schließlich leben. Es hat einen anderen Grund, warum ich dieses Haus meiner Kindheit meide. Es sind die Erinnerungen, die dann wach werden. Sie stecken in jedem Winkel, kriechen aus jeder Ritze. Jedes Astloch raunt mir diese alten Geschichten ins Ohr.“ (Ich muss hier kurz unterbrechen, um meine Begeisterung für dieses Sprachbild zum Ausdruck zu bringen. Darauf wäre ich im Wachzustand kaum gekommen. Übrigens fiel im Traum an dieser Stelle seiner Ausführungen mein Blick tatsächlich auf ein Astloch in der Tischplatte vor mir, zwischen uns, und es schien mir, dass es die Form und Färbung eines zum O geformten Mundes hatte.) „Meine Mutter arbeitete in der Stadt. Und im Winter waren mein Vater und mein Onkel daheim und hatten nichts zu tun. Deswegen ertrage ich es nur mit Mühe und nur für kurze Zeit, mich in diesem Haus aufzuhalten. Ich bereue jetzt wieder, mich auf den Vorschlag eingelassen zu haben, hierher zu kommen. Es ist ja so, dass mein Onkel mit mir hier Dinge getan hat, die mir nicht gefielen. Und es ist so, dass diese Dinge mir immer unerträglicher wurden. Ich ertrug es schließlich nicht mehr und bin, obwohl ich mich so sehr schämte, zu meinem Vater gegangen. Aber mein Vater hat mich nicht vor seinem älteren Bruder in Schutz genommen. Das ist der Grund. Das ist alles. – Gehen wir!“

Ich beschließe, dass der Texttraum damit beendet ist, knipse ihn geradezu aus wie einen Film im Fernsehen und bin augenblicklich hellwach. Ich erzähle ihn meiner Gefährtin, damit ich ihn besser im Kopf behalte. Zweierlei fiel mir zu diesem speziellen Fall spontan ein, was als Quelle oder Material gedient haben könnte. Einmal die Autobiographie von Per Olof Enquist, die ich im Juni vorigen Jahres gelesen habe. Enquist stammt aus Västerbotton und hat in Ein anderes Leben ausführlich über seine problematische Kindheit gesprochen und über das Verhältnis zu seinem früh verstorbenen Vater. (Dass mein sehr starker Eindruck von diesem Buch hier keinen Wiederhall gefunden hat, ist einzig mit meiner umzugsbedingten Zwangspause beim Bloggen zu erklären.) Zweitens der Film Das Fest des Dänen Thomas Vinterberg, den ich 2005 gesehen habe und in dem es um Kindesmissbrauch durch den Vater geht. – Ich verspüre ansonsten nicht das Bedürfnis, meine Textträume zu interpretieren, zu deuten. Das erschiene mir fast wie die Beschädigung von etwas sehr Zartem, Verletzlichem, als wollte man einer Blüte die einzelnen Blätter ausrupfen.

Roth im Revier (I)

Thursday, 11. February 2010

burgplatzessen

Gerade erweist sich wieder einmal, dass das Ruhrgebiet bei aller blühenden Pracht diverser bildender und darstellender Künste literarisch nahezu nichts zu bieten hat. Im über 200 Seiten starken Programmheft für das erste Halbjahr der Kulturhauptstadt Europas entfallen auf die Sparte „Sprache erfahren“ gerade einmal sechs, dazu noch mühsam gefüllte Seiten (vgl. Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Buch zwei. Essen: RUHR.2010 GmbH, 2010, S. 116-121). Dieses unfreiwillige Selbstbekenntnis zum sekundären Analphabetismus einer Fünfmillionen-Metropole werde ich vielleicht gelegentlich, wenn ich in soliderer Stimmung bin, genauer unter die Lupe nehmen.

Hätte man ehrlich sein wollen, dann wäre noch am ehesten ein Programmschwerpunkt mit jenen schreibenden Revierflüchtlingen zu bestreiten gewesen, die bis auf ihre Abstammung und damit immerhin ihre früheste Prägung kaum etwas mit der Region verbindet, also mit Nachkriegsautoren wie Helmut Salzinger, Nicolas Born, Brigitte Kronauer oder Ralf Rothmann. Aber mit welchen Inhalten hätte man eine solche Revue der Fortgegangenen füllen können? Mit der Ausnahme von Rothmanns Frühwerk hat diese Herkunft, mit der man nirgends Eindruck schinden kann, kaum einen Niederschlag bei ihnen gefunden. Und auch über die Gründe ihres Weggehens haben sie, soweit ich weiß, nichts Nennenswertes zu Papier gebracht, vermutlich einfach deshalb, weil es jedem Außenstehenden unmittelbar verständlich ist und keiner besonderen Erklärung bedarf, wenn man als kulturell interessierter, weltoffener, sensibler und erfahrungshungriger junger Schriftsteller aus dieser Gegend nur fliehen kann. Und den Zurückgebliebenen muss man es nicht erklären, weil die es gar nicht merken, nicht wissen wollen und nicht verstehen würden. Niemand hat ja die Fortgegangenen je vermisst.

Wenn man sich die wenigen Sammlungen literarischer Zeugnisse aus dem bzw. über das Ruhrgebiet anschaut, dann fällt auf, dass es sich ganz überwiegend um nüchterne Berichte von eilig Durchreisenden handelt, so etwa in einer Textsammlung über meine Heimatstadt, Essen in alten und neuen Reisebeschreibungen (ausgew. v. Klaus Rosing. Düsseldorf: Droste, 1989). Indirekt spiegelt sich dies auch im Titel der von Dirk Hallenberger liebevoll zusammengetragenen Reportagesammlung über das Ruhrgebiet wider: Heimspiele und Stippvisiten. Schaut man sich die Auswahl genauer an, dann bestätigt sich schnell die Vermutung, dass die „Stippvisiten“ deutlich in der Überzahl sind, während mit „Heimspiele“ wohl bloß der lokalen Affinität zum Fußball eine kleine Reverenz erwiesen werden soll. Gerade aus dieser Beobachtung hätte ja ein in Sachen Literatur etwas ambitionierteres Team im Kulturhauptstadt-Büro den ispirierenden Funken schlagen können. Schließlich sind die touristischen Heerscharen, die das Großevent Kulturhauptstadt an die Ruhr locken soll, ebenfalls nur auf Stippvisite.

Und was hatten sie so zu berichtet, die großen Durchreisenden der 1920er-Jahre? – Alfred Kerr: „Die Einwohner sind nicht von überflüssiger Heiterkeit. Machen Wege nicht zum Spaß – sondern anscheinend immer zu irgendeinem sachlichen Ziel. (So sieht es für den hereinschneienden Gast aus.)“ (Es sei wie es wolle, es war doch so schön! Berlin: S. Fischer, 1928; hier zit. nach Rosing, a. a. O., S. 126.) – Egon Erwin Kisch: „Bei Tag sieht man Menschen, die von der Macht des Gußstahls zertrümmert und vom Atem der Kohle vergiftet sind.“ (Der rasende Reporter. Berlin: E. Reiß, 1925; hier zit. nach Hallenberger, a. a. O., S. 21.) – Und deutlicher als alle anderen Joseph Roth: „Es ist […] nicht anzunehmen, daß schon viele Vergnügungsreisende den Essener Bahnhof verlassen haben, um ihre Laune zu heben oder ihre Ferien zu würzen.“ (Ankunft in Essen; in: Kölnische Zeitung v. 7. Juni 1931; hier zit. nach Werke 3: Das journalistische Werk 1929-1939. Hrsg. u. m. e. Nachw. v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1991, S. 330.)

Und damit komme ich zur Klimax meiner heutigen Reviermelancholie – und zum mich selbst überraschenden Umschlag aus der Tristesse in die Euphorie. So viele Jahre habe ich nach einem Epiker gesucht, der dieser nichtigen Landschaft, dieser ungestalten Stadtwüste, dieser profillosen Gemeinschaft und dieser unkultivierten Ödnis des Ruhrgebiets, wie es im vorigen Jahrhundert war, sprachlich gerecht geworden wäre. Noch vor ein paar Tagen hätte ich im Brustton der Überzeugung behauptet, dass es diesen Schreiber nicht gab. Jetzt bin ich eines Besseren belehrt. Joseph Roth hat, wenn ich es richtig übersehe, das Revier zweimal besucht, Anfang 1926 und fünf Jahre später, im Frühling 1931. Seine Eindrücke von den beiden „Stippvisiten“ hat er in zehn Feuilleton-Artikeln für die Frankfurter Zeitung bzw. die Kölnische Zeitung festgehalten (vgl. Joseph Roth: Werke 2, S. 544-549 u. Werke 3, S. 320-346). Und diese auf den ersten Blick unscheinbaren und weitgehend unbekannten „Reiseimpressionen“ – welch harmloses Wort! – sind nun wahrlich auf den zweiten das Kraftvollste und Ätzendste, das Bohrendste und Bitterste, das Hell- und Weitsichtigste, was ich je über meine Heimat gelesen habe. Von diesem freudigen Schreck muss ich mich erst einmal erholen. Ich hätte eine szenische Lesung aus diesen Texten arrangieren können, die an allen 365 Tagen des Kulturhauptstadtjahres an einem anderen Revierort zur Aufführung hätte kommen können. Das wäre was gewesen. Aber, ach! Zu spät …

Überlebt

Monday, 08. February 2010

marcal

Am 30. Januar las ich zur Feier des 50. Geburtstags einer guten Freundin in Düsseldorf-Flingern Gedichte von Johannes Bobrowski (1917-1965) und kurze Prosastücke von Hermann Harry Schmitz (1880-1913), Edgar Allan Poe (1809-1849) und Joseph Roth (1894-1939). Erst nachdem ich das Programm zusammengestellt hatte, wurde mir bewusst, was allen vier Autoren gemeinsam ist: Keiner von ihnen hat das Alter der Jubilarin erreicht.

In den Kalendern und natürlich auch im Internet, so zum Beispiel auf der Startseite von Wikipedia, werden wir alltäglich daran erinnert, wer heute vor wieviel Jahren geboren wurde oder gestorben ist. Und wenn ich wissen will, welche Geburts- und Sterbefälle prominenter Menschen auf meinen Geburtstag fallen, ist die Antwort auf diese Frage auch nur einen Mausklick weit entfernt.

Dabei wäre es doch viel interessanter, beim Frühstück daran erinnert zu werden, welche Heldinnen und Helden der Vergangenheit ich heute wieder „überholt“ habe, weil sie auf den Tag genau in dem Alter, das ich jetzt erreicht habe, das Zeitliche gesegnet haben. Ein solcher Datenservice müsste natürlich für jeden Menschen je nach seinem Geburtstag individuell eingerichtet werden, aber das wäre mit den heutigen technischen Mitteln kaum ein Problem. Die Grundlage eines solchen Geburtstags-Sterbetags-Vergleichsrechners wäre ein Datenstamm, bei dem das erreichte Alter aller verstorbenen Berühmtheiten exakt ein Lebenstagen ausgedrückt ist. Damit ist die einfache Vergleichbarkeit mit meiner eigenen Lebenszeit (und der jedes anderen Interessenten) gewährleistet.

Praktischerweise rechnet man dazu alle Daten zunächst in das Julianische Datum (JD) um. Mein Geburtstag fiel auf das JD 2.435.666, heute haben wir das JD 2.455.236. Die Differenz dieser beiden Zahlen beträgt 19.570, das ist somit die Summe meiner bisherigen Lebenstage. Maria Callas (1923-1977), um eine beliebige bekannte Vergleichsperson zu wählen, deren Sterbealter ich noch nicht erreicht habe, wurde am 2. Dezember 1923 geboren (JD 2.423.756), starb am 16. September 1977 (JD 2.443.403) und erreichte somit ein Alter von 19.647 Tagen. Am Sonntag, dem 25. April dieses Jahres werde ich mich auf den Tag genau im Alter von Maria Callas am Tage ihres Todes befinden und sie dann „altersmäßig“ überholen.

Ich stelle mir vor, dass es manchen griesgrämigen Zeitgenossen allmorgendlich erfreuen würde zu erfahren, welche berühmten Menschen er, was das Lebensalter betrifft, heute wieder hinter sich lässt. Ist ein solcher „Vitalitätsrechner“ nicht vielleicht eine pfiffige Internet-Geschäftsidee, mit der ich viel Geld verdienen könnte? Oder gibt es diesen Rechner schon längst? In meiner Vorstellung besteht er aus einem achtstelligen Eingabefenster für das individuelle Geburtsdatum nach Tag, Monat und Jahr; darunter zeigt er sodann die siebenstellige Zahl für den Julianischen Geburtstag an; in der dritten Zeile erscheint das aktuelle Alter in Tagen. Und schließlich werden alle Prominenten mit ihren Geburts- und Sterbedaten aufgezählt, die zum Tag der Abfrage exakt dieses Alter erreicht haben.

20th Century Trends

Sunday, 07. February 2010

hippie

Die Berlinale feiert 60. Geburtstag, wie übrigens auch der gerade nach Berlin umgezogene Suhrkamp-Verlag. Das Filmfestival hat Werner Herzog zum Präsidenten gemacht. Ist das eine Nachricht? Vielleicht lautet die Nachricht doch eher: Werner Herzog hat sich zum Jury-Präsidenten der Berlinale machen lassen. Aber ich muss noch grundsätzlicher werden. Für mich persönlich lautet die Nachricht zuallererst einmal: Werner Herzog lebt noch.

Mindestens scheint es so. Ein Mann dieses Namens hat aus Anlass seiner Bestallung längliche Interviews gegeben, so in der SZ (Jörg Häntzschel: Die Hornisse; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 28 v. 4. Februar 2010, S. 3) und in der ZEIT. Dort fragt ihn Katja Nicodemus nach seiner neuen Heimatstadt Los Angeles. Werner Herzog: „Los Angeles ist ja eine Stadt, in der man nicht zu Fuß gehen kann. Sie machen sich verdächtig. Die Polizei fährt langsam neben Ihnen her und fragt, was Sie da tun. Nur wenn Sie einen Hund ausführen oder joggen, dann fallen Sie nicht auf. Aber zu Fuß gehe ich eigentlich nur, wenn ein existenzieller Grund dahinter ist.“ (Herr der Schmerzen; in: DIE ZEIT Nr. 6 v. 4. Februar 2010, S. 45.) Das ist ziemlich genau die Situation, die Günther Anders Anno Domini 1941 in Kalifornien erlebt und 15 Jahre später mit nicht zu überbietendem Sarkasmus geschildert hat. (In: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: C. H. Beck, 1956, S. 172-174; vgl. auch hier.)

Herzog nimmt aber längst keinen Anstoß mehr daran, dass an seinem Wohnort die natürliche Fortbewegung per pedes nurmehr in Tarnkleidung oder in Begleitung eines alibi animal möglich ist. Dabei sollte man ja gerade von ihm eine gesteigerte Empfindlichkeit gegen die Verkümmerung der natürlichen Körpermotorik erwarten, hat er doch vor vielen Jahren einmal bei seinem Marsch in 22 Tagen von München nach Paris vorgeführt, dass das Wissen des Menschen von den Füßen kommt und nicht von den Rädern. So fragt Katja Nicodemus auch ganz keck: „Früher sagten Sie, dass sich nur dem Fußgänger die Welt eröffne. Das ist hier wohl vorbei.“ Der schlecht versteckte Vorwurf gegen jemanden, der längst seine Jugendideale verraten hat, kommt bei Herzog nicht an. Los Angeles lässt es eben nicht zu.

Und trotzdem lebt der Regisseur gern dort: „Für mich ist Los Angeles die amerikanische Stadt mit der größten Substanz. Ich meine natürlich nicht die reine Oberfläche, den Glitz [!] und Glamour von Hollywood. Aber alle wichtigen Trends des vergangenen Jahrhunderts kommen aus Kalifornien […]“ – und dann zählt Werner Herzog auf, was er für die wichtigen Trends des vergangenen Jahrhunderts hält. Hier fasst er nun also den Wert der Jahre 1901 bis 2000 zusammen, über die er sich offenbar ein altersweises Urteil zutraut. Nebenbei bemerkt: Werner Herzog wurde erst im Jahre 1963 erwachsen. Aber man kann sich Geschichtskenntnisse ja auch auf dem ersten oder zweiten Bildungsweg aneignen. Der deutsche Filmemacher kommt also für besagte hundert Jahre auf genau acht wichtige Trends. Für deren sechs meint er den Ursprung in Kalifornien verorten zu können; und von diesen seien immerhin vier ernst zu nehmen.

Nun bitte ich meine Leser, vorsorglich die Schuhe selbst auszuziehen, es sich bequem zu machen, noch einmal tief durchzuatmen und sodann Werner Herzogs ultimative Trendshow des Zwanzigsten Jahrhunderts made in California zur Kenntnis zu nehmen. Es sind dies „[1] die kollektiven Träume im Kino weltweit. [2] Die Tatsache, dass Homosexuelle als integraler Bestandteil einer Gesellschaft anerkannt werden. [3] Die Computertechnologie. [4] Die großen Internetinnovationen. Und im Übrigen auch die Dummheiten wie [5] Hippie und [6] New Age. Es gibt nur zwei Ausnahmen. [7] Die grüne Bewegung kommt eher aus Skandinavien. Und der [8] islamische Fundamentalismus kommt auch nicht aus Kalifornien.“ Wow! Da bin ich tatsächlich sprachlos.

Ist’s der Fall?

Thursday, 04. February 2010

humpop

Demnächst, sehr bald klappen wieder einmal die letzten acht Ziffern der Weltbevölkerungsuhr von 9 auf 0 um, aus der 7 auf Platz zwei wird eine 8 und wir zählen dann 6,8 Milliarden Menschen hienieden. Ähnlich rasant läuft die Uhr der Staatsverschuldung in den USA oder in Deutschland. Solche ratternden Zählwerke versuchen, Entwicklungen fühlbar zu machen, die als statische Ziffernfolgen gänzlich unbegreifbar bleiben. Ehrlicher ist es übrigens, wenn die aktuelle Bevölkerungszahl als Differenz zwischen Geburten und Todesfällen dargestellt wird, wie zum Beispiel hier. Da gibt es dann ein noch schneller laufendes Zählwerk für die durch Geburten zum Bestand hinzukommenden Menschen, ein deutlich langsameres Zählwerk der durch Tod fortfallenden Menschen und schließlich die hieraus sich errechnende aktuelle Bestandszahl, so wie sie jetzt in der schlichteren Animation gezeigt wird.

Dennoch fehlt eine Zahl. – Zwischen Juni 1988 und November 1995 plauderten Alexander Kluge und Heiner Müller vor laufender Kamera über das Allgemeinste und das Privateste, sie kamen dabei von Hölzchen auf Stöckchen, von der Fernbedienung in der Hand von Müllers Töchterchen im Handumdrehen zur Apokalypse. In einem dieser Gespräche, Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll, stellt Kluge fest, „dass die Summe der Toten und dieses Lager der Lebendigen konstant bleiben über lange Perioden. Und würde je das Lager der Lebendigen das Lager der Toten an Zahlen übertrumpfen …“ – Müller: „Und das ist jetzt der Fall!“ – Kluge: „… dann habe ich Armageddon.“ – Müller: „Dann wird’s gefährlich.“ – Kluge: „Dann ist die Katastrophe.“ – Müller: „Ja, ich glaube schon.“ – Kluge: „Weil gewissermaßen der Rat, das Gewicht der Toten gibt sozusagen die Plätze … befestigt, verankert die Plätze der Lebenden.“ – Müller: „Ja, ja.“ Es fehlt die Zahl der Toten seit der Entstehung von Homo sapiens, seit der Vertreibung aus dem Garten Eden: die Zahl der Gräber auf dem Friedhof aller Zeiten seit Menschengedenken.

Heiner Müller meinte also, der Zeitpunkt sei gekommen, da aktuell mehr Menschen quicklebendig auf der Welt herumlaufen als mausetot unter der Erde liegen; somit stehe der Weltuntergang unmittelbar bevor, wenn man der antiken Prophezeiung glauben wolle. Dies ist offenkundiger Nonsens. Vielmehr haben Berechnungen ergeben, dass die Zahl aller auf unserem Globus jemals geborenen Menschen seit 50.000 v. Chr. schätzungsweise 110 Milliarden beträgt. Der Anteil der jetzt lebenden von allen je geborenen Menschen beträgt also nur etwa 6,2 Prozent. Müller ist vermutlich einer Mitte der 1970er-Jahre verbreiteten Falschmeldung aufgesessen, welche besagte, dass damals 75 Prozent aller je geborenen Menschen auf der Welt lebten. Eine wohl unbestreitbare Tatsache ist vielmehr, dass der kritische Punkt einer Übereinstimmung beider Zahlen niemals erreicht werden kann.

Nun muss ja ein moderner Dramatiker kein Fachmann für Globaldemografie sein. Auch wollen wir dem offenbar schwerstabhängigen Zigarrenqualmer nicht verübeln, wenn er im Nebel seiner Havanna keinen ganz klaren Blick mehr auf die Tatsachen hat. Und dann ist hier noch die bekannte Neigung mancher Hirntiere in Rechnung zu stellen, in der Agonie zu Hiobsbotschaft und Kassandrageschrei ihre Zuflucht zu nehmen vor der offenbar unerträglichen Vorstellung, die Welt könne auch ohne sie weiter ihre Bahnen ziehen. Aber wenn ich einmal über eine solche krasse Verkennung der Tatsachen gestolpert bin, dann ist mein Misstrauen geweckt und ich lasse mich nicht mehr so leicht vom bloßen großen Namen ins Bockshorn jagen.

Was ich jedoch Heiner Müller weit weniger verzeihen kann als seine naive Weltuntergangs-Prognose aus dem Kaffeesatz der Orestie, das ist die Kindesmisshandlung, die er zu Beginn des gleichen Gesprächs schildert: „Es ist zum Beispiel eine Frage, was passiert mit Kindern, die die Welt primär kennenlernen durch Abbildung, Fernsehen. Meine Tochter ist vierzehn Monate alt, die steht schon mit dem Gerät [der Fernbedienung] da vor dem Fernseher und kann das bedienen. Sie weiß nicht genau wie, aber irgendwas schafft sie immer. […] Und sie drückt dann auf den Knopf, und dann ist was anderes da auf dem Bildschirm, das hat sie schon verstanden. Aber sie lernt die Welt, die Außenwelt, wesentlich kennen über den Bildschirm. Was heißt das, was passiert da, wenn die Kinder die virtuelle Realität kennenlernen vor der sogenannten wirklichen? Gibt’s dann überhaupt noch einen Unterschied? Und was heißt das, wenn diese Unterschiede verschwinden?“ – Das ist eine Apokalypse im Kleinen.

2001+8 = pfft

Wednesday, 03. February 2010

zwodusendone

Die Hannoversche Allgemeine nannte das Unternehmen „ein Kulturversandhaus“. Diese Titulierung passt insofern noch immer, als die Kultur unter diesem Label zunehmend versandet. In besseren Zeiten spuckte Zweitausendeins etwas von jenem Sand aus, der das Getriebe einer stumpf vor sich hin polternden Kulturmaschinerie ins Stocken geraten lässt. Das nannte man damals die subversive Kraft des Kreativen. Lutz Reinecke aka Kroth, der Gründer dieses „Neckermann für Intellektuelle“, konnte im September vorigen Jahres den 40. Geburtstag seines aus den Wimmelanzeigen von Pardon entschlüpften Erfolgsrezepts nicht verstreichen lassen, ohne en passant seine Stammkunden in den Stores und seine Merkheft-Abonnenten um „nur“ 3,90 Euro anzuschnorren für diesen Rückblick auf vier Jahrzehnte Versandgeschichte.

Der 9/11-Mystagoge Mathias Bröckers hat also die Geschichte aufgeschrieben: Wie ein merkwürdiger kleiner Versand die Kulturlandschaft veränderte (in: Zweitausendeins. Der Versand. 40 Jahre danach. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2009, S. 5-82). Merkwürdig war und ist Zweitausendeins ja tatsächlich, weil überaus zwittrig, nicht Fleisch nicht Fisch. Der Laden nennt sich noch immer Versand, reüssiert aber dann doch als ambitionierter Verlag und bildet sich darauf nicht wenig ein, um aber in seinen Selbstverlautbarungen ständig damit zu kokettieren, kackfrech und zugleich wieder durch ein Augenzwinkern relativiert, dass es ihm eigentlich doch bloß um Umsatz, Kohle, Moneten gehe – ganz genauso wie den lieben Kunden, den Bestellern und Ladenbesuchern, die sich ja schließlich auch ein Loch in den Bauch freuten, wenn sie statt 998 Euro nur noch 9,80 Euro für nahezu die gleichen zig Regalmeter allerintellektuellsten Lesestoffs latzen müssen.

In besagter Festschrift des Verlages auf sich selbst wird man selbstkritische Einsichten oder auch nur versteckte Hinweise auf die Widersprüchlichkeit einer solchen Unternehmung naturgemäß vergeblich suchen. Dass es dennoch gelegentlich knirschte im Gebälk, das ließ sich freilich nicht ganz verschweigen. Bröckers berichtet, wie seit 1980 Eva Kroth immer mehr Einfluss auf die Programmgestaltung gewann und Titel aus den Bereichen Ökologie, Feminismus, Selbsthilfe und Esoterik einen breiteren Raum im Sortiment einnahmen. „Einen zu breiten, wie die beiden ,Sub-Verleger‘ bei Zweitausendeins fanden – Jörg Schröder mit seinem März Verlag und der ehemalige Zeit-Redakteur Uwe Nettelbeck mit seinem gleichnamigen Verlag. Beide trennen sich in der Folge in ungütlichen Gerichtsverfahren von ihrem Dachverlag. Neben Intrigen, Eitelkeiten und dem üblichen Alpha-Männchen-Gehacke, das sowohl Nettelbeck (in seiner Zeitschrift Die Republik) und Schröder (in seiner Reihe Schröder erzählt) später ausführlich aus ihrer Sicht geschildert haben, ging es im Kern natürlich um Geld. Jörg Schröder sah sich spätestens nach dem Bestsellererfolg von Bernward Vespers Reise als der innovative literarische Macher und fühlte sich mit seiner prozentualen Beteiligung an den März-Titeln unterbezahlt. – Und Uwe Nettelbeck, von dem der Tipp zu den geheimen Deutschland-Berichten der SoPaDe 1934-1940 stammte, die dann auch 1980 in sieben Bänden bei Nettelbeck/Zweitausendeins herauskamen, wollte allein für diesen Hinweis ein reguläres Autorenhonorar, obwohl das doch eigentlich den unbekannten Verfassern zugestanden hätte. Man einigte sich schließlich auf einen reduzierten Prozentsatz, und Lutz Kroth verpflichtete sich, die übrigen Prozente zu spenden – nicht etwa an die SPD, sondern an eine gegenwärtige ,Widerstandsorganisation‘: an Greenpeace. Nachdem die Deutschland-Berichte zu einem unerwarteten Verlaufserfolg geworden waren, wollte Nettelbeck diese Klausel ändern, weil Zweitausendeins mit der Greenpeace-Spende – nach dem Motto ,Tue Gutes und rede darüber‘ – Werbung betrieb: Greenpeace konnte mit dem Spendenscheck über 94.000 DM einen Teil der 250.000 DM teuren ,Sirius‘ finanzieren, des zweiten Aktionsschiffes der Umweltaktivisten. Als die Änderung der Klausel nicht zustande kam, endete Nettelbecks Kooperation mit Zweitausendeins. Lutz Kroth fühlte sich dennoch weiterhin an die Spendenklausel gebunden. So gingen etwa noch im Frühjahr 1990 rund 8000 DM an ein Frankfurter Frauenhaus.“ (Ebd., S. 59 f.)

Ich zitiere hier so ausführlich, weil diese Passage vielleicht die aufschlussreichste in dem kleinen Heftchen ist – und die beiden Zerwürfnisse wahrscheinlich die Highlights der langen Verlagsgeschichte, jedenfalls für jeden wirklich an Aufklärung interessierten Branchenbeobachter. Auffällig ist, dass Bröckers den „Fall SoPaDe“ so detailliert darstellt, während er den „Fall März“ in einem einzigen Satz abfertigt. Dabei bedankt sich Bröckers in den Credits (S. 82) ausdrücklich auch bei Jörg Schröder „für Auskünfte und Unterstützung“. Bei Uwe Nettelbeck muss er sich nicht bedanken, der ist bekanntlich seit zwei Jahren tot und kann sich nicht mehr wehren. Thomas Steinfeld schrieb anlässlich seines Todes: „Wäre Uwe Nettelbeck weniger gebildet und vor allem weniger anspruchsvoll gewesen, so hätten der Verlag und die Buchhandelskette ,Zweitausendeins‘ sein Einfall sein können.“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 19 v. 24. Januar 2007, Seite 11.)

Wenn man nachliest, wie Jörg Schröder den Bruch mit Zweitausendeins „ausführlich“ und „aus seiner Sicht“ geschildert hat, nämlich hauptsächlich in den Heften 4 bis 6 und 26 ff seines work in progress (1991/1996-97), dann muss man bezweifeln, dass er unterschreiben würde, auch ihm sei es damals „im Kern um Geld“ gegangen. Und dass diese Präferenz „natürlich“ sei, vernimmt man als unschuldiger Leser mit Befremden in der bestellten Lob-Arie auf einen Verlag, dem die Natur doch nach eigenem Bekenntnis stets mehr am Herzen liegt als der schnöde Mammon. Ich lasse mich überraschen, ob Schröder & Kalender in der mit Spannung erwarteten 14. Folge der Schwarzen Serie von Schröder erzählt, die dem Vernehmen nach in diesen Tagen unter dem Titel Das Äussere des Inneren erscheinen soll, auf die Selbstbeweihräucherung des Frankfurter Kulturversands eingehen wird, die uns nicht stören müsste, wenn sie nicht zugleich eine Vernebelung der wahren Sachverhalte und eigentlichen Zusammenhänge darstellte.

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Monday, 01. February 2010

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Abwege (I)

Wednesday, 27. January 2010

skyfishing

In diesen unfreundlichen Wintertagen, da man keine schlafenden Hunde weckt, um sie vor die Tür zu jagen, möchte ich dennoch dem Flanieren nicht ganz entsagen und muss ja auch keineswegs auf meine geliebte Streunerei verzichten. Dank Internet kann ich schließlich, ohne mir Frostbeulen zuzuziehen oder über Nässe zu klagen, in der warmen Stube das weltumspannende Datennetz nach geheimen Zusammenhängen durchstöbern. An jedem Satzende bietet sich mir dabei die Möglichkeit, verschiedene Richtungen einzuschlagen. Hier zum Beispiel könnte ich nun über unfreiwillige Reime in Prosatexten nachdenken. Welche Beispiele gibt es dazu etwa bei Swift, Wieland oder Balzac? Bilde ich mir das nur ein, oder hat sich lange vor mir jemand mit genau diesem abwegigen philologischen Gegenstand befasst? Wie googelt man nach solch einer Abstrusität?

Das Abzweigen unterwegs ist ja ein leichtes Unterfangen, wenngleich es nicht selten in Irren führt, aber gerade Irrtümer bieten ja oft genug Gelegenheiten zu unverhofften Einsichten. Viel mühevoller gestaltet sich meist das Aufbrechen. Der erste Schritt ist ein erbarmungsloser Knochenjob, wovon nicht nur die Morgenmuffel unter den Schreibknechten ein Klageliedchen zu singen haben. Darum verwahre ich in der langschwänzigen Lesezeichenliste meines Browsers allerlei Appetizer, die mir den Schlaf aus den Augen treiben sollen.

Heute früh zum Beispiel stöberte ich zur Abwechslung wieder einmal in Letters of Note, dem traumhaften Briefe-Blog von Shaun Usher. Unterm 13. Oktober 2009 entdeckte ich dort das seltsame Briefkunst-Event eines Künstlers aus Albany (NY), der Anfang der 1970er-Jahre rund 500 prominente und weniger prominente Leute um ihre Beteiligung an dieser skymail genannten Aktion bat. G. C. Haymes schrieb: „guten morgen, hiermit werden sie eingeladen, sich an skymail zu beteiligen (erstes event). skymail ist ein künstlerisches event, bei welchem ausgewählte künstler aus verschiedenen bereichen eingeladen sind, den himmel zu beschreiben. ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn sie sich die zeit nähmen, die beigefügte karte auszufüllen & in einen briefkasten zu werfen (das porto wurde vorausbezahlt). – ich suche momentan einen schauplatz für das event. sie werden über den zeitpunkt & ort der ausstellung unterrichtet. – ich danke ihnen vielmals. – genießen sie den himmel – g c haymes – koordinator skymail (erstes event)“. [Übers. a. d. Am. v. M. H.] Auf der Website von Haymes ist dokumentiert, wer die annähernd 500 bedeutenden Leute waren, die zu dieser großangelegten Himmelsbeschreibung eingeladen wurden – und man kann dort alle 28 Antworten nachlesen, die über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren in Albany eingingen, unter ihnen immerhin auch welche von Sam Peckinpah, Gary Snyder und John Cage! Shaun Usher hat lediglich zwei Antwortkarten ausgewählt: eine sehr bemühte vom weltbekannten Science-Fiction-Schreiber Isaac Asimov und eine überaus unfreundliche von Jerzy Kosiński, ohne Unterschrift  und mit folgendem Wortlaut: „Imbezillogramm – Lieber Idiot: Hast Du nicht irgendwas Besseres zu tun? Der Himmel ist tatsächlich eine Grenze für anmaßende Idioten wie Dich.“ [Übers. a. d. Am. v. M. H.]

Wer war noch mal dieser Jerzy Kosiński (1933-1981)? Und wo ist er mir, vor vielen Jahren, erstmals über den Weg gelaufen? Ich las den englischsprachigen Wikipedia-Artikel über ihn und verfing mich in allerlei merkwürdigen Abwegigkeiten seiner Vita. So fällt auf sein dem Vernehmen nach bestes Werk, den autobiographischen Roman The Painted Bird, insofern ein Schatten, als Kosiński darin schildert, wie er als kleiner Judenjunge im besetzen Polen vor den Deutschen über die Dörfer floh und zahlreiche Abenteuer erlebte. Tatsächlich aber kam er während der ganzen Zeit der Nazi-Okkupation bei polnischen Katholiken unter und überlebte dank eines gefälschten Taufzeugnisses. Seine späteren Romane wiesen dermaßen auffällige Stilunterschiede auf, dass Kritiker nicht glauben wollten, diese Werke könnten aus ein und derselben Feder stammen. Die Plagiatsvorwürfe gegen ihn wollten bis zu seinem gewaltsamen Tod nicht verstummen. Am polnischen Nationalfeiertag, dem 3. Mai 1991 legte sich Jerzy Kosiński in seinem Appartement in der West 57th Street in Manhattan in die Badewanne, nahm eine tödliche Dosis Barbiturate und zog sich sicherheitshalber noch eine Plastiktüte über den Kopf. Seine zweite Ehefrau, Katherina „Kiki“ von Fraunhofer, fand am nächsten Tag neben der Leiche einen Zettel mit einer kurzen Nachricht ihres Gatten: “I am going to put myself to sleep now for a bit longer than usual. Call it Eternity.” Was hatte er da bloß getan? Etwas Besseres als den Himmel zu beschreiben?

Und jetzt weiß ich auch wieder, wo mir der polnisch-amerikanische Schriftsteller zum ersten Mal begegnete: in Ed Sanders‘ Buch über die Manson-Morde! Um ein Haar wäre Jerzy Kosiński nämlich bereits schon viel früher, in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969 in Los Angeles (CA), eines gewaltsamen Todes gestorben, damals aber nicht von eigener Hand. „Der Romancier Jerzy Kosinski und seine Frau sollten am 7. August in der Polanski-Villa in Los Angeles eintreffen; sie wollten dort bis zu Romans Rückkehr [aus Polen] zu seinem Geburtstag [am 18. August] und bis zur Ankunft von Sharons Baby bleiben. Doch Kosinskis Gepäck war auf dem Weg von Europa nach New York verlorengegangen, und anstatt gleich nach Los Angeles zu fliegen, blieben sie in New York und warteten dort auf ihre Koffer. Das hat ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet […].“ (Ed Sanders: The Family. Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy-Streitmacht. A. d. Am. v. Edwin Ortmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1972, S. 230.)

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Monday, 25. January 2010

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Hungerengel

Saturday, 23. January 2010

platzwahl

Gestern Abend fand nun in der Essener Lichtburg die Buchvorstellung mit Herta Müller statt, die ursprünglich für den 13. Oktober vorigen Jahres angekündigt worden war, als noch niemand wusste, dass die deutschsprachige Schriftstellerin aus Rumänien den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekommen würde.

Große Erwartungen hatte ich nicht in diese Veranstaltung gesetzt, das gebe ich frank und frei zu. Herta Müller habe ich sehr früh wahrgenommen, als nämlich ihr erstes Buch Niederungen im Orwell-Jahr 1984 in einer ungekürzten Ausgabe bei Rotbuch erschien, zwei Jahre nachdem der Bukarester Verlag Kriterion nur eine gekürzte Fassung hatte herausbringen dürfen oder wollen. Da begegnete mir bei einer Leseprobe in der Buchhandlung, in der ich arbeitete, eine eigenwillige Sprache, und auch das Thema hatte es zweifellos in sich, wenn man darauf vertrauen konnte, was der Klappentext versprach. Ich weiß noch, dass ich Müllers Niederungen in der Linken hielt, und in der Rechten ein anderes Buch aus dem Rotbuch-Verlag dagegen abwog, denn eines nur konnte oder wollte ich mir an diesem Tag leisten. Das andere erhielt den Vorzug. Es waren die gleichzeitig erschienene Erzählung von Karin Reschke, Dieser Tage über Nacht. Warum ich so entschied und nicht anders? Ich weiß es nicht. Der Preis kann jedenfalls nicht den Ausschlag gegeben haben, beide Bücher kosteten, eins wie das andere, dreizehn Deutsche Mark. Reschkes Buch habe ich damals nach ein paar Seiten enttäuscht aus der Hand gelegt. Und Herta Müller wurde anschließend unverdientermaßen von meinem Unterbewusstsein in Mithaftung genommen, weil ich ganz unsinnigerweise auch ihren Namen mit der Frustration verband, die mir doch allein Karin Reschke bereitet hatte. Erst als ich mich Mitte September mit der Shortlist des fünften Deutschen Buchpreises beschäftigte, also genau 25 Jahre nach meiner ersten Begegnung, trat Herta Müller wieder in deutlicheren Konturen vor mich hin und weckte mein Interesse. Ich las die vier Seiten in den Leseproben, die ab dem 23. August in den Buchhandlungen auslagen, den Anfang von Atemschaukel, einem Buch, das sich Roman nannte. Diesmal prüfte ich den Text nicht, um Gewissheit zu finden, ob es sich für mich lohnen könnte, es zu kaufen und zu lesen. Diesmal beschäftigte mich allein die Frage, ob ich anhand dieser knappen Kostprobe die Chancen würde abschätzen können, die dieser Roman in der Konkurrenz um den Preis hatte. Ich kam, wie übrigens auch bei den übrigen fünf Titeln der Shortlist, zu einem negativen Befund. Vielleicht wäre ich aber für Atemschaukel eingesprungen, wenn ich statt der kurzen Textprobe das ganze Buch gekannt hätte.

Dass der Essener Auftritt von Herta Müller nun nicht vor den üblichen fünfzig bis hundert Verdächtigen, den hartnäckig an widerspenstiger bis avantgardistischer Literatur interessierten Stammgästen der Heldenbar im Grillo-Theater stattfand, sondern vor über tausend unbescholtenen Bildungsbürgern in Deutschlands größtem Kinosaal, das ist dem undurchschaubaren Ratschluss jenes Clübchens grauer Herren in Stockholm zu verdanken, die sich in der Vergangenheit bekanntlich weniger durch glasklare und nachvollziehbare Kriterien ihrer Entscheidungsfindung hervorgetan haben, als vielmehr durch den Wackelgang jenes blinden Huhns, das alle Jubeljahre auch mal ein Korn findet. Dass dieser Auftritt schließlich zu einem ganz außergewöhnlichen Ereignis gedieh, ist einem ähnlich orientierungslosen Glücksgriff des Schicksals geschuldet. Und nun ist der Zeitpunkt gekommen, da ich den Gesprächspartner der Nobelpreisträgerin all jenen vorstellen muss, die in diesem Augenblick den Namen Norbert Wehr zum ersten Mal lesen. Diesen meist etwas griesgrämig dreinblickenden, leicht magenkrank wirkenden Mann Mitte fünfzig kenne ich nun wohl schon seit 35 Jahren persönlich. Meine intensiveren Begegnungen mit ihm datieren aus der Zeit vor seiner Herausgeberschaft der Literaturzeitschrift Schreibheft. Also aus einer Zeit, an die er sich vermutlich weit weniger gut erinnert als ich. Seine Verdienste um die Art Literatur, die ohne Leute wie ihn nicht von verschwindend wenigen, sondern von gar keinen Lesern gelesen würde, sind unbestreitbar und allgemein anerkannt. Er ist für mich eins der treffendsten Beispiele für einen Menschenschlag, den die Enttäuschung seiner ersten großen Liebe zu einer noch größeren Liebe geläutert und befähigt hat. Wehr, der wenig schreibt und auch im mündlichen Verkehr ein bis zur Sprachlosigkeit wortkarger Mensch ist, fördert vielleicht gerade durch seine Zurückhaltung im Orchester der Plaudertaschen Stimmen zu Tage, die sonst gar kein Gehör fänden.

Genau dies geschah gestern auf der Bühne der Lichtburg, unter einer großen Leinwand, wo sich die beiden krähenhaften Helden des Abends an zwei schlichten Tischchen im rechten Winkel gegenübersaßen. Norbert Wehr fasste in einem einleitenden Vortrag, der genau in dem Moment abbrach, als meine Aufmerksamkeit zu ermüden drohte, die historischen und persönlichen Voraussetzungen des Romans Atemwende zusammen. Und ehe ich mich versah, war Herta Müller in ihr Element versetzt und schöpfte aus dem Vollen ihrer Erinnerungen an die Zeit, als sie Oskar Pastior über sein Leben als Zwangsarbeiter in Krivoi Rog und Gorlowka befragte, an die gemeinsame Reise in die Ukraine in Begleitung von Ernest Wichner. Herta Müller sprach über ihr Verhältnis zur Mutter, die doch auch Zeitzeugin und traumatisiertes Opfer der Zwangsarbeitslager war und doch nicht darüber sprechen konnte. Sie erzählte in diesen knapp neunzig Minuten so viel und so viel Erhellendes über die Entstehungsbedingungen ihres Romans, dass ich jenes Buch, so kraftvoll es sein mag, ohne Zögern für das Erlebnis dieser Erzählung hingegeben hätte. Und warum konnte sich dieses Naturereignis eines Werkstattberichts ohne störende Zwischenfragen so frei entfalten, dass es fast an ein Wunder grenzte? Weil der Gesprächspartner, den wir hier getrost als solchen in Anführungszeichen setzen können, durch größtmögliche Zurückhaltung glänzte.

Dass vermutlich kaum einer der eintausendzweihundertfünfzig Zuhörer so recht begriff, was ihm hier geschah, spricht wohl noch zusätzlich für die außergewöhnliche Seltenheit des Ereignisses. Dass die lokale Presse nicht mehr abzuliefern imstande war als eine holprige Pflichtberichterstattung, war nicht anders zu erwarten. – Ob ich mich nun auf die Schaukel setzen und dieses Buch lesen werde? Vorläufig warte ich ab. Vielleicht befeuert der Nobelpreis ausnahmsweise einmal den Träger (hier: die Trägerin) dazu, sich selbst zu übertreffen, statt sich wie üblich auf diesem allerhöchsten Lorbeer zur letzten Ruhe zu betten.

Unangeleint

Wednesday, 20. January 2010

lola

Vergangene Woche starb in Berlin kurz vor Vollendung ihres 69sten Lebensjahrs die linke Essayistin Katharina Rutschky, die einer größeren Öffentlichkeit Ende der 1970er-Jahre durch das von ihr herausgegebene Quellenbuch zur „Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung“ bekannt wurde. Dessen Titel, Schwarze Pädagogik, ging danach in den allgemeinen Wortschatz ein zur Bezeichnung eines durch Jahrhunderte geübten Erziehungsstils, der es sich nicht zur vornehmsten Aufgabe machte, die natürlichen Anlagen des Kindes durch liebevolle Zuwendung nach Möglichkeit zu fördern, sondern ihm stattdessen mit einem großen Arsenal physischer und psychischer Strafwerkzeuge Disziplin, Fleiß und Gehorsam anzudressieren. (Rutschky selbst war übrigens kinderlos, und ihre Tätigkeit als Lehrerin beschränkte sich auf junge Erwachsene im zweiten Bildungsweg. Ich überlasse es dem Leser, ob er dieses praktische Defizit bei der Parteinahme in pädagogischen Diskursen für einen Vor- oder Nachteil halten will.)

Mir war Katharina Rutschky in den 1980er-Jahren als gelegentliche Beiträgerin zu Wagenbachs Freibeuter aufgefallen. Aus traurigem Anlass habe ich in den vergangenen Tagen ihre kurzen, aber hoch konzentrierten Geschichtsbetrachtungen zur Pädagogik noch einmal durchgesehen und bin dabei auch auf einen Text gestoßen, der mich heute naturgemäß sehr interessiert: Die kleine und die große Pause. Eine Anleitung zum Nichtstun oder: Gibt es Grenzen der pädagogischen Vergesellschaftung? (in: Freibeuter. Vierteljahresschrift f. Kultur u. Politik. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1987, Heft 33, S. 31-42.) Dass sie bei „Ausflügen in den real existierenden Feminismus“ bereits vor zehn Jahren mit Alice Schwarzers neuem Spießertum im gefälschten Gewand der Aufklärung abgerechnet hat, spricht sehr für die geistige Unabhängigkeit dieser Feministin der ersten Stunde, wenngleich ich skeptisch bin, ob sie bei den betroffenen Akteurinnen damit mehr erreicht hat als die Verurteilung als Ketzerin und Nestbeschmutzerin. (Emma und ihre Schwestern. München: Carl Hanser Verlag, 1999.)

Völlig übersehen hatte ich aber bisher, dass Katharina Rutschky auch Autorin eines ganz außergewöhnlichen Buchs über bellende Zweibeiner ist: Der Stadthund. (Von Menschen an der Leine. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2001.) Ausnahmsweise zitiere ich hier mal den Klappentext: „Wohl wenige Themen sind so sehr geeignet, die Menschheit in zwei Parteien zu spalten, wie die Frage, ob man in der Großstadt einen Hund halten soll. Katharina Rutschky, streitbare Publizistin aus Berlin, ist bekennende Hundehalterin. Mit ihrem Cockerspaniel namens Kupfer flaniert [!] sie täglich durch die Straßen der Hauptstadt. – Eines der geistreichsten und unterhaltsamsten Tierbücher seit langem! Pflichtlektüre für Hundehasser und Hundeliebhaber!“ Naja, die Hundehasser wird man wohl kaum zur Lektüre verpflichten können, ebensowenig wie die Emma-Abonnentinnen zum Lesen des vorgenannten Buches. Andererseits muss man auch nicht wie ich selbst auf den Hund gekommen sein, um großen Gewinn aus diesen Reflexionen einer langjährigen Stadthundehalterin ziehen zu können, und zwar längst nicht nur über die doch sehr speziellen Fragen der Erziehung, Ernährung und Pflege solcher Vierbeiner.

Im Rahmen meines Flaneurblogs ist besonders das 8. Kapitel, „An einem Tag wie jeder andere“, von Interesse. Hier beschreibt Rutschky, wie sie sich in Begleitung von Kupfer – dessen Vorgänger Nickel heiß – durch die Stadtlandschaft bewegt, welche Begegnungen mit Hunden, Fahrrädern, Hundehaltern und Hundelosen dabei vorkommen, welche Verbote dabei zu befolgen sind – oder auch bewusst übertreten werden können, und was dann passiert. Wer dergleichen nie erlebt hat, bekommt einen guten Eindruck davon, wie das Spazierengehen in Gesellschaft des Tieres nicht nur einen völlig anderen Charakter bekommt, andere Prioritäten gesetzt werden und die Wahrnehmung der Wege sich schärft, wohingegen die Fixierung des Ziels gelegentlich in Vergessenheit gerät. Der Leser bekommt auch eine Ahnung davon, wie sich das Zeitempfinden verändert: „Allmählich wird meine Zeit knapp; wenn man als privilegierter Heimarbeiter nämlich nicht über ein hoch entwickeltes Pflichtgefühl verfügt, kann einen jeder Hund mit seiner unerschöpflichen Lust am Streunen und Herumziehen zum Vertrödeln vieler kostbarer Arbeitszeit animieren. Die vorhin erwähnte Regel […], die besagt, dass der Hund unter allen Umständen einen täglichen Anspruch auf sechzig Minuten Ausgang hat, Erde und Wasser inklusive, dient also auch dem Schutz des Menschen vor Verführung. Ich habe mir angewöhnt, nie ohne Armbanduhr mit Kupfer loszuziehen.“ (Ebd., S. 143 f.) Erde und Wasser inklusive? Das heißt, dieser Cockerspaniel will nicht nur auf Pflaster laufen; und Kupfer liebt es, im Wasser zu tollen.

Die wichtigste Erkenntnis lautet darum: Wenn man seinem Hund Gutes tut, tut man in aller Regel auch sich selbst etwas Gutes! Tierhaltung bringt die Rückkehr zu einem „animalischen Egoismus“ mit sich. Vor unseren beiden letzten Umzügen war zum Beispiel die artgerechte Wohnlage für unsere Lola durchaus ein wesentliches Kriterium bei der Wohnungssuche. Dass wir dennoch bis vor einem halben Jahr keinen Wald in fußläufig erreichbarer Nähe hatten und uns mit einem mickrigen Park begnügen mussten, war ein echtes Manko für unseren Hund, aber auch für uns selbst. Indem wir nun die Interessen unserer Hündin in unsere Erwägungen einbezogen, schlossen wir gewisse Objekte von vornherein aus und fanden so schließlich ein neues Heim, das nicht nur hundgerecht, sondern auch uns Menschentieren überaus gemäß ist.

Welt, Zahl und Bild

Sunday, 17. January 2010

fussballgott

Die Empfehlung, man solle keiner Statistik vertrauen, die man nicht selbst gefälscht hat, gilt seit Mitte des vorigen Jahrhunderts als fester Bestandteil des Skeptizismus gegenüber den durch Zahlen scheinbar unbezweifelbar gemachten Tatsachenbehauptungen über unsere unüberschaubar vielfältige und sich dazu noch rasend schnell verändernde Welt. Wer den Satz zuerst gedacht, ausgesprochen oder niedergeschrieben hat, das liegt weiterhin im Dunklen, doch deutet einiges darauf hin, dass er im Duell der Titanen moderner Massenmanipulation geboren wurde: Winston Churchill und Joseph Goebbels hatten im Zweiten Weltkrieg die Aufgabe, die Kampfmoral ihrer jeweiligen Völker durch überzeugende Erfolgszahlen hochzuhalten. Da lag ein solcher Satz zur sardonischen Diskreditierung des Gegners geradezu in der bleihaltigen Luft. Gegenüber statistischen Darstellungen der Wirklichkeit ist jedenfalls ein gesundes Misstrauen grundsätzlich am Platze. Die technischen Möglichkeiten zur Verzerrung der Realität im Interesse einer Beeinflussung des Betrachters sind so vielfältig, wie sie nur sein können, wenn sich der erfindungsreiche Menschengeist vor die Aufgabe gestellt sieht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Aber ebenso wahr ist, dass das trockene Zahlenwerk plötzlich eine entzückende Inspirationskraft entfalten kann, wenn die Statistiker und Infografiker von der Leine interessengeleiterter Auftraggeber gelassen und nur so, zu „Erbauung und Belehrung“, aber mit Esprit und gutem Willen tätig werden dürfen. Zum Jahreswechsel sind gleich zwei handliche Bücher erschienen, die sich, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise, genau dies zur Aufgabe gemacht haben.

Die Welt in Zahlen 2010 von der Wirtschaftszeitschrift brand eins hat ihren Ursprung in einer ständigen Rubrik des seit zehn Jahren monatlich erscheinenden Magazins. Zwei kleine Schönheitsfehler will ich gleich eingangs monieren, um mich sodann den vielen Vorzügen des Buches zuzuwenden. Schon die Rubrik hat sich einen stilistischen Tick zu eigen gemacht, der nun auch im Buch gehäuft auftritt und einem mit der Zeit ganz gehörig auf den Wecker fallen kann: Bandwurmartige Bezeichnungen der nachfolgenden Zahlenwerte werden in voller Länge wiederholt. Ein Beispiel gefällig? „Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 1998, in Minuten pro Tag: 77 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2001, in Minuten pro Tag: 107 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2008, in Minuten pro Tag: 120.“ (brand eins: Die Welt in Zahlen 2010. Statista. Hamburg: brand eins Verlag, 2009, S. 112.) Muss das sein? Die unnötige Verweildauer beim Lesen dieses doch sonst so interessanten Buches hätte sich durch Vermeidung solcher Mätzchen reduzieren lassen. Der zweite Wermutstropfen ist der Preis von 22 Euro für ein Taschenbuch von 250 Seiten.

Dies waren die beiden Wermutstropfen, nun folgt Ambrosia. Ich hätte nicht gedacht, dass Hunde in der Rangfolge der häufigsten Haustiere erst an dritter Stelle kommen, nämlich nach Katzen und Kleintieren. Auch erstaunt mich, welches die beiden mit Abstand häufigsten Farben neu zugelassener Autos im Jahre 2007 waren, nämlich Grau und Schwarz. Dass auf jeden dritten Deutschen eine zugelassene Handfeuerwaffe kommt, jagt mir einen gehörigen Schrecken ein. Seit ich weiß, welches die bei Frauen häufigste aller Operationsarten in deutschen Krankenhäusern ist, nämlich die Rekonstruktion der Geschlechtsorgane nach Dammriss bei der Geburt, frage ich mich, ob die Ausbildung unserer Hebammen reformbedürftig ist. Dass mir kein einziges der zehn umsatzstärksten verschreibungspflichtigen Medikamente wenigstens dem Namen nach bekannt ist, wundert mich ebenso wie der Umstand, dass auf Platz eins dieser Liste mit Risperdal ein Mittel gegen Psychosen steht. Soll es mich mit Mitleid erfüllen, dass 774 Millionen Menschen auf der Welt dieses Buch allen schon deshalb nicht lesen können, weil sie Analphabeten sind? Oder soll ich sie vielmehr beneiden, weil ihnen damit erspart bleibt, die vielen traurigen, erschreckenden und wütend machenden Zahlen in diesem Buch zur Kenntnis nehmen zu müssen? Übrigens hat auch hierzulande jeder fünfte Schüler mittlerweile Probleme mit dem Lösen einfachster Rechenaufgaben. Nach den vier Kapiteln „Was Wirtschaft treibt“, „Was Unternehmern nützt“, „20 Jahre Wiedervereinigung“ und „Was Menschen bewegt“ folgen als besonderes Schmankerl noch einige Seiten mit Prognosen über „Deutschland 2050“. Da werden ein paar Trends des ersten Jahrzehnts in diesem neuen Jahrtausend für die nächsten vierzig Jahre ohne Rücksicht auf Plausibilität extrapoliert. Demnach hätte zum Beispiel die SPD kein einziges Parteimitglied mehr und die Kinopreise lägen bei 9,44 Euro – die allerdings niemand bezahlen würde, denn die Zahl der Kinobesucher betrüge 0,0 Millionen.

Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist heißt das zweite Buch zur Lage von Welt und Nation. Auch in diesem Fall haben die Autoren, Matthias Stolz und Ole Häntzschel, ihre ersten Meriten mit einer Zeitschriftenrubrik erworben, mit der „Deutschlandkarte“ im ZEITmagazin. Und auch dieses Buch hat leider eine kleine Macke, es verzichtet auf Seitenzahlen. So muss man der Verlagsankündigung glauben, die uns 240 Seiten verspricht. Oder nachzählen, um bestätigt zu finden, dass das Versprechen gehalten wird. Es freut mich schon, dass das Buch nur 12,95 Euro kostet, geradezu begeistert bin ich aber, dass es – ein Taschenbuch! – fadengeheftet ist. Aber das sind Äußerlichkeiten. Der Content, wie man in Neusprech sagt, ist tatsächlich hinreißend. Im Vorwort erklären die Autoren knapp und deutlich, was sie mit diesem Buch versucht haben: „Das wahre Schmuddelkind journalistischer Texte ist die Infografik. Sie leidet von allen Zutaten, die zur journalistischen Veröffentlichung gehören, unter dem schlechtesten Ruf. […] Wir dachten, es sei Zeit, sie einmal aus ihrem Schattendasein zu befreien. Wetten, auch die Infografik hat eine humorvolle und unterhaltsame Seite?“ (Matthias Stolz / Ole Häntzschel: Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist. München: Knaur, 2010, S. 6 f.)

Naturgemäß kann ich in spröden Worten die mit den visuellen Möglichkeiten der Infografik virtuos spielende Umsetzung von Statistiken nur sehr unzulänglich beschreiben. Ich muss stattdessen auf eine Leseprobe verweisen, die der Verlag freundlicherweise ins Internet gestellt hat – und auf die Großzügigkeit dieses Verlages vertrauen, der es mir hoffentlich nicht übel nimmt, wenn ich eine besonders schöne Grafik hier als Titelbild verwende. Die zunächst etwas überanstrengt wirkende These, dass der sonntägliche Kirchgang in den letzten Jahrzehnten vom Schlachtenbummel auf den Fußballplatz abgelöst wurde, ist wohl noch nie so überzeugend (und dabei tatsächlich auch humorvoll) veranschaulicht worden. Ich bin bekanntlich weder dem einen noch dem anderen Ritual verfallen. Beten und jubeln sind mir gleichermaßen fremd. Aber ich bin noch längst nicht fertig mit der Frage, warum um Himmels Willen eine so schnelle Trendwende von der Kontemplation in die Exaltation erfolgen konnte.

[Titelbild aus dem zuletzt besprochenen Buch, S. 24/25: „Kirche gegen Bundesliga“. – © Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.]

Ständige Begleiter

Thursday, 14. January 2010

viersachen

Ich habe es immer schon reizvoll gefunden, den Kram, den ich überall mit mir herumtrage, möglichst überschaubar zu halten. Ich meine damit das Zeug, das ich außer meiner Kleidung noch ablege, wenn ich zum Beispiel in die Badewanne steige oder mich zu Bett begebe. Zu diesen wenigen Dingen, so schlicht sie einem anderen auch erscheinen mögen, habe ich eine schon nahezu erotische Beziehung, wenn ich ausnahmsweise die mit Erotik im engeren Verständnis eigentlich gemeinte sinnlich-geistige Anziehung zu einem Menschen einmal auch auf tote Gegenstände übertragen darf. Seit ich keinen Ehering mehr trage, sind dies genau vier Dinge, die ich insofern als meine ständigen Begleiter bezeichnen kann und die ich heute in extenso vorstellen will.

Da wäre zunächst mein Schlüsselbund, bestehend aus einem einfachen Schlüsselring, einem Briefkastenschlüssel und sechs Sicherheitsschlüsseln, die sich zu drei Paaren ordnen lassen. Zwei Schlüssel gehören zu Haus- und Wohnungstür meiner Wohnung, zwei zum Lagerraum meines Versandantiquariats und zwei schließlich zu den Räumlichkeiten, in denen ich seit einiger Zeit einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehe. Die vier Schlüssel mit runder Grifffläche – sagt man so? – habe ich zur besseren Unterscheidung mit farbigen Markierungsringen versehen, die beiden anderen erkenne ich an den aufgeprägten Herstellernamen. Früher trug ich meine Schlüssel zeitweise auch in Lederetuis bei mir, aber die Praxis hat mich gelehrt, dass die nun für den Rest meiner Tage gefundene Lösung die praktikabelste ist, weil die Handhabung der Schlüssel beim Aufschließen der Türen den geringsten Zeitaufwand kostet und auch mit einer Hand immer problemlos möglich ist, wenn die andere anderweitig benötigt wird. Mein Schlüsselbund trage ich stets in der rechten Hosentasche bei mir. Da es immerhin 95 Gramm wiegt, spüre ich beim Verlassen der Räume sofort, wenn es sich dort nicht befindet und ich somit Gefahr laufe, mich auszuschließen.

Zweitens meine Armbanduhr. Es handelt sich um eine Quartzuhr des auf Werbeuhren spezialisierten Herstellers WTC aus der Schweiz vom Typ excellence No. 8811. Vermutlich habe ich sie einmal als Dreingabe zu einem Zeitungsabonnement erhalten, was aber schon sehr lange her sein muss, denn ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Die Uhr hat drei Zeiger für Sekunden, Minuten und Stunden, die beiden letzten sind Leuchtzeiger, ob mit Tritium oder Superluminova als Leuchtmasse versehen kann ich nicht sagen. Ab Werk war die Uhr mit einem schwarzen Lederarmband ausgestattet, das ich aber durch ein Metallarmband ersetzt habe. Lederarmbänder werden nach ein, zwei Jahren unansehnlich und brüchig, färben oft in den Sommermonaten durch den Körperschweiß ab, fallen schließlich ganz auseinander, kurz: sind verschleißanfällig, während sich mein Metallarmband als geradezu unverwüstlich erwiesen hat. Das Zifferblatt ist erfreulicherweise schlicht weiß, ohne Stunden- und Minutenstriche, ohne Zahlen, ohne Firmennamen. Lediglich auf dem Gehäuserand sind die Zahlen von 5 bis 60 für die Sekunden in Fünferschritten eingraviert und entsprechen somit auch den Stundenschritten. Eine Datumsanzeige gibt es nicht, was mich ebenfalls für diese Uhr einnimmt, denn ich möchte mein Gehirn nicht von der Aufgabe entbinden, täglich das korrekte Datum und den Wochentag abrufbar zu halten. Mit solchen tückischen Bequemlichkeiten fängt sie ja an, die allmähliche Verabschiedung unserer Geisteskräfte, die schließlich in Demenz mündet. Die Uhr geht zuverlässig genau und muss nicht aufgezogen werden, da sie batteriebetrieben ist. Gerade vor ein paar Tagen war die Batterie wieder einmal leer und musste erneuert werden, was einiges Geschick erfordert. Diese spezielle Knopfzelle kostet zurzeit sechs Euro beim Uhrmacher und hält die Uhr wohl mehrere Jahre am Laufen. Meine Uhr bringt mit Armband 65 Gramm auf die Waage.

Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr bin ich kurzsichtig und auf eine Brille angewiesen. Somit ist dies der dritte Gegenstand, den ich ständig am Leib trage. Zum Lesen nahm ich meine Brille bis vor ein paar Jahren immer ab, dann ließ ich mich dazu überreden, es einmal mit den neuen Gleitsichtgläsern zu probieren. Ich gewöhnte mich schnell daran, musste aber nach einiger Zeit feststellen, dass die Augen sich wohl etwas verschlechtert hatten. Jedenfalls klappte es mit dem Lesen durch die Brille nicht mehr so richtig und ich setzte sie dazu ab oder schob sie auf die Nasenspitze, was auf Dauer doch etwas lästig wurde. Also beschloss ich eine Neuanschaffung, obwohl das alte Gestell so alt noch gar nicht war. Der Zufall wollte es, dass mir gleichzeitig ein paar alte Fotos in die Hände fielen, auf denen ich als Achtzehnjähriger mit meiner damaligen kreisrunden Nickelbrille zu sehen war. ,So eine hätte ich gern wieder‘, dachte ich in einer nostalgischen Anwandlung, musste aber bald feststellen, dass die gegenwärtige Brillenmode ganz andere Modelle favorisiert: schmal und rechteckig! Im Sommer vorigen Jahres war ich für ein paar Tage in Berlin und entdeckte bei einer Kreuzberger Brillenwerkstatt tatsächlich eine kreisrunde Brille nach meinem Geschmack. Allerdings sollte sie ein kleines Vermögen kosten und ich konnte mich zu dieser Investition nicht so bald durchringen. Wenig später sah ich bei einem Optiker in meiner Heimatstadt ein nahezu rundes Modell im Fenster liegen, das nur ein Drittel kostete und noch schlichter war. Es ist aus Titan, heißt Key West 1 und wiegt mit Gläsern genau zwanzig Gramm.

Zuletzt zu meinem größten, schwersten und in gewisser Weise auch wertvollsten Begleiter, meiner Geldbörse. Dieses Modell habe ich vor ein paar Jahren an einem Stand des hiesigen Weihnachtsmarktes entdeckt. Das schwarze Lederportemonnaie ist mit seinen Fächern und Taschen ideal für meine Bedürfnisse geeignet, passt bequem in dir rechte Gesäßtasche meiner Hosen und ist so strapazierfähig, dass ich es nur alle zwei, drei Jahre durch ein neues Exemplar ersetzen muss. Die Fächer für die Kreditkarten reichen aus für meine beiden EC-Karten, meine Krankenkassenkarte, den Ausweis der Stadtbibliothek, den Organspenderausweis und die Abo-Servicecard der Süddeutschen Zeitung. Weitere, ausklappbare Hüllen mit Klarsichtfenstern enthalten meinen Personal- und meinen Schwerbehindertenausweis mit dem Beiblatt des Versorgungsamtes, welch letztere Dokumente ich immer bei mir tragen muss, um die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen zu dürfen. Sodann gibt es natürlich ein Fach für Münzgeld, das sogar mit einem kleinen Extra-Täschchen für den Einkaufswagen-Chip versehen ist, sowie zwei Fächer für Banknoten, von denen ich nur das vordere für Geldscheine nutze, während ich im hinteren Kassenbons und Quittungen sammle. Auch ein paar meiner Visitenkarten finden hinter meinem Personalausweis noch Platz. Je nach Füllung wiegt mein Geldbeutel um 200 Gramm. – Das wär’s an persönlichen Habseligkeiten, was man an mir fände, wenn ich irgendwo unterwegs das Zeitliche segnete.

Slow-Blogging

Tuesday, 12. January 2010

ruckspiegel

Dass die neuen und neuesten Medien geradezu unvermeidlich, quasi aus ihrer technischen Zurichtung heraus zu einer Beschleunigung von Wahrnehmung und Kommunikation zwingen; dass die mit ihrer Hilfe fabrizierten und transportierten Mitteilungen immer kürzer und immer flüchtiger, ihr Rhythmus immer stakkatohafter, ihr Inhalt infolge davon immer dünner, „oberflächlicher“ werden müsse – das habe ich immer schon bezweifelt. Ein solcher Fatalismus befreit den einzelnen Menschen, der heute und in diesem Zusammenhang „User“ genannt wird, von der Verantwortung für den individuellen Gebrauch der Werkzeuge, die ihm die Technik liefert. Dass eine Mitteilungsmöglichkeit wie das Weblog im Internet dazu verführt, fehlerhafte, gedankenlose, hässliche und überflüssige Beiträge zu veröffentlichen, ist nicht zu bestreiten; ebensowenig aber, dass jeder, der dieser Verführung nicht widersteht – was ja sehr wohl möglich wäre –, die persönliche Verantwortung für das Ergebnis trägt.

Als ich vor fast drei Jahren mit der Bloggerei begann, stellte ich an mein Geschriebenes die gleichen Ansprüche, an denen ich mich bei meinen gedruckten Texten, ja selbst bei meiner Produktion für die Schublade orientiert hatte. Offenbar hielten meine Kollegen bei Westropolis solche Ansprüche für völlig inadäquat diesem Medium gegenüber und machten sich das Leben viel leichter als ich. Ihre größtenteils schludrige Ex-und-hopp-Arbeitsweise deklarierten sie als trés chique und zeitgemäß, so sie sich denn überhaupt noch einen Rest von journalistischem Qualitätsbewusstsein bewahrt hatten; und ihre Leser waren offenbar nichts besseres gewöhnt. Mit einer von ihnen geriet ich darob bald so über Kreuz, dass für beide von uns zweien kein Platz mehr an Bord war. Interessanterweise hat sie mittlerweile aber auch längst diesen dümpelnden Seelenverkäufer verlassen und sogar ihr eigenes Blog nahezu aufgegeben, weil ihr wohl selbst der minimale Arbeitsaufwand ihres Schluderbloggens noch viel zu groß war. Für Menschen wie sie wurde Twitter erfunden – und wir ernsthaften Blogger dürfen hoffen, dass irgendwann alle zu artikulierteren Mitteilungen unfähigen Texter in dieses ebenso unverbindliche wie anspruchslose Reich des Gezwitschers abgezogen sein werden.

Eine noch kleine, aber desto feinere Elite der internationalen Bloggerszene hat sich längst zu qualitativen Idealen bekannt und verweigert sich konsequent der besinnungslosen Hektik, mit der im Internet aus tausend Rohren mit feuchter Munition auf Spatzen geschossen wird. So hat Todd Sieling ein Slow-Blog-Manifesto veröffentlicht, das ich hier in meiner eigenen (freien) Übersetzung wiedergebe:

[I] Slow-Blogging bedeutet Verweigerung von Unmittelbarkeit. Es beruht auf der Einsicht, dass nicht alles Lesenswerte schnell geschrieben wurde, dass viele Gedanken am besten erst in ausgegorenem Zustand aufgetischt werden sollten und dass es ihnen gut bekommt, wenn dies in wohltemperierter Stimmung geschieht. [II] Slow-Blogging ist wie Zungenreden, als ob die Pixel den Worten eine kostbare und außergewöhnliche Form verliehen. Es setzt die Bereitschaft voraus, Geschehnisse unkommentiert zu lassen. Seine Gangart ist gemessen, sein gemächliches Schreiten lässt sich nicht durch Ereignisse stören, die alles andere als echte Notfälle sind; und möglicherweise nicht einmal durch solche, denn Langsamkeit ist nicht die angemessene Geschwindigkeit für die meisten Notfälle. Im Notfall werden stattdessen Orte bevorzugt, an denen ein beruhigendes Tempo den Tageslauf bestimmt. Solche lauschigen Orte dienen uns in dieser Lage am besten. [III] Slow-Blogging kehrt jenen Auflösungsprozess um, an dessen Ende nurmehr Einzeiler und verknappte Phrasen stehen, welche doch meist nur unsere Ideen im frühesten Zustand ihres Entstehens widerspiegeln. Dabei leuchten Gedankenblitze auf und verblassen wieder, um ihren Platz im Hintergrund von etwas Größerem einzunehmen. Slow-Blogging kritzelt keine Gedanken auf das ätherische und ewigwährende Transparent, die noch keinen bleibenden Wert in Gestalt zeitloser Ideen erlangt haben. [IV] Slow-Blogging lässt sich darauf ein, die alltäglichen Empörungen und Begeisterungen mit Schweigen zu übergehen, die doch keinen anderen Zweck erfüllen, als die Leere einzelner Augenblicke auszufüllen, durch ein Umherhüpfen zwischen Banalitäten, Herzschmerzschmalz und Apokalypsekitsch-Psychose, und dies alles bloß in den Lücken zwischen den Schlagzeilen. Was immer du in einem bestimmten Augenblick in der vergangenen Woche sagen wolltest, du kannst es auch noch im kommenden Monat oder im nächsten Jahr sagen und wirst dann nur als desto geistreicher erscheinen. [V] Slow-Blogging ist die Antwort auf PageRank und dessen Ablehnung. PageRank: dieses hässlich-hübsche Monstrum, das sich hinter den vielfach gefältelten Vorhängen von Google verbirgt und über Ansehen und Relevanz der Suchergebnisse entscheidet. Blogge zeitig und reichlich, dann wird Google es dir danken. Konditioniere dein kreatives Selbst auf die geheimnisvolle Frequenz, und du wirst von Google gehätschelt; du wirst dort erscheinen, wo jeder hinblickt – bei den ersten paar Seiten der Suchergebnisse. Folgst du aber deiner eigenen Gangart, so wirst du deine Werke niemals wiederfinden. Verweigere dich dem PageRank, und schon verschwinden deine Werke. Wie von einem Strudel werden sie in die Abgründe unspezifischer Ergebnisse hinabgesaugt. Sein verzerrtes Ideal vom Gemeinwohl hat PageRank zu einem furchteinflößenden Gegner der Gemeinschaft gemacht, der eine Gangart vorgibt, die jede doch so nötige Reflektion unmöglich macht; nötig nämlich für einen Fortschritt über den Tag hinaus und hin zu einem Testament. [VI] Slow-Blogging ist die Wiedereinsetzung der Maschine als Medium menschlicher Äußerungen, statt wie zuletzt nur noch deren Peitsche und Container zu sein. Damit wird das Hamsterrad freiwillig angehalten, das mit Lichtgeschwindigkeit rotiert, wie’s die Regeln des effektiven Bloggens vorschreiben. So werden künftig asynchrone Zeitverhältnisse eingesetzt – worauf wir nicht mehr schneller und immer noch schneller drauflostippen, um mit dem Computer Schritt zu halten; worauf das Tempo der Regeneration nicht die gleiche Gangart erzwingt wie der Konsum; und worauf gute und schlechte Werke in ihrer je eigenen Zeit geschaffen werden.

Solche zaghaften Deklarationen gegen den übermächtigen Trend der Beschleunigung machen mir Mut. Es weiß zwar noch kaum einer, aber wir Slowblogger sind tatsächlich die Speerspitze eines ganz neuen, revolutionären Verhältnisses zur Kreativität in den Neuen Medien.

Ruhrmuseum

Monday, 11. January 2010

zollverein

Am Samstag war das Wetter tatsächlich so ruppig, dass wir die Fahrt mit Bus und Bahn zur Zeche Zollverein nicht riskierten. Im Radio war zu hören, dass zahlreiche Schaulustige am frühen Nachmittag noch gar nicht aufs Gelände kamen. Höchste Sicherheitsstufe für die prominenten Gäste des Open-Air-Festaktes! Während das Schneetreiben kein Ende nehmen wollte, verging uns die Vorfreude auf eine Expedition nach Katernberg mehr und mehr. Hin würde man ja noch irgendwie gelangen, aber dann dort mit der Angst im Nacken rumzulaufen, dass wir spät in der Nacht nicht mehr heimkämen, das schien uns doch auf unsere alten Tage etwas zu strapaziös.

Mit desto besserer Laune machten wir uns dann heute auf den Weg. Es hatte endlich aufgehört zu schneien, und auch der scharfe Wind hatte sich gelegt. An der U-Bahn-Haltestelle Martinstraße warteten wir eine Viertelstunde, bis die Kulturlinie 107 schließlich kam, die ja laut Ankündigung im 7,5-Minuten-Takt verkehren sollte. Wir konnten uns so gerade noch reinquetschen und hatten bis Zollverein dann warme Stehplätze. Festzuhalten brauchte man sich nicht, denn zum Umfallen fehlte es entschieden am nötigen Raum. Aber es ist ja erfreulich, dass die Kulturhauptstadt RUHR.2010 gleich auf Anhieb solchen Zuspruch findet! Die frustrierten Gesichter der Zusteigewilligen an den diversen Haltestellen auf der Fahrt in den Essener Norden waren bilderbuchreif, die Türen blieben zu. Gern hätte ich ein paar Fotos gemacht, aber ich traute mich nicht, in dem Gedränge meine Kamera aus der Tasche zu holen. Die Mäkeleien mancher Fahrgäste, die dieses Chaos nun wieder typisch für den Essener ÖPNV fanden, ließen wir nahezu unkommentiert. Als aber eine besonders zickige Dame wissen wollte, warum man denn nicht einfach mal doppelt so viele Straßenbahnen eingesetzt habe, konnte ich meinen frechen Schnabel nicht mehr halten: „Ganz einfach: Weil die dafür nötigen Straßenbahnfahrer noch in der Ausbildung sind.“

Am Eingang zum Zollverein-Gelände wurden wir dann mit den bei der Vorbereitung so sehr entbehrten Programm-Foldern zum Kulturfest „Glück Auf 2010!“ geradezu überschüttet. Mittlerweile hatten wir aber längst eingesehen, dass wir selbst beim besten Willen keinen auch nur halbwegs vollständiges Bild von diesem gigantischen Programm würden gewinnen können. So beschränkten wir uns darauf, wenigstens eine große Attraktion, das heute neu eröffnete Ruhrmuseum, genauer in Augenschein zu nehmen und uns anschließend nur noch vom Zufall treiben zu lassen. Wir reihten uns in eine lange Schlange ein, und als wir den Eingang erreicht hatten, hieß es, wir müssten im Vorraum unsere Garderobe abgeben und würden dann eine Plakette mit einer Nummer erhalten. Wir taten wie befohlen, meine Plakette hatte die Nummer 4647. Nun betraten wir das große gläserne Zelt, eher eine Art Gewächshaus, das eigens für die Eröffnung des Ruhrmuseums vor der Kohlenwäsche aufgebaut worden war. Dort musizierte auf einer kreisrunden Bühne ein Jazztrio und man konnte an langen Tischen Platz nehmen und Kuchen essen oder an Stehtischen Bier trinken. Eine weitere Schlange lud uns dazu ein, ihr vorläufiges Ende zu bilden, aber wir stellten verwundert fest, dass wir zu einer kleinen Minderheit gehörten, die sich brav ihrer Garderobe entledigt hatten. Die überwiegende Mehrheit der Besucher standen dort in Mänteln, Jacken und Mützen. Da wir jetzt schon mit den Zähnen klapperten, gingen wir zurück in den Vorraum und erbaten unsere Garderobe, die wir von der wirklich sehr verständnisvollen Gardrobiere nun auch anstandslos zurückbekamen. Sie wisse auch nicht, was das solle. Nachdem wir diese kleinen Hemmnisse überwunden hatten, gelangten wir schließlich auf die berühmte lange Rolltreppe [s. Titelbild], die uns auf die Eingangsebene in 24 Meter Höhe beförderte. Die verschiedenen Etagen des Museums sind nämlich nicht wie sonst üblich durchnummeriert, sondern mit ihren Meter-Höhen bezeichnet. Die 17 m-Ebene trägt den Titel „Gegenwart“, die 12 m-Ebene heißt „Gedächtnis“ und die 6 m-Ebene „Geschichte“. Wir hatten sehr schnell erkannt, dass die Dimensionen dieser neuen Ausstellung viel zu riesenhaft sind, als dass man sie bei einem einzigen Tagesbesuch ausmessen könnte. Also begnügten wir uns damit, hier und da auf allen Ebenen ein paar Stippvisiten zu machen und einen allerersten Gesamteindruck zu gewinnen. Um es rundheraus zu bekennen: Wir waren auf Anhieb vollauf begeistert von dieser Präsentation! Erstens ist die Kulisse, die das Industriegebäude mit seinen unverändert belassenen „Innereien“ dieser Ausstellung bietet, schon für sich ein sinnliches Faszinosum erster Güte. Wie es nun aber zweitens den Ausstellungsmachern gelungen ist, die so vielgestaltigen und teils geradezu filigranen Exponate vor diesem grobschlächtigen Hintergrund zur Geltung zu bringen, das ist ein kleines Wunder.

Auf der 17 m-Ebene entdeckte ich auch bald meinen vorläufig Favoriten, den Ausstellungsteil „Zeitzeichen“: Quadratische Glasvitrinen in weißen Säulen beherbergen 30 Objekte der kollektiven Erinnerung und 30 Objekte der Naturzeit. In besonderer Erinnerung geblieben sind mir der selbstgebastelte Adventskalender aus Streichholzschachteln und die präparierte Staublunge eines Bergmanns. Ich bedauere sehr, dass nicht alle 60 Exponate dieses Bereichs im ansonsten reichhaltigen, prachtvollen und lesenswerten Katalog reproduziert und kommentiert werden. (Vgl. Ruhr Museum. Natur. Kultur. Geschichte. Hrsg. v. Ulrich Borsdorf u. Heinrich Theodor Grütter. Essen: Klartext Verlag, 2010, S. 158-169.) Gerade die Beliebigkeit der Auswahl führt zu wunderbaren Interferenzen der disparaten Gegenstände in der Phantasie des Betrachters. Ich könnte mir vorstellen, dass die Vitrinen in größerem zeitlichen Abstand mit anderen Inhalten befüllt werden, damit so diese wunderbare Museumsbühne immer wieder einmal neu bespielt wird und zu neuen Entdeckungen einlädt.

Vorläufiges Fazit: Das Ruhrmuseum – das sich übrigens leider, einem modischen Manierismus folgend, offiziell Ruhr Museum schreibt – lohnt sicher mehr als nur einen Besuch. Zur Eröffnung war der Eintritt frei, zukünftig hat der Erwachsene 6 Euro zu zahlen, für die ihm aber weitaus mehr geboten wird als in … nein, das sage ich jetzt nicht.

Schneegestöber

Friday, 08. January 2010

snoway

Am bevorstehenden Wochenende steigt also die große Eröffnungsparty auf Zollverein – vorausgesetzt, das Wetter macht den Organisatoren keinen dicken Strich durch die Rechnung. Ich reagiere ja üblicherweise allergisch, wenn ich bei Kulturveranstaltungen, zum Beispiel bei Museumsbesuchen vor abstrakten Ödnissen à la Homage to the Square, benachbarte Kunstkenner das Modewort „spannend“ raunen höre. Aber in diesem Falle ist Höchstspannung wirklich der passende Ausdruck zur Bezeichnung unserer Stimmung, in Erwartung dieses Mega-Events. Schon jetzt wird deutlich, dass das Kulturhauptstadtjahr im Revier polemisch von zwei großen Chören in den Weblog-Kommentarspalten begleitet werden wird: dem Chor der Nörgler und dem der Schönredner.

Die Nörgler fragen sich, warum eine solche Veranstaltung ausgerechnet in der kalten Jahreszeit stattfinden muss, und dann noch größtenteils im Freien. Gibt es denn keine ausreichend großen Hallen? Offenbar nicht. Da sieht man mal wieder, was passiert, wenn man am falschen Ende spart und der Fußballverein Rot-Weiß Essen immer noch kein neues, überdachtes Stadion hat. Und offenbar hatten die Krawattenträger in den klimatisierten Planungsbüros nicht genug Phantasie, sich einen harschen Wintertag auszumalen, als sie die Weichen für diesen Wahnsinn stellten. Jetzt sollen sich doch die Herren und Damen Köhler und Barroso morgen den Po verkühlen, da waren die Kumpel im Pütt ganz andere Verhältnisse gewöhnt. Aber dass noch nicht mal genug Streusalz eingekauft wurde zum Kulturhauptstadtwinter, das ist mal wieder typisch! – So stänkern die Nörgler.

Die Schönredner geben zu bedenken, dass in unserer Hemisphäre schließlich jedes Jahr mit der kalten Jahreszeit beginnt und auch im Kulturhauptstadt-Jahr der Januar nicht in den Hochsommer fällt. In den vergangenen Jahren fielen die Winter allesamt außergewöhnlich mild aus. Dass jetzt ausgerechnet zum Eröffnungswochenende bis zu 15 Zentimeter Neuschnee fallen sollen, ist zwar nicht nett vom Petrus. Aber vielleicht wird diese Massenveranstaltung ja gerade deshalb besonders gut gelingen, weil sich ein Teil jener Massen durch die Wetterprognosen abschrecken lässt und den wetterfesten Fans das Gedränge im befürchteten „Polackenflachrennen“ dadurch erspart bleibt. Außerdem gibt es doch genügend Gelegenheiten, sich ins Warme zu flüchten. Die Hallen 2, 5, 9 und 12, das SAANA-Haus, Salzlager und Mischanlage Kokerei, Oktogon, PACT Zollverein öffnen allesamt am späten Nachmittag ihre Pforten und werden gewiss nicht ganz ungeheizt sein. – So frohlocken die Schönredner.

Was mich betrifft, so weigere ich mich hartnäckig und konsequent, ungelegte Eier zu kommentieren. Die Veranstaltung findet morgen und übermorgen statt, bis dahin halte ich mich zurück. Anfang der Woche werde ich dann von meinen Erfahrungen und Erlebnissen berichten, so ich denn zum Zollverein-Gelände durchkomme und nicht unterwegs in einer Schneeverwehung steckenbleibe.

Eins muss ich aber doch schon vorab loswerden. Die Verteilung des Programmheftes zum Eröffnungsfest ließ doch sehr zu wünschen übrig! Meine erste Anlaufstelle war gestern die Touristikzentrale der Essen Marketing Gesellschaft (EMG) am Essener Handelshof. Dort las ich auf einem Zettel an der verschlossenen Tür sinngemäß: ,Die Touristikzentrale ist vom 21. Dezember 2009 bis zum 10. Januar 2010 wegen Umbau geschlossen. Im Foyer des Hotels Maritim nebenan gibt es in dieser Zeit einen Infotisch mit individueller Beratung.‘ Das Programm erhielt ich dort allerdings auch nicht, sondern nur den Tipp, es sei der WAZ beigelegt. Ausnahmsweise kaufte ich mir also zähneknirschend dieses Blatt, aber die 1,20 € hätte ich mir sparen können. Das volle Programm nennt sich vollmundig die äußerst dürftige Kurzübersicht, die dort auf einer einzigen Seite abgedruckt ist. Dabei gibt es doch im Internet ein 26-seitiges, farbenfrohes Programmheft als PDF zum Download, das keine Wünsche offen lässt. Sollte das tatsächlich nicht in gedruckter Form erhältlich sein? Da ich ohnehin noch einen Gang zur benachbarten Stadtbibliothek vor mir hatte, vertraute ich darauf, dass in dieser Kultureinrichtung wohl gewiss ein großer Tisch mit allen Prospekten und Broschüren zur Kulturhauptstadt RUHR.2010 auf mich warten würde. Wieder Fehlanzeige! „Eigentlich ein Armutszeugnis,“ bekannte ein freundlicher Bibliotheksmitarbeiter. Ob nun seitens der Bibliothek oder des Kulturhauptstadt-Büros, das ließen wir höflich offen. Ich bin gespannt, ob die Programmhefte morgen wenigstens vor Ort auf Zollverein ausliegen.

Balthasar

Wednesday, 06. January 2010

balthasar

Da ich mittlerweile auch langsam ins Sachdochmalschnell-Alter hinüberrutsche, also in jene gerade für einen Schreibwerker verstörende Übergangsphase, in der man sich die gelegentlichen Wortfindungsstörungen noch mit allerlei kurzfristigen Irritationen und Ablenkungen plausibel zu machen versucht, interessieren mich alle Arten von Gedächtnisausfällen, sowohl akute wie chronische Amnesien, Verwechslungen, Fehlleistungen, bis hin zu Berichten über katastrophales Totalversagen des Gedächtnisses, sowie die gegen dergleichen aufgebauten Eselsbrücken, Hirntrainingsprogramme und logopädischen Therapien. So ist zu erklären, warum ich in den vergangenen Tagen die Autobiographie eines Autors mit wachsender Anteilnahme gelesen habe, der mich als Dramatiker und Satiriker bisher wenig bis gar nicht interessiert hat: Balthasar von Sławomir Mrożek. (A. d. Poln. v. Marta Kijowska. Zürich: Diogenes Verlag, 2007.)

Der Pole Mrożek (* 1930) erlitt am Vormittag des 15. Mai 2002 an seinem Schreibtisch in Krakau einen Gehirnschlag, der zu einem völligen Verlust seiner Sprache führte. Die Aphasie war so total, dass er sogar seinen eigenen Namen ablegte und sich seither mit Bezug auf einen bedeutsamen Traum Balthasar nennt: „Im Dezember 2003 hielt ich mich kurz in Paris auf. Wir wohnten in einem geräumigen Appartement im vierten Stock eines Hauses an der Rue Guynemer, gegenüber des Jardin du Luxembourg. Diese Umstände können wichtig sein im Hinblick auf den Traum, den ich damals hatte. – Ich träumte, daß mein Vor- und Familienname auf einem amtlichen Schreiben auf polnisch gedruckt waren. Die Buchstaben, an die ich mich sehr genau erinnere, stammten von einem Computerdrucker. Gleichzeitig hörte ich eine Stimme, die quasi aus dem Nichts kam. Die Stimme sagte, daß ich bald eine weite Auslandsreise antreten würde. Das beigefügte Dokument würde ich mitnehmen und nach meiner Ankunft den dortigen Behörden vorlegen. Sie würden daraufhin jede meiner Forderung[en] erfüllen, unter der Bedingung, daß ich nie wieder meinen echten Vor- und Nachnamen benutzte. Mein neuer Name sollte Balthasar lauten. – Als ich aufwachte, stand ich stark unter dem Eindruck dieses Traums. Balthasar… Ich war noch nie ein Enthusiast meines Familiennamens gewesen. Er begleitete mich immer als eine langweilige Notwendigkeit. Später, als ich anfing zu schreiben, behielt ich ihn aus Rücksicht auf meinen Vater. Bis zu dem Moment, in dem ich von der Aphasie heimgesucht wurde.“ (Ebd., S. 363 f.) Mit der Unterstützung seiner Logopädin, Beata Mikołajko, gelang es Mrożek, seine Sprachbeherrschung und damit auch sein verbalisierbares Gedächtnis zurückzuerobern, wenngleich nur in seiner Muttersprache, dem Polnischen. Die Sprachen seiner verschiedenen Exile, in Frankreich und zuletzt in Mexiko, blieben unrettbar verloren.

Die Autobiographie, die mit diesem traurigen Ereignis endet, ist zunächst Teil der Therapie und genügt sich insofern selbst. Erst in zweiter Linie zielt das Buch auf ein Leserinteresse, und ob es ernsthaft eine ästhetische oder politische Relevanz beansprucht, bleibt sogar fraglich. Die wenigen Kritiken, die in Deutschland nach dem Erscheinen von Balthasar zu lesen waren, gehen sehr rücksichtsvoll mit dem Autor um, nennen ihn den auch international erfolgreichsten Dramatiker Polens nach dem Zweiten Weltkrieg und erwähnen, dass auch seine absurden Satiren in Kurzprosa über den Alltag unter einem totalitären Regime zu ihrer Zeit viel besprochen und gepriesen waren. Das klingt stellenweise fast so, als hätte Sławomir Mrożek durchaus Chancen gehabt, den Nobelpreis für Literatur wieder einmal nach Polen zu holen, wären ihm nicht 1980 Czesław Miłosz und 1996 Wisława Szymborska zuvorgekommen. Auch werden Dramatiker bekanntlich selten prämiert, nach Beckett 1969 waren Harold Pinter und Dario Fo die einzigen, die den Nobelpreis zugesprochen bekamen. Aber was folgt daraus? Allenfalls, dass es nicht viel bedeutet hätte, Mrożek in Stockholm im Frack zu sehen.

Nun also hat er im Alter noch einmal etwas ganz anderes versucht. Der Gegenstand seines Spottes, die Wurzel seiner Verbitterung, der Quell seiner Ängste: die stalinistische Diktatur, sie existiert ja schließlich längst nicht mehr. Insofern war sein literarisches Aufbegehren in den vier Jahrzehnten von 1950 bis 1990 längst gegenstandslos geworden. Tatsächlich kam seine literarische Produktivität Anfang der 1990er-Jahre vollständig zum Erliegen. Und dann löscht der Hirnschlag auch die Erinnerung, soweit sie sich im Sprachzentrum abgelagert hatte, vollständig aus, der Speicherinhalt ist gelöscht. Aber Balthasar, wie das Wesen jetzt heißt, gibt nicht auf. In jahrelanger mühseliger Anstrengung erobert es sich immerhin eine verständliche, zusammenhängende, erzählbare Geschichte von der eigenen Person zurück.

Die Erzählung verblüfft durch akribische Schilderungen konkreter Situationen, Begegnungen, Erlebnisse, die wie durch ein Vergrößerungsglas und in Zeitlupe betrachtet werden. Und noch etwas fällt auf: Die frühesten Kindheitserinnerungen erscheinen am deutlichsten vor dem inneren Auge des Lesers, während die Präzision und Ausführlichkeit immer mehr abnimmt, je näher die Gegenwart rückt. Bekanntlich ist das Leben für das subjektive Zeitempfinden ja mit Erreichen des Erwachsenenalters zur Hälfte abgelaufen, ganz gleich, welch biblisches Alter man immer erreicht. Dieser Gesetzmäßigkeit scheint die Darstellungsweise des Buches Rechnung zu tragen, das sich ja ausdrücklich Autobiographie nennt und insofern den Anspruch erhebt, ein ganzes Leben in wohl bedachten Proportionen abzubilden. Eben habe ich ein paar von Mrożeks Satiren gelesen (aus: Striptease. A. d. Poln. v. Ludwig Zimmerer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1965). Ich sehe auch, dass er eine Schach-Geschichte geschrieben hat, ein Thema, das mich prinzipiell interessiert. Aber ich habe ausreichenden Grund zu der Annahme, dass Balthasar das einzige seiner Werke ist, das in fünfzig Jahren noch verdient, gelesen zu werden. Das Thema Kommunismus hat keine Zukunft mehr, das Thema Aphasie hingegen ist mächtig im Kommen.

[Titelbild aus dem besprochenen Buch:  Der kleine Sławomir Mrożek mit seinem Hund Mars.]

Antiquariat (I)

Saturday, 02. January 2010

anarchbooks

Noch eine Neuigkeit fürs neue Jahr ist bekannt zu machen: Seit dem 1. Januar 2010 bin ich Inhaber eines Gewerbebetriebs, da ich zu diesem Termin am 14. Dezember 2009 bei der Gewerbemeldestelle im 17. Obergeschoss des Essener Rathauses ein Gewerbe nach § 14 GewO angemeldet und die hierfür fällige Gebühr in Höhe von 20,00 € entrichtet habe. Die angemeldete Tätigkeit ist „Einzelhandel mit antiquarischen Büchern über das Internet“.

Für dieses neue Tätigkeitsfeld muss ich hier eine Kategorie nicht eigens anlegen, ich setze fort, was ich zaghaft schon unter „Bibliotheca Curiosa“ begonnen habe. Indem ich mich öffentlich von meinen Büchern trenne, lasse ich ihnen zum Abschied allerletzte Gerechtigkeit widerfahren.

Eben habe ich die „Bekenntnisse eines Bibliomanen“ gelesen, in denen ich mich vielfach spiegeln konnte, wenngleich ich nicht in allen Punkten mit ihrem Autor übereinstimme. Auch der Totalausverkauf von Privatbibliotheken wird thematisiert: „Gelegentlich kommt es vor, dass ein Bibliomane beschließt, all seine Bücher zu verkaufen. [Christian] Galantaris erwähnt [1998 in seinem Manuel du bibliophile] zwei Fälle von Bibliomanen, die ihre Bücher bei der von ihnen selbst organisierten Versteigerung wie unter Zwang zu hohen Preisen zurückkauften: Graf von Bédoyère und Baron Jérome Pichon. Letzterer verbrachte die letzten siebzehn Jahre seines Lebens damit, jene Bücher aufzuspüren und zurückzukaufen, die ihm am Tag der Versteigerung trotz aller Bemühungen abhanden gekommen waren.“ (Jacques Bonnet: Meine vielseitigen Geliebten. A. d. Frz. v. Elisabeth Liebl. München: Droemer Verlag, 2009, S. 141.) Ich bin dennoch zuversichtlich, dass ich mich von vier Fünfteln meines Bestandes trennen kann, ohne einen wirklichen Verlust zu empfinden. Und wenn ich tatsächlich ausnahmsweise einmal bereuen sollte, mich von einem Buch getrennt zu haben, so dürfte es dank ZVAB in aller Regel ohne große Umstände und Kosten wiederzubeschaffen sein.

Bonnet zitiert auch einen Ausspruch von Jules Janin (1804-1874): „Wer in einer einzigen Stunde alle Leiden dieser Welt erfahren möchte, muss nur eines tun: seine Bücher verkaufen.“ Ich kannte bisher nur jenen ganz ähnlichen Satz, den Alexander von Humboldt (1769-1859) zu Protokoll gegeben haben soll: „Wer die Qualen der Hölle schon auf Erden kennen lernen will: der verkaufe seine Bibliothek!“ (Arno Schmidt: Müller oder vom Gehirntier; in: Tina oder über die Unsterblichkeit. Frankfurt am Main u. Hamburg: Fischer Bücherei, 1966, S. 55.)

Doch auch dieses Menetekel kann mich nicht erschrecken. Erstens will ich ja nicht meine ganze Bibliothek verkaufen, sondern nur einen – wenngleich erheblichen – Teil. Dieser Abbau hinterlässt keine Ruine, sondern sorgt im Gegenteil dafür, dass der zentrale Prunkbau freigelegt wird, um in seiner ungetrübten Pracht nur desto herrlicher erstrahlen zu können. Und zweitens soll diese große Veräußerung ja Schritt für Schritt dokumentiert werden. Nein, ein Bibliomane bin ich wohl bei aller Sammelwut doch nicht. Allerdings stelle ich mir vor, einen Teil des Verkaufserlöses in Zukäufe zu reinvestieren. Und ich kann nicht leugnen, dass es die Aussicht auf den Zukauf echter Desiderata meiner Sammlung ist, der mich am stärksten zu diesem Geschäft motiviert.

[Fortsetzung: Antiquariat (II).]

Kulturflanerie

Friday, 01. January 2010

ruhrmuseum

Kalendarisch beginnt heute also das Kulturhauptstadt-Jahr in der Stadt Essen und im Ruhrgebiet. Offiziell gibt es am Samstag, 9. und Sonntag, 10. Januar 2010 zum Auftakt ein erstes Mega-Event auf Zollverein. Neben dem offiziellen Eröffnungs-Festakt mit über tausend prominenten Gästen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und der Einweihung des Ruhrmuseums findet für die 100.000 geschätzten “einfachen” Besucher an diesem Wochenende ein geradezu erdrückendes Veranstaltungsaprogramm in den Hallen und auf dem Außengelände statt.

Ich habe lange darüber nachgedacht, welche Beobachtungsposition ich gegenüber diesem Spektakel in meiner Heimatstadt und -region beziehen soll. Als ich vor zwei Jahren notgedrungen über eine berufliche Neuorientierung nachdenken musste, habe ich für ein Weilchen erwogen, das Angebot befristeter Stellen im Zusammenhang mit der Kulturhauptstadt abzugrasen. Mir wurde aber nur allzu bald klar, dass ich aus verschiedenen Gründen (nicht jung, nicht billig, nicht flexibel, nicht mobil) auf diesem Felde völlig chancenlos war. Auch mein kritisches Engagement als Blogger bei Westropolis 2007/08 zielte anfangs auf dieses Hauptthema, die Kommentierung der Vorbereitung und Durchführung des Kulturhauptstadt-Jahres 2010 im Ruhrgebiet. Aus dieser Zeit ist mir nicht viel mehr als mein Nickname ,Revierflaneur‘ geblieben. Schon in dieser frühen Phase der Projektmodellierung durch die RUHR.2010 GmbH und das Kulturhauptstadt-Büro unter Dr. h.c. Fritz Pleitgen und Prof. Dr. Oliver Scheytt wuchsen sich aber meine Störgefühle gegenüber der Seelenlosigkeit und Kommerzialität des ganzen Unternehmens zu so starken Vorbehalten aus, dass ich beschloss, mich vorläufig wieder in eine größtmögliche Distanz zu begeben, zumal ich auf meine Kritik hin immer wieder den Satz hörte: „Nun warte doch erst mal ab!“

Wie es mir in die Wiege gelegt ist, geradezu naturgemäß erwuchs meine Abneigung gegen das Unternehmen aus dem kakophonen Sprachgedöns, das es allenthalben umrankte, überwucherte, verstellte, ursprünglich wohl, um dessen Ärmlichkeiten und Widersprüche notdürftig zu verhüllen. Meine Erfahrungen in der Marketing- und Kommunikationsbranche haben mich zusätzlich skeptisch gemacht für die Ergebnisse jener obligatorischen Brainstormings in den Agenturen, die sich bei näherer Betrachtung oft genug bloß als Sturm im Wasserglas erweisen – und ihr Ergebnis bestenfalls als heiße, öfter noch als lauwarme Luft.

„Mythos Ruhr begreifen!“ – „Metropole gestalten!“ – „Bilder entdecken!“ – „Theater wagen!“ – „Musik leben!“ – „Sprache erfahren!“ – „Kreativwirtschaft stärken!“ – „Feste feiern!“ – „Europa bewegen!“ So lautet zum Beispiel eine dieser unsäglichen Schlagwortkaskaden, bei denen sich mir die Nackenhaare sträuben und ich den Stoßseufzer gen Himmel schicken möchte, dass er uns doch vor solchen Quatschköpfen beschützen möge. Sinn der Übung war wohl, Ordnung ins Chaos des unüberschaubaren Angebots zu bringen. Aber schon die Beliebigkeit, mit der diese Wortpaare zusammengestellt wurden, macht diese Absicht zunichte. „Mythos Ruhr erleben!“ – „Metropole entdecken!“ – „Bilder wagen!“ – „Theater leben!“ – „Musik gestalten!“ – „Kreativwirtschaft bewegen!“ –„Europa stärken!“ Das passt mindestens genauso gut, vielleicht besser. Einzig dass man Feste feiert, ist aus den Begriffen selbst heraus evident und passt deshalb nicht zu den übrigen, gewollt originell wirkenden Kombinationen. Und was bleibt? „Sprache begreifen!“ Damit hätten die schwächlichen Kreativwirtschaftler besser mal beginnen sollen.

Nun denn, jetzt geht der Rummel los, und die Zeit des Abwartens und der vornehmen Zurückhaltung hat damit für mich ihr Ende. Meine Beobachtungsposition ist die der größtmöglichen Unabhängigkeit. Ich bin mit den Verantwortlichen auf keine noch so indirekte Weise verbandelt und verbinde nicht das geringste wirtschaftliche Interesse mit meiner Anteilnahme an den Veranstaltungen, über die ich berichten und urteilen werde. Mit gutem Willen werde ich mich bemühen, meine hier vorab eingestandenen Vorurteile selbstkritisch unter Kontrolle zu halten und es dem Urteil des Lesers überlassen zu entscheiden, ob mir dies von Fall zu Fall gelungen ist. – Für die Beiträge zum Thema Kulturhauptstadt 2010 habe ich eine eigene Rubrik, eingerichtet: „Kulturflanerie 2010“.

[Das Titelbild zeigt den Titel des Ruhr-Museum-Folders zur Eröffnung. Gestaltung Uwe Loesch, Foto (Ausschnitt) Rainer Rothenberg.]

Kaffeesatz

Thursday, 31. December 2009

kaffeesatz

Ein Blick in die Zukunft zum Jahreswechsel. Dass ich das kommende Jahr überlebe, scheint mir heute wenig wahrscheinlich. Ich habe da so ein unbestimmtes Vernichtungsgefühl. Vielleicht geht das vielen anderen Menschen ähnlich? So wie sie aussehen, möchte man’s nicht rundweg in Abrede stellen. Mundwinkel, die aufwärts weisen, werden immer rarer.

Am letzten Tag der Nullerjahre verspricht uns die Bundesregierung, alles zu tun, um Wachstum zu schaffen, wie ich gerade in den Nachrichten höre. Sie bemüht sich also darum, den Motor der Klimaschädigung auf noch höhere Touren zu bringen. Der Gipfel in Kopenhagen war ein Desaster? Na, dann wenden wir uns wieder der Arbeitsmarktpolitik zu!

Wir kommen zum Sport. Schumi sitzt bald wieder hinterm Steuer, Deutschland atmet auf. Wenn er dann mal alt in seinem Liegestuhl rumschaukelt, dann wird die Welt eine andere sein. Oder wenn er in seinem Schaukelstuhl rumliegt? Aber egal.

Wir kommen zum Wetter. Der Jahreszeit entsprechend trüb, feucht, kalt, deprimierend. Es kann nur besser werden. Doch ist das überhaupt noch ein Thema? Alle reden vom Wetter, wir nicht. Wir reden ab sofort nur noch vom Klima. Man sagt dann künftig nicht mehr: Scheißwetter wieder heute! Sondern: Scheißklima wieder heuer!

Und zuletzt die Lottozahlen für Zweitausendzehn: zwölf, dreiundzwanzig, neunundzwanzig, fünfunddreißig, dreiundvierzig, siebenundvierzig. Zusatzzahl: zwei. Superzahl: sieben.

Hilde Stieler (II)

Tuesday, 29. December 2009

strandnixe

Zu Hans Siemsen haben mir die jüngst erschienenen Lebenserinnerungen von Hilde Stieler (1879-1965) kaum neue Einsichten gebracht. Immerhin habe ich das Buch mit einigem Interesse gelesen, weil es mit „Herzblut“ geschrieben ist – nämlich mit der Leidenschaftlichkeit einer teils glücklich, teils unglücklich liebenden Frau. Allerdings enttäuschte es meine Erwartungen auch noch in einer weiteren Hinsicht, hatte ich mir doch lebendige Charakterbilder der zahllosen deutschen Emigranten in Sanary-sur-Mer erhofft, im günstigsten Fall auch tiefere Einblicke in die sozialen Netzwerke unterm Druck der drohenden Zwangs-Repatriierung, KZ-Internierung, gar Vernichtung. Aber so lang die Namenliste der erwähnten Flüchtlinge im Register auch ist, nach den erhofften Porträts sucht man vergeblich.

Der Herausgeber Manfred Flügge reproduziert im Anhang des Buches die bekannte Gedenktafel in Sanary-sur-Mer, auf der die Namen von 36 prominenten deutschen und österreichischen Schriftstellern verewigt sind, die dort Zuflucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft suchten und für eine Weile auch fanden. Von diesen Exilanten kommen bei Hilde Stieler nur Lion Feuchtwanger, die Familie Mann, das Ehepaar Werfel, Annette Kolb und Julius Meier-Graefe vor, und selbst diese wenigen werden gleichsam nur en passant erwähnt.

Flügge, der unter anderem auch als Verfasser der ersten, viel beachteten Marta-Feuchtwanger-Biographie hervorgetreten ist, kommt in seinem Nachwort auf diesen beklagenswerten Mangel auch kurz zu sprechen: „Warum die Feuchtwangers praktisch nicht vorkommen, insbesondere Marta Feuchtwanger nicht, die mit Hilde Stieler im Mai 1940 in Hyères interniert war, ist rätselhaft und mag mit Animositäten erklärt werden, vielleicht aber auch damit, dass Stieler und Klossowski doch relativ isoliert lebten, was vor allem seinem Temperament entsprach.“ (Manfred Flügge: Nur eine Freundin bedeutender Leute? Anmerkungen zu Hilde Stieler; in: Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. A. d. Frz. u. hrsg. v. dems. Berlin: AvivA Verlag, 2009, S. 311.)

Übrigens weckt auch der deutsche Titel des Buches, das im Original Les confessions d’Annouchka überschrieben ist, insofern falsche Erwartungen, als nur der zweite Teil, Auf nach Frankreich!, die Zeit in der Emigration behandelt; und nimmt man die Zeit in Sanary in den Blick, dann bleiben gar bloß gut hundert Seiten übrig. Als „Edelkomparsin“, also als Filmstatistin in der Rolle einer Dame der besseren Gesellschaft, ist Hilde Stieler nach eigenem Bekenntnis nur wenige Male vor die Kamera getreten, und das war in ihrer Münchener Zeit, lange vor Sanary. (Vgl. ebd., S. 137 ff.) Zu diesen Irritationen kommt dann noch die fesche Dame auf dem Titelbild, bei deren Anblick man eher an Rimini 1952 als als Sanary 1932 denkt und die mit der Autorin so gar keine Ähnlichkeit hat. Da drängt sich schon die Frage auf, welche Leserschaft das Buch in solcher Verpackung eigentlich ansprechen will.

Der Berliner AvivA-Verlag, 1997 von der Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Britta Jürgs gegründet, hat sich nach eigenem Bekenntnis vorgenommen, Porträts und Biografien zu Frauen aus Kunst- und Kulturgeschichte verschiedener Epochen neu aufzulegen, die trotz herausragender und innovativer Arbeiten zu Unrecht in Vergessenheit gerieten: „AvivA-Bücher erweitern die Weltkarte im Kopf um herausragende Frauen in Kunst und Literatur.“ Ich muss gestehen, dass ich gar keine Weltkarte im Kopf habe, dafür allerdings ein durch dreißig Jahre kritischer Lektüre geschärftes Urteilsvermögen. Und das sagt mir in diesem speziellen Fall, dass die Edelkomparsin Hilde Stieler nicht ganz zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Auf der Gedenktafel in Sanary-sur-Mer, neben Namen wie Joseph Roth, Arthur Koestler und Franz Hessel, hat der ihre jedenfalls nichts zu suchen.

[Titelbild: Umschlagfoto des besprochenen Buches aus dem AvivA-Verlag Berlin © H. Armstrong Roberts / Classic Stock / Corbig. – Umschlaggestaltung Britta Jürgs.]

Hilde Stieler (I)

Tuesday, 29. December 2009

liegestuhl

Allzu oft kommt es nicht mehr vor, gut sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dass die komplette Autobiographie eines Zeitzeugen aus der kulturellen Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Manuskript entdeckt wird, aus einem entlegenen Archiv oder Nachlass plötzlich ans Licht kommt. Zudem wird im Einzelfall zu prüfen sein, ob das dort Mitgeteilte verlässlich den sonst bekannten Tatsachen entspricht – und ob es dem gesicherten Wissen dieser Epoche neue, wesentliche Einsichten hinzuzufügen vermag. In der Welt meldete der Literaturwissenschaftler Manfred Flügge vor zweieinhalb Jahren einen solchen Fund: „Im Archiv der Stadt Sanary fand sich vor wenigen Wochen ein nachgelassenes Manuskript von Hilde Stieler. Dieser Lebensroman in französischer Sprache, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umspannt, nennt sich Les confessions d’Annouchka; auf den 320 Seiten sind die Namen nur leicht verschlüsselt. Es geht nicht nur um alle Mitglieder der Familie Klossowski [den Schriftsteller Pierre, dessen Bruder, den Maler Balthasar, gen. Balthus, und deren Vater Erich Klossowski, langjähriger Lebensgefährte der Autorin], auch viele Berühmtheiten kommen vor, Walter Rathenau, Stefan George, Einstein, die Brüder Mann, Renée Sintenis, Bertha Zuckerkandl, die junge Alma Mahler und der junge Franz Werfel […] und immer wieder Rilke. Wir erfahren auch einiges über das Leben der Künstlerszene in Sanary[-sur-Mer an der Côte d’Azur], zu der auch der englische Autor Aldous Huxley gehörte sowie eine junge Deutsche, die später als die englische Autorin Sibylle Bedford berühmt wurde.“ (Manfred Flügge: Balthus’ vergessener Vater; in: Welt online v. 22. August 2007.)

Schon im Rahmen meiner Hans-Siemsen-Recherchen mussten mich diese Memoiren in romanhafter Form interessieren, zumal es sehr wahrscheinlich zu einem Zusammentreffen Siemsens mit Hilde Stieler gekommen sein dürfte, denn „[Erich] Klossowski und [Hilde] Stieler lebten, malten und schrieben im „L’Enclos“, dem Privathaus der Familie Jean Cavet, einem verwunschenen Ort mit Büschen und Bäumen und einem ummauerten Park, damals am östlichen Stadtrand gelegen und mit Ausblick ins Hinterland, heute wie eine Insel im kleinen Häusermeer.“ (Flügge, l. c.) In eben dieser Wohnanlage hatten auch Hans Siemsen und sein Geliebter Walter Dickhaut vorübergehend Unterkunft gefunden, wie ich von Prof. Gernot Lucas (Konstanz), einem regelmäßigen Besucher von Sanary-sur-Mer, erfahren hatte. Mittlerweile ist das Buch in deutscher Übersetzung erschienen – und ein Blick in den Namensindex bringt die Enttäuschung: Siemsen kommt nicht drin vor. (Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. Übers. [a. d. Frz.] u. hrsg. v. Manfred Flügge. Berlin: AvivA Verlag, 2009.)

Immerhin schildert Stieler, wie sie die Herberge bei der Familie Cavet Anfang der 1930er-Jahre für sich und Klossowski anmietete: „Sehr schnell fand ich etwas Passendes: drei Zimmer in der hübschen kleinen Villa de l’Enclos, mitten im Ort und nicht weit vom Meer gelegen. Klossowski hatte dort eine Art Atelier, das heißt ein recht großes Zimmer im ersten Stock, während sich mein ,Reich‘, Schlafzimmer mit Küche, im Erdgeschoss befand. Meist kam Klossowski nur zum Essen herunter und nachts stieg ich manchmal zu ihm hinauf. Dieses Leben war ganz nach unserem Geschmack, denn trotz unserer Liebesfreundschaft brauchten wir beide eine gewisse Unabhängigkeit, vor allem für unsere Arbeit.“ (Ebd., S. 197.) – Und in ihrem Tagebuch vom Sommer 1944 schreibt Stieler unterm Datum vom 24. August: „Der sympathische Besitzer der Villa de l’Enclos [Jean Cavet] wird zum Bürgermeister von Sanary gewählt. Robert [Henri de Witt, Stielers zweiter Ehemann] will ihm unsere Heirat melden und man wird das Aufgebot veröffentlichen. Das Bürgermeisteramt nimmt mich unter seinen Schutz.“ (Ebd., S. 283.)

Etwas interessanter ist, was Manfred Flügge in seinem Nachwort über die Villa de l’Enclos berichtet. Da Erich Klossowski im Gegensatz zu seinen berühmten Söhnen heute nahezu vergessen ist, befragte er die noch lebenden Zeitzeugen vor Ort: „Marcelle und Louis Cavet erinnerten sich daran, dass er ein sehr diskreter Mensch war, meist schwarz gekleidet, mit einem Seidentuch um den Hals. Er lebte in der Villa de l’Enclos wie in einem Märchenhaus, begierig auf Zeitungen, oder er saß in der Küchenecke vor dem Radio und hörte Nachrichten. Das Anwesen ist ein wahrhaft magischer Ort, ein dreieckiger Park hinter Mauern, mit vielen Büschen und Bäumen, die das zweistöckige Landhaus fast verdecken, aber schattige Plätze schaffen, damals am Rande des Ortes, mit Ausblick aufs Hinterland, in dem sofort die Felder begannen. […] Nur wenige hundert Meter entfernt warfen die Alliierten 1944 Bomben ab. Ein ganzes Viertel des Nachbarortes Six-Fours wurde dabei zerstört. Die Bucht war von den Deutschen stark befestigt worden und wurde hart umkämpft. Ein Wunder, dass sich die Zerstörungen in Sanary selbst in Grenzen hielten.“ (Ebd., S. 311.) Da weilte Hans Siemsen längst nicht mehr in Sanary. Er verließ den Ort gemeinsam mit Walter Dickhaut Anfang 1941 und entkam über Marseille und Lissabon nach New York. Es würde sich wohl lohnen, selbst einmal an die Côte d’Azur zu fahren und die auskunftfreudigen Geschwister Cavet zu Siemsen zu befragen. Aber erstens spreche ich kein Französisch, zweitens fehlen mir für eine solche Auslandsreise die Mittel und drittens lehne ich Fahrten in solche Ferne, gleich ob per Auto, Flugzeug oder Bahn, prinzipiell ab, wenn sie nicht absolut unvermeidbar sind.

Da ich Die Edelkomparsin von Sanary nun schon einmal gelesen habe, werde ich eine ausführliche Würdigung des Buches einem zweiten Beitrag unter diesem Titel vorbehalten.

[Das Titelbild ist dem besprochenen Band (S. 196) entnommen. Es zeigt Erich Klossowski vor der Villa de’Enclos. Foto: Hilde Stieler. Privatarchiv Manfred Flügge.]

Pausenlos

Friday, 25. December 2009

hundemann

Das Los der Pause in unserer Zeit ist ihre Entwertung zur Störung. Wo das Ideal die optimale Verwertung der Zeit im Produktionsvorgang ist, muss die Pause als Zeitverlust erscheinen. Die Räder sollen sich ununterbrochen drehen, die starken Arme müssen für die unentwegte Zirkulation des Räderwerks sorgen, einem diesem ewigen Kreislauf entgegenstehender Wille muss von vornherein böswillige Absicht gegen den heiligen Zweck der ganzen Maschinerie unterstellt werden. Dennoch sind Pausen unvermeidlich, wenn etwa die Maschine geschmiert werden muss, wenn der Mensch Kraft schöpfen soll für ein mit neuem Schwung wiederaufgenommenes Schaffen. Diese Pausen sind aber sozusagen nicht ganz echt, sie sind in ihrem auf die Produktion bezogenen Regenerationszweck Teil derselben, auch sie müssen deshalb optimal genutzt werden.

Die echte Pause hingegen beginnt da, wo jede Zweckmäßigkeit ihren Sinn verliert. Sie ist vollkommen nutzlos. Zugleich hat die echte Pause kein inneres Maß und kein vorbestimmtes Ziel. Die abgesteckten, zu festgesetzter Stunde beginnenden, verordneten Pausen, wie die Schulpause zwischen den Stundenblöcken und die Brotzeit in der Fabrik, sind so gesehen bloß Attrappen der wahren Pause. (Die Schule trainiert somit, noch vor allem fachlichen Geschick und stofflichen Wissen, zuallererst den Rhythmus von Schaffen und Erschlaffen ein, der dem Produktionsfaktor Mensch dann lebenslang in Fleisch und Blut verwurzelt bleibt.)

[Pause.]

Eine echte Pause beginnt erst, wenn ihr Ende völlig offen ist. In einer solchen Pause lebe ich seit etlichen Monaten, was die zeitliche Bindung an eine gewerbsmäßige Produktion betrifft. Naiv ist, oder korrumpiert von den üblichen Bildern der Beschäftigung, wer diesen Zustand mit Untätigkeit verwechselt. Im Gegenteil bin ich, unterm Gesichtspunkt der Qualität meines Tuns, noch nie so folgenreich werktätig gewesen wie in jüngster Vergangenheit. Allerdings bemisst sich dieser Reichtum nicht in Euro verdienten Geldes, wie auch der hierfür eingesetzte Aufwand nicht in Stunden abzumessen ist.

„Und? Was machst Du jetzt so?“ Das fragten mich entfernte Bekannte, die von meiner neuen Lebenssituation vom Hörensagen wussten. „Ich habe jetzt erst mal eine Denkpause eingelegt.“ Das war für eine Zeit meine Lieblingsantwort. Mir gefiel daran, dass sie zwei Interpretationen zuließ: eine Pause zum Nachdenken – und eine Pause vom Denken. An die zweite Möglichkeit dachte zwar niemand außer mir. Und doch war es gerade diese Variante, die ich immer mitdenken wollte. Mein Nichtstun sollte tatsächlich ein absolutes sein. Wenn ich früher, in Zeiten meiner „Vollbeschäftigung“, in meinen wenigen Pausen doch immerhin noch gedacht, vor- und nachgedacht hatte, so suchte ich nun den Zustand absoluter Gedankenlosigkeit wie ein verlorenes Paradies.

[Der Pausenfüller ist ein Podcast von Claudia Wehrle und Oliver Glaap mit dem Titel Vom Verschwinden der Pause, zuerst gesendet im Hessischen Rundfunk am 18. Dezember 2009.]

Unschreibbare Romane (III)

Wednesday, 23. December 2009

flammen

Einer der vielen Romane, die ich immer schon mal schreiben wollte, ist jener von dem spröden Mann, der mit seiner Hündin in einem maroden Häuschen am Waldrand lebt und seinen Unterhalt mit der Reparatur defekter Elektrogeräte bestreitet. Seine Kunden wissen nichts über seine Herkunft und seine Vergangenheit, wer immer versucht hat, ihn danach auszufragen, stieß auf hartnäckiges Schweigen. Allenfalls murmelte er sich etwas in den Bart von der Art, das sei doch wenig interessant und er müsse nun auch sogleich wieder an seine Arbeit.

Nur die ältesten Bewohner der Kleinstadt, in der sich dies zuträgt, können sich noch daran erinnern, dass das Haus in grauer Vorzeit leer gestanden hat, dass schon darüber nachgedacht worden war, ob man es nicht einfach abreißen könne. Doch dann sei plötzlich der jetzige Bewohner auf der Bildfläche erschienen und habe anhand einiger alter Urkunden bewiesen, dass er und niemand sonst rechtmäßiger Besitzer des Hauses sei. Er gedenke, es so weit wieder herzurichten, dass er darin wohnen könne und bis auf Weiteres an Ort und Stelle sein Auskommen zu suchen.

Nachdem sich die Aufregung über diesen plötzlichen Neubürger und sein befremdlich scheues Gebaren gelegt hatte, wandte sich der Klatsch wieder anderen Gegenständen zu. Nur einmal flammte das Interesse wieder auf, als man plötzlich gewahr wurde, dass der Elektriker neuerdings einen Hund sein Eigen nannte. Es handelte sich um einen Mischling unbestimmbarer Provenienz, dem Vernehmen nach ein weibliches Tier, das nie bellte, seinem Herrchen aufs Wort folgte und aus überaus treu dreinblickenden dunkelbraunen Augen in die Welt schaute.

Nach dieser kurzen Vorgeschichte fokussieren sich Auge und Ohr des Erzählers ganz auf den Mann und seine Hündin. Wir erfahren, wie sich ihr Alltag im Haus am Waldrand gestaltet, wie sie ihre Mahlzeiten miteinander einnehmen, ihren üblichen Geschäften nachgehen und welche seltenen Ereignisse diese Routine unterbrechen: der Besuch eines Kunden etwa oder ein Einkaufsgang auf den Marktplatz des Städtchens. Vor allem aber werden wir Zeugen der angeregten Unterhaltungen, die die Hündin mit ihrem Halter pflegt. Jawohl, in dieser Reihenfolge muss man es wohl sagen, denn es wird bald deutlich, wer der eigentliche Herr, nein: die Herrin im Hause des Elektrikers ist.

Bevor wir noch recht Gelegenheit haben, uns mit der phantastischen Unwahrscheinlichkeit dieser Konstellation abzufinden oder gar anzufreunden, ereignet sich eine Katastrophe. Bei einem nächtlichen Gewitter schlägt ein Blitz in das Haus ein, es gerät in Brand und … (Bis hierher und nicht weiter.)

Odradek

Sunday, 20. December 2009

drake

Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen. Fast schmerzlich nannte er die Vorstellung, dass auch er von Odradek überlebt werden könnte. So kam es dann auch, und was für ein Nachleben das Gebilde hatte.

Ulrich Holbein, der ein Lebensbild des ,Versicherungsangestellten, Unfallschützers, Büromenschen, Albtraumfabeldichters, Hungerkünstlers, Himmelsstürmers und Longsellers‘ achtzehn Jahre später in sein Narratorium aufnahm, hat 1990 die markantesten Zitate aus den zahlreichen Deutungen dieses laut Walter Benjamin „sonderbarsten Bastard[s], den die Vorwelt bei Kafka mit der Schuld gezeugt hat“ dankenswerterweise seiner Studie Samthase, Odradek und Hydra vorangestellt.

Dankenswerterweise deshalb, weil neben den Zitaten der bekannten Kafka-Philologen wie Malcolm Pasley, Heinz Politzer und Wilhelm Emrich auch eins aus Günther Anders’ Kafka Pro und Contra aufscheint, von einem meiner persönlichen Hausväter also. Der sagt (laut Holbein): „Da beschreibt er z. B. ein Objekt ,Od<d>radek‘, dessen Funktion gerade darin zu bestehen scheint, daß es keine Funktion hat.“ – Ich habe mich nun gefragt, warum in diesem Zitat der Name des Numinosen mit einem zweiten – oder, wie der besserwisserische Karl Valentin korrigieren würde: dritten – „d“ geschrieben wird, und zwar mit einem in spitze Klammern gesetzten.

Ich habe den Satz, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, bei Anders selbst nachgelesen, in der Sammlung seiner Schriften zur Kunst und Literatur unter dem Titel Mensch ohne Welt von 1984. Aber dort steht das Wort mit seinen sieben Buchstaben ganz so wie in Franz Kafkas schmaler Prosasammlung Ein Landarzt 1919. Anders’ Kafka-Essay erschien im Original 1951 bei C. H. Beck, vielleicht hat Stern da ja falsch „Oddradek“ geschrieben? Und Holbein hat den Fehler nicht stillschweigend korrigieren wollen, sondern das überzählige „d“ eingeklammert, damit man sieht, dass Anders dieser Fehler unterlaufen ist? Aber das wäre dann kein ganz korrektes Verfahren. Vielmehr hätte Holbein das Wort falsch belassen und ein „[sic]“ oder „[!]“ dahintersetzten müssen. Und übrigens möchte ich darauf aufmerksam machen, dass er nicht die Erstausgabe von Kafka Pro und Contra aus dem Jahr 1951, sondern die vierte Auflage von 1972 zitiert. Aber das heißt nicht viel, denn schon damals leisteten sich selbst so angesehene und seriöse Verlage wie C. H. Beck in München nur noch selten den Luxus, bei Neuauflagen wiederum einen Korrektor dranzusetzen, um solche Fehler nachträglich noch zu korrigieren.

Es mag manchem als krankhafte Pedanterie erscheinen, dass ich die nur vermeintliche oder tatsächliche Falschschreibung eines Namens aus zweiter bzw. dritter Hand zum alleinigen Gegenstand eines Artikels in meinem Weblog mache. Wer sich aber ins Bewusstsein ruft, dass es kein ganz gewöhnliches Wort ist, dem diese Falschschreibung zustößt, und dass der Mann, dem diese unterlief (oder auch nicht), lange im englischsprachigen Raum gelebt hat und ihm insofern das Wort „odd“ und seine Bedeutung vertraut gewesen sein dürfte, der wird vielleicht weniger hart über meine Penetranz in dieser Angelegenheit urteilen.

Buchwesen (III)

Saturday, 19. December 2009

guy

Zurück zum Thema. Der Clou beim Pas de deux von Alice Schwarzer und Esther Vilar zum Thema Benachteilung oder Privilegierung der Frau? war, dass als Kontrahent der Frauenrechtlerin nicht, wie zu erwarten, ein Mann antrat, sondern eine Geschlechtsgenossin, die damit demonstrativ aus der weiblichen Solidargemeinschaft ausscherte und gegen das Bild der unterdrückten Frau ihren „dressierten Mann“ stellte.

Solche irritierenden Mauersprünge waren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen 1975 noch möglich. Heute ist die Abbildung von kontroversen Meinungsbildern in den Massenmedien völlig statisch geworden. Allenfalls die Entlarvung engelsgleicher Stars als schmutzstarrende Übeltäterinnen vermag noch zu irritieren. Mittlerweile gehören aber längst auch solche privaten Entgleisungen zum Image-Portfolio eines Weltstars und tragen zu dessen wünschenswertem Facettenreichtum bei. Die koksende Anorektikerin Kate Moss und der unter seniler Satyriasis leidende Silvio Berlusconi haben allemal mehr Chancen, sich in den Schlagzeilen und an der Macht zu halten als eine fade Sharon Stone, die ein Skandälchen höchstens unfreiwillig hinbekommt, oder ein farbloser Rudolf Scharping, dem sein Swimmingpool-Geplansche mit Kristina Gräfin Pilati-Borggreve wohl letzten Endes deshalb zum Verhängnis wurde, weil es so schrecklich stutzerhaft inszeniert war.

Das Spektakel als Präservativ über der katastrophalen Wirklichkeit ist also heute für keine Überraschung mehr gut. Es platzt nicht, es reißt nicht, es hält dicht. Es verhindert mit hundertprozentiger Zuverlässigkeit jeden Durchblick auf die Hintergründe und Zusammenhänge, nicht etwa wie in früheren Zeiten durch Lüge, Verstellung und Ablenkung, sondern allein durch overflow. Diesen Betäubungseffekt durch Übersättigung gab es zwar in der älteren Buchzeit auch schon. Es heißt ja, dass vielleicht die gelehrten Zeitgenossen Goethes die letzten Menschen waren, die mit viel Fleiß bei optimalen Studienvoraussetzungen noch einen universalen Überblick über das Wissen ihrer Zeit erwerben konnten. Danach musste die aufgeklärte Wissbegier vor der schieren Masse des Materials kapitulieren. Immerhin erlaubte die Ordnung der Wissenschaften seither aber noch eine systematische Spezialisierung und der Fortschritt konnte durch die akademische Vernetzung der Spezialisten weiterhin seinen (wie wir uns jetzt langsam mal eingestehen könnten: verhängnisvollen) Lauf nehmen. In der Turbozentrifuge der modernen Medien hingegen wird alles zu einem einzigen indifferenten Brei vermischt, facts & fiction, reason & emotion, past & future, dream & reality.

Das Tagwerk des unverdrossenen Beschreibers, der im Nichtstun kein Auskommen findet und zum Sinn keinen Einlass, beschränkt sich also aufs Arrangieren flüchtiger Impressionen, aus dem Augenblick und für den Augenblick. Eben wird in Kopenhagen wieder einmal eine „letzte Hoffnung“ zu Grabe getragen. Für den Klimagipfel mussten am Tagungsort, dem Bella-Center, 1.200 Kilometer Stromkabel verlegt werden, die nach dem erfolglosen Ende der Veranstaltung wieder aus den Wänden gerissen werden müssen. Dieses Bild genügt mir zum Thema.

Pessimismus ist noch die froheste Geisteshaltung, die ohne Heuchelei oder Selbstverleugnung möglich ist. Daraus ein Buch schneidern? Vielleicht. Aber warum? Das Weblog passt doch viel besser zu dieser Kurzweil.

Buchwesen (II)

Tuesday, 15. December 2009

indif

Ich werde im Folgenden umstrittene Themen, die die Zeitgenossen vorübergehend oder dauerhaft anziehen wie die Mücken das Licht und sie scharenweise zu ambitionierten Kommentaren in den Weblogs hinreißen, buchverdächtig nennen. Denn wenn Menschen, die meist durch jahrzehntelangen passiven Medienkonsum nahezu sprach- und völlig schriftlos geworden sind, nun in großer Zahl ihren Frust in die Tastatur hämmern, dann wäre man ein schlechter Menschenkenner und noch schlechterer Kaufmann, wenn man hier nicht einen potenziellen Bestseller witterte.

Üblicherweise werden heiße Kontroversen in den Verlagshäusern nach dem Pro-und-kontra-Schema polarisiert. Das hat den Vorteil, beide einander feindlich gegenüberstehenden Zielgruppen „abschöpfen“ zu können, wenngleich der Zynismus selten so weit geht, dass beide Bücher im gleichen Verlag erscheinen. Sehr schön gelang dies beispielsweise Mitte der 1970er-Jahre mit dem Tandem Alice Schwarzer und Esther Vilar. Die Feministin und die Anti-Feministin trafen in den gerade erst im BRD-Fernsehen populär werdenden Talkshows aufeinander und führten vor, wie telegen Unversöhnlichkeit sich präsentieren kann. Damals konnte man nur vermuten, dass solche öffentlich ausgetragenen Lagerkämpfe bloß die Fronten verhärteten und so gut wie nie zu einem Erkenntnisfortschritt hüben wie drüben führten, geschweige denn zu einem Kompromiss. Heute ist man, was das betrifft, nicht mehr auf Spekulationen angewiesen. Unter jedem kontrovers kommentierten Blogartikel kann man bis zum Überdruss nachlesen, dass sowohl die Kontras als auch ihre Gegner, die Pros sich im Besitz der alleingültigen Wahrheit wähnen und davon desto fester überzeugt sind, je länger das Hickhack dauert.

Ganz nebenbei wird bei dieser Betrachtung auch der alte aufklärerische Optimismus endgültig zu Schanden, dass das öffentliche Streitgespräch zu einem friedlichen Ausgleich der Gegensätze führen könne, auf dem Wege über ein wechselseitiges Verständnis der Kontrahenten füreinander. Dies mag in den gepflegten Kreisen gut versorgter Intellektueller vorstellbar sein. Dass Otto Normalzerstörer aber, was die Streitkultur betrifft, ganz anders gebaut ist und jeden seiner Standpunkte mit Zähnen und Klauen verteidigt, als ginge es um die nackte Existenz, das hatten Zivilisationsskeptiker zwar schon immer geahnt, jetzt aber ist es dank Internet unumstößlich bewiesen.

Alberto Manguel hat einmal in seiner Geschichte des Lesens bemerkt, und Jacque Bonnet hat es soeben in seinen Bekenntnissen eines Bibliomanen in Erinnerung gerufen, dass es wohl so gut wie kein Buch gebe, in dem nicht wenigstens ein interessanter Satz stehe. Dem kann ich nur beipflichten, wobei ich, damit kein Missverständnis aufkommt, sicherheitshalber hinzufügen möchte: Gerade die dümmsten Sätze können in einem klugen Kopf zu den interessantesten Einsichten führen.

Und genau so verhält es sich mit den borniertesten und stursten Hahnenkämpfen in den Weblogs unserer Tage. So stieß ich beim unten erwähnten taz-Artikel von Heiko Werning auf folgenden Kommentar eines Klimaskeptikers (leicht gekürzt und stellenweise stillschweigend korrigiert): „Jetzt möchte ich mal hören, ob ich das richtig verstehe. Die Katastrophenbefürworter sagen, weil sich um die Erde ein Mantel von Treibhausgasen legt, heizt sich die Erde von innen heraus auf. Hab ich das soweit richtig verstanden? Wieso ziehe ich mir eigentlich Textilien an? Müsste ich mich nach dieser Theorie nicht auch von innen her aufheizen? Meine Körperwärme kann nicht nach außen abfließen. Demzufolge müsste ich doch immer heißer werden? Und kommen wir mal abseits jeglicher Beweise zu folgendem. Ich bin 43 Jahre und kann mich noch gut an meine Kindheit erinnern. Und an die schönen Sommer die es damals gab, wenn wir als Kinder den ganzen Sommer draußen barfuß durch die Natur getobt sind, draußen im Garten übernachtet haben. Und wie sang Rudi Carrell damals ,Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer wie er früher einmal war?‘ Und jetzt schauen wir uns unsere Sommer heute an. Ich bin leidenschaftlicher Motorradfahrer. Ich achte also sehr genau auf das Wetter. In den letzten Jahren war meine wichtigste Bekleidung beim Fahren meine Regencombi. Als junge Bengels sind wir im Sommer, weil es warm war, noch mit kurzen Hosen gefahren. Sogar nachts. In den letzten Jahren bin ich die ganzen Motorradsaisons nur mit langen Unterhosen drunter gefahren und [habe] vor allem immer die Regenkombi wenigstens mitgenommen. Bis auf ein paar wenige sehr warme Tage, nur kaltes Scheißwetter im Sommer! Und dann höre ich die ganze Zeit: globale Erwärmung. Jetzt könnte ich als Motorradfahrer ja sagen, wo ist denn die globale Erwärmung wenn man sie braucht? Jetzt aber mal im Ernst. Ich brauche keine Tabellen oder Diagramme, um zu erkennen, dass anscheinend die Erwärmung ausfällt. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Und wenn einer weiter oben fragt, wo denn der ganze Schnee bleibt? 50 Grad [minus] in Sibirien, Schneestürme mit 20 Toten in den USA – also für mich klingt das nicht gerade nach globaler Erwärmung. Und komm mir jetzt keiner von diesen Untergangsfetischisten damit, ich bildete mir das alles bloß ein. Abseits aller Doktoren und Professoren und IPCC und dem ganzen Geschisse: Leiden die alle unter Alzheimer? So, musste ich mal loswerden! Schönen Tag noch.“

[Wird fortgesetzt.]

Buchwesen (I)

Sunday, 13. December 2009

sinngebung

Bücher können auf zweierlei Weise entstanden sein. Im ersten Fall hatte der Verfasser das ganz persönliche Bedürfnis, etwas von sich und seiner Sicht der Welt auszudrücken, und sei’s nur für sich selbst. Im zweiten Fall hat er das Pferd genau von der andren Seite her aufgezäumt und darüber nachgedacht, was die Welt noch für ein Buch brauchen könnte, um dann zu probieren, ob er genau dieses Buch hinbekommt. Der Einfachheit halber wollen wir Bücher vom Typ I hier Elfenbeinbreviere nennen, Bücher vom Typ II hingegen Reparaturanleitungen. Damit mich der Leser nun nicht vorderhand ins gerade heute immer größer werdende Heer der terrible simplificateurs einreiht, füge ich ausdrücklich hinzu, dass beide Formen kaum je absolut rein vorkommen, vielmehr in jedem Buch der einen gewöhnlich auch etwas von der anderen Form enthalten ist.

Damit deutlich wird, was ich meine, will ich ein paar Beispiele für den zweiten Buchtyp nennen. Nehmen wir zum Beispiel die zahllosen Ratgeber für Fragen des Alltags, von 1000 ganz legalen Steuertricks bis zum Nichtraucher durch Selbsthypnose. Sie helfen der jeweils angesprochenen Zielgruppe, ein Defizit auszugleichen, hier: mangelnde Kenntnisse des aktuellen Steuerrechts – oder einen Defekt zu reparieren, hier: die Nikotinabhängigkeit. Die Bedürfnisse der Adressaten liegen somit offen zu Tage und man kann aus der Höhe der jeweils verkauften Auflage ohne Umwege auf die Verbreitung und Bedeutung des behandelten gesellschaftlichen Problems schließen. Umgekehrt gibt es in den auf Reparaturanleitungen spezialisierten Verlagen längst Trendscouts, die nach neu auftretenden oder noch nicht ausreichend versorgten Defekten forschen, um die Betroffenen mit den passenden Handreichungen versorgen zu können. Und wenn die Flöhe mal gar nicht husten, wird rasch ein neuer Defekt erfunden und mit allen Mitteln als neue Seuche propagiert. So gibt es ja etwa den gut begründeten Verdacht, dass das weitverbreitete Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bloß ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Nicht ganz so offensichtlich ist für den ungeschulten Blick, dass auch der gesamte Bereich der populär-politischen Literatur zum Typ II gehört. Meist geht es den Lesern solcher Bücher darum, ihren politischen Standpunkt mit schlagkräftigen Argumenten wieder und wieder bestätigt zu finden. Die Leser von Kohl-Biographien sind in den seltensten Fällen Wähler Oskar Lafontaines, et vice versa. Weil in der rauen Wirklichkeit gesellschaftlicher Diskurse die eigene feste Überzeugung immer wieder durch Gegenargumente ramponiert wird, bedarf es des politischen Sachbuchs als Reparaturhilfe. Aus Sicht der Verlage besonders erfolgversprechend sind dabei Argumentationshilfen gegen vorherrschende Meinungen, zumal dann, wenn diese Meinungen die individuellen Denk- und Lebensgewohnheiten der avisierten Zielgruppe in Frage stellen.

Auch dazu ein konkretes Beispiel: Wer seinen Lebenszweck darauf abgerichtet hat, beruflich erfolgreich zu sein und sich zur Belohnung in seiner Freizeit etwas dafür leisten zu können, dem schmeckt es nicht, wenn ihm Mahner gegen ungebremstes Wirtschaftswachstum, gegen blindwütigen Konsumismus, gegen schonungslosen Verbrauch unersetzlicher Naturressourcen in die sonst so fein abgeschmeckte Suppe spucken. Zur Stärkung des Selbstbewusstseins solcher angefressenen Endzeityuppies gibt es seit einigen Jahren in der westlichen Welt ein buntes Häufchen neoliberaler Zukunftsoptimisten, die hierzulande um die Achse des Guten rotieren.

Gerade machte diese Clique wieder lautstark auf sich aufmerksam und erlaubte es dem abgeklärten Betrachter, die aktuellen Frontverläufe zwischen den vorurteilsbewehrten Meinungsfestungen eingehend zu studieren. Auslöser des Konflikts und der Polemiken, die er nach sich zog, war ein Datenklau von Hackern beim Climatic Research Unit (CRU) an der University of East Anglia in Großbritannien, bei dem über tausend private E-Mails der Klimaforscher sowie tausende weiterer Dokumente dieser Einrichtung aus dem Zeitraum 1996 bis heute erbeutet und frei einsehbar ins Netz gestellt wurden. Nun glauben die sogenannten „Klimaskeptiker“ (richtiger: die Skeptiker eines menschgemachten Klimawandels, speziell der globalen Erwärmung), in diesen E-Mails einen unumstößlichen Beweis für den großen Betrug der Klimaforscher gefunden zu haben. Als Heiko Werning gestern in der taz das voreilige Triumphgeheul der Klimaskeptiker mit einem sachlichen Artikel über den ganz unspektakulären Inhalt der vermeintlich entlarvenden E-Mails zu dämpfen versuchte, brach eine wahre Flut hämischer Kommentare über ihn herein. Werning hatte besonders das Gespann Maxeiner und Miersch aufs Korn genommen, das gemeinsam mit Henryk M. Broder für das „Politische Netzwerk“ Achse des Guten verantwortlich zeichnet. Diese beiden Herren sind einem größeren Publikum durch ihr Lexikon der Öko-Irrtümer bekannt geworden, in dem sie laut Untertitel „überraschende Fakten zu Energie, Gentechnik, Gesundheit, Klima, Ozon, Wald und vielen anderen Umweltthemen“ zusammengetragen haben. Dieses zuerst 1998 erschienene Elaborat aus der langen Reihe der Irrtümer-Bücher beim Eichborn-Verlag repräsentiert eine Sondersparte der Typ-II-Bücher. Mittels dieser partytauglichen Argumentationshilfen sollen solche Menschen mit Gesprächsstoff für mancherlei gesellige Zusammenkünfte versorgt werden, die aus eigenem Bestand schreckliche Langweiler wären und sich nach fleißigem Studium nun bei jeder Gelegenheit als neunmalkluge Besserwisser wichtigtun können, indem sie uns in tausendundeinem Fall darüber aufklären, dass sich alles ganz anders verhält, als wir vorurteilsbeladenen Banausen immer meinten.

[Wird fortgesetzt.]

Kein Kommentar

Thursday, 10. December 2009

teufelauch

Neuerdings werde ich häufiger darauf angesprochen, dass in meinem Weblog selten kommentiert wird. Wenn ich darauf erwidere, dass dies mich nicht weiter störe, dann ernte ich skeptische Blicke, oft garniert mit einem halb spöttischen, halb mitleidsvollen Schmunzeln, das wohl sagen will: ,Ach, lieber Fuchs, du musst die Trauben wohl sauer nennen, die dir zu hoch hängen.‘ Drum hier eine knappe Bemerkung, warum ich nach Kommentaren nicht giere und mir eine Kommentarflut sogar lästig wäre.

In meiner Zeit als Blogger bei Westropolis (April 2007 bis August 2008) konnte ich mich über einen Mangel an Kommentaren nicht beklagen. Zeitweise war ich dort sogar der meistkommentierte Stammautor, vor professionellen Journalisten wie Bernd Berke und prominenten TV-Starlets wie Else Buschheuer. Ich will nicht leugnen, dass dieser vorübergehende Kommentar-Hype zunächst meiner Eitelkeit schmeichelte. Es dauerte allerdings nicht allzu lange, bis mir drei große Gefahren dämmerten, die diese unerwartete Resonanz mit sich brachte.

Erstens ertappte ich mich dabei, dass ich meine Texte immer mehr darauf abstellte, möglichst viele Kommentare einzuheimsen. Ich hatte schnell raus, dass es eine Handvoll zuverlässig wirksamer Maschen gibt, dieses Ziel zu erreichen. Meine Lieblingsmasche war, provokative Meinungen zu aktuellen Ereignissen und Themen zu formulieren und dadurch die Leserschaft in mindestens zwei Lager zu spalten, die sich in den Kommentaren dann heftig befehden durften. Sobald das Kommentarfeuer zu erlöschen drohte, fachte ich es wieder an, indem ich selbst als Kommentator das Wort ergriff und gezielt „nachlegte“. Dies führte allerdings dazu, dass mir öfter mal die Pferde durchgingen und ich mich zu Äußerungen hinreißen ließ, die mir nachträglich leid taten, weil sie meinem Image schadeten. Ich wollte mich ja schließlich als ein durch nichts aus der Ruhe zu bringender Stoiker präsentieren. Stattdessen war ich bei manchen bald als cholerischer Haudrauf verschrien.

Zweitens stellte sich bei genauerer Analyse heraus, dass vielleicht zwei Dutzend Stammgäste neun Zehntel aller Kommentare bei Westropolis verfassten. Wenn man sich vor Augen führt, dass es sich hier immerhin um das Kulturblog der größten Regionalzeitung Deutschlands handelt (Wochenendauflage ca. 580.000 Exemplare), dann ist diese Resonanz geradezu lächerlich schwach. Nun mögen ja auf jeden lauten und regelmäßigen Kommentator viele hundert stille Leser kommen. Aber gerade dieses Zahlenverhältnis bewiese dann q. e. d.: dass Kommentarzahlen für die Wirkung und Reichweite eines Weblogs wenig Aussagekraft haben.

Drittens hatten die Administratoren bei Westropolis, wie in wohl allen großen Blogs der etablierten Printmedien, zeitweise viel damit zu tun, die Kommentare inhaltlich zu überwachen, um Verstöße gegen die guten Sitten, Beleidigungen, rechtsradikale Propaganda usw. zu löschen. Diese Eingriffe standen zudem immer unter Zensurverdacht, denn da der Leser nicht überprüfen konnte, was da gelöscht wurde, wenn er zu spät kam, konnte er sich kein eigenes Urteil darüber bilden, ob die Löschung berechtigt gewesen war. Dieser große Aufwand stand übrigens in keinem rechten Verhältnis zum inhaltlichen Wert der meisten unverfänglichen Diskussionen und Stellungnahmen in den Kommentaren. Ich identifizierte als Lieblingsthemen der Kommentatoren: Wichtigtuerei und Selbstdarstellung sowie Komplimente und Beileidsbekundungen an die Adresse beliebter Autorinnen, die das Kulturblog als Plattform für ihre persönliche Imagepflege missbrauchten. – Fazit: Die Trauben sind in aller Regel tatsächlich sauer. Ich bin somit heilfroh, in meinem Revierflaneur-Blog frei schalten und walten zu können. Jeder erstmals kommentierende Leser muss erst von mir freigeschaltet werden. Kommentare, die ich nichtssagend finde, lösche ich kommentarlos. Und glücklicherweise ist das Aufkommen so schwach, dass ich damit kaum Zeit verschwenden muss.

Proust bei proust

Thursday, 10. December 2009

kamilluspirale

Heldenhaft der Kampf der kleinen aber feinen Buchhandlungen gegen die banausischen, in vielerlei Hinsicht immer tiefer sinkenden Großflächen à la Thalia, Mayersche, Hugendubel, sie sind nicht genug zu loben. Manchmal weiß ich aber keine Antwort mehr auf die Frage, wie bei aller unterstellten, nahezu grenzenlosen Bereitschaft zur Selbstausbeutung der Inhaber solcher Schmuckkästchen, bei aller Professionalität und Investitionsbereitschaft nicht nur von Geld und Zeit, sondern auch von Hirn und vor allem Herz per Saldo noch was übrig bleibt zur Bestreitung bescheidener Lebenshaltungskosten.

Gestern war ich zu Gast bei einer Lesung in der Essener Buchhandlung proust. Michael Maar las aus seiner viel gelobten Essaysammlung Proust Pharao (Berlin: Berenberg Verlag, 2009). Zwanzig interessierte Zuhörer waren bereit, hierfür acht Euro Eintritt zu bezahlen, einige kauften anschließend das vorgestellte Buch zum Preis von 19 Euro. Maar, der von Berlin aus eigens mit dem Auto angereist war, las eine knappe Stunde. Anschließend erfüllte er Signierwünsche. Fragen aus dem Publikum wurden nur wenige gestellt. Ich erinnere mich blass an die Frage eines bekennenden „Nicht-Proustianers“, die sich mit der Quantität der Recherche befasste und einen leichten Trend ins Banausische hatte, wovon sich der Autor aber nicht zu einer Hochnäsigkeit hinreißen ließ. Die Buchhändler reichten zu allem Überfluss gar noch einen großen Teller Madeleines herum.

Die Frage drängt sich auf: Wie geht das? Fahrtkosten des Autors hin und zurück, und wenn Maar nicht um zehn Uhr abends noch die Heimreise antreten wollte, kam eine Hotelübernachtung hinzu. An Personalkosten fallen mindestens anderthalb Überstunden für zwei Buchhändler und eine Auszubildende an, für die gleiche Zeit Heizkosten und Beleuchtung im Geschäft. Dazu noch Autorenhonorar? Und was, wenn nun statt zwanzig nur zwei Zuhörer erschienen wären? Wie man es dreht und wendet, solche schönen Abende können für sich betrachtet nur ein Verlustgeschäft sein, sie rentieren sich hoffentlich indirekt über den fabelhaft guten Ruf, den sich dadurch eine Buchhandlung wie proust erwirbt, und zwar insbesondere bei der wertvollsten Kundschaft, den Viellesern. Die werden damit zu treuen Stammkunden und kaufen vielleicht sogar das eine oder andere Buch zusätzlich, damit das Schmuckkästchen nicht in wirtschaftliche Bedrängnis gerät.

Eine ganz ähnliche Entwicklung gibt es ja übrigens bei den Kinos. Auch dort verdanken die Cineasten es wenigen Idealisten, wenn es heute überhaupt in den Großstädten neben den öden MegamaxX-Alptraumfabriken noch Lichtspielhäuser gibt, die ihrem Namen Ehre machen: durch ein anregendes Programm, ein gediegenes Interieur und einen bewussten Umgang mit der Tradition. Um am Standort Essen zu bleiben: Hier eröffnet in wenigen Tagen nach acht Jahren Zwangspause das Filmstudio am Glückaufhaus wieder seine Tore. Hauptsächlich dem unermüdlichen Einsatz der leidenschaftlichen Kinobetreiber Marianne Menze und Hanns-Peter Hüster und der Spendenbereitschaft geschichtsbewusster Essener Filmfreunde ist es zu verdanken, dass das älteste Kino des Ruhrgebiets seinen Spielbetrieb wieder aufnehmen kann. Herzlichen Glückwunsch!

Diesen wie jenen Einsatz sollte jeder belohnen, der dessen Ergebnis zu schätzen weiß: Buch- bzw. Filmgenuss vom Feinsten. Und das geschieht auf kürzestem und wirksamstem Weg durch Besuch und Kauf. Ich werbe hier sonst nie, für nichts und niemanden – diesmal mache ich die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt: Bücherfreunde, kauft bei proust! Filmfreunde, besucht die Essener Filmkunsttheater Galerie Cinema, Lichtburg, Eulenspiegel, Astra und Filmstudio!

[Titelfoto: Proust-Leser Kamillus Dreimüller bei proust in Essen; Foto: Heinrich Funke.]

Einige Steine

Monday, 07. December 2009

steinchen

Manche haben mir gelegentlich Steine in den Weg gelegt. Früher habe ich einmal Steine übers Wasser hüpfen lassen. Manche Steine erinnerten mich an etwas, an ein Gehirn, Herz, Nieren, oder an einen unbekannten Tierknochen. Steine zu sammeln schien mir immer zu schwer. Ich wollte mich nicht noch damit belasten, vermeintlich unansehnlichen Steinen Unrecht zu tun. Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein, aber warum vier? Auch Steine haben dem Versmaß zu gehorchen, das ist das Mindeste, was von Steinen zu verlangen ist.

Die meisten Steine haben mehr Vorzüge als Nachteile. Sie sind viel dauerhafter als ein menschliches Gefühl, als Heimweh, Durst oder Langeweile. Wenn du einen Stein fortwirfst, hast du ihn bald vergessen. Nicht aber der, den er trifft. Ein Stein in der Faust gibt ein Empfinden von Sicherheit, zugleich kühlt er das erhitzte Gemüt, worauf es dann selten wirklich zum Totschlag kommt. So ist das steinige Wesen eigentlich ein friedvolles.

Einen Stein aus der Hand zu legen ist eine zu wenig gewürdigte Geste. Man müsste sie bildlich darstellen, nicht bloß aufschreiben. Vielleicht würde sich ein Mosaik anbieten. Jede einzelne Mauer war einmal ein Vielerlei abgelegter Steine, etwas Zerstreutes, und wird wieder dazu werden, mach dir nichts vor. Es ist ja auch keine Katastrophe, wie viele oft meinen, dieser Niedergang, diese Auflösung, dieser Zusammenbruch. Schon der Neubau trägt auch die Ruine in sich. So wird die ganze Welt zuletzt barrierefrei sein.

Hinkelsteine, Edelsteine, Nierensteine. So schwer dir ein Stein auf der Seele liegen kann, so wohl wird dir, wenn dir ein Stein vom Herzen fällt. Auch der Stein des Anstoßes ist nicht feindlich, genau betrachtet. Wie sollten wirklich neue Gedanken ins Rollen kommen ohne Anstößigkeiten?

Und schließlich kannst du dir auf Steine mancherlei Reime machen. Damit lasse ich dich aber jetzt alleine. Ich mache keine.

[Dieses 500ste Steinchen zu meinem Blogbau schenke ich Michaela Coerdt zum 50sten Geburtstag.]

Siemsens Blick

Sunday, 06. December 2009

banana

Nach langer Pause befasse ich mich wieder einmal mit Hans Siemsen (1891-1961), wenngleich zunächst zwangsweise. Ich hatte Dirk Ruder von der Zeitschrift Gigi versprochen, meinen Siemsen-Artikel vom Frühjahr (in No. 60, S. 36-39) noch in diesem Jahr mit einer zweiten Folge abzuschließen. Von Heft zu Heft musste ich ihn vertrösten, der Umzug hatte mich (und meine Bibliothek, ohne die ich den Text kaum seriös hätte abfassen können) völlig aus der Bahn geworfen. Zuletzt setzte mir Ruder die Pistole auf die Brust: „Langsam wird es schwierig, unseren Lesern (und auch unserem Herausgeber gegenüber) zu erklären, warum der zweite Teil des Siemsen-Textes seit vier Heften auf sich warten lässt, aber ich zähle nach wie vor auf Sie.“ Ich wäre ja ein rechter Schuft, wenn ich solch treue Engelsgeduld nicht mit Fleiß entlohnte.

Hans Siemsens zweite Lebenshälfte, die mit dem 30. Januar 1933 beginnt, ist ja das traurige Kapitel eines Entwurzelten, dessen Schicksal kaum dadurch leichter wird, dass er es mit unzähligen Leidensgefährten teilt. Seine späte Liebesgeschichte mit dem zwanzig Jahre jüngeren Walter Dickhaut erhält dadurch von vornherein einen bitteren Beigeschmack. Die Tragik, dass ihnen zwar im Frühjahr 1941 endlich die gemeinsame Flucht von Lissabon aus über den Atlantik gelingt, sie dann aber doch im Hafen von New York auseinandergerissen werden, ist schon filmreif. Ich stelle mir vor, dass sich Siemsen vor Eifersucht verzehrt hat in der Sommerhitze des Big Apple, während sein junger Freund in Havanne Bananen pflückte.

Bei der Niederschrift fällt mir sogar noch unerwartet eine kleine Pointe ein. Bei der legendären Zusammenkunft des Siemsen-Freundeskreises in seinem Berliner Atelier im März 1933, die Asta Nielsen 1945 in ihrer Autobiographie Den tiende Muse erwähnt und Hans Siemsen in einem seiner allerletzten Zeitungsartikel 1950 ausführlich schildert, war auch Joachim Ringelnatz zugegen. Nachdem der Stummfilmstar vom Besuch im Propagandaministerium berichtet hatte, wo Joseph Goebbels sie erfolglos für seine Filmprojekte zu gewinnen versuchte, meldete sich „Ringel“ zu Wort. Er habe dieser Tage ein Gedicht gemacht, ob er es mal aufsagen solle? Dann zitiert Siemsen dieses Gedicht, von dem er „nur den ersten und den letzten Vers behalten“ habe. (Hans Siemsen: „Ringel, du hast wieder recht“; in: Frankfurter Rundschau v. 28. Januar 1950; erneut in ders.: Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Verlag das Arsenal, 2008, S. 152-154.)

Zwischenzeitlich habe ich mir eine Gesamtausgabe von Ringelnatzens Gedichten zugelegt und heute erstmals die vollständige Fassung des Gedichtes nachgelesen. Es heißt So ist es uns ergangen und hat genau drei Verse. Der mittlere, von Siemsen vergessene lautet so: „Vergiß es nicht! Nur damit du lernst | Zu dem seltsamen Rätsel »Geschick«. – | Warum wird, je weiter du dich entfernst, | Desto größer der Blick?“ (Joachim Ringelnatz: Die Gedichte. Hrsg. v. Fritz & Katinka Eycken m. Jakob Winter. Frankfurt am Main: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, S. 710.) Dass Siemsen tatsächlich aus dem Gedächtnis zitiert, muss man glauben und glaubt es leicht, weil ihm beim Memorieren der anderen beiden Verse ein paar kleine Fehlerchen unterlaufen. – Daraus ließ sich was Hübsches machen …

Bei dieser Gelegenheit muss ich noch nachtragen, dass es einen weiteren Anlass gibt, Dirk Ruder dankbar zu sein. Ende April überraschte er mich mit einer Aufzeichnung von Siemsens Stimme. In der CD-Reihe „stimmen des 20. jahrhunderts“, die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird, befindet sich auf der CD 1945 – Kapitulation und Wiederaufbau als Track 12 ein dreiminütiger Mitschnitt der BBC-Sendung „Stimme Amerikas“. Ein Pfarrer Silesius begrüßt darin die militärische Niederlage des Dritten Reiches und ermutigt seine deutschen Landsleute zum Wiederaufbau. In den „Daten zu Leben und Werk“, die Michael Föster im ersten Band seiner Siemsen-Werkausgabe zusammengestellt hat, heißt es unterm Jahr 1941: „Schreibt für die Voice of America – u. a. Propaganda-Predigten unter dem Pseudonym ,Pfarrer Silesius‘.“ (Hans Siemsen: Schriften I. Verbotene Liebe u. a. Geschichten. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: Torso-Verlag, 1986, S. 257.)

Opfer

Saturday, 05. December 2009

schlomü

Heute war ich mit Heinrich und Christiane zu Gast an der Westfälischen Wilhelmsuniversität (WWU) in Münster, um mir zwei – im weitesten Sinne – theologische Vorlesungen anzuhören. William J. Hoye (* 1940) las im Schloss [s. Titelbild] über Kreationismus, Neuen Atheismus und die Frage nach der Existenz Gottes. Danach ging’s quer über das Universitätsgelände zu Arnold Angenendt (* 1934) ins Audimax in der Johannisstraße, der in seiner Vorlesungsreihe über Liturgie und Messe einen Vortrag hielt, den er unter dem Titel Opferfanatismus? Martyrium und Selbstmordattentat schon einmal vor einem Jahr in Köln zum Besten gegeben hatte.

Noch vor Jahresfrist wäre mir meine Zeit für ein solches „Wahrnehmungsexperiment“ zu schade gewesen. Einmal habe ich grundsätzliche Vorbehalte gegen akademische Gelehrsamkeit, noch grundsätzlicher: gegen Schule(n) ganz generell. Sodann sträubt sich mir das Fell, wenn ich Frömmigkeit gleich welcher Art nur von Weitem wittere. Und schließlich gilt die Wilhelmsuniversität am Bischofssitz Münster nicht eben als Hort der Aufklärung. Wenn ich diesmal all meine Vorbehalte überwand und mich auf das Abenteuer einließ, dann geschah das wohl hauptsächlich meinem Freund Heinrich zuliebe, der seit vielen Jahren das Angebot „Studium im Alter“ an der WWU nutzt und mir davon viel erzählt hat. Freundschaft bedeutet ja auch, sich jenen Interessen und Neigungen der Freunde gegenüber aufgeschlossen zu zeigen, die nicht von vornherein zu den Schnittflächen oder Berührungspunkten gehören.

Nach Hoyes Referat über den kosmologischen Gottesbeweis, speziell über den von Gottfried Wilhelm Leibniz, tat es mir fast leid, meine Vorurteile bestätigt zu sehen. Der Vortragende war mir schon vorab als „etwas trocken“ angekündigt worden. Wenn es nur das gewesen wäre! Dafür, dass sich Hoye doch mit einem kaum umstrittenen, in alle Richtungen ausgedachten theologischen Standardthema befasste, wirkte er in manchen, zu vielen Details unsicher. Auf die einzige Zwischenfrage aus dem Auditorium, warum man nicht Gott mit dem unendlichen Universum gleichsetzen könne, auf dass alle Eigenschaften Gottes erfüllt seien, kam zunächst eine ausweichende Antwort, dann der Hinweis, dies sei exakt der Gottesbegriff des Marxismus. (Wenn schon, dann doch wohl eher des dialektischen Materialismus, oder?) Sehr aufschlussreich für den Bildungshorizont von Hoye war für mich sein skizzenhaftes Porträt von Bertrand Russell, mit dessen Aufsatzsammlung Warum ich kein Christ bin er sich wohl nur befasst hat, weil sie von modernen Atheisten immer wieder mit Respekt zitiert wird. Russell habe mit Alfred North Whitehead das Grundlagenwerk zur modernen Logik verfasst, die Principia Mathematica, ein, wie Hoye weiß, „unlesbares Buch“. Dass er die Probe aufs Exempel gemacht hat, nähme ich ihm nicht ab, selbst wenn er es behauptete. Merkwürdigerweise fiel ihm noch ein, dass dieser Russell auch gegen den Vietnamkrieg angegangen sei, aber das dämmerte ihm nur noch sehr von ferne und ich konnte mich nicht bezähmen, ihm mit ein paar knappen Informationen zum berühmten Vietnam-Tribunal der Jahre 1966/67 beizuspringen. Ich war damals zehn Jahre alt und müsste nichts über das Tribunal wissen; der Amerikaner Hoye hingegen war in einem Alter, in dem aufgeschlossene Zeitgenossen am wohl umstrittensten Ereignis der Weltpolitik jener Zeit wachen Anteil nahmen. Nicht so offenbar Hoye, der da gerade sein Theologiestudium an der Universität Straßburg aufgenommen hatte, um Gottesbeweise auswendig zu lernen.

Ein Viertelstündchen blieb uns zur Umsiedelung ins Audimax. Ich erwog schon, die Zeit des Vortrags besser zu einem Bummel durch die Antiquariate in Münster zu nutzen und meine Begleiter bei Liturgie und Messe (Folge 7) allein zu lassen. Aber warum sollte ich meine Erfahrung mit Hoye auf Angenendt übertragen? Das wäre nicht fair gewesen. Um es gleich vorwegzuschicken: Meine Geduld mit der Theologie in Münster wurde reich belohnt. Arnold Angenendt erwies sich als herzhafter Rhetoriker, dessen überraschenden, stellenweise auch provozierenden Thesen und Beweisführungen man mühelos folgen konnte; als ein Redner mit Herz und Hirn, Humor und Verve! Was er über die Bedeutung des Opfers in der Menschheitsgeschichte zu erzählen hatte, war mir zwar nicht ganz unbekannt, die konkreten Beispiele hingegen waren es teilweise schon. Ich blieb insofern kritisch auf der Hut, als ich die Drastik dieser blutrünstigen Exempel insgeheim der Effekthascherei verdächtigte. Aber man darf ja getrost einmal die Mittel entschuldigen, wenn sie vom Zweck geheiligt werden, der in diesem Falle zunächst mal nur darin bestand, Zweifel zu säen an vielleicht allzu leichtfertig gewonnenen Urteilen. Angenendt geht es um nicht weniger als um das Verhältnis der monotheistischen Religionen zur Gewalt. Wie ich jetzt weiß, hat er vor zwei Jahren ein Buch mit dem Titel Toleranz und Gewalt erscheinen lassen, das den Weg des Christentums zwischen den Polen Bibel und Schwert nachzeichnet (Münster: Aschendorff, 2007.) Selbst die linke taz kommt nicht umhin, dieser „beeindruckenden Studie“ Anerkennung zu zollen: „Wer über das Verhältnis von eifernder Kreuzzugsmentalität und christlicher Friedensbotschaft, von inquisitorischer Strenge und religiöser Toleranz substanziell mitreden will, kommt künftig um Angenendts Buch nicht herum.“ (Robert Misik: Taufe oder Tod; in: taz v. 5. Januar 2008.)

Ich habe eigentlich nicht mehr für nötig gehalten, Karlheinz Deschners monumentale Kriminalgeschichte des Christentums (1986 ff.) zu lesen. Zu erdrückend erschienen mir schon bei oberflächlicher Betrachtung die Indizien für die Hauptthese, dass das Christentum als größte der Weltreligionen als eine Krankheit zu bewerten ist, vielleicht als eine Kinderkrankheit der Menschheit auf dem Wege zu Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit, viel wahrscheinlicher aber als eine Krankheit zum Tode, die so hartnäckige Schäden verursacht hat, dass eine Umkehr auf dem Weg in den Abgrund selbst bei besserer Einsicht nun unmöglich scheint. Nun aber halte ich es immerhin für nötig, die Faktenlage noch einmal einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Vielleicht kann es tatsächlich sinnvoll sein, Deschner und Angenendt parallel zu studieren.

Sarrazin bei Lettre

Thursday, 03. December 2009

Neulich hat irgendein Denkwanst in seinem Pfuijetöngchen gefaselt, das für Empörung sorgende Sarrazin-Interview sei ja „übrigens“ nicht in der seriösen Weltpresse, sondern in irgendeiner exotischen Literaturzeitschrift erschienen, die kaum ein Mensch liest. Ich kann aus dem Gedächtnis nicht mehr rekonstruieren, was der brave Mann damit eigentlich beweisen wollte. Dass ein Blatt von Rang solch hetzerische Ergüsse nie und nimmer verbreitet hätte? Dass ein Blatt mit Stil den Erzeuger dieser Entgleisungen vor sich selbst geschützt und den Abdruck vornehm lächelnd abgeleht hätte? Oder gar, dass an der wortwörtlichen Authentizität der Sarrazinschen Aussagen zu zweifeln sei, weil dieses entlegene Periodikum keine über jeden Zweifel erhabene Provenienz bedeute? (Na, letzteres wohl kaum, denn man hat meines Wissens nicht davon gehört, dass sich das immer noch amtierende Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank nur von einem Jota seiner Einlassungen distanziert hätte. Warum auch? Dieser Mann meint was er sagt. Darum lohnt es sich, ihn zu interviewen. Es werden ja viel zu viele Windbeutel ausgefragt, die kaum was zu sagen haben und dieses wenige noch nicht mal wirklich ernst meinen. Doch das bloß am Rande.)

Die Zeitschrift Lettre International, deren Name durch ein paar griffige und für viele Menschen in diesem unserem weichgespülten Lande provozierende Sätze Sarrazins kurzzeitig in jene Massenmedien geriet, zu denen sie nun selbst so gar nicht gehört, hat von diesem Strohfeuer leider wenig gehabt, weil das Blutblatt am anderen Ende der Erfolgsleiter, die Bildzeitung, dreist genug war, ungefragt nahezu das komplette Interview, das Lettre-Herausgeber Frank Berberich geführt hatte, bei Bild online kostenlos zugänglich zu machen. Daraufhin trafen sich Bild-Chefredakteur Kai Diekmann und Berberichs Anwalt Johannes „Jony“ Eisenberg vorm Landgericht Berlin wieder. Ich könnte jetzt an diesem „Fall Sarrazin“ und seinen Folgen in den Medien und Gerichtssälen unserer Republik wieder einmal exemplifizieren, wie weit unsere „Offene Gesellschaft“ (Karl Popper) mittlerweile, zumindest in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung, zu einem Marionettentheater verkommen ist: Der Bild-Boss ist nebenbei taz-Gesellschafter und führt auf seinem Blog das Inventar seiner „Überzeugungen“ per Panoramakameraschwenk durch sein Chefbüro vor. Die taz schmeißt Geld für ein mehrstöckiges Wandbild zum Fenster raus, das sich mit Diekmanns bestem Stück befasst. Da ließe sich doch was draus machen. Aber warum sollte ich? Da für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Intelligenz hierzulande dieses Theater offenbar immer noch einen gewissen Unterhaltungswert hat, will ich nicht den Spielverderber spielen – zumal dieser nicht unbeträchtliche Teil ohnehin keinen Anteil nimmt an dem, was ich hier mache. Und das ist auch gut so!

Wie gut meine vornehme Zurückhaltung mir steht, das kann man zum Beispiel ex negativo dem reichlich unglücklichen Bild ablesen, das Berberich vom Lettre bot, als er nicht so recht wusste, ob er Bild verklagen oder dankbar sein sollte für die nie zuvor genossene Prominenz, die ihm das Boulevardblatt für ein paar Tage verschaffte. Noch schlimmer: Er verdankte es genau den ungebärdigsten und unkorrektesten Äußerungen von Sarrazin, wenn eine riesige Zahl von Lesern zum ersten Mal bewusst wahrnahm, dass es eine Zeitschrift namens Lettre gibt – und zwar bereits seit einem Vierteljahrhundert. Worüber aber beschwert sich Berberich in den Interviews, die er zwei Berliner Gazetten (V. i. S. d. P. und tip) gegeben hat? Erstens darüber, dass der „viel umfassendere Kontext“ nicht gewürdigt wurde, in dem das Sarrazin-Interview erschien: „Das Interview war nur ein Text von insgesamt mehr als vierzig.“ Zweitens darüber, dass sich selbst die Redakteure der Berliner Rundfunksender nur mit dem sattsam bekannten halben Dutzend inkriminierter „Stellen“ befassen wollten und sich weigerten, das Interview in Gänze zur Kenntnis zu nehmen. Drittens, dass ihn Bild online bestohlen hat, indem dort das Interview aus Lettre eingescannt und ohne Einwilligung komplett veröffentlicht wurde. Viertens die Doppelmoral und Heuchelei von Bild, wenn Sarrazins Äußerungen einerseits als übelster Rassismus bezeichnet und diese Äußerungen dann zitatweise über Bild online verbreitet werden, um den Traffic auf die Springer-Website zu erhöhen. Fünftens, dass sich an diesem Vorgang zeigt, wie die Alphabetisierung von Journalisten rapide abnimmt und stattdessen in den Redaktionen nicht nur der Revolverblätter reflexhaft drauf los skandalisiert wird, koste es was es wolle.

All diese fünf unbestreitbaren Tatsachen können mich nicht überraschen; bestätigen meine Sicht der Dinge, die dessen nicht bedarf; sind so aufregend wie die Nachricht, dass man im Regen nass wird.

Klar, manche konkreten Beispiele haben immer wieder einen gewissen Reiz. Ein Beispiel. Sarrazin hatte wörtlich gesagt: Eine große Zahl von Türken hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel.“ Dazu fällt dem Magazin stern – das es tatsächlich immer noch gibt, wie ich bei dieser Gelegenheit erfahre – folgendes ein: „Was Sarrazin ausgerechnet gegen die Obst- und Gemüsehändler hat, ist schleierhaft.“ (Ich hoffe, dass mein Leser zu würdigen weiß, wie ich in einem solchen Nullsummenspiel doch noch auf meinen kleinen Profit komme.)

Verloren

Friday, 27. November 2009

Seit Langem schon ersehne ich eine einfache technische Lösung für folgendes Problem. Die besten Einfälle kommen mir unterwegs. Offenbar hat das Gehen genau jene altbekannte fördernde Wirkung auf den Fluss meiner Gedanken, die schon die alten Peripatetiker so zu schätzen wussten. (Ich weiß, ich weiß, die unmittelbare Ableitung ihres Namens vom griechischen Wort für „umherwandeln“ gilt längst als widerlegt. Man kann diese Art etymologischer Spielverderberei auch zu weit treiben. Bücher à la 1000 verbreitete Irrtümer über … gehen mir längst schon ganz entschieden auf den Keks. Da feiert die Besserwisserei fröhliche Urstände, Hänschen Schlau kann sich auf der Party seines Chefs nach Strich und Faden unbeliebt machen und die Umstehenden gähnen sich ‘nen Wangenkrampf.)

Papier und Bleistift trage ich für den dringendsten Fall der Fälle zwar auf allen meinen Wegen bei mir, aber das Hervorkramen des Schreibzeugs und das Suchen nach einer geeigneten Schreibunterlage, zumal wenn meine Hände mit Schirm- und Taschentragen ausgelastet sind, ist mir in den übrigen neunundneunzig Fällen geistreicher Eingebungen doch zu umständlich. Darum habe ich mir schon vor Jahr und Tag einen handlichen Digital Voice Recorder zugelegt. Gewöhnliche Zeitgenossen hätten dergleichen gar nicht nötig, da längst jedes handelsübliche Handy über Aufzeichnungsmöglichkeiten für Schrift und Stimme verfügt. Da ich aber, wie hier gelegentlich eingestanden, kein Funktelefon mein eigen nenne, war diese Spezialanschaffung nötig. Leider erwies sich das von mir erworbene Aufnahmegerät PA-VR10E als dermaßen kompliziert in der Handhabung, dass ich es bisher noch nie zur Anwendung gebracht habe. Bevor ich es nun aber auf einen Rechtsstreit mit der Firma Sharpe ankommen lasse, gestehe ich umstandslos, dass die Schuld allein bei mir liegt, weil ich zwar ein fleißiger Leser bin, aber mit einer Ausnahme: Bedienungsanleitungen.

Und so ist zu beklagen, dass in den vergangenen Jahren eine Unzahl mindestens talentierter, gelegentlich vielleicht sogar genialer Ideen dem restlosen Vergessen anheim fielen. Dies ist allein schon schlimm genug, für mich als den Verursacher und – durch entgangenen Ruhm – Hauptbetroffenen ebenso wie für den Rest der Menschheit, der vielleicht auch etwas davon gehabt hätte. Noch schlimmer, nämlich geradezu unerträglich waren aber jene Vergessensfälle, bei denen der Schatten einer Ahnung in meinem Gedächtnis zurückblieb, gerade deutlich genug, um seinen Konturen ablesen zu können, dass es sich bei dem Vergessenen um eine wahre Kostbarkeit gehandelt haben musste.

Ein Beispiel aus aktuellem Anlass. Einmal, vor etwa vier Jahren, fischte ich aus dem Wühltisch der Buchabteilung eines hiesigen Kaufhauses ein schmales Bändchen heraus, dessen Autor mir nichts sagte, dessen Umschlag mich nicht sonderlich ansprach, dessen Titel mich aber berührte. Ich schlug es willkürlich auf und las mich sofort fest. Es ging um Golf, um ein Duell zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Lehrer, um eine schöne Frau, die beide mit ihrem Spiel zu beeindrucken suchten. Die Geschichte war so komisch, dass ich laut lachen musste. Was war denn das für ein Roman? Im Klappentext die üblichen, übertrieben hymnischen Zitate aus nicht genau nachgewiesenen Rezensionen, von der „außergewöhnlichen Aura“ war die Rede, die den Texten des Autors durch seine „radikale Selbstironie“ verliehen werde. Ich wollte das Bändchen zum Ramschpreis von 3,50 € erstehen, aber um die Kasse ringelte sich eine lange Warteschlange und ich hatte eine Verabredung, bei der ich mich unter gar keinen Umständen verspäten durfte. So legte ich das Buch zurück auf den Wühltisch, vergrub es sicherheitshalber unter der Dutzendware, die hier sonst noch feilgeboten wurde und beschloss, später wiederzukommen.

Später hieß dann allerdings ganze vier Tage später, denn in diesen vier Tagen ereigneten sich etliche unvorhergesehene private Katastrophen, die mich keine Minute ruhen ließen. Als ich wieder Atem schöpfen konnte, fiel mir zuallererst das Buch auf dem Wühltisch ein. Zu meiner großen Enttäuschung stellte sich heraus, dass es mir ein anderer Kunde weggeschnappt haben musste. Alle Bemühungen, es durch Recherchen in Verlagsverzeichnissen und Bibliographien zu ermitteln, schlugen fehl. Auch meine Erinnerung an die Umschlaggestaltung [s. Titelbild] war zu blass, um bei einem der befragten Buchhändler einen Geistesblitz des Wiedererkennens auszulösen. Ich erinnerte mich sogar an ein Detail aus der Kurzvita des Autors, das ich ebenfalls dem Klappentext entnommen hatte: Er war verhältnismäßig jung bei einem Verkehrsunfall zu Tode gekommen. Nein, es war nicht Rolf Dieter Brinkmann. Auch nicht Jörg Fauser. – Vor wenigen Tagen, durch einen unwahrscheinlichen Zufall, habe ich das Buch nun wiederentdeckt. Es ist tatsächlich grandios! Vielleicht so grandios wie tausend andere verlorene und vergessene Gedankengüter, die mir im Unterschied zu diesem auf immer entzogen bleiben.

Mehr oder weniger

Monday, 23. November 2009

Dass die Informationsflut in einem durch Landflucht der Intelligenz, Zensur und Papierknappheit ausgedörrten Land als vom Himmel der Demokratie gesandter Segen empfunden wird, das konnten wir im Westen Deutschlands nach 1945 erfahren, und nach 1989 noch einmal in dessen Osten. Dass diese Flut aber auch zu einem Problem werden kann, wenn nämlich jede Übersicht verlorengeht und das ununterscheidbare Einerlei von „Fakten, Fakten, Fakten“ (Helmut Markwort vom Magazin Focus) keinen klaren Gedanken mehr ermöglicht, schon erst recht keine Meinungsbildung zur Vorbereitung einer Handlungsentscheidung, das ist den kritischen Beobachtern der Entwicklung unserer Informationsgesellschaft auch nicht verborgen geblieben.

Mein Bedürfnis als Empfänger und Nutzer von Informationen ist in dieser Situation, mit einem qualitativ hochwertigen Input versorgt zu werden. Er muss mein jeweiliges Erkenntnis- oder Erlebnisinteresse so schnell, so gründlich und so richtig wie möglich befriedigen. (Die Unterscheidung von Erkenntnis und Erlebnis führe ich hier mit Bedacht ein, um bewusst zu halten, dass in den medialen Kanälen ja nicht nur Information, sondern auch Unterhaltung transportiert wird, wobei beides – Stichwort: Infotainment – ineinander übergehen kann.) Um diesem Anspruch zu genügen, gilt es seitens des Lieferanten eine ganze Reihe hergebrachter Kriterien zu erfüllen, von denen einige präzise bestimmt sind (zum Beispiel die Rechtschreibung oder die Überprüfbarkeit von Tatsachenbehauptungen durch nachvollziehbare Quellenangaben), andere immerhin noch mit Vorbehalt von Ermessensspielräumen einigermaßen verbindlich bewertet werden können (wie etwa ein dem Thema adäquater Stil oder eine transparente Struktur des Textes). Als Leser habe ich mit der Zeit verschiedene Methoden zur schnellen Abschätzung der Qualität von Texten entwickelt. So weiß ich, dass ich einer Nachricht in der Süddeutschen Zeitung eher vertrauen kann als einer in BILD. Ich weiß, dass mein persönliches Unterhaltungsbedürfnis im Deutschlandfunk besser befriedigt wird als bei Radio Essen. Und im Internet vertraue ich einem Artikel in Wikipedia eher als einer anonymen Meinung in einem Webforum.

Und jetzt wird’s langsam spannend. Denn in den beiden ersten Fällen (Presse und Rundfunk) leite ich meine Einschätzung aus einer allgemeinen Bewertung der jeweiligen Quelle ab. Das funktioniert im Internet noch bei Wikipedia, wo mich fachkundige Urteile und eigene Erfahrungen mittlerweile dazu gebracht haben, auf die Nutzung meiner Printlexika nahezu ganz zu verzichten. Aber die große bunte Welt der Foren ist so unübersichtlich und unspezifisch, dass eine Orientierung auf gewohnte Weise unmöglich ist. Hier muss ich mich auf mein eigenes, notwendig flüchtiges Urteil verlassen, indem ich beispielsweise schon aus der Artikulationsfähigkeit eines Autors darauf schließe, wes Geistes Kind er ist. Dass sich hier Fehlbewertungen einschleichen können, sei unbenommen. Aber man wird sehr viel Zeit (und möglicherweise sogar Geld) verlieren, wenn man jedem sekundären Analphabeten vertraut, der im Schutze seiner Anonymität Unsinn stammelt, etwa ein todsicheres Lottosystem zu verkaufen sucht. Solche kriminellen Angebote sollten im Internet sogar ganz unterbunden werden, wenn es denn irgend möglich ist, denn die Meinungsfreiheit findet eben genau da Grenzen, wo sie zu verbrecherischen Zwecken missbraucht wird.

Dies alles rufe ich in Erinnerung, weil ich in den letzten Tagen gleich zweimal über vermutlich gut gemeinte Freiheitskredos gestolpert bin, deren Naivität mich zu energischem Widerspruch reizt. So schreibt ein unbekannter Freund von Wiki-Waste im Kommentar zu meinem Beitrag über das Relevanz-Gebot bei Wikipedia: „Selbst der primitivste Artikel bei Wiki-Waste ist besser als der Artikel, den es gar nicht gibt. Jeder Wiki-Waste-Artikel ist der beste Wiki-Waste-Artikel zum jeweiligen Thema. Und zwar so lange, bis dieser Artikel von jemandem noch besser gemacht wird. (So ähnlich wie Persil.)“ Wenn dies so wäre, könnte man auch sagen: ,Jede Aussage zu etwas ist besser als keine Aussage. Auch eine falsche Aussage ist besser als keine. Und zwar deshalb, weil sie ja berichtigt werden kann.‘ Wenn das so ist, dann würde ich in einem Wiki-Artikel über Arsen erläutern, dass es sich beim Giftverdacht gegen diese Substanz um ein reines Vorurteil handelt. Die bis zur Korrektur des Artikels angefallenen Leichen hätte dann unser anonymer Freiheitskämpfer zu verantworten. Prinzipell und ernsthaft will ich zu der gegenwärtigen Relevanz-Diskussion um Wikipedia aber noch sagen, dass dieses Schmuckstück im Internet seine mühsam errungene Reputation und Glaubwürdigkeit augenblicklich wieder verlieren würde, wenn es Artikel wie die in Wiki-Waste aufbewahrten zuließe.

Ich hätte hierüber nicht erneut geschrieben, wenn mir nicht eine zweite Textstelle zum gleichen Thema, diesmal aus vermeintlich seriöserer Quelle, den Anlass dazu gegeben hätte. Dort heißt es: „Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information. – Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen – sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ Nachzulesen ist dieser historische Beweis für die Legitimation zur massenhaften Erzeugung und weltweiten Verbreitung von Datenmüll in einem Internet-Manifest, das 15 Webautoren Anfang September in einem neuen Netzpolitikwiki online gestellt haben. Ich kann auch solch holzschnittartige Argumentationen bloß mit gleicher Münze heimzahlen, zu mehr gebricht es mir an Zeit und guter Laune. Darum dies hier: Mundus vult decipi, „die Welt will betrogen sein“, wie schon der Kardinal Carlo Caraffa Mitte des 16. Jahrhunderts treffend bemerkte. In dieser nicht allzu fernen Zeit besorgten die Betrügerei noch die Mächtigen, heuer hat man es aller Welt selbst überlassen, sich gegenseitig zu betrügen und sich in den Netzen der Unübersichtlichkeit zu verfangen, im World Wide Web. Daran hat sich also doch etwas geändert. (Bezeichnend übrigens, dass einer der wenigen beredten Kritiker des Manifests ein Blogger ist, der sich das Ringen um klare und verständliche Sprache zur Aufgabe gemacht hat.)

Blickweiten (I)

Sunday, 22. November 2009

Noch ein letztes Mal zu Silvia Bovenschen. Im erwähnten TV-Interview fragt Denis Scheck die Autorin nach dem literarischen Initiationserlebnis ihrer Jugendzeit, so wie etwa ihm selbst Arno Schmidt klargemacht habe, dass Sprache noch etwas anderes könne als nur Informationen transportieren. Bovenschen verweigert die Antwort mit der etwas kruden Erklärung, in ihrem Falle seien das in verschiedenen Lebensaltern ganz unterschiedliche Bücher gewesen. Es hätte sie doch wirklich nicht viel Mühe gekostet, ein paar Beispiele für diese verschiedenen Lebensalter und die zugehörigen Bücher preiszugeben und so die Neugier des Fragers und seines Publikums mindestens durch eine Geste guten Willens wenn nicht zu stillen, so doch zu beschwichtigen. So aber wirkt die etwas brüske Verweigerung wie eine Geheimniskrämerei. Zur Not könnte man sie sich noch damit erklären, dass vielleicht mit den Initiationserlebnissen von Silvia Bovenschen in einem solchen Interview kein Staat zu machen ist, weil sie beispielsweise zu wenig originell oder erklärungsbedürftig sind.

Gerade bei Interviewfragen, die unbeantwortet bleiben, kann ich der albernen Versuchung nicht widerstehen, mir auszumalen, welche Antwort ich an der Stelle des Befragten denn gegeben hätte. Ich müsste dann im Vorschulalter, bei Wilhelm Busch, Karl May und, horribile dictu, Wilhelm Matthießens Das rote U beginnen und nach einer langen Liste untereinander völlig unverträglicher Namen und Werke vorläufig bei Alfred Polgar, Victor Auburtin und Franz Hessel enden. Ob diese Begegnungen mit ganzen Heerscharen von Vorgängern aber jede für sich als „Initiationserlebnisse“ zu bezeichnen wären, halte ich für mehr als fragwürdig. Inspirationsquellen, das träfe es schon eher.

Denn initiiert wird man doch, bei Licht betrachtet, in seinem Leben nur wenige Male, wenn nicht gar nur einmal. Der klassische Fall ist der Übertritt von der Jugend ins Erwachsenenalter, wenn wir uns von vorwiegend Nehmenden zu Gebenden wandeln; oder eben von Lesenden zu Schreibenden. Dann hätte ich klar und deutlich Franz Kafka nennen müssen, speziell den Roman Amerika, der heute unter dem Titel Der Verschollene gehandelt wird.

Ich setze jetzt mal die Brille ab und wechsele die Brennweite. In der gestrigen ZEIT berichten Florian Illies und Stefan Koldehoff von dem hässlichen Streit, der zwischen dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und dem Staat Israel über die Besitzansprüche an Manuskripten Franz Kafkas entbrannt ist. Dieser Streit interessiert mich nicht sonderlich, denn von Kafka ist alles Erhaltene veröffentlicht, kein Autor des 20. Jahrhunderts ist so ausgeforscht wie Kafka. Insofern ist es relativ gleichgültig, wo diese Manuskripte aufbewahrt werden, wenn es nur kein Archiv auf schwankem Grunde ist wie in Köln.

Aber am Rande dieses Artikels wird eine Seite aus einem Dokument faksimiliert, die meine Aufmerksamkeit fesselt. Es handelt sich um eine Inventarliste des Archivs von Kafkas Freund Max Brod, das heute in einer Zürcher Bank verwahrt wird, in einem Schließfach mit der Nummer 6588. Dort sind auch „Fotokopien von Briefen Theodor Lessings an Max Brod (insgesamt 5 Briefe 1922-1933)“ aufgelistet, von deren Existenz ich bis heute nichts wusste (vgl. ZEIT Nr. 48 v. 19. November 2009, S. 48). Theodor Lessing ist im Unterschied zu Kafka ein noch immer verschollener und vergessener Autor, trotz der Bemühungen seines Biographen Rainer Marwedel und mehrerer Verlage, von Rütten & Loening über Matthes & Seitz bis hin zum Superbia-Verlag, die mit viel Fleiß und Idealismus trachteten, sein so außergewöhnliches wie vielseitiges Werk nach dem Krieg wieder bekannt zu machen. Lessings Korrespondenz ist teilweise im Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien e. V. in Potsdam aufbewahrt. Ich vermute, dass die fünf Briefe an Max Brod den Theodor-Lessing-Forschern bislang unbekannt waren. Bin ich vielleicht der Erste, der nun beiläufig auf sie aufmerksam wird? Und wem könnte dieses Wissen nützen? – Ich setze die Brille wieder auf und gehe mit D. P. in den Wald, wo ich diesen Zufallsfund augenblicklich vergesse. Auf einer Bank [s. Titelbild] geht mir stattdessen ein Satz aus einem Brief Kafkas an Max Brod durch den Kopf, den ich im gleichen Artikel gelesen habe: „Ich kenne andeutungsweise die Schrecken der Einsamkeit, nicht so sehr der einsamen Einsamkeit, als der Einsamkeit unter Menschen.“