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Erfolgsgeschichten (I)

Sunday, 20. February 2011

copyrightninapuri

Einige Jahre meines Lebens habe ich damit zugebracht, Bücher an den Mann und an die Frau zu bringen, die ihren Erfolg allein dem Umstand verdankten, dass sie ein aktuelles Bedürfnis befriedigten oder ein vorübergehendes Interesse stillten – oder vielmehr zu befriedigen vorgaben bzw. zu stillen versprachen. Ich weiß nicht, ob es immer schon Verlage gab, die die Themen und die Machart ihrer Produkte den gängigen Trends und aktuellen Moden ablauschten und Bücher sozusagen als Konfektionsware bei ihren Stammautoren in Auftrag gaben. Diese Büchermacher schreiben nicht mehr, wie es in ferner Zeit einmal gewesen sein mag, weil sie in ihrem Innersten ein Anliegen tragen, das sie der Welt mitteilen zu müssen glauben, sondern weil ihre Berater draußen in der Welt ein Anliegen ermittelten, für welches passgenau und maßgeschneidert ein Buch gemacht werden muss. Für den Verleger, der ja an erster Stelle Kaufmann ist, scheint diese nachfrageorientierte Produktionsweise den Vorteil zu haben, sein Risiko zu verringern.

Typischerweise handelte es sich bei solchen Büchern um sogenannte Ratgeberliteratur im weitesten Sinn des Wortes. Die sogenannte Belletristik oder auch „Schöne Literatur“ hingegen, Romane vorzugsweise, Prosasammlungen, gar die paar erfolgreichen Gedichtbändchen, die es zu nennenswerten Auflagenhöhen brachten, verweigerten sich hingegen bisher allen Versuchen kalkulierter Erfolgssteuerung. Selbst das vergleichsweise plumpe Marketinginstrument der Erkenntnis, dass der Teufel immer auf den dicksten Haufen scheiße, erwies sich ein ums andere Mal als unzuverlässiges Erfolgsversprechen, wenn etwa das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco sich zwar im Gefolge seines sensationell erfolgreichen Romans Der Name der Rose zunächst noch sehr gut verkaufte, sich aber bald herumsprach, dass sich in dem neuen Buch nichts von dem wiederfand, was man bei seinem Vorgänger so sehr genossen hatte. Was war aber nun diese süße Speise gewesen, die die Leser so sehr verzückt hatte? Ich versuchte, es herauszubekommen, der ich doch beide Romane des italienischen Semiotikers nicht gelesen hatte noch zu lesen beabsichtigte. Die Auskünfte, die mir Ecos Leser darüber erteilen konnten, machten mich leider nicht schlauer.

Viel Zeit habe ich darauf verschwendet, selbst einen Roman zu schreiben, denn dies schien mir im dritten und vierten Lebensjahrzehnt eine Aufgabe, der sich ein Mensch zu stellen habe, wollte er nach seinem Ableben mehr hinterlassen als den schlechten Geruch faulenden Fleisches und ein paar lumpige Knochen. Ich machte schon eingangs dieser Bemühungen den großen Fehler, mich viel zu gründlich mit den gelungenen Ergebnissen meiner Vorläufer vertraut zu machen. Ich entwickelte einen feinen Sinn für Qualität und überzüchtete infolgedessen die Ansprüche an mein eigenes Schreiben so sehr, dass ich hinfort jede meiner Zeilen nur voller Hohn und Verachtung zu lesen vermochte. Schließlich gab ich auf.

Dabei hätte ich besser daran getan, einen Ratgeber zu schreiben! Die Einblicke, die mir mein Brotberuf in die Machart solcher Bücher und besonders auch in die Rezeptur ihres Erfolgs bescherte, hätte ich doch umstandslos anwenden können, um mich selbst und meinen Verleger zu wohlhabenden Leuten zu machen. Und was die Ansprüche an Stil und Ausdruck betrifft, an sprachliche Genauigkeit, Bildlichkeit und zugleich Verständlichkeit, so käme ich auf diesem Feld ja mit viel bescheideneren Mitteln aus als jenen, wie sie mir bei meinen ambitionierten Schreibexperimenten für den gescheiterten Roman zur zweiten Natur geworden waren und aus der Feder flossen wie nichts!

Aber es ist ja noch nicht zu spät. Viel lernen könnte ich gewiss für meinen Plan von den Routiniers des Product-Placements, von den Designern und Werbeprofis in den großen Agenturen. Das Titelbild von © Nina Puri zeigt ihren Beitrag in einem Texter-Wettbewerb zum Thema „Partner-Inserent“. Dieses Inserat erhielt – wen wundert ’s? – die meisten Zuschriften. Erfolg ist ja im Grunde sehr einfach, wenn man die Menschen, ihre unmittelbaren Bedürfnisse und geheimen Wünsche bis auf den Grund verstanden hat. Nina Puri hat übrigens auch ein Buch über eins der erfolgreichsten Möbel von Ikea geschrieben, das Billy-Regal. Wer Erfolgsgeschichte schreiben will, sollte vielleicht zunächst Erfolgsgeschichten lesen und begreifen. Gleich morgen will ich mich an die Arbeit machen, damit von mir außer dem Pesthauch der Verwesung usw.

Schamloses Geballere

Saturday, 19. February 2011

Get the Flash Player to see the wordTube Media Player.

Der Künstler Isao Hashimoto aus Japan hat vor acht Jahren einen überaus eindrucksvollen Animationsfilm angefertigt. Er veranschaulicht alle zwischen 1945 und 1998 auf unserer Erde durch Nuklearsprengkörper hervorgerufenen Explosionen.

Der Film zeigt jeden einzelnen der insgesamt 2051 Kernwaffentests als kurzes Aufleuchten an seinem genauen geographischen Ort auf der Weltkarte – und natürlich auch die beiden frühen „Anwendungen“ über Hiroshima und Nagasaki. Die Detonationen werden akustisch durch kurze Sinustöne angezeigt. Eine Sekunde entspricht einem Monat. Die Größe der aufleuchtenden Kreisflächen entspricht der Stärke der jeweiligen Explosion. Nationalfahnen am Kartenrand bezeichnen die Atommächte USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich, VR China, Indien und Pakistan. (Israel hat noch nicht getestet, Nordkorea begann damit erst 2006.) Neben jedem Fähnchen läuft ein Zählwerk, das die Tests für jedes Land aufaddiert.

Der Film hat eine sehr zu Herzen gehende „Dramaturgie“. Anfangs empfindet man jedes einzelne Aufleuchten noch als ein besonderes Ereignis, das aus dem tiefen Schweigen heraus für einen Moment auf sich aufmerksam macht. Man hat genug Zeit, sich die ungeheuren Zerstörungskräfte, die sich hinter diesem Tönchen verbergen, ins Gedächtnis zu rufen. Wenn sich ab Mitte der 1950er-Jahre die Testfrequenz so sehr steigert, dass man fast meint, eine elektronische Orgelmelodie zu hören, dann wird einem fast schwindlig. Jedenfalls ging es mir so. Ich schlug die Hände überm Kopf zusammen und rief laut: „Seid ihr denn wahnsinnig? Hört auf!“ Und meine Gefährtin, der ich den Film anschließend vorführte, erblasste und sprach: „Dass sie sich nicht schämen.“

Obwohl ich mich in schonenden Abständen immer wieder einmal mit der furchteinflößenden Hypothek beschäftigt habe, die die Entwicklung der Massenvernichtungswaffen uns beschert hat, war mir Isao Hashimotos eindrucksvolle Versinnbildlichung dieser Ereignisfolge bisher entgangen. Dabei ist der Film an vielen Stellen im Internet hinterlegt. (Ich fand ihn zufällig auf der auch sonst bemerkenswerten Seite postapocalypse.de.)

Tatsächlich klingt das wahnwitzige Geballere Anfang der 1990er-Jahre ab, mit dem Ende des Kalten Krieges scheint Vernunft einzukehren. Wir sind noch einmal davongekommen. Ein Grund zur Sorglosigkeit ist das allerdings nicht. Die dritte „Anwendung“ könnte jederzeit vorgenommen werden, die Mittel dazu werden wir wohl nie wieder los.

ScanPlag 1.0

Friday, 18. February 2011

woherhabeichdiesensatz

Warum ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, der Verlegenheit unseres Verteidigungsministers vor der Abgabe seiner mit so viel Fleiß verfertigten Promotionsschrift mit einem pfiffigen kleinen Suchprogramm abzuhelfen?

Die Sache verhält sich doch folgendermaßen. Bis zur Entwicklung der PCs mit moderner Textverarbeitung Mitte der 1980er Jahre und des Internet wenige Jahre später hatten Plagiatoren wenig zu fürchten. Höchstens durch einen dummen Zufall konnte ihnen ein aufmerksamer Leser auf die Schliche kommen. Nun aber ist es für jeden Hobbydetektiv ein Leichtes, Abschreiber zu entlarven. Wenn ich zum Beispiel einen markanten Satz aus einem meiner letzten Blogbeiträge ins Suchfenster von Google eingebe, wie etwa „Es ist, als legte er sich die Schlange des Äskulap um den Hals, mit seiner Todesverachtung kokettierend, und weidete sich an unserem Entsetzen“, dann bekomme ich augenblicklich die einzige passende Belegstelle im World Wide Web geliefert – nämlich meine eigene.

Genauso ging Andreas Fischer-Lescano am vergangenen Samstagabend vor, als er bei einem Glas argentinischen Rotwein die Probe aufs Exempel machte, ob denn die Doktorarbeit des Juristen Karl-Theodor zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag. Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU, eine redliche Eigenleistung sei. Nach wenigen Stichproben wurde er zu seiner eigenen Überraschung fündig. Der Verteidigungsminister hatte offenbar etliche Textpassagen nahezu wortwörtlich aus fremden Werken übernommen, ohne sie als Zitate kenntlich zu machen. (Roland Preuß: Ein Abend in Berlin; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 38 v. 16. Februar 2011, S. 2.) Der vermeintliche Plagiator tat, was jeder in seiner peinlichen Lage tun würde: Er leugnete jedwede böse Absicht und beteuerte, dass die Unterlassung von ein paar Quellennachweisen allein durch Flüchtigkeit verursacht und damit zu entschuldigen sei. Schließlich sei die Arbeit neben seiner „Berufs- und Abgeordnetentätigkeit als junger Familienvater in mühevoller Kleinstarbeit“ entstanden, so zu Guttenberg heute wörtlich.

Gesetzt den Fall, und wer wollte daran ernsthaft zweifeln, der Bundesverteidigungsminister sagt die lautere Wahrheit. Was hätte ihn dann vor diesem unglückseligen Fauxpas bewahren können? Vielleicht ein kleines Textverarbeitungsmodul, das folgendermaßen funktioniert. Es zerlegt Textdateien beliebigen Umfangs in Satzfragmente von jeweils ein bis zwei Dutzend Wörtern und schickt sie automatisch durch die Google-Suche. Dabei beschränkt es sich auf Text, der nicht in Anführungszeichen gesetzt ist. Ermittelt das Suchprogramm auffällige Übereinstimmungen mit fremden Texten, empfiehlt sie dem Autor die betreffenden Passagen zur Überprüfung. Er hat dann die Wahl, sie entweder als Zitate auszuweisen oder so umzuformulieren, dass ihre Herkunft nicht mehr ermittelbar ist. Ein solches Programm würde hinfort selbstverständlich nicht nur von Doktoranden angewandt, die vermeiden wollen, in die Bredouille zu kommen, in die sich der arglose Karl-Theodor zu Guttenberg gebracht hat. Vielmehr würden auch die Mitglieder der Prüfungskommissionen ein solches Werkzeug sehr zu schätzen wissen. Sie entgingen mit seiner Hilfe dem Vorwurf, nicht gründlich genug geprüft zu haben. Täuschungsversuche kämen nicht mehr vor, Flüchtigkeitsfehler ebensowenig. Und wer zu faul oder zu dumm wäre, als Doktorand diese ScanPlag-Software anzuwenden, der hätte den Titel wirklich nicht verdient.

Mit dem Patent zu einem solchen Suchprogramm könnte sein findiger Entwickler vielleicht reich werden. Und wenn er ganz schlau wäre, dann verkaufte er bald noch ein Update, das jedes beliebige Zitat durch syntaktische Umstellungen und Austausch synonymer Begriffe formal so verändert, dass es nicht mehr identifizierbar ist, ohne freilich seinen Sinn zu verändern.

Von Kairo zum Kairos

Friday, 18. February 2011

schutzlospreisgegeben

Seit geraumer Zeit denke ich darüber nach, welchen Nutzen es eigentlich für einen halbwegs gebildeten und durchweg unangepassten Mitteleuropäer wie mich hat, die täglichen Nachrichten aus den Massenmedien zur Kenntnis zu nehmen.

Ein krasser Outsider auch auf diesem Felde bin ich ja von jeher durch meine konsequente Fernsehverweigerung. Wann immer meine Mitmenschen hiervon erfuhren, war ihre spontane Reaktion, dass sie sich ein Leben ohne Fernsehgerät schon deshalb nicht vorstellen könnten, weil sie dann Angst hätten, „zu vieles nicht mitzubekommen“. Für sie gehöre die allabendliche Tagesschau unverzichtbar zu ihrem Freizeitprogramm. Man müsse doch „wissen, was in der Welt vor sich geht“, schon „um mitreden zu können“. Bei Urlaubsreisen ins Ausland fühlten sie sich deshalb oft „wie abgeschnitten“. Als ich noch beruflich mit solchen Zeitgenossen zu tun hatte, konnte ich aber immer wieder feststellen, dass ihre vermeintliche Informiertheit sowohl quantitativ als auch qualitativ um ein Beträchtliches hinter meinem aktuellen Kenntnisstand zurückblieb. Offenbar führte meine Partizipation am internationalen Tagesgeschehen, durch das morgendliche Lesen einer überregionalen Tageszeitung, gelegentliches Radiohören und nebenher noch durch das eher ziellose Stöbern in diversen Informationsangeboten im Internet, zu präziseren Kenntnissen, insbesondere aber zu einer strukturierteren Wahrnehmung und besser begründeten Bewertung des Weltgeschehens.

Ich erklärte mir diesen Rückstand meiner Kollegen unter anderem damit, dass das Zerhacken der Ereigniskontinuität im Fernsehen, zunächst durch die hektischen Schnittfolgen des Angebots, später dann durch das wilde Zappen der Nutzer im Überangebot der Programme, zu einer Auflösung von Sinnzusammenhängen führt. Überdies schien mir immer, dass die simultane Darbietung von optischer (visueller) und akustischer (verbaler) Information mindestens dann eher ablenkend wirken muss, wenn beide nicht aus einer Quelle rühren; anders gesagt: wenn Bild und Ton nicht wie aus einem Guss sind. (Genau aus diesem Grund und erwiesenermaßen ist das Microsoft-Programm PowerPoint kein Hilfsmittel bei der Präsentation komplexer Sachverhalte, sondern vielmehr geradezu ein Störfaktor für Verstand und Gedächtnis.)

Die jahrelange Gewöhnung an solch ein den Alltag beherrschendes Medium kann für das Bewusstsein der Konsumenten nicht folgenlos sein. So fällt mir auf, dass die öffentliche Wahrnehmung zu jedem gegebenen Zeitpunkt jeweils von einer Top-Nachricht gebannt zu sein scheint. Um diese herum wimmelt es geradezu von konkurrierenden Nachrichten, die sich darum bewerben, den Spitzenreiter abzulösen. Meist ist die Lebensdauer solcher Topnews auf wenige Tage begrenzt. Insofern wurden wir jüngst zu Zeugen einer ungewöhnlich lange dominierenden Nachricht, als Mubarak partout nicht weichen wollte. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der dank einer ungeschickt mit fremden Federn ausgestopften Dissertation heute im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht, dürfte da nicht mithalten können. Diese Gegenüberstellung – hier ein Volksaufstand von etlichen Millionen in Ägypten, dort ein paar nicht korrekt ausgewiesene Zitate in einer Doktorarbeit: von Kairo zum Kairos – macht deutlich, wie disparat doch die jeweiligen Themen sind, auf die wir regelmäßig einen Teil unserer Aufmerksamkeit verschwenden; und wie wenig sie mit unserem wirklichen, alltäglichen Leben zu tun haben.

Immerhin das zu erkennen und von Einsichten dieser Art fragend zu Erklärungen vorzudringen, macht für mich eine wenigstens partielle und jedenfalls kritische Wahrnehmung des medialen Grundrauschens gerade noch sinnvoll.

Heinrich Funke: Das Testament (XII)

Thursday, 17. February 2011

Heinrich Funke Das Testament (XII)

Blauer Himmer über freier Natur, blaues Meer unter einer gut gemeinten Sonne, im Vordergrund sehr sparsame Zeichen von Vegetation, im Hintergrund nichts als ein verstellter Horizont und am rechten Bildrand vielleicht das eigentliche ,Ereignis‘ des Motivs: eine Steilküste, von einer gedrängten Architektur gekrönt, die dasteht, als warte sie darauf, hinuntergeschubst zu werden.

Vielleicht will das Bild ja Gedichtzeilen wie diese illustrieren: „Du herbe Göttin wilder Felsnatur, | du Freundin liebst es, nah mir zu erscheinen; | du zeigst mir drohend dann des Geiers Spur | und der Lawine Lust, mich zu verneinen. | Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst: | qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen! | Verführerisch auf starrem Felsgerüst | sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen.“ So die vierte Strophe aus Nietzsches Gedicht An die Melancholie.

Melancholie, hat ein vergessener Mund aus dem Volke mal gesagt, sei die Sorge jener, die sonst keine haben. Und dann wäre da noch der Orakelspruch von der Trauer, die alle Tiere nach dem Geschlechtsakt verspüren. Dieser Satz ist ja gleich in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Erstens darf man bezweifeln, dass Tiere überhaupt das, was wir Trauer nennen, empfinden können. Zweitens dürfte es schwer fallen, ihre Gemütsverfassung nach dem Fortpflanzungsvorgang zu ermitteln. Drittens ist die Verallgemeinerung auf die gesamte Fauna von geradezu vorsintflutlicher Simplizität. Und schließlich ist viertens an dem Satz verdächtig, dass es keine verbürgte Quelle für ihn gibt. Mal Plinius, mal Aristoteles zugeschrieben, lautet er im lateinischen Original vollständig: „Post coitum omne animal triste praeter gallum, qui cantat.“ Der Hahn wird also von der postkoitalen Trauer ausgenommen.

Eigentlich ist der Satz insofern eher eine Aussage über den Hahn als über den Rest der Tiere, die vielleicht bloß zu erschöpft vom Liebesspiel sind, um ein solches Spektakel zu veranstalten. Und der Mensch? Wie fühlt er sich nach vollbrachter Tat?

Mir fällt an dieser Stelle Wilhelm Busch ein: „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.“ (aus: Julchen.) Nach der Erfüllung gleich welchen Wunsches mag sich bei uns Post-Hominiden zunächst eine gewisse Leere einstellen. Dieser Zustand ist aber jedenfalls sehr vorübergehend, denn die Welt dreht sich auch ohne unser Zutun weiter, und so weckt uns der gezeugte Nachwuchs aus dem Schlaf, unsere Werke entgleiten unseren Händen und wenden sich gegen uns und die Melancholie der Erfüllung erweist sich, wie jede andere Stimmung auch, als überaus vergänglich.

Heute vor 30 Jahren

Thursday, 10. February 2011

juengersarbeitsplatz1942

Aus fremden Tagebüchern: „Nachts wieder einmal im Pariser ,Majestic‘. Oben herrschte die alte Geschäftigkeit; ich fand mich mit den Türen nicht zurecht. Unten wurde der Empfangssaal umgebaut. Der Gang erinnerte an eine in sich perfekte Ordnung, die im ganzen unsinnig war. – Dem Begriff der Kerntechnik sollte man sowohl die Tätigkeit der Physiker wie jene der Biologen unterordnen – beide entspringen der gleichen Wurzel als prometheischer Trieb. Gut oder böse? Die Schlange des Asklep.“ (Ernst Jünger: Siebzig verweht III. Stuttgart: Klett-Cotta, 1993, S. 16.)

Dass diese Tagebucheintragung nicht von einem realen Parisbesuch des 85-Jährigen kündet, der sich etwa auf seine alten Tage noch einmal an den Ort seines Wirkens als Soldat im Zweiten Weltkrieg begeben hätte, ins Hôtel Majestic an der Pariser Avenue Kléber nämlich [siehe Titelbild], wo er im Stab des Militärbefehlshabers von Frankreich (MBF) unter Otto von Stülpnagel als Militärzensor wirkte, das wissen wir, weil die Notiz mit Wilflingen, 10. Februar 1981 überschrieben ist.

Jünger träumt also „wieder einmal“ von seinem fast vierzig Jahre zurückliegenden Aufenthalt in dieser Luxusunterkunft. Traumberichte haben aber für uns Leser den Nachteil, für den Verfasser hingegen den großen Vorteil, dass ihr Wahrheitsgehalt nicht überprüfbar ist. Ich habe schon von Anfang bis Ende erstunkene und erlogene Träume erzählt, dass die Zuhörer die Mäuler aufsperrten und für den Rest des Abends mit Deutungsversuchen beschäftigt waren. Ich erwähne das hier, weil mir die angeblich geträumte „perfekte Ordnung“ des Hotelflures, die zugleich im Ganzen unsinnig gewesen sein soll, wenig traumtypisch erscheint. Was sollen wir uns denn unter der Ordnung eines Ganges vorstellen? Allenfalls fällt mir da ein Raumbelegungsplan ein, bei dem zum Beispiel die höheren Ränge nach vorn heraus wohnen. Das riecht mir sehr nach ausgedacht! Und die Deutung liegt ja nahe. Jünger will nachträglich schon damals gespürt haben, dass das Hitlersystem bei aller vorgegebenen Professionalität im Kern doch morsch war und zum Untergang verdammt; dass die Hitlerei der höheren Weihen eines Sinns entbehrte.

Nachdem der Albdruck aus dem Weltkrieg zu Papier gebracht und so abgearbeitet wurde, folgt eine nicht minder bedrückende Betrachtung zu den Urgründen unserer Abweichung vom natürlichen Gang der Dinge. Hier die ,Atomkernphysik‘ mit ihrer schrecklichen Entfesslung von Massenvernichtungskräften; dort die ,Zellkernbiologie‘ mit den molekulargenetischen Möglichkeiten vollkommener Umschöpfung unserer menschlichen Natur. Eigentlich sollte mir ja gefallen, dass solche Gefahren, die auch ich für sehr konkret halte, immer und immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Aber die Art und Weise, wie sich Ernst Jünger diesen „Gegenständen“ nähert, behagt mir ganz und gar nicht. Warum?

Weil er so schrecklich cool dabei bleibt. Es ist, als legte er sich die Schlange des Äskulap um den Hals, mit seiner Todesverachtung kokettierend, und weidete sich an unserem Entsetzen. (Wie ganz anders, wie menschlich klingen da doch die um die gleiche Zeit entstandenen Notizen von Günther Anders in seinen Ketzereien, die sich ebenfalls mit unserer prometheischen Erbschaft befassen!)

[Dieses Posting erschien zuerst am 10. Februar 2007 bei Westropolis unter dem Titel Heute vor 27 Jahren als zweite Folge der Serie „Aus fremden Tagebüchern“. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog überarbeitet und erweitert. – Mit Dank an socursu für eine Korrektur.]

Sudelgeblogge (I)

Thursday, 10. February 2011

beimirdaheim001

[1] Als akkurate Hausfrau hatte sie dem Rest der Familie einen festen Belegungsplan für die Fächer des Besteckkorbes in der Spülmaschine verordnet. Vorn rechts: Messer. Vorn links: Gabeln. Mitte rechts: Suppenlöffel. Mitte links: Dessertlöffel. Hinten rechts: Kuchengabeln. Hinten links: Sonstiges. Denn so lasse sich, wenn sich jeder daran halte, beim Ausräumen viel Zeit sparen, weil das Einordnen in die Besteckschublade umstandslos mit nur sechs Handgriffen zu erledigen sei.

[2] Als seine Beliebtheit dank seiner Erfolge auf Rekordniveau gestiegen war, wurde er zum Geburtstag mit Geschenken von nahezu Fremden überhäuft, die weder seinen Geschmack kannten noch seine Interessen. Als sich Misserfolge einstellten und sein Stern wieder sank, verschenkte er das Gerümpel weiter. Dabei traf es sich gelegentlich, dass einer der einstigen Schenker versehentlich sein eigenes Geschenk zurückerhielt. Er sah es den beschenkten Schenkern an, denn sie spielten die freudige Überraschung beim Anblick der nutzlosen Dinge noch schlechter als er vor Jahr und Tag.

[3] Alle Liebe beginnt und endet mit der Eigenliebe. Dass letztere in so schlechtem Ansehen steht, beruht wohl weniger auf einem Missverständnis der Botschaft des Jesus von Nazareth, als vielmehr auf der irrigen Annahme, Liebe erfülle sich in der Übereinstimmung mit den guten und schönen Attributen des Geliebten. Mein Kreuzworträtsel fragt nach einem Wort mit zehn Buchstaben, welches „Eitelkeit mit Egoismus“ verbindet – und meint Eigenliebe! Ganz falsch ist dies jedenfalls dann, wenn man die gesunden Anteile eines fürsorglichen Umgangs mit dem eigenen Äußeren und der Durchsetzung eigener Lebensansprüche darüber vergisst, die nur zu leicht als eitel oder egoistisch denunziert werden; nämlich meist dann, wenn es konkurrierenden Individuen auf dem Markt der Eitelkeiten und Interessen gefällt. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Wenn aber die Eigenliebe verpönt ist, dann führt diese Gleichung doch zu keiner Nächstenliebe. Je tiefer hingegen die Eigenliebe ist, desto weiter vermag auch die Liebe zum Nächsten zu reichen. (Vielleicht gar zum Übernächsten?)

[4] Etliche der Aphorismen Lichtenbergs hören sich an wie Bruchstücke zu einem Roman, wie die Bonmots von Helden, deren Charaktere und Figuren erst noch zu erfinden sind. – In den Romanen, die ich in mein Antiquariatslager schubse, finde ich oft Anstreichungen von eigener oder fremder Hand an Sätzen, die zu guten Aphorismen getaugt hätten. Das bleibt dann also von den Romanen übrig, wenn sie durchs grobmaschige Sieb unseres Leseeifers passiert worden sind. – Warum, so wird sich der Göttinger Weise vielleicht gedacht haben, soll ich um meine brillanten Schmuckstücke mit bedeutendem Aufwand umständlich Kulissen und Übergänge bauen, damit das Ganze sich als Roman in der Welt behaupte? Zuletzt bleiben doch ohnehin bloß diese wenigen Preziosen übrig.

[5] Auf dem Lehrstuhl der Bescheidenheit lautet für den Weisen die erste Lektion, an seinem Verstande zu zweifeln.

[Diese neue Reihe sollte ursprünglich Sudelblog heißen. Da es ein solches aber schon gibt – wenngleich mit kaum einem Bezug zu Georg Christoph Lichtenberg, sondern stattdessen zu Kurt Tucholsky –, habe ich mich zur zweiten Wahl entschieden und meine Puppe in der Puppe in Sudelgeblogge umgetauft.]

Verhinderter Massenmörderzeuger

Wednesday, 09. February 2011

gesternbeibernhards

Heute wäre er also achtzig geworden; aber das immerhin ist Thomas Bernhard erspart geblieben. Sein Hoffotograf Dreissinger hat fast fünf Dutzend Leute befragt, die ihn kannten, soweit er es zuließ, ihn zu kennen, und ein Buch daraus gemacht. (Was reden die Leute: 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Salzburg: Müry Salzmann, 2011.) Fünf Jahre hat er, heißt es, darauf verwendet. Das ist doch etwas übertrieben, oder?

Bernhard hat mich mal gepackt, als ich sechzehn war. Zu Ostern in Lugano las ich Frost und Verstörung. Danach war mein eigener Schreibstil auf Jahre hinaus versaut. Zwanghaft musste ich diese monotone Leier imitieren, dieses permutative Genörgele. (Da war ich übrigens in guter Gesellschaft. Der auch schon verstorbene Bernd Mattheus etwa hatte den gleichen Sound drauf, in seiner verschollenen Prosaminiatur Gespräche mit K. von 1974.) Und meinen Mitmenschen ging ich mit finsteren Andeutungen bevorstehender Gewalttaten auf den Wecker, dabei offen lassend, ob ich selbst oder der Rest der Menschheit das Opfer sein würde.

Da ich kein Theatergänger bin, habe ich den vielleicht bedeutenden Teil seines Werkes nicht mitbekommen. Aus Gehen las ich, nurmehr wenig engagiert und sozusagen bloß der Vollständigkeit halber, eine längere Passage am 1. Juni 1995 auf meiner LXIX. Soiree Vom Gehen. Endgültig passé war der Grantler für mich nach dem Erscheinen des Buches über seine Preise vor zwei Jahren. Da konnte man beim besten Willen nicht mehr übersehen, dass sein Ruhm doch zu einem guten Teil auf berechneter Selbstinszenierung gründete. Ausgestellter Größenwahn.

Es ist ja sehr verführerisch, den von den eigenen Feinden Gehassten allzu viel durchgehen zu lassen. Das gilt für meine Generation von Mao bis Mühl. Plötzlich wird man wach und erkennt, dass man Massenmörder und Kinderschänder verehrt hat! Thomas Bernhard war ein Misanthrop, deutschlich gesagt: ein Menschenhasser. Seine Bücher kaufen durften die gehassten aber. Und im Theater klatschen durften sie zur Not auch.

Immerhin zitierenswert, vielleicht als letztes Wort an diesem Ort zu Thomas Bernhard, eine kleine Anekdote aus einem älteren Buch über ihn, die anlässlich der Würdigung seines heutigen Geburtstags in der Zeitung zitiert wurde: „Thomas sagte, wenn er die Garantie hätte, einen Massenmörder zu zeugen, würde er es tun. Ich sagte, mit etwas Besserem wäre bei ihm kaum zu rechnen.“ (Karl Ignaz Hennetmair: Aus dem versiegelten Tagebuch. Weitra: publication PNo1 Bibliothek der Provinz, 1992; hier zit. nach Helmut Schödel: Ein Schlag von hinten auf die Schulter; in: SZ Nr. 32 v. 9. Februar 2011, S. 14.)

Westropolis – ein Epilog (VII & Schluss)

Tuesday, 08. February 2011

sinkendesschiffsechs

Die Vision eines für anspruchsvolle Kulturfreunde im Revier nützlichen Weblogs habe ich in groben Zügen umrissen. Nun also die letzte Frage, mit deren Beantwortung alles steht und fällt: „Wer ist interessiert und in der Lage, ein solches Kulturblog zu realisieren, sowohl inhaltlich als auch materiell?“

Die erste Voraussetzung, die dessen Stammautoren vermutlich erfüllen müssten, wäre ihre materielle Unabhängigkeit mindestens in einer Startphase. (Es sei denn, man fände einen risikofreudigen, idealistischen Sponsor.) Dass man mit Weblogs nur schwer Geld verdienen kann und in den ersten ein, zwei Jahren vorsichtshalber von einem Nullsummenspiel ausgehen sollte, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben.

Sodann sollten sich die Autoren auf einen klar definierten, verbindlichen Standard verständigen können, was die Art der Themen, die Darstellungsweise und die stilistische und formale Qualität betrifft. Damit soll die Meinungsfreiheit und die Phantasie der Autoren keineswegs beschränkt werden. Aber ein Kulturblog für das Revier ist beispielsweise nicht die richtige Bühne für die Mitteilung persönlicher Befindlichkeiten, Exaltationen, Selbstdarstellungen selbstverliebter Schreibvirtuosen. (Als einen solchen kann man mich durchaus ansehen, aber diese Neigungen verwirkliche ich in meinem persönlichen Blog.) Auch ein Reisebericht von den Seychellen oder die Todesnachricht von Gary Moore gehört nicht hierher. Und das Unterscheidungsvermögen von das und dass ist die Mindestvoraussetzung für die Teilnahme an einem solchen Projekt, das sich an gebildete Leser wendet und sich von den auch orthografisch immer weiter degenerierenden Printmedien positiv abheben will. Ein besonders auffälliger Ton im Lokalkolorit der Ruhrstädte ist zweifellos der Fußball; doch bei allem Verständnis für Traditionen und gepflegten Infantilismus hat dieser vereinsmeiernde Ballspielwahn auf einer Kulturseite allenfalls ausnahmsweise etwas zu suchen.

Spätestens an dieser Stelle wird vielleicht deutlich, warum ich pessimistisch bin, was die Realisation dieses schönen Traums betrifft. Die einzigen Blogger im Revier, denen man den Anspruch unterstellen könnte, immerhin nebenbei auch Kultur im Revier und für das Revier zu vermitteln, die ruhrbarone, sortieren ihre Artikel in vier Schubladen: Alles über Pop bringt vorwiegend YouTube-Filmchen für junge Leute unter fünfzig; Auf dem Platz meint viel Fußball und sonst so allerlei, Lokalpolitik zum Beispiel und delikate Personalien aus der Region; Glaube, Sitte, Heimat ist ebenfalls ein Durcheinander ohne erkennbaren gemeinsamen Nenner, vielmehr rotieren regionale, nationale, internationale und interstellare Themen in der Schleuder, dass einem schwindlig wird; und schließlich hat die internationale Politik dann bei Rest der Welt noch ihren Exklusivauftritt.

Das ist jedenfalls kein Kulturblog, in dem man findet, was man sucht, sondern allenfalls über manches stolpert, von dem man nicht einmal träumte und das doch gelegentlich Spaß macht oder Interesse verdient. Wenn ich Langeweile habe, weil ich nicht weiß, was ich mit einem angebrochenen Abend anfangen soll, dann schnüffele ich vielleicht wie ein streunender Hund in meinen Lieblingsblogs, und dann vielleicht auch bei ruhrbarone herum, um für den Rest des Abends meine gute Stube nicht mehr zu verlassen. Wenn ich aber wissen will, was es an kulturellem Angebot für einen solchen Abend jenseits meines Monitors in der Region gibt, dann finde ich auf diesem Monitor zurzeit noch keine überzeugende Orientierungshilfe. – Mache ich einen Denkfehler, oder darf man dieses Defizit getrost als echte Marktlücke bezeichnen?

[Zurück zum Anfang der Serie.]

Wurzeln in Nachwehen?

Monday, 07. February 2011

blase9

Die unbeschränkte Kreativität der Zeitungstexter treibt erst recht auf dem unschuldigen Felde der Programmankündigung ihre Blüten, denn dort müssen sie ja nicht mal mit ihrem Namen dafür geradestehen.

Heute zum Beispiel widerfährt uns folgende atemlose Hatz: „Über mehrere Wochen jagt ein Trupp Männer den Trapper Gideon […] durch die Wildnis Nevadas. Ihr Anführer wird vom Wunsch nach Rache getrieben, dessen Wurzeln in die Nachwehen des amerikanischen Bürgerkrieges zurückreichen.“ (SZ Nr. 30 v. 7. Februar 2011).

Was Wehen sind, weiß jede Mutter. Wurzeln kennen Pflanzer und Dentisten. Dass ein Wunsch Wurzeln haben kann, mutet schon etwas sonderbar an. Dass diese aber in Nachwehen wurzeln können, muss bestritten werden. Und auch über die Nachwehen eines Bürgerkrieges würde man gern mal aufgeklärt. Wie nämlich heißt dann, wenn wir im Bilde bleiben, das Baby, das von den Wehen in die Welt getrieben wurde?

Andererseits ermuntert ein solcher Mumpitzsatz zur artifiziellen Nachahmung. Etwa so: „Etliche Monate hetzt eine Horde wilder Weiber den anämischen Nerd Tobias durch den Dschungel der nächtlichen Metropole. Ihre Anführerin wird von der Gier nach brutalem Sex aufgepeitscht, die in den Flashbacks morbider Drogennächte der Prohibitionszeit ankert.“

Auf eine solche Programmankündigung hin würde ich mich glattzu einem Fernsehabend bei meiner schwerhörigen Tante Lotte einladen.

Was denn nun?

Friday, 04. February 2011

riesenminiknochen

Gestern wurde ich Ohrenzeuge, wie Ariadne von Schirach im Deutschlandradio Kultur nahezu ekstatisch eine Broschüre aus dem Merve-Verlag besprach, François Julliens Die stillen Wandlungen. Die Rezensentin wurde bekannt durch ihr Buch Der Tanz um die Lust, das ich nicht gelesen habe und darum auch nicht beurteilen kann. Der in den Kritiken selten unterbleibende Hinweis auf ihren Großvater Baldur trug nicht dazu bei, mich mit dem Werk dieser Autorin näher zu beschäftigen. Ihr Auftritt gestern im Rundfunk ließ mich allerdings aufhorchen.

In einem hingerissenen Redeschwall, der an den leicht durchgeknallten Filmkritiker Hans-Ulrich Pönack erinnert, welcher ja beim selben Sender Unterschlupf gefunden hat, erklärte Schirach, was wir Zuhörer uns unter einer ,stillen Wandlung‘ vorzustellen haben: „Eine stille Wandlung ist das Alter. Eine stille Wandlung ist der Klimawandel. Eine stille Wandlung ist auch – sehr poetisch – das Fortgehen der Liebe. Man merkt es. Es fängt an, aber irgendwann … wir sehen nur die Ergebnisse. Wir haben kein Gespür für diese stillen Wandlungen. Vor allem geht es auch um Politik, also da geht es um die Unruhen in der islamischen Welt. Das ist gerade keine stille Wandlung mehr. Die ist realtiv laut und bevölkert unsere Nachrichten. Mit diesem Blick auf die stillen Wandlungen könnte man aber sagen: Was passiert denn bei uns? Was passiert in der Eurozone? Es zeichnen sich Dinge ab, mit Irland, mit Griechenland. Es kommen so kleine revolutionäre Schriften aus Frankreich. Das wären klassische stille Wandlungen. Jullien schärft unseren Blick. Er sagt, sie sind still, aber nicht unsichtbar. Sie bahnen sich an.“ – Von dem nahezu sprachlosen Moderator des Radiofeuilletons befragt, was uns dies denn bringe, prägte die studierte Philosophin folgenden Satz: „Zunächst, dass die Bedingungen unseres Denkens zufällig sind, zufällig und zugleich notwendig.“ Es habe, so offenbar ihre persönliche Erfahrung, „etwas ungeheuer Erfrischendes, zu begreifen, dass man die Welt ganz anders sehen kann.“ (Hier der O-Ton.)

Hm. – Deutschlandradio Kultur beschäftigt Ariadne von Schirach als freie Mitarbeiterin. Ob sie für solche Unsinnsgespinste einen großen Verdienst erhält, kann ich nicht sagen, große Verdienste um den menschlichen Erkenntnisfortschritt wird sie damit jedenfalls nicht erwerben. Wenn sie uns erklärt, die Konfrontation von westlichen Problemen mit östlichem Denken sei Julliens „großer Verdienst“, dann muss man der Philosophin (und leider auch dem Deutschlandradio, das den Fehler unberichtigt in sein Programmheft übernimmt) den kleinen, aber wesentlichen Unterschied erklären: Der Verdienst klingelt in der Kasse, das Verdienst hingegen ist ein rein ideelles Gut.

„Zufällig und zugleich notwendig“ – das klingt vielleicht in manchen hohlen Köpfen toll, denn solche bilden ja oft einen guten Resonanzkörper. Tatsächlich ist ’s ein arger Nonsens, den unsere schwärmerische Kritikerin offenbar so pfiffig findet, dass sie ihn ausgangs noch einmal strapaziert: François Jullien „beherrscht diese größte aller Künste, das Leben in seiner Zufälligkeit und Notwendigkeit zu illustrieren. Das ist fast wie eine Meditation.“

Wow! – Solcherlei Heißluft-Philosophasterie hat eindeutig weniger als zwei Prozent Fettgehalt, dafür enthält sie synthetische Geschmacksverstärker, dass die Lefzen tropfen [siehe Titelbild].

Heinrich Funke: Das Testament (XI)

Friday, 04. February 2011

Heinrich Funke Das Testament (XI)

Es soll also niemanden geben, der sich lieber im Wahnsinn freuen möchte, als gesunden Sinnes Schmerz zu erleiden?

Ich könnte auch hier wieder den Satz durch Aufzählung plausibler Gegenbeispiele ad absurdum führen, indem ich etwa von den zahllosen körperlich und seelisch Leidenden in der Hölle von Theresienstadt erzähle, die sich in den Wahnsinn flüchteten, weil sie den Schmerz gesunden Sinnes eben nicht mehr ertrugen. (Vgl. H. G. Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, S. 625-685.) Zudem bezeichnet ja ,Wahnsinn‘ eine solche Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen von Seele und Geist, wie auch ,Schmerz‘ sehr verschiedene Leidensformen benennen kann, dass es mir schon deshalb schwer fällt, der Aussage in dieser simplen Verallgemeinerung zu folgen.

In diesem Falle setzen meine Zweifel an der Richtigkeit der Aussage allerdings noch früher an. Ich halte es nämlich für fragwürdig, ob je ein Mensch die freie Wahl zwischen diesen beiden Alternativen hatte: Schmerz bei vollem Bewusstsein oder Schmerzfreiheit im Wahnsinn? Gemeint ist vermutlich auch nicht eine solche reale Entscheidungssituation, sondern bloß die theoretische Erwägung eines Menschen bei klarem Verstand und ohne den Druck des Schmerzes. Dass es nun gar niemanden, also keinen einzigen Menschen geben soll, der sich für die Freuden des Wahnsinns und gegen den Schmerz bei „gesundem Sinn“ entscheidet, bleibt eine gewagte Behauptung. Wir wollen sie mal etwas abmildern und annehmen, dass der Künstler eine größere Zahl seiner Mitmenschen befragte und immer diese oder eine ähnliche Antwort bekam: „Um Himmels willen, nein! Wahnsinn? Bloß das nicht. Dann lieber Schmerzen ertragen!“

Ein solches Antwortverhalten scheint mir sogar glaubhaft und plausibel, weil ich weiß, dass die volkstümlichen Ansichten über den ,Wahnsinn‘ wilde Blüten treiben. Und grundsätzlich ist ja die Angst vor etwas Unbekanntem immer größer als die vor dem Vertrauten. Schmerz hat jeder schon einmal erfahren, Wahnsinn hingegen kennen die meisten Menschen nur vom Hörensagen oder jedenfalls doch nur ,von außen‘, nicht aus eigenem, innerem Erleben.

Der leere Stuhl steht vielleicht für den Platz, der reserviert wurde für jenen Menschen, der den Wahnsinn seinen Schmerzen vorzieht; und den es nicht geben soll, weshalb der Stuhl ewig leer bleibt. Ich weiß aber von Krebskranken, die dort Platz genommen haben, indem sie sich durch starke Morphingaben ihrer gesunden Sinne berauben ließen bis zur Bewusstlosigkeit. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich in ähnlicher Lage ebenfalls dort Platz nähme, statt vor Schmerz zu rasen.

Vor dem Fressen die Moral?

Wednesday, 02. February 2011

duvealbathheidbrink

Das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) und die Buchhandlung proust hatten im Rahmen ihrer erfolgreichen Veranstaltungsreihe „Lesart Spezial“ eingeladen, um uns den Appetit zu verderben. Im Café Central des Essener Grillo-Theaters, wo der letzte Gastronom schon in vorauseilendem Gehorsam das Feld geräumt hat und lediglich eine Art Notverpflegung über die Theke gereicht werden konnte, diskutierten gestern Abend die Autorin Karen Duve (links) und der Kulturwissenschaftler Prof. Ludger Heidbrink (rechts) über „Die Hungrigen und die Satten – Ernährung in der globalisierten Welt“. Maike Albath (in der Mitte) moderierte das Gespräch für Deutschlandradio Kultur, der Sender bringt eine Aufzeichnung der Veranstaltung am kommenden Sonntag von 12:30 Uhr bis 13:00 Uhr.

Karen Duve ist mit ihrem Bestseller Anständig essen zurzeit in aller Munde (Aufl. 60.000), bis vor wenigen Tagen tourte sie mit Jonathan Safran Foer durchs Land, der mit Tiere essen vor zwei Jahren die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit unserer Ernährungsgewohnheiten mit besonderer Nachdrücklichkeit neu gestellt hat (Aufl. 150.000). Beiden Autoren ist gemein, dass sie einen starken subjektiven Faktor ins Spiel bringen. Foer erzählt sehr schmackhaft von den Festschmaustraditionen seines jüdischen Elternhauses und berichtet von seinen brandgefährlichen nächtlichen Inspektionen in den hermetisch abgeriegelten und scharf bewachten Betrieben der Massentierschinder. Und Karen Duve hat am eigenen Leibe ausprobiert, was Verzicht heißt, indem sie sich für jeweils ein Vierteljahr konsequent biologisch, vegetarisch, vegan und schließlich gar fructarisch ernährt hat. Beide Autoren stimmen grundsätzlich darin überein, dass die Lebensmittelproduktion in den westlichen Industrienationen zu einem guten Teil das Ergebnis krimineller Machenschaften ist, ob man die massenhafte, industriell betriebene Tierquälerei in den Blick nimmt, die Verschwendung nicht erneuerbarer Ressourcen oder die irreversible Störung ökologischer Balancen mit katastrophalen Folgen für die gesamte Biosphäre – und damit notwendig auch für den Menschen.

Statt Foer saß gestern Heidbrink auf dem Podium und stellte ein wirtschaftspolitisches Buch zum Thema vor: Mordshunger – Wer profitiert vom Elend der armen Länder? von dem luxemburgischen Diplomaten Jean Feyder. Schon bei dem Duo Duve / Foer fiel mir auf, dass die weitgehende Einhelligkeit ihrer Standpunkte eher einschläfernd als anregend wirkte (siehe deren Doppelinterview „Die Fleischindustrie zerstört diesen Planeten“; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 22 v. 28. Januar 2011, S. 9). Auch vom Zusammentreffen zwischen Heidbrink und Duve ist mir nicht die kleinste wahrnehmbare Meinungsverschiedenheit in Erinnerung geblieben.

Diese schon wieder etwas beunruhigende Harmonie wurde nahezu penetrant, nachdem das Aufnahmegerät des Rundfunksenders abgeschaltet worden war und das Publikum eingeladen wurde, Fragen zu stellen und Stellung zu nehmen. Auch jetzt trübte keine Kontroverse die Stimmung, wie sollte auch? Schließlich war hier exklusiv die intelligente und gebildete Upperclass vertreten, die ja längst verstanden hat, dass nach der Rauchentwöhnung nun der Verzicht auf gewisse delikate Schweinereien angesagt ist, wenn man sich nicht dem Druck des neuen ethischen Mainstreams aussetzen will. Dass diese Gruppe der freiwilligen „Gutesser“ voraussichtlich eine Minderheit bleiben wird und die Junkfood-süchtige Masse die ganze Diskussion mangels Bildung kaum mitbekommen dürfte, wurde zwar angesprochen. Aber nun wurde sehr deutlich, wie fremd doch den versammelten Herrschaften die Lebenswirklichkeit von Hartz-IV-Empfängern im heutigen Deutschland ist. Diese Elenden tauchten nur kurz als gedankenlosen Tröpfe auf, die täglich drei Koteletts essen und sich um das Leid der Tiere einen Teufel scheren. Dass Übergewichtigkeit durch billige und schlechte Ernährung in den unteren Bevölkerungsschichten deutlich mehr verbreitet ist als bei den Wohlhabenden und Gebildeten, dürfte aber wohl eher eine Frage des Geldbeutels sein als des guten Willens und der Vernunft. Was tun? So lautete die drängendste Frage aus dem Publikum, das nach den immer etwas halbherzig und verquält klingenden Ratschlägen der Experten auch mit eigenen Ideen aufwarten wollte. Eine Auszeichnungspflicht für Lebensmittel müsse es geben, die den Verbraucher über Herkunft, Herstellungs- und Verarbeitungsweise, Fremdzusätze usw. ausführlich unterrichte. Das habe doch beim Kampf gegen das Rauchen auch prima geklappt. Dass gerade unter den Ärmsten in unserer Gesellschaft nach wie vor besonders exzessiv gequalmt wird, Aufklärung allein also kaum eine Lösung sein kann, wurde immerhin leise zu bedenken gegeben. Nicht nur Fleisch und Fisch, unsere gesamte Verpflegung müsste deutlich verteuert werden, forderte eine Stimme. Dass sich dann bei 3,5 Millionen Menschen in Deutschland bald der Hunger zurückmelden dürfte, kam nicht zur Sprache. Stattdessen wurden der Zorn der Wutbürger gegen „Stuttgart 21“ und die magische Vorbildwirkung von aufgeklärten Peergroups beschworen; selbst eine Anknüpfung an die 68er wurde herbeigesehnt und stand offenbar plötzlich nicht mehr unter Kitschverdacht. Die nahe liegende Frage hingegen, was eigentlich geschieht, wenn demnächst 1,3 Milliarden Chinesen täglich drei Koteletts essen wollen, wurde nicht gestellt.

Die Beunruhigung über das Problem war immerhin spürbar, und auch die Hilflosigkeit. Einen sehr aufschlussreichen Satz von Karen Duve habe ich mit auf den Heimweg genommen. Er bezieht sich auf Bücher, die solche Weltprobleme unbarmherzig darstellen. „Wenn man so etwas liest und sich immer schlechter dabei fühlt, dann lässt man es irgendwann sein.“ Die Autorin erklärte damit wohl, warum sie in ihrem Buch stets auch nach den kleinen Verbesserungen gesucht hat, statt darüber zu verzweifeln, dass eine globale Kehrtwende kaum möglich scheint. Hiermit ist auch meine Stimmung nach der Veranstaltung gut beschrieben. Dafür, dass es um eine weltweite grauenhafte Katastrophe ging, fand ich die Veranstaltung doch ausgesprochen gemütlich: sympathische Diskutanten, ein gebildetes Publikum und kein einziges böses Wort! – Zum Abschied empfahlen die beiden Diskutanten noch passende Lektüre zur Vertiefung des Themas. Professor Heidbrink riet zu John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness; und Karen Duve empfahl ein Buch von Mark Rowlands: Der Philosoph und der Wolf. – Hungrig wie ein Wolf trottete ich heimwärts durch die überfrierende Nässe und machte mir ein Gulaschsüppchen aus der Büchse von ALDI heiß.

Loveparade 2007

Tuesday, 01. February 2011

loveparade07

Aschersonntag, 26. August 2007. – Im Windschatten der Bahnsteigkante im Essener Hauptbahnhof staut sich die letzte Spur des Mega-Events [siehe Titelbild]. Ansonsten hat die Stadtreinigung ganze Arbeit geleistet. Das City-Center glänzt wie geleckt, auf der Kettwiger Straße knirscht zwar alle paar Schritte noch ein vereinzelter Glassplitter unterm Schuh – aber sonst deutet nichts mehr darauf hin, dass hier gestern geschätzte 1,2 Millionen Partygäste auf engstem Raum die erste Loveparade in der Metropole Ruhr feierten. Es ist noch einmal gut gegangen.

Als Dr. Motte and Friends am 1. Juli 1989 spontan auf dem Kurfürstendamm der noch geteilten Stadt Berlin die erste Loveparade veranstalteten, war dies eine ordnungsgemäß angemeldete politische Demonstration, unter der Parole: „Friede Freude Eierkuchen“. Die ca. 150 Technofans, die die Geburtsstunde dieses später so überaus erfolgreichen Tanzvergnügens unter freiem Himmel miterleben durften, erinnern sich heute nur noch an ein unverhältnismäßig großes Polizeiaufgebot – und an das schlechte Wetter. Danach verdoppelte sich die Zahl der Partygäste von Jahr zu Jahr. Und wer die Geschichte von der Erfindung des Schachspiels kennt und weiß, welche Folgen es hat, wenn man auf jedes Feld des schwarzweißen Brettes doppelt soviele Reiskörner legt wie auf das jeweils vorhergehende, der kann leicht den Schluss ziehen, dass diese Dynamik nur mit einer Katastrophe enden kann – wenn der indische Herrscher Shihram, der das leichtfertige Versprechen gemacht hat, dieser verhängnisvollen Entwicklung keinen Riegel vorschiebt und die Exponentialkurve rechtzeitig mit einem Machtwort abbricht. Der Senat der Stadt Berlin war weiser als Shihram und hat die Verhandlungen mit Dr. Mottes Nachfolger, dem Muckibuden-Millionär Rainer Schaller, im Sande verlaufen lassen. Danach stellte sich die Frage: Wie heißt die europäische Großstadt oder Region, deren Minderwertigkeitskomplex so groß ist, dass sie meint es nötig zu haben, ihren Anspruch als Kulturmetropole ausgerechnet mit diesem hypertrophen Massenauflauf in Wodka-Gorbatschow-Soße beweisen zu müssen? Erraten: Es war die Kulturhauptstadt Europas 2010, die nun vier weitere Jahre vertraglich verpflichtet ist, für ein Wochenende – in Dortmund, Bochum, Duisburg und Gelsenkirchen – einen enormen logistischen, verkehrstechnischen, notfallmedizinischen und sanitären Aufwand zu betreiben, damit uns eine Million und mehr junge Leute demonstrieren können, was sie unter Kultur verstehen: nämlich Komasaufen, Flaschenzerdeppern und Grölen.

Wenn die UNESCO erwägt, Städten wie Köln oder Dresden den Status des Weltkulturerbes für den Dom bzw. das Elbtal abzuerkennen, wegen eines Hochhauses bzw. einer Brücke, die nicht ins Bild passen, dann ist es mindestens so berechtigt, wenn die Europäische Kommission Essen & Co. augenblicklich auf die Rote Liste setzt und anmahnt: Noch eine solche Entgleisung, und ihr könnt auf Zollverein in drei Jahren die Lichter löschen! Ich würde mich hier nicht so sehr ereifern, wenn Schaller auf seiner Website nicht ausdrücklich den Zusammenhang zur Kulturhauptstadt 2010 herstellte: „Die Stadt Essen hat dabei die einmalige Möglichkeit, sich und die gesamte Metropole Ruhr würdig zu vertreten und zu zeigen, dass sie zu Recht Kulturhauptstadt Europas 2010 ist.“ Dieser Blödsinn findet sich in einem Appell an die „lieben Anwohnerinnen und Anwohner der Essener Innenstadt“, damit auch die, um den Nachtschlaf gebracht, endlich begreifen, was unter Kultur zu verstehen ist und dass man dafür schon mal ein Opfer bringen muss. Die Ideale der frühen Loveparade-Umzüge sind schon längst auf der Strecke geblieben: „Dr. Motte wollte nicht nur, dass die Teilnehmer tanzten, sondern dass sie zu aktiven Teilnehmern einer ,Tanzbewegung‘ wurden. Er wollte, dass ,Harmonie durch Musik‘ entsteht, er wollte Freiräume entstehen lassen durch nonverbale Kommunikation, er sprach von Liebe und Respekt, von der Vielfalt der Tanzmusik und wünschte am Ende der immer kurzen Ansprache eine schöne Party.“ (Wikipedia.) Selbst zum bloßen Tanzen war in diesem Pferch in Essen gar kein Platz – und erst recht bietet eine solche Veranstaltung keine Möglichkeit, Freiräume entstehen zu lassen. Es geht nur noch um den Rekord, die größte Party der Welt zu sein – und um den Zaster, den ein solcher Rekord einfährt.

Warum will jeder dabeisein, wenn 1,2 Millionen Raver sich in einem Sperrbezirk die Beine in den Bauch stehen und der überwiegende Teil von ihnen vom „eigentlichen Geschehen“ nichts mitbekommen? Mit der gleichen Berechtigung könnte man den ostdeutschen Geflügelmastbetrieb zum Mega-Event erklären, in dem pro Jahr 1,2 Millionen Hühner maschinell geschlachtet, gerupft, ausgenommen, von Knochen bereinigt und zu kleinteiligen Fleischstückchen zerhäckselt werden, als Beifügung zu den Dosensuppen eines gut notierten Lebensmittelherstellers. Der erhebt aber immerhin nicht Anspruch darauf, einen Beitrag zur Kultur zu leisten. Bei der 1997er-Loveparade klagte ein Rechtsanwalt im Namen seiner Mandanten, Eltern eines Kleinkinds, vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen die Lärmbelästigung, weil dieser junge Erdenbürger durch die laute Technomusik im Schlaf gestört werden könnte. Und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND) machte auf dem Klageweg geltend, dass geschützte Vogelarten im Tiergarten, ebenfalls durch das technische Getöse aus den Boxen, beim Nisten gestört werden und ihre Brut im Stich lassen. Solche donquijotesken Kämpfer gegen Windmühlenflügel haben meine ganze Sympathie. Und ich bedaure die Chirurgen in Essen und Umgebung, die die vergangene Nacht damit zubringen mussten, Schnittverletzungen durch Flaschenscherben zu nähen, weil die Organisatoren dieser tollen Party es nicht einmal auf die Reihe kriegen, die Mitnahme von Glasflaschen in den Sperrbezirk durch Polizeikontrollen an den Zugangsstellen zu unterbinden wie in Berlin.

– – –

Ein kurzes Schlusswort noch, nach der katastrophalen Loveparade 2010 in Duisburg. Ganz falsch kann ich damals mit meinen Vorbehalten gegen diesen Mega-Event im Revier nicht gelegen haben, wenngleich meine Kritik eher auf den kulturellen Tiefstand als auf die logistischen Risiken zielte. Ich bin aber keiner von der Sorte, die sich nach einem solchen mörderischen Desaster triumphierend die Hände reiben und darauf hinweisen, dass sie von Anfang an dagegen waren. Und darum verkneife ich mir auch, aus den teils beleidigenden Kommentaren zu zitieren, in denen ich mal als Satiriker missverstanden, mal als Hinterwäldler denunziert wurde. Davon wird schließlich keins der Opfer wieder lebendig.

[Dieses Posting erschien zuerst am 26. August 2007 bei Westropolis unter dem Titel Aschersonntag. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog geringfügig überarbeitet, ergänzt, gekürzt und korrigiert.]

Westropolis – ein Epilog (VI)

Tuesday, 01. February 2011

sinkendesschifffuenf

Wie lautete noch gleich meine vierte Frage? (Wir kommen ja langsam zum Schluss dieses Epilogs auf ein komisches Trauerspiel.) „Welche Schlüsse kann man aus den Erfahrungen mit dem ,Experiment‘ Westropolis für die Voraussetzungen einer erfolgreichen Kulturplattform für das Ruhrgebiet im Internet der Zukunft ziehen?“ – Ich würde diese Frage nach meinen bisherigen Reflexionen so nicht mehr stellen, denn erstens ist „Kulturplattform“ ein ungenauer Begriff; sagen wir doch lieber „Kulturblog“. Und zweitens müssten wir uns darüber verständigen, woran wir den Erfolg messen wollen.

Was DerWesten unter seinem Karteikartenreiter „Kultur“ an Bildern und Texten ablegt, sortiert in die Sparten Film, Fernsehen, Musik, Bühne, Ausstellungen, Bücher, Wochenende, Events aktuell und TV-Programme, das kann man allerdings als „Kulturplattform“ bezeichnen, mit der Betonung auf „platt“. Ein Weblog, das zu sein Westropolis nicht ganz ohne Recht vorgab, ist dieser Gemischtwarenladen jedenfalls nicht mehr. Überdies sind die Schwächen, die ich schon am Experiment Westropolis aufgezeigt habe, noch einmal vertieft worden. Die konfuse Systematik der Website unterscheidet zwar zwischen „Fernsehen“ und „TV-Programmen“, schmeißt dafür aber andererseits alle Tonkunst von Oper bis Heavy Metal in einen Topf, wobei fraglich bleibt, ob dieser Topf mit „Musik“ oder „Bühne“ überschrieben ist. Und ein Profil als das kompetenteste Medium für die Revierkultur wird ebenfalls nicht erkennbar, wenn etwa bei „Literatur“ von John Updikes nachgelassenen Storys bis zu einem Hörbuch von Herbert Knebel alles verwurstet wird, was den WAZ-Redakteuren zufällig auf den Schreibtisch flattert oder plumpst. Und was drittens den Schreibstil der Autoren betrifft, so herrscht farbloses Mittelmaß vor, mit häufigen Ausrutschern nach unten und seltenen Ausreißern nach oben. – Ob diese Kulturplattform der konkurrenzlos beherrschenden Mediengruppe im Ruhrgebiet, als ein besch…eidener Teil ihres Internetauftritts, Erfolg hat, ist schwer zu sagen. Bei mir hat sie keinen, ich lese das nicht. Und der Rest der Welt? Man müsste die Klickzahlen kennen, aber differenziert nach den Hauptthemen. Nicht umsonst stehen ja die politischen Topnews auf der Startseite, einen Klick weiter folgen zunächst einmal „Lokales“ und „Sport“. Erst dann kommt die „Kultur“ an die Reihe – und nach ihr nur noch „Leben“, „Videos“ und „Spiele“. (Mal nebenbei: Was ist das für eine kuriose Ordnung vermeintlicher Humaninteressen?) Jedenfalls kann man mir den Verdacht nicht ausreden, dass hier die „Kultur“ bloß notgedrungen, zähneknirschend geduldet wird, wie die schreckliche Tante, die man leider auf alle Familienfeste einladen muss, wegen der Erbschaft. Man weist ihr ein Plätzchen im hintersten Eck zu und gibt ihr das kleinste Stückchen Torte. Und wie sehr sehnt man Tantchens Ableben herbei!

Ein Kultur-Weblog für das Revier müsste sich von dieser ungeliebten alten Schachtel ungefähr so unterscheiden wie Jean Seberg als Patricia Franchini in Godards À bout de souffle von Bette Davis als Jane Hudson in What Ever Happened to Baby Jane. Ein solches Blog müsste klug und schlank sein, geradlinig und ehrlich, beweglich und klar.

Ein paar präzise Regeln wären unumgänglich. Kultur im Revier bedeutet was es sagt und nichts darüber hinaus. Bücher zum Beispiel werden nur besprochen, wenn sie eine thematische Beziehung zum Revier haben; allenfalls noch, wenn die Autoren von hier stammen. Ausstellungen in Museen und Galerien und die Bühnenprogramme der Musiktheater und Schauspielhäuser im Ruhrgebiet sollten so frühzeitig gewürdigt werden wie möglich. Einmalige Events kann man vergessen, denn was nützt eine lobende Kritik dem Leser, wenn er keine Möglichkeit mehr hat, in den gleichen Genuss zu kommen. Im Bereich Kulturpolitik bin ich wenig beschlagen, aber gerade da könnte ein kluger Kopf mit spitzer Zunge sicher für große Aufmerksamkeit sorgen. Und dann gibt ’s ja noch das weite Feld der Alltagskultur. Hier könnte ein gutes Kulturblog sogar  Neuland betreten. Wie aufregend könnte es sein, die Einkaufsstraßen des Reviers kritisch unter die Lupe zu nehmen und zu vergleichen? Restaurants nicht nur nach der Speisekarte zu beurteilen, sondern nach der Atmosphäre und dem Publikum? Wer schreibt einen episodischen Reiseführer über die Wochenmärkte an der Ruhr? Und die Flaniermöglichkeiten in Stadtlandschaft und Natur lechzen geradezu nach der Erkundung durch einen scharfsichtigen Naiven. Selbst eine Würdigung architektonischer Auffälligkeiten in lockerer Folge könnte lesenswert sein, wenn der Blickwinkel ein anderer wäre als der von schlaumeiernden Bauhistorikern.

Vielleicht könnte man mit einer Truppe von sechs bis zwölf wirklich guten Schreibern an verschiedenen Standorten im Revier ein solches Projekt auf die Beine stellen. Pro Tag müssten zunächst nicht mehr als zwei, drei Beiträge erscheinen. Die meisten Webseiten schrecken ja durch eine Überfülle von Inhalten ab. (Auch was das betrifft ist DerWesten ein schlechtes Vorbild.) Gute Weblogs sind da oft schon ein  Stück weiter, und sei ’s weil die Blogger, die als Einzelkämpfer kaum mehr als ein Posting täglich absetzen können, aus der Not eine Tugend machen. – Wenn schließlich noch die Kommentarfunktion des Blogs von kompetenten Lesern genutzt würde, die Berichterstattung und Kritik der Autoren durch gut begründete abweichende Meinungen zu bereichern, dann könnte man wohl von einem Erfolg sprechen, der den Aufwand lohnte. Aber ist das ein realistischer Plan?

[Zur letzten Folge der Serie. – Zurück zum Anfang der Serie.]

Ohne Worte (I)

Monday, 31. January 2011

gefaellterbaum

Filmkritik (II)

Monday, 31. January 2011

anotheryear

Gestern seit langer Zeit mal wieder mit meiner Gefährtin im Kino gewesen, natürlich in einem der Lichtspielhäuser von Marianne Menze und Hanns-Peter Hüster, dem Astra-Theater in der Teichstraße ganz nah beim Hauptbahnhof. Sonst gibt es in Essen ja nur noch das CinamaxX am Limbecker Platz, aber dort hat man das Gefühl, dass der Zutritt von über 40 Jahre alten Personen nur so gerade noch geduldet wird. Außerdem zerstört die Anonymität dieser Massenabfertigungsfirma noch den schönsten Filmgenuss.

Was das Alter der Besucher betrifft, gehörten wir diesmal allerdings zu den jüngsten. Gezeigt wurde der neue Film von Mike Leigh, Another Year. Die Entscheidung für diese Londoner Tragikomödie fiel erst nach einigem Hin und Her. Ich kannte den Regisseur nur vom Hörensagen, hatte seine Komödie Happy-Go-Lucky rühmen hören und ihn dann wieder aus dem Blick verloren. Ein erster Hinweis auf den neuen Film klang nach gehobenem Klamauk, nach einem Trommelfeuer krasser Pointen. Aber als ich den Trailer anschaute, entsprach er dieser Erwartung so gar nicht, da war kein einziger Schenkelklopfer zu verbuchen. Doch dann hörte ich am Donnerstag im Deutschlandradio eine Kritik von Rüdiger Suchsland, die mich belehrte, dass die Qualitäten des Films wohl ganz woanders zu suchen seien als bei unbeschwerter Lustigkeit. Diese Ankündigung sollte sich als nur zu treffend erweisen. Glücklicherweise befinde ich mich gegenwärtig nicht in einem Stimmungstief, sonst hätte ich Another Year vermutlich nicht so sehr genießen können. Menschen mit einer vorzeitigen Frühjahrsdepression rate ich vom Besuch ab!

Worum geht es? Um ein erstaunlich glückliches Ehepaar Anfang 60, den Geologen Tom (Jim Broadbent) und seine Frau, die Psychologin Gerri (Ruth Sheen), deren gemütliches Heim zur Zufluchtstätte für eine Reihe sehr verschiedener, aber durchweg weniger glücklicher Mitmenschen geworden ist – von ihrem einzigen Kind, dem Rechtsanwalt Joe (Oliver Maltman), der mit 30 noch immer nicht unter der Haube ist; über Toms Jugendfreund Ken (Peter Weight), der an Fresssucht und Alkoholismus leidet und zunehmend vereinsamt; bis hin zu Gerris Arbeitskollegin Mary (grandios: Lesley Manville), die erst in der Schlusseinstellung ins katastrophische Epizentrum dieses erstaunlichen Films gesetzt wird. Mehr will ich nicht verraten, nur ein paar der außergewöhnlichen Qualitäten von Another Year aufzählen.

Die Kameraführung von Dick Pope, mit dem Leigh nun schon seit zwanzig Jahren zusammenarbeitet, ist meisterlich. Einem jungen Kinoneuling würde ich neben fünf, sechs anderen diesen Film zeigen, um ihm die Bedeutung der Kameraarbeit für das Gesamtergebnis zu demonstrieren. Schon die Eingangssequenz in Gerris Sprechzimmer verschlägt einem die Sprache, wenn wir das rastlose, süchtige, zerquälte Antlitz einer Patientin in schmerzhafter Unmittelbarkeit ertragen müssen. Solche Bilder werden uns im Amüsierkino von heute nicht mehr oft zugemutet. Und auch der Schnitt von Tom Gregory fällt postiv auf, wenn bei einigen Einstellungen der Blick auf den Punkt genau jenen Momente länger auf einem Bild ruht, der uns aufmerken lässt. Ob die Dreharbeiten genau ein Jahr gedauert haben? Es scheint fast so, denn die vier Teile des Films, mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter untertitelt, zeigen uns den Schrebergarten des Ehepaares im jeweils zur Jahreszeit passenden Erscheinungsbild. Ich kann nicht glauben, dass Leigh solche Naturbilder von einem Outdoor-Kulissenschieber nachbauen lässt. Das würde schlecht passen zu einem Regisseur, der ohne Drehbuch auskommt und so eine Authentizität erzeugt, die uns vergessen lässt, auf eine Leinwand zu schauen und nicht ins wirkliche Leben.

Vielleicht vierzig Zuschauer genossen mit uns diesen herrlich kompromisslosen Film in dem mit seinen 432 Plätzen größten Filmkunst-Theater Deutschlands; mehr nicht. Gut, es war die Nachmittagsvorführung, aber immerhin an einem kalten und trüben Sonntagnachmittag, an dem einem unternehmungslustigen Städter viel mehr nicht einfällt, als ins Kino zu gehen. Solche Beobachtungen lassen mich immer wieder erschrecken. Wie lange wird es Kino von solcher Qualität in unseren Großstädten noch geben?

Ostware in Kommission

Saturday, 29. January 2011

hochiminh

Gestern habe ich einen kleinen, ausgewählten Buchbestand in Kommission für mein Versandantiquariat übernommen, aus der Bibliothek eines DDR-Autors und seiner Ehefrau, die im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung in den Westen übersiedelten. Es sind insgesamt 120 Titel, darunter einige mehrbändige Werke, nach Büchern gezählt 135 Stück, größtenteils aus den volkseigenen Verlagen des gescheiterten und vergangenen sozialistischen Staats- und Wirtschaftsexperiments. (Sie werden bei mir die Artikel-Nummern 1901 bis 2020 bekommen.)

Heute habe ich mir diese Ware mehrfach durch die Finger gleiten lassen, um ein Gefühl für sie zu entwickeln. Zwar kenne ich Bücher aus dem alten deutschen Osten ja schon längst und habe sie immer mal wieder, meist auf Flohmärkten, vereinzelt erworben, so etwa die schätzenswerten Klassiker-Bändchen aus der Sammlung Dieterich. Aber hier habe ich es nun mit einer geballten Ladung zu tun, fast drei Regalmeter, lauter Bücher, denen man den verwalteten Mangel vermutlich schon ansah, als sie noch nagelneu waren. Jetzt aber ist das schlechte Papier nachgedunkelt, oft gar noch unregelmäßig, weil verschiedene Qualitäten in einer Auflage vermischt wurden. Die Umschläge sind viel empfindlicher als die lackierten Hochglanzhüllen auf schwerem, solidem Papier, die wir im Westen längst gewohnt sind, und entsprechend rissig, fleckig und abgegriffen. Wenn gar Klebebindung die sonst erfreulich lange vorherrschende Fadenheftung ablöst, ist sie noch weniger haltbar als unser Lumbeck.

Das kann man bei den Paperbacks der so liebevoll gestalteten Reihe Lyrik international bei Volk und Welt studieren, die schon drei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen aus dem Leim gehen. Fürsorglich wurden die empfindlichen weißen Kartonbände zum Schutz in hauchdünne Pergamentpapierhüllen eingeschlagen. Aber die sehen vielleicht aus! Es ist ein Trauerspiel, wie lumpig die vielfach inhaltlich und formal doch so ambitionierten Editionen rein äußerlich in die Welt geschickt wurden; besser: geschickt werden mussten, weil es auch hier wenn nicht an allem, so doch an den geeigneten Produktionsmitteln und -techniken haperte. (Faiererweise will ich aber nicht verschweigen, dass auch das kapitalistische Verlagswesen, dem diese durchaus zur Verfügung stehen, grauenhaft schlecht gemachte Bücher auf den Massenmarkt wirft. Man denke nur an anglo-amerikanische Pocketbooks! Und auch die französischen Livres de poche sind selten besser.)

In den kommenden Tagen wird also meine Hauptbeschäftigung die Erfassung dieser Bücher für mein Antiquariatsangebot bei ZVAB sein. Dann werde ich beim zweiten, intimeren Blick nicht nur auf, sondern auch in diese Bücher gewiss manche Anregung empfangen. Und vielleicht, wer weiß, wird ja sogar der eine oder andere unerwartete Artikel für dieses Weblog aus der Begegnung?

Einstweilen ein Vierzeiler von Ho chi Minh: „Im Schlaf ist jedes Angesicht ehrlich und rein. | Das Wachsein teilt uns erst in Gut und Böse ein. | Ach, gut und böse – keinem angeboren. Nur: | Schuld ist vor allem die Erziehung – nicht Natur.“ (Gefängnistagebuch. Aus dem Chines. übertr. von Erhard u. Helga Scherner. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1976, S. 92. – Das Titelbild entnahm ich dem Einband dieser Broschur, entworfen v. Horst Hussel u. Lothar Reher.)

Heinrich Funke: Das Testament (X)

Thursday, 27. January 2011

Heinrich Funke Das Testament (X)

,Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.‘ So lautet ein altes deutsches Sprichwort. Seine Bedeutung kommt auch in den Redensarten anderer Sprachen zum Ausdruck, so etwa im Englischen: ‘What the eye does not see, the heart does not grieve over.’ Nicht erst heute weiß man offenbar den beruhigenden Effekt der Unwissenheit durchaus zu schätzen.

Wenn sich Menschen weigern, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, der Wahrheit nachzuforschen, Wissen anzusammeln, zu fragen, zu lernen und zu begreifen, dann hat das vielfältige Gründe; und die schlichte Bequemlichkeit ist unter ihnen nicht der geringste. Aber auch die Scheu vor den Unannehmlichkeiten, welche unbequeme Wahrheiten bereiten können, trägt zum Tiefschlaf des Verstandes, der Vernunft, des Geistes bei. Das Herz will den Kummer nicht tragen, darum verschließen wir unsere Augen. Die braven deutschen Bürger von Weimar, die von nichts gewusst hatten, mussten von den Soldaten der Besatzungstruppen mit vorgehaltener Waffe gezwungen werden, die Leichenberge in Buchenwald anzuschauen.

Wissen zieht Verantwortung nach sich. Das ist ein weiterer Grund, warum viele das Glück der Unwissenheit so sehr zu schätzen wissen. Gut, dass es ,Diedaoben‘ gibt, die den Staat und die Wirtschaft lenken. Wenn es gut läuft, haben die Bürger einen ruhigen Schlaf. Wenn es schlecht läuft, ist ihre Ruhe zwar gestört, aber immerhin tragen sie keine Schuld an der Misere, denn sie verstehen nicht, wie es zu Krieg, Inflation, Hungersnot oder Epidemien hat kommen können. Wenn jemanden Schuld trifft, dann die ,Bescheidwisser‘, die es aber scheinbar auch nicht begreifen, jedenfalls sind ihre Erklärungen meist unverständlich oder widersprüchlich.

Die meisten Menschen lehnen sich lustvoll zurück in die alte selbstverschuldete Unmündigkeit. Der Glaube an höhere Mächte, die schon wissen was sie tun, ist allemal ein komfortablerer Begleiter durchs Leben mit all seinen Wechselfällen und Kümmernissen, als die kritische Vernunft mit ihren Privisorien und Irrtümern, die kaum Trost bietet, aber vielfache Verstörungen. Und wem sein Gottesglaube verdorben ist, der findet Ersatz bei anderen Allmächten. So ist das Weltbild der Naturwissenschaften für viele, die darauf schwören, ja nur ein neuer Glaube und kein kein erarbeitetes Wissen und ständiger Ansporn zu unbequemem Zweifel.

Nein, auf diesen schlichten Tisch unterm zunehmenden Mond muss ich mit der Faust schlagen und widersprechen: ,(Fast) alle wollen das Glück der Unwissenheit.‘

Gespenstische Nachricht?

Wednesday, 26. January 2011

blase8

Aus kaum einem anderen Anlass wird in unseren Zeitungen so viel heiße Luft in die Sprechblasen gepumpt wie im Todesfall prominenter Zeitgenossen. Wenn es einen jungen Menschen trifft oder wenn die Todesart ungewöhnlich ist, wird in den Redaktionsstuben fieberhaft nach dem passenden Adjektiv gesucht, das den Schmerz und die Verstörung der Menschen draußen im Lande angemessen auf den Begriff bringt.

Wenn uns im wahren Leben ein Verlust mitten ins Herz trifft, wenn wir fassungslos nach Atem ringen und uns die Tränen in die Augen steigen – dann verschlägt es uns die Worte und wir sind jeder Verbalisierungsnot gnädig enthoben. Diese Zurückhaltung im sprachlichen Umgang mit dem Werk des erbarmungslosen Schnitters können sich die bedauernswerten Presseschreiber naturgemäß nicht leisten.

Dass der Tod alle gleich macht, war schon das Thema der barocken Totentänze. Bevor diese totale Nivellierung durch Fäulnis und Vergessen eintritt, müssen aber die Unterschiede im aktiven Leben noch einmal abschließend in Erinnerung gerufen werden. Die traditionellen Schaubühnen dieser Abschiedsprozedur in der Zeitung sind die (bezahlte) Todesanzeige und der (kostenlose) Nachruf.

Hat eine Person des öffentlichen Lebens ihren eigenen Nachruhm überlebt, dann erreicht die Nachricht ihres Todes gelegentlich die Öffentlichkeit mit unziemlicher Verzögerung; so im Falle des am 13 Januar im Alter von 87 Jahren verstorbenen Lederstrumpf-Darstellers Hellmut Lange, dessen Tod die Süddeutsche erst gestern meldete. Um Lange war es schon lange still geworden, er war ohnehin ein ,eher zurückhaltender Typ‘, der ,kein großes Wesen um sich machte‘. Und als bekannt wurde, dass er an Altzheimer erkrankt war, verzichteten die Medien gnädig darauf, ihn und seine Angehörigen weiter zu belästigen. – Anders verhält es sich mit dem vorgestern bei einem Abendessen mit Freunden im Kreise seiner Familie ,plötzlich und unerwartet‘ verstorbenen Filmproduzenten Bernd Eichinger. Der war erst 61, stand ,mitten im Leben‘, hatte noch viele Pläne, ein Mann ,in den besten Jahren‘ und, nach allem was man so wusste, ,gesund und munter‘. Und dann, sozusagen ,aus heiterm Himmel‘, aus und vorbei! Herzinfarkt!

Das ist dann schon ein Fall für Die Seite drei. Natürlich liegt der Nachruf längst parat, wurde in regelmäßigen Intervallen auf den neuesten Stand gebracht. Und der Text geht auch angemessen ins Detail, das versteht sich ja bei einer in München, am Hauptwirkungsort des Verstorbenen erscheinenden Zeitung. Bloß der Titel fehlt noch: „Ich hatte einen Traum“ – das passt doch gut zu einem Manager der Traumfabrik Film. Der letzte Absatz, knapp und knackig, ist schnell daruntergesetzt: „,Der Bernd‘, wie sie ihn hier in München nennen, starb im Freundes- und Familienkreis. Er wurde 61 Jahre alt.“ Und nun noch der leidig-längliche Untertitel. Dass das noch sein muss! (Ich höre das Stöhnen des Schlussredakteurs, als säße ich neben ihm.) Aber es wäre doch gelacht, wenn einem dazu nicht auch noch was einfiele: „Am Dienstag erreicht eine schreckliche Nachricht München: Bernd Eichinger ist bei einem Essen in Los Angeles einem Herzinfark erlegen. Der deutsche Film verliert einen Mann, an dem man sich reiben konnte. Und den einzigen Produzenten von Weltrang. Er wurde nur 61 Jahre alt.“ Kann man das so stehen lassen? Ist doch ganz gut, oder? Bis auf die ,schreckliche Nachricht‘. Das klingt vielleicht doch etwas zu alarmistisch. Was soll man stattdessen schreiben? ,Bittere Nachricht‘? ,Traurige Nachricht‘? ,Verstörende Nachricht‘? Nee, das ist alles nichts. Und dann hat der einsame Mann diesen Geistesblitz: „Am Dienstag erreicht eine gespenstische [!] Nachricht München.“ (Tobias Kniebe: Ich hatte einen Traum; in: SZ Nr. 20 v. 26. Januar 2011, S. 3.) – Ein bitteres, trauriges, verstörendes Beispiel, zu welchen Entgleisungen die krampfhafte Suche nach Wirkungssteigerung in der Tagespresse führen kann.

Westropolis – ein Epilog (V)

Tuesday, 25. January 2011

sinkendesschiffvier

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien mit Westropolis eine ganze Reihe guter Chancen verpatzt und vertan worden – sei ’s aus Mutwillen, sei ’s aus Trägheit, sei ’s aus Unfähigkeit. Aber vielleicht geht man schon von falschen Voraussetzungen aus, wenn man überhaupt nur den ernsthaften Willen unterstellt, aus diesem „Pilotprojekt“ einen soliden  Langstreckenflieger zu machen. Nach meinen Erfahrungen sind innovative Projekte in großen Unternehmen in einem Maße von „weichen“ Faktoren und Komponenten abhängig, wie es sich der ahnungslose Beobachter nicht träumen lässt. In Wahrheit ist ja der vielfach belästerte „grüne Tisch“ viel besser als sein Ruf. Es wäre gar nicht das Schlechteste, wenn sich die Projektmanager bei ihrer Entscheidungsfindung von abstarkten Überlegungen bestimmen ließen. Dann würden sich die Ergebnisse in der Umsetzung zwar auch noch als fehlerbehaftet erweisen und dieser oder jener Nachbesserung bedürfen. Aber bei der gängigen Praxis, wo Beziehungen, Freundschaften, Neigungen und Emotionen etwa bei den so wichtigen Personalentscheidungen den Ausschlag geben, darf man sich nicht wundern, wenn im Garten lauter Böcke wüten. Ich werde jetzt nicht der Versuchung erliegen, hier auch nur einen einzigen Namen zu nennen – soviel nur: Mit dieser Besetzung konnte das Stück nicht reüssieren.

Ich mache jetzt mal einen weiten Sprung in die Gegenwart und frage: Was ist denn nun eigentlich aus dem Projekt „Kultur online bei der WAZ-Mediengruppe“ geworden? Eine ganz gewöhnliche Sparte in einem ganz gewöhnlichen Zeitungs-Internetportal. Wer macht ’s, wer schreibt ’s? Die ganz gewöhnlichen Print-Redakteure. Oder, noch simpler und billiger: Es erscheinen dort die ganz gewöhnlichen Printartikel, die von einer Internet-Redaktion technisch angepasst und online gestellt werden. Man fragt sich natürlich auch hier wieder: Was hat denn die Zeitung davon, wenn jeder Leser sein Abo kündigen kann, weil er die Inhalte kostenlos auf seinen Monitor geliefert bekommt? Nun gut, er tut ’s mehrheitlich noch nicht, weil Zeitunglesen am Frühstückstisch gemütlicher ist und er es hasst, wenn ihm die Brötchenkrümel in die Tastatur fallen. Aber das ist doch wohl eine reichlich anämische Begründung, oder? Also fällt mir nichts anderes dazu ein als die alte Leier: „Die Zeitung online stellen? Jeder macht ’s, also können wir nicht davon abstehen – und wer weiß, was die Zukunft bringt!“

Nun ist ja das, was manche Blogger seit ein paar Jahren im Web vorführen, in mehrfacher Hinsicht anders als das Ged®uckte in einer Zeitung. Die Inhalte präsentieren sich oft direkter, freier, unbefangener, frecher, rücksichtsloser. Gute Weblogs wirken unverbraucht, experimentierfreudig und in gewisser Weise auch herrlich unschuldig. Zuallererst aber bekommt man als Leser den Eindruck, Zeuge der Gedanken und Gefühle eines leibhaftigen Menschen zu werden, der glaubwürdig vorgibt, sein „Geschäft“ aus Überzeugung, gar Leidenschaft zu betreiben. (Wenn diese Glaubwürdigkeit sich zugegebenermaßen vor allem dem Nebeneffekt verdankt, dass Blogger gewöhnlich kein Geld mit diesem „Geschäft“ verdienen, so ist dies nur eine weitere zu den vielen Ungerechtigkeiten in unserer bösen Welt.) Nun wäre es zweifellos wenig sinnvoll, die Berichterstattung über den Weltklimagipfel allein Bloggern zu übertragen, die ihre ganz persönlichen Bauchgefühle in alle Welt schicken und keine Lust haben, sich mit den trockenen Zahlen, Daten, Fakten zu beschäftigen. Wenn es aber um Zustände und Ereignisse in unserem unmittelbaren Lebensumfeld geht, in unserem Stadtteil etwa oder in unserem Unternehmen, dann hat der Blogger den Vorteil der Nähe und Betroffenheit. Und bei der Kulturkritik kommt ja noch hinzu, dass es hier eben am allerwenigsten um Zahlen, Daten und Fakten geht, sondern um Empfindungen und Meinungen, um Genuss und Geschmack. Was eignete sich also besser zur Darstellung durch Blogger als das regionale kulturelle Geschehen?

Aus Sicht der Zeitung haben Blogger ein paar Vorzüge gegenüber den klassischen, fest angestellten Redakteuren. Sie sind billiger, im Idealfall arbeiten sie sogar für lau. Sie brauchen keine Büros und kein technisches Equipment, denn sie arbeiten daheim am eigenen PC. Ihre Honorierung erfolgt nicht auf Stundenbasis, sondern nach Lieferumfang. Und vor allem kann man sich jederzeit wieder von ihnen trennen, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. – Dagegen stehen allerdings auch allerlei Nachteile. Blogger lassen sich nicht zensieren oder sonstwie reinreden. Sie schlagen öfter mal über die Stränge und schädigen so im schlimmsten Fall den Ruf der Zeitung. Man muss ständig auf der Hut sein, dass sie keine Urheberrechte verletzen, den Pressekodex missachten oder sonstwelchen kindischen Unfug treiben. Zudem sorgen sie für Unruhe in der Stamm-Mannschaft der fest angestellten Redakteure, besonders dann, wenn sie gleich gute oder gar bessere Ergebnisse für deutlich weniger Geld liefern. – Fazit: Echte Blogger haben auf Zeitungsseiten nichts zu suchen. (Es sei denn, sie geben alles auf, was ihr eigentliches Wesen ausmacht, wie etwa neuerdings Die Kolumnisten bei SPON.)

Wie kam es dann aber zu diesem insofern geradezu „utopischen“ Experiment der WAZ-Mediengruppe? Meine Erklärung hierfür ist ganz einfach. Als Katharina Borchert zum 1. August 2006 ihren Job als Online-Chefin im WAZ-Konzern antrat, gab es eigentlich nur zwei gute Gründe, die für sie als Stelleninhaberin einer solchen innovativen Schlüsselposition sprachen. Der erste Grund war einer jener „weichen“ Faktoren, siehe oben. Und der zweite Grund war der Erfolg ihres privaten Weblogs, Lyssas Lounge. Also war es nur zu verständlich, dass Borchert ihren Traum vom Zeitungs-Blog in den ersten Monaten an ihrem neuen Schreibtisch noch ein wenig weiterträumte. Als ich Ende April 2007 bei Westropolis aufkreuzte, hatte sie ihn wohl schon ausgeträumt, denn in meinen 16 Monaten als „Gastautor“ in diesem Haus gelang es mir trotz mehrfacher Versuche nie, auch nur einen Blick auf sie zu erhaschen, geschweige denn ein Wort mit ihr zu wechseln. Sie sei, so hieß es wiederholt auf meine Nachfrage, bis über beide Ohren mit der Arbeit an der „eigentlichen“ Website des Unternehmens beschäftigt. Offenbar hatte der Drache die Prinzessin längst mit Haut und Haaren verspeist.

[Zur nächsten Folge. –  Zurück zum Anfang der Serie.]

Kein koscheres Wort

Monday, 24. January 2011

measchearimamosschliak

Manche Bücher habe ich bloß gekauft und gelesen, weil ich beim Blättern in ihnen zufällig auf ein Zitat über den Zufall gestoßen bin.

So las ich etwa am 26. Februar 1987: „Später, 1945, habe ich mich aus Stalins Land hinausgeschmuggelt und bin nach Lublin gegangen. Dort traf ich meine Jugendfreundin wieder. Daß wir uns wiedersahen, war ein Wunder, aber wenn man keinen Glauben hat, kann man Wunder nicht erkennen. Wir hatten für alles nur eine Antwort: Zufall. Die Welt sei Zufall, der Mensch sei Zufall, und alles, was mit ihm geschieht, sei Zufall.“

Diese Stelle steht gleich auf der ersten Seite des Kurzromans Der Büßer von Isaak B. Singer, wenn man das Vorwort und die kurze Einleitung außer acht lässt. Ich arbeitete damals in der größten Buchhandlung der Stadt und kaufte das Buch vom Fleck weg, obwohl das schmale Bändchen stolze 26 Mark kostete und noch nicht einmal fadengeheftet ist. Ich wollte wissen, wie es kam, dass der Ich-Erzähler vom Zufall abgekommen war und warum er nun, da er dies schrieb, Wunder wieder erkennen konnte. Auf der letzten Seite notierte ich seinerzeit, dass ich das Buch an einem Tag, „in einem Zug“ gelesen hatte. – Ziemlich weit hinten im Buch finden wir den Ich-Erzähler in Jerusalem wieder, im Lernhaus der Sandzer Chassidim. Dort fragt ihn Reb Chaim, der Hausherr, warum er ausgerechnet in dieses Haus gekommen sei. Er antwortet:

„Ich bin zufällig vorbeigegangen und hab das Lernhaus entdeckt. Es war reiner Zufall.“ – „Zufall? … Et …“ – Wieder hörte ich den Ausdruck, den ich im Hause des alten Rabbis in New York gehört hatte. Diese Juden glaubten nicht an den Zufall. – Nach einer Weile sagte er: „Zufall bedeutet ,aufs Geratewohl‘. Die Aufgeklärten behaupten, die Welt sei bloß ein Zufall; der gläubige Jude aber weiß, daß alles vorausbestimmt ist. ,Zufall‘ ist kein koscheres Wort …“ (Isaak Bashevis Singer: Der Büßer. A. d. Am. v. Gertrud Baruch. München / Wien: Carl Hanser Verlag, S. 111 f.)

Was Et bedeutet? „,Da bin ich mir nicht so sicher‘, ,Darauf kann ich verzichten‘, ,Das ist nicht unsere Art‘, ,Da habe ich meine Zweifel‘ – und viele ähnliche Äußerungen religiöser Skepsis gegenüber weltlichen Versprechungen und Hilfsmitteln.“ (Ebd., S. 55.)

[Titelbild: Umschlagfoto des zitierten Buches von Amos Schliak: In einer Straße von Mea Schearim bei Regen. – © Carl Hanser Verlag.]

Konkurrenzbeobachtung (I)

Sunday, 23. January 2011

konkurrenzbeobachter

Der Spiegel versucht neuerdings, seine unsägliche Online-Präsenz Spiegel online (SPON) mit einem trendigen Extra aufzumotzen. Seit dem 10. Januar 2011 nehmen sich sechs Kolumnisten abwechselnd Themen vor, „die den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen – oder ihren ganz persönlichen. Es sind Randnotizen zum großen Ganzen und zum kleinen Detail. Jeden Tag ein Stück Denkfutter. Zum Grübeln, Staunen, Schmunzeln, Anregen oder Aufregen.“ Oder zum Kotzen? – Mehr als eine Kostprobe monatlich kann ich von diesem Humburger Allerlei unmöglich verdauen. Ich mache mal den Anfang mit Sascha Lobo, dem einzigen aus der bunt gemischten Schar, gegen den ich ein Vorurteil habe. Die SPON-Redaktion stellt ihn ausgesprochen unvorteilhaft vor „als Autor und Strategieberater aus Berlin“, aber dafür kann er vermutlich nichts. Er solle „unter dem Titel Die Mensch-Maschine Entwicklungen [kommentieren], die im engeren und weiteren Sinne mit der Welt des World Wide Web zu tun haben.“ Mittwoch ist also nun ab sofort Irokesentag.

Lobos Popularität verdankt sich zwei simplen Ingredienzien: seiner schnittigen Frisur und seiner schmissigen Schreibe. Haarmoden haben mich noch nie interessiert, Schreibmoden nur dann, wenn sie als Camouflage von einer Leere ablenken sollen: Große Klappe, nix dahinter! Was die haarige Zutat betrifft, so ist ihre Wirksamkeit leicht zu beweisen. Frage ich einen beliebigen Deutschen mittleren Alters, der nicht auf dem Mond lebt, ob er Sascha Lobo kenne, dann fragt er entweder zurück: „Ist das nicht der mit dem bunten Irokesenschnitt?“ Oder er bittet: „Hilf mir auf die Sprünge!“ Wenn ich im zweiten Fall erläutere: „Das ist der mit dem Irokesenschnitt!“, dann antwortet der Befragte, wenn er jünger als 60 ist: „Ach, der!“ Ist er älter, so fragt er: „Was ist denn ein Irokesenschnitt?“ Erkläre ich ’s ihm, sagt er ebenfalls „Ach, der!“ So meine Erfahrungen bei der Ermittlung von Lobos Bekanntheitsgrad – oder besser: des Bekanntheitsgrades von Lobos Frisur. Denn wenn ich wissen will, wofür Sascha Lobo stehe, was ihn ausmache, gar auszeichne, kommt in neun von zehn Fällen nicht mehr als „Irgendsonn schräger Blogger?“ Und die restlichen zehn Prozent wissen noch was von einer wahlweise flotten oder frechen oder kessen oder schrägen Schreibe.

Was hat es nun mit dieser zweiten Zutat für ein Bewenden? Schauen wir uns einmal genauer an, was Die Mensch-Maschine am letzten Mittwoch unter der Headline Web ist, was man nicht weiß ausgespuckt hat. Wie es sich für einen von höchster philosophischer Warte herab argumentierenden Turboblogger gehört, eröffnet er seinen Essay gleich mit dem Zitat eines Kollegen: „,Unser Wissen ist ein kritisches Raten, ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen‘, schrieb der Philosoph Karl Popper 1934.“ Ich will jetzt gar nicht so weit gehen zu prüfen, ob dieses Zitat in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang zu Lobos nachfolgenden Ideen zu bringen ist. Ich begnüge mich damit zu fragen, was Lobo uns mit diesem Zitat sagen will. Vermutlich möchte er uns signalisieren, wes Geistes Kind er ist: Popper-Leser, kritischer Rationalismus und hastenichgesehn – alle Achtung, Sascha! Aber dieser Bluff gelingt leider daneben. Popper schrieb den Satz nämlich mitnichten 1934 in seinem Buch Logik der Forschung, sondern erst 1969 im Vorwort zu dessen dritter Auflage.

Zum Content des Aufsatzes. (Ich sage bewusst Content, denn so heißen laut Lobo „Inhalte, wenn irgendjemand damit Geld verdienen möchte“; und ich unterstelle jetzt mal böswillig, dass Lobo für SPON nicht gratis schreibt.) Seit wann gibt es eigentlich den modischen Ausdruck von der „steilen These“? In den letzten zwei, drei Jahren verbreitete er sich geradezu epidemisch, aber einen sehr frühen Beleg fand ich in einem Artikel des Weblogs SpiegelKritik vom 11. April 2006, der erklärt, „wie typische Spiegel-Geschichten entstehen. Es geht nicht darum, die Wirklichkeit angemessen wiederzugeben oder Pro und Contra abzuwägen. Sondern es geht darum, eine steile These zu haben. Zu dieser These werden dann alle Fakten und Zitate gesammelt, die diese These unterstützen könnten.“ Nach diesem uralten Muster fabriziert auch Sascha Lobo seinen Aufsatz über das „Wesen des Internets“. Lobos These ist, dass „der publizistische, ökonomische und technologische Motor des Internets“ mit einem schönen alten deutschen Wort benannt werden kann: Vermutung. Allerdings macht sich der selbsternannte Kommunikationsontologe nicht einmal die Mühe, diese steile These durch Fakten und Zitate zu stützen. Er begnügt sich mit der vielfachen Auslegung und Anwendung seines Zauberwortes auf alle möglichen Teilaspekte des Phänomens Internet, wobei es ihm – auch das in bester Spiegel-Tradition – stets mehr um den Witz als um die Folgerichtigkeit seiner Aussagen geht. Indirekt gibt er diese Schwäche selbst zu, wenn er schreibt: „Im Mediengeschäft verlässt man sich schon aus Zeitgründen selten auf langwierig zu beweisende Fakten, sondern auf Vermutungen […].“ (Sascha Lobo: Web ist, was man nicht weiß; a. a. O.)

Die Leserdiskussion über seine Beiträge eröffnete der Autor übrigens mit einer indirekten Restriktion: „Für Fragen, Anregungen und milde bis mittelharsche Beschimpfungen (wenn irgend möglich eher auf den Text als auf die Frisur bezogen) stehe ich gern zur Verfügung.“ Sachliche Kritik ist also nicht erwünscht. Oder traut Lobo sie dem SPON-Leser gar nicht zu? Tatsächlich geht es auch beim Spiegel nicht vornehmer zu als in den übrigen Online-Leserbriefspalten und Diskussionsforen der Printmedien. Für seinen zweiten Beitrag fängt sich Lobo allerdings einige sehr sachliche und gut begründete Reaktionen ein, die er in my not so honest opinion gar nicht verdient hat. Viele Leser erkennen in naiver Unschuld, dass sein Schlüsselbegriff „Vermutung“ sich zur Erklärung von allem und jedem ebensogut eignet wie als Iftah Ya Simsim fürs rätselhafte „Wesen des Internets“. Wenn er vermeiden will, dass seine Kommentatoren sein Äußeres zum bevorzugten Thema machen, sollte Sascha Lobo vielleicht ein unscheinbareres Erscheinungsbild wählen und lieber mehr Sorgfalt auf die Haltbarkeit seiner Argumente verwenden als auf die Haltbarkeit seiner Hahnenkammfrisur. Gegen einen Vorwurf muss ich ihn aber doch in Schutz nehmen. Wenn Lobo statt „selten“ an einer Stelle „unoft“ schreibt, so muss man darob nicht spotten wie einer seiner Duzfreunde im Kommentar. Solche Neologismen sollten erlaubt sein, bereichern sie die Sprache doch gelegentlich um feine Nuancen. So hat beispielsweise „unernst“ längst nicht die gleiche Bedeutung wie „lustig“.

Plastiktütenplattitüden (I)

Thursday, 20. January 2011

mondueberstahlbruecke

Freitag, 8. Februar 2008. – Kein Niederschlag, schwacher Wind aus Süd-Südost, Temperaturen zwischen 1 °C und 9 °C. Punkt acht Uhr geht die Sonne auf, bis kurz nach halb sechs wird sie diesen Tag erhellen. In vielen Büros der Republik gehen die Beschäftigten gemäß gelockertem Dress-Code ihrer Beschäftigung nach: Casual Friday. Oder sie tun mindestens so, als ob sie, völlig unbeeindruckt von den bevorstehenden Wochenendfreuden, nichts anderes im Sinn hätten als am kleinen Rad in der großen Maschine ihres Arbeitgebers mit gut gespielter Emsigkeit zu drehen. Aber auch in Rollkragenpullover und Stone-washed-Jeans sind sie ,immer in innerer Alarmbereitschaft‘ (Wolfgang Neuss). Schließlich wollen sie sich ersparen, bald als Zeitungsverkäufer alle Tage der Woche gemäß gelockertem Dress-Code an der nächsten Straßenecke zu stehen: „Darf ich ihnen eine Obdachlosenzeitung anbieten?“

Wobei mir immer schon das gegen jedes Risiko abgesicherte, von der Geburt bis zum Tod plangemäß sich abspulende Leben weitaus schrecklicher erschien als noch der herbste Absturz. Philip Roth hat in seinem Roman Exit Ghost, dem zehnten Band seines Zuckerman-Zyklus, diesem Typ des selbstzufriedenen Kontrollfreaks in der Figur des Versicherungsanwalts Larry Hollis ein trauriges Denkmal gesetzt. Nachdem der kleine Larry mit zehn Jahren Vollwaise wurde, „entwarf er in seinem Tagebuch einen detaillierten Plan für die Zukunft, an den er sich für den Rest seines Lebens buchstabengetreu hielt; von da an war alles, was er tat, äußerst zielgerichtet.“ (Philip Roth: Exit Ghost. A. d. Am. v. Dirk van Gunsteren. München: Carl Hanser Verlag, 2008, S. 14.) – Brrr! Wie schauderhaft! Jener Larry Hollis, den Nathan Zuckerman als aufdringlich-hilfsbereiten Nachbarn ertragen muss, nervt den alternden Schriftsteller mit den ,abgedroschensten Fragen über das Schreiben‘. Roth lässt eine sehr amüsante Liste folgen, die ich, sollte ich je auf Lesereise gehen, vor jeder Veranstaltung im Publikum verteilen ließe, unter der Überschrift: ,Fragen, die Sie mir in der anschließenden Diskussion nicht stellen dürfen‘: 1. Woher kriegen Sie Ihre Ideen? – 2. Woher wissen Sie, ob eine Idee gut oder schlecht ist? – 3. Woher wissen Sie, ob Sie einen Dialog einsetzen oder eine Situation ohne Dialog beschreiben wollen? – 4. Woher wissen Sie, wann ein Buch fertig ist? – 5. Wonach wählen Sie den ersten Satz aus? – 6. Wonach wählen Sie den Titel aus? – 7. Wonach wählen Sie den letzten Satz aus? – 8. Welches Buch ist Ihr bestes? – 9. Welches Buch ist Ihr schlechtestes? – 10. Mögen Sie Ihre Protagonisten? – 11. Haben Sie je einen Protagonisten umgebracht? – 12. Im Fernsehen hab ich einen Schriftsteller sagen hören, dass die Personen in dem Buch die Führung übernehmen und es selbst schreiben. Stimmt das?‘ (Ebd., S. 15 f.)

Anfang 2008  hat Felicitas von Lovenberg anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung von Exit Ghost dessen Autor im New Yorker Büro seines Agenten Andrew Wylie interviewt. War sie bloß etwas zerstreut, oder hatte sie sich schlecht vorbereitet, jedenfalls stellte sie prompt die leicht abgewandelte Frage 8 aus der Tabuliste: „Haben Sie Lieblingsbücher unter Ihren Büchern?“ Roth war so gnädig, über diesen schlimmen Fauxpas hinwegzusehen, und antwortete völlig unbeeindruckt: „Nein. Wenn ich ein Buch fertiggestellt habe, bin ich durch damit. Auch den Ghostwriter habe ich nicht noch einmal gelesen, nur hineingeschaut, als Exit Ghost fertig war, um sicherzugehen, dass ich die Fakten noch richtig im Kopf hatte. Mein Lieblingsbuch ist insofern immer das, an dem ich gerade sitze.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 28 v. 2. Februar 2008, S. Z6.) Das ist, nebenbei bemerkt, auch die abgdroschenste Antwort, die man auf diese Frage geben kann. – Wie peinlich für Frau von Lovenberg! Müssen wir fürchten, sie demnächst Ecke Avenue B und 18th Street im unfreiwilligen Dauerfreitagsoutfit anzutreffen, ein New Yorker Homeless-Magazine feilbietend? Ach was, die Zeiten sind längst vorbei, in denen man ein Buch noch aufmerksam lesen musste, um sich auf ein solches Interview vorzubereiten.

Die erwähnte Straßenecke beschreibt übrigens kein Geringerer als der nahezu vergessene E. I. Lonoff in einer seiner Kurzgeschichten: „Der ruppige Wind eines zu frühen Herbstes trieb welkes Laub und wild scheppernde Cola-Dosen vor sich her und sammelte die abgenutzten Reste eines zum Tode verurteilte Jahres in den schmutzigen Winkeln dieser Straßenkreuzung. Verloren wartete Boldan auf eine Eingebung, auf das unwahrscheinliche Aufglimmen eines Hoffungsschimmers – und betrachtete dabei eine knisternde hellgrüne Plastiktüte, die sich an einer defekten Neonreklame verfangen hatte.“ (E. I. Lonoff: Short Storys. Vol. IV. New York 1953, S. 23.)

Wie der Zufall will, hat sich vor ein paar Tagen eine solche Plastiktüte im Rotdorn hinter unserem Haus verkrallt. Ein unschöner Anblick. Was tun? Ins morsche Geäst klettern und einen Absturz riskieren? Die Aussicht, dass uns dieses nie verrottende Tütchen durch den ganzen kommenden Frühling und Sommer mit seinem Geflattere und Geknistere auf den Wecker fällt, ist nicht eben erfreulich. Wenn unser Crataegus laevigata, auch ,Paul’s Scarlet‘ genannt, Ende Mai bis Anfang Juni in voller rosafarbener Blüte steht, wird die Tüte besonders unangenehm ins Auge fallen. Hat vielleicht jemand leihweise ein dressiertes Äffchen anzubieten, das uns von diesem blassgrünen Plagegeist befreit? Ich würde mich mit einem signierten Exemplar von Roths The Ghostwriter (1979) revanchieren, Band zwei des Zuckerman-Zyklus, in bester Erhaltung.

[Dieses Posting erschien zuerst am 8. Februar 2008 bei Westropolis als XI. Folge meiner Serie Jourmal intime unter dem Titel Freitag, 8. Februar 2008. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog geringfügig überarbeitet, ergänzt, gekürzt und korrigiert.]

Blick nach oben und zurück

Thursday, 20. January 2011

hochobengruenerfetzen

Der Himmel hat keine Balken. Eins der Kollegen-Blogs, die ich zur Abhärtung gelegentlich besuche, ist das von Andreas Glumm. Wenn der mal um die Ecke geht, dann werden wieder die ewigen Vergleiche mit Rimbaud, Brinkmann und Fauser bemüht, die dann aber auch nichts mehr nützen. Aber wer weiß, ob es dem Glumm hülfe, wenn er jetzt plötzlich berühmt und dann gar reich würde. Eher wohl nicht! Was machte er denn mit dem vielen Geld? Ich wage gar nicht dran zu denken. Dann soll er lieber ein Geheimtipp bleiben. (Und wenn ich ihn hier lobe, mittlerweile sehr weit weg von der Mitte, dann kann ja nicht viel passieren.)

Das war jetzt aber noch nicht der angekündigte „Blick nach oben“, so weit möchte ich nun auch wieder nicht gehen. Glumm hat gestern einen Text veröffentlicht, der gleich eingangs von einem Stück Kunststoff handelt, das sich in einer Baumkrone verfangen hat. Im Park. Das erinnert mich an die nervende Plastiktüte, die sich am 8. Februar 2008 im Rotdorn hinter „unserem“ Haus verheddert hatte. Ich vermute, dass sie dort noch immer hängt. Unverrottbar eben, wie das Posting heißt, das ich im Oktober 2008 über dieses Ärgernis veröffentlichte.

Zuerst erwähnt hatte ich diese Baumverschmutzung in einem Blog über Philip Roth und seinen zehnten Nathan-Zuckerman-Roman Exit Ghost, das ich noch im Auftrag von Westropolis schrieb. Aber dieses Weblog der WAZ-Mediengruppe ist ja Anfang dieses Jahres komplett gelöscht worden, meine Verlinkungen dorthin landen jetzt allesamt bei der Homepage von DerWesten. Grrr! Das kann ich mir nicht gefallen lassen. Wenn ich an die aus diesem Trotz resultierende bevorstehende Sisyphusarbeit denke, wird mir zwar ganz anders. Aber wer weiß? Vielleicht ist es ja auch nützlich, die Westropolis-Artikel samt Kommentaren noch einmal wiederzulesen und auf ihre Haltbarkeit zu prüfen.

Schließlich gilt ja nicht nur für die Literatur- und Geistesgeschichte, dass jeder kluge (und dumme) Gedanke irgendwann schon einmal gedacht und ausgesprochen wurde, sondern auch für meine ganz private Hirn- und Zungenhistorie, in deren Verlauf mir jede spinnerte oder auch geniale Idee schon mal durch den Kopf gegangen und aus dem Maul gesprungen (bzw. aus der Feder geflossen) ist. Aber was mache ich denn dann eigentlich noch hier?

Jetzt weiß ich es! Es lebe die feine Differenz, die so belebende! Denn bei Glumm, siehe oben, ist keine grüne Plastiktüte Stein eines Anstoßes, sondern ein roter Luftballon liefert den Anlass für vielmehr durchaus angenehme („… so ein schöner knallroter …“) Empfindungen. Ja, mehr noch: Der Fremdkörper im Baum regt sogar ein Gespräch an über Gott und … nein, nicht über die Welt, sondern über den „…Zufall“! Nun höre ich schon wieder dies Geraune: ,Was will er damit sagen? Plastiktüte, Luftballon? Blick nach oben voll Verdruss, Blick zurück im Zorn?‘ Da kann ich nur gegenfragen: Wer hat denn hier Sinn versprochen? Widerspruchsfreiheit? Letzte Antworten? Ich jedenfalls nicht.

Heinrich Funke: Das Testament (IX)

Wednesday, 19. January 2011

Heinrich Funke Das Textament (IX)

„Sobald der menschliche Geist in sich stimmige Gesetzessysteme entwirft ist es als hätten die Tatsachen nichts Eiligeres zu tun als sich ihnen zu fügen das heisst sie zu beweisen“.

Angenommen, der Satz sei wahr. Weiterhin angenommen, ich sei ein zweifelnder Mensch, der einen solchen Satz nicht allein schon deshalb für wahr nimmt, weil er von einer Autorität ausgesprochen wird, weil er sich gut anfühlt oder auf den ersten Blick plausibel klingt. Was würde ich dann tun? Ich würde den, der diesen Satz in den Raum gestellt hat, darum bitten, für seinen Wahrheitsgehalt Argumente, Beweismittel, Beispiele anzuführen, die verwendeten Begriffe – wie „Geist“, „Gesetz“, „System“ „Tatsache“, „Beweis“ – zu definieren und so weiter. Aus den Antworten des Beweisführenden würden sich bald weitere Fragen ergeben, die zu weiteren Antworten führen mögen, und so fort.

Irgendwann käme ich vielleicht im Nachvollzug dieser Begründungsketten an einen Punkt der Befriedigung meines Wissensdurstes, der Beschwichtigung meiner Zweifel, vielleicht auch bloß der Ermüdung, an dem ich sagen würde: Einverstanden! Ich kann beim besten Willen keinen Fehler entdecken, keine Widersprüche nachweisen. Offenbar ist die Argumentation in sich stimmig und ich muss darum annehmen, dass diese Aussage wahr ist. Aber dann muss man ja ihren Inhalt auf sie selbst anwenden und zu dem Ergebnis kommen, dass sie nur darum nicht mit den Tatsachen in Widerspruch gerät, weil diese sich ihr fügen. – Wenn hingegen der Verteidiger des Satzes sich in Widersprüche verheddert, dann kann er immer sagen, dass ja gerade dies für die Wahrheit des Satzes spreche, insofern dieser Satz eben nicht Teil eines Gesetzessystems sei, das in sich stimmig zu sein behauptet. Dieser Satz habe insofern den Vorzug, sich keine Tatsachen, die zu ihm im Widerspruch stehen, gefügig machen zu müssen.

Wir haben es also logisch betrachtet mit einer klassischen Antinomie zu tun. Entweder ist das Kind in den Brunnen gefallen, dann hängt der Eimer oben und ist leider leer (s. Titelbild). Oder der Eimer ist voll, fällt hinab und zieht das Kind wieder an die Oberfläche. Kind und Eimer werden wir aber niemals gleichzeitig zu Gesicht bekommen.

Mehr fällt mir zu dem Satz nicht ein. Wenn ich wüsste, auf welche Art von „Gesetzessystemen“ er abzielt, könnte ich vielleicht noch etwas produktiver auf ihn eingehen. Wenn aber beispielsweise unterschiedslos Euklids Gesetze der Geometrie, die Gesetze der jüdischen Kabbalah und das Bürgerliche Gesetzbuch gemeint sind, finde ich keinen Ansatzpunkt, weder für Zustimmung noch für Ablehnung. Und dass wir aufgeklärten Endzeitmenschen nach den Erfahrungen gerade der jüngeren Geschichte gegen Dogmen und Ideologien immun sind, ist doch klar wie Kloßbrühe. Gegen diese Pest gibt es ja schließlich den Kritischen Rationalismus.

Westropolis – ein Epilog (IV)

Tuesday, 18. January 2011

sinkendesschiffdrei

Westropolis ging also durchaus mit Potenzialen an den Start, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Dieses Kulturportal für das Revier hätte zu einer festen Adresse für alle Bewohner und Besucher der Region werden können, die ihre Freizeit planen bzw. einen Aufenthalt in der Region dazu nutzen wollen, mehr über die (damals noch) bevorstehende „Kulturhauptstadt Europas 2010“ zu erfahren. Westropolis hatte also vom Start weg so viele Qualitäten, dass diesem Weblog kaum noch etwas in die Quere hätte kommen können – außer vielleicht dem Unvermögen seiner Macher und dem mangelnden Interesse seiner Inhaber. Eine echte Konkurrenz zu einer professionellen Online-Präsentation des Kulturangebots an der Ruhr gab es vor vier Jahren nicht – und gibt es eigentlich auch heute noch nicht. Da bleibt doch die Frage: Welche Möglichkeiten hätten genutzt werden müssen, diese Qualitäten zu kultivieren und das Profil der Website so zu schärfen, dass Westropolis bis 2010 als Topadresse für die hiesige Kultur im Internet etabliert gewesen wäre – und zwar nicht im Stil der langweiligen Pflichtberichterstattung festangestellter Redakteure, sondern geschrieben mit dem frischen Elan neugieriger und respektloser Blogger?

Zuallererst hätte schon in der Themenvorgabe eine eindeutige Begrenzung auf die Kultur im Ruhrgebiet erfolgen müssen. Dies geschah jedoch einigermaßen konsequent nur in den Bereichen „Bühne“ und „Festival“, ansatzweise noch bei „Kunst“, „Design“ und „Musik“, während die unter „Film“ und „Literatur“ abgelegten Artikel nur im Ausnahmefall irgendeinen Bezug zum Revier hatten. Gerade diese beiden Bereiche machten aber mit zusammen über 4.500 Beiträgen den Bärenanteil aus, was nicht zuletzt auch daran lag, dass Else Buschheuer als Cineastin und Bernd Berke, Johannes Groschupf und ich als Büchermenschen sich nach Belieben austoben konnten. Mit Blick auf das gesamte Projekt muss man aber ganz klar urteilen: Thema verfehlt!

Über allen Wolken ist die Freiheit tatsächlich grenzenlos, aber da hier doch – so glaubte ich mindestens für eine beträchtliche Zeit – kein Wolkenkuckucksheim gebaut werden sollte, zu dem jeder schlichtweg alles beitragen könnte, was ihm gerade so durch den Kopf ging oder am Herzen lag, sondern ein handfestes Kulturblog für eine Region mit ein paar Millionen Einwohnern, das einigermaßen represäntativ und halbwegs vollständig das kulturelle Leben in dieser Region widerspiegeln müsste, wartete ich immer darauf, dass sich in den Geschäftsleitungsetagen der WAZ-Mediengruppe mal jemand räuspern und Korrekturen vornehmen würde – leider bis zuletzt vergeblich!

Dabei gab es doch eine zugleich konkrete und komfortable Terminsetzung zur Verwirklichung der oben beschriebenen Vision, nämlich den Start des Kulturhauptstadt-Jahres im Frühjahr 2010. Volle drei Jahre hätten Katharina Borchert und ihre Mannschaft also Zeit gehabt, aus dem Pilotprojekt Westropolis ein vollwertiges, sinnvoll integriertes Segment des neuen Webauftritts DerWesten zu machen. Dazu hätte man sich aber zuallererst auf die Suche machen müssen nach einem Dutzend standortbezogener Blogger in den Revierstädten von Duisburg bis Dortmund, deren Aufgabe gewesen wäre, über das regionale kulturelle Umfeld an ihrem jeweiligen Heimatort zu berichten. Das hätten die meisten Hardline-Blogger alter Schule zwar voraussichtlich strikt abgelehnt, bei denen es bekanntlich noch immer als Verstoß gegen den ungeschriebenen Ehrenkodex der Bloggerei gilt, sich von zahlenden Auftraggebern abhängig zu machen. Andererseits ist das Weblog als junger Ableger der Kommunikationstechnik längst noch nicht hinreichend ausgetestet, als dass man seine positiven Wirkmöglichkeiten aus Ressentiments heraus beschränken sollte, die sich unter überholten Bedingungen entwickelt haben. Das klingt jetzt vermutlich etwas abstrakt, ich kann es aber auch ganz konkret sagen: Ich schämte mich nicht, mit der WAZ Hand in Hand zu gehen, da mir alle Freiheiten zugesagt wurden, die ich brauchte, um Morgen für Morgen unbefangen in den Spiegel blicken zu können. Allerdings wurde ich irgendwann skeptisch, weil mir diese Freiheiten in ihrer Grenzenlosigkeit unheimlich wurden. Ich beschloss, den schweigenden Riesen mit allerlei Provokationen zu reizen, ließ beispielsweise eine allsonntägliche Atheismus-Serie vom Stapel – doch nichts geschah!

Da wurde mir allmählich klar, dass es eine Narren-Freiheit war, die hier gewährt wurde. Und ich ahnte schon, worauf es hinausliefe, wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hätte. (Mohren und Narren erfüllten an den europäischen Fürstenhöfen ja nahezu die gleiche Funktion.)

[Fortsetzung folgt.Zurück zum Anfang der Serie.]

Mond? Planet?

Monday, 17. January 2011

blase7

Im modernen Berufsleben unserer hochdifferenzierten Arbeitswelt ist Spezialisierung der Fachkräfte in jedem Bereich die erste Voraussetzung für deren Erfolg. So auch in den Redaktionen unserer überregionalen Zeitungen. Wer in der Schule gut rechnen konnte und trotzdem lieber schreiben will, wird Wirtschaftsredakteur. Für jene Blindgänger, die überall nur Dreien und Vieren hatten, aber in Sport oder Kunst eine Eins, haben kluge Blattmacher eigens den Sportteil und das Feuilleton eingerichtet. Klassensprecher bekommen die Landespolitik, Schulsprecher was Internationales.

Dann gibt es noch jene immer gut gelaunten Sonnenscheinchen, denen man nicht böse sein kann, obwohl sie eigentlich von nichts eine richtige Ahnung haben, aber wenigstens so tun als ob. Ich nenne sie hier mal die Merkt-ja-doch-keiner-Redakteure. Bevor sie etwas nachschlagen, lassen sie sich lieber totschlagen. Meine Theorie war, dass sie das Alphabet nicht aufsagen können und ihnen darum der Gebrauch von Wörterbüchern und Lexika verwehrt ist. Mit der Erfindung von Online-Enzyklopädien wurde diese Erklärung aber hinfällig, weil man dazu das betreffende Suchwort ja nurmehr in ein Fensterchen eingeben muss. Sollten die für Skandälchen und Fait divers zuständigen Schreibkräfte schlicht und ergreifend faul sein? Natürlich nicht! Sie stehen vielmehr extrem unter Stress, weil hier wie überall radikal Personal abgebaut wurde.

Bei der Süddeutschen heißt die betreffende Seite „Panorama“. (Genau genommen sind es sogar zwei, nämlich die Seiten 9 und 10.) Dort erfahre ich bespielsweise in der täglichen Rubrik „Leute“, dass der 93-jährigen Filmdiva Zsa Zsa Gabor der rechte Unterschenkel oberhalb des Knies amputiert werden musste und dass dem Panikrocker Udo Lindenberg vor dreißig Jahren von einer eifersüchtigen Brasilianerin eine große Schnittwunde am Kopf zugefügt wurde, die er seither unter seinem Markenzeichenhut verbirgt. Oder ich wundere mich über den tagesaktuellen Fall von massenhaftem Vogelsterben, ein Phänomen, mit dem seit Neujahr regelmäßig die Lücken gestopft werden. Das „Panorama“ der SZ könnte man mit Fug und Recht als eine Alljahres-Sauregurken-Zuchtanstalt bezeichnen.

Weil nun aber, siehe oben, die Stammautoren dieses Ressorts die schöne bunte Welt der Abenteuer aus mancherlei Perspektive betrachten, aber durchaus nicht mit verkniffenem Blick, kommen gerade hier die spektakulärsten Fehlschüsse und Rohrkrepierer vor. Heute beispielsweise modelliert Martin Zips mal eben unser Sonnensystem um und lässt den Mond um die Sonne kreisen!

Es geht in seinem Artikel um ein Pin-up-Foto aus dem Playboy, das ein Techniker der Apollo-12-Mission 1969 an Bord des Raketenmoduls Yankee Clipper geschmuggelt hat, genau genommen in den Spind von Commander Richard Gordon, abgeheftet im dort deponierten Ordner „Himmlische Körper“. Und nun schreibt Zips wörtlich: „Dort wurde es von Grordon entdeckt, als dieser gerade dabei war, sehr einsam den Mond zu umrunden. Nur seine zwei Astronauten-Kollegen durften raus auf den Planeten, er nicht.“ (Martin Zips: Himmlische Körper. Wie das Nackt-Model DeDe Lind im November 1969 mit der Astronauten-Mission „Apollo 12“ mal kurz zum Mond flog; in: SZ Nr. 12 v. 17. Januar 2011, S. 10.) – Na ja, was soll man da sagen? Astronomie ist ja nicht mal ein Schulfach.

Heinrich Funke: Das Testament (VIII)

Wednesday, 12. January 2011

Heinrich Funke Das Testament (VIII)

Zunächst kurz zum Bild. Es könnte sich um einen Reliquienschrein handeln; vielleich auch um die jüdische Bundeslade, obwohl hiergegen die kleinen Kreuzchen an den Giebelspitzen sprechen. Solche Kästen zur Aufbewahrung sakraler Gegenstände gibt es in vielen Religionen, zum Beispiel auch im Hinduismus und Buddhismus. Die drei  schwarzen Schlüssellöcher an der Seitenfront verstärken noch die voyeuristische Neugier, die mit der Frage quält: Was ist bloß darinnen?

Das alte Verb sollen kann im Deutschen verschiedene Bedeutungen annehmen. So kann man mit ihm zum Beispiel eine Vermutung vom Hörensagen ausdrücken: „Heinrich Funke soll ja angeblich erkannt haben, was der Sinn des Lebens ist.“ Der üblichste Sinn von sollen bezeichnet aber einen Auftrag: „Du sollst nicht töten.“ – „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“ – „Was sollen wir tun?“ usw. Insofern ist es zum Verständnis einer mit sollen verbundenen Aussage oder Frage stets hilfreich zu wissen, wer der Absender und wer der Empfänger dieses Auftrags ist.

„Leben soll Sinn haben.“ So lautet die bislang zweitkürzeste Sentenz in diesem Zyklus. Der Auftrag lautet, Sinn zu haben. Wer erteilt den Auftrag? Im Zweifel zunächst der Künstler, also Heinrich Funke. (Dies schließt natürlich nicht aus, dass er lediglich als Übermittler in Erscheinung tritt, der Auftrag ursprünglich aber von jemand anderem kommt.)

Wer ist jedoch der Adressat? Zunächst könnte man meinen, das Leben selbst. Ich fordere von meinem Leben, habe den Anspruch an mein Leben, dass es Sinn haben soll. Dann drückt sich in diesen vier Worten ein Wunsch aus, den ich mir vielleicht selbst erfüllen kann, indem ich meinem Leben Sinn verleihe, oder ihm das zumesse, was ich für Sinn halte. Ob mir dies aber gelingt, liegt vielleicht nicht allein in meiner Macht, denn sonst hieße es ja: Leben hat Sinn. Wenn mir mein Leben aber im Hinblick auf diesen Auftrag, Sinn zu haben, missrät – hat dieses Unglück dann keinen Sinn? (Beinahe kommt es mir so vor, als geriete man in eine Antinomie, wenn man die Aussage in der hier vorgeführten Weise deutet.)

Noch eine Kleinigkeit. Wie selbstverständlich habe ich hier Leben verstanden als den Lebenslauf eines einzelnen Menschen. Grundsätzlich ist Leben ja aber – nämlich im Verständnis der hierfür zuständigen Wissenschaft, der Biologie – ein viel weiterer Begriff, der die Gesamtheit aller abgeschlossenen Gebilde in der Natur unseres Planeten bezeichnet, die sich mittels eines Stoffwechsels selbst organisieren. „Leben soll Sinn haben?“ Nein, auf ein so erweitertes Verständnis von Leben passt die Aussage nicht. Entweder hat das Leben auf der Erde Sinn, oder eben nicht. (Was „Sinn“ bedeuten soll, lasse ich wieder außen vor.) Dem Leben auf der Erde, das lange vor uns da war und uns voraussichtlich auch lange überleben wird, können wir nicht den Auftrag erteilen, Sinn zu haben. Unsere Hybris nährt sich allerdings zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von der Illusion, wir könnten die Natur „beherrschen“. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Westropolis – ein Epilog (III)

Tuesday, 11. January 2011

sinkendesschiffzwei

Fünf Fragen habe ich mir gestellt und will ich hier versuchen zu beantworten, um aus dem „Experiment“ Westropolis vielleicht die eine oder andere nicht nur für mich lehrreiche Einsicht ableiten zu können. Heute also erstens: Welche Qualitäten führten dazu, dass sich anfangs bei Westropolis, wenn man den Kommentaren etwa der ersten beiden Jahre trauen darf, eine ambitionierte, gebildete und treue Leserschaft einfand?“

Die WAZ-Mediengruppe, die über ihre Tochter WestEins (heute DerWesten) dieses Kultur-Blog in Auftrag gegeben hat, ist mit ihren Tageszeitungen der unangefochtene Marktführer im gesamten Ruhrgebiet, das drittgrößte Verlagshaus Deutschlands und einer der größten Regionalzeitungs-Verlage Europas. Kein Wunder also, dass ein solcher Riese sich nur räuspern muss, und alle horchen auf. Nach meiner Erinnerung war die Werbung für Westropolis in den WAZ-eigenen Blättern eher verhalten. (Vielleicht hätte man schon darob stutzig werden sollen?) Aber auch dies Wenige reichte aus, um genügend regelmäßige Leser für ein angeregtes Geplaudere in den Kommentaren einzusammeln. Andererseits wurde das Kulturblog aber zunächst auch nicht von einer Kommentarflut heimgesucht, die ja meist die bekannten Probleme mit Spammern, Trollen und ähnlichen lästigen Gästen mit sich bringt und nicht selten viel Arbeitskraft bindet, die ausschließlich zur Schadensbegrenzung eingesetzt werden muss. Die kulturellen Inhalte schienen sich mit den Hauptgebieten Film, Musik, Design, Bühne, Literatur, Kunst und Festival an Leser aller Altersgruppen zu wenden – wenngleich man bei näherer Betrachtung der publizierten Inhalte dann doch zu dem Ergebnis kam, dass eher die unter Vierzigjährigen angesprochen wurden.

Die Kriterien bei der Auswahl der festen „Gastautoren“ blieben nicht nur mir unerforschlich. Man hätte annehmen können, dass eine regionale Verwurzelung im Ruhrgebiet die allererste Grundvoraussetzung für die Aufnahme in die Mannschaft eines Schiffes hätte sein sollen, das die Regionalität ja schon im Namen trug. Für den in Berlin lebenden Braunschweiger Johannes Groschupf und die in Leipzig lebende Sächsin Else Buschheuer traf dies definitiv nicht zu. Hatice Akyün, gebürtige Türkin, ist zwar immerhin in Duisburg aufgewachsen, lebt aber seit zehn Jahren nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern abwechselnd mal in Hamburg, mal in Berlin. Damit reduzierte sich der Kreis der Vor-Ort-Berichterstatter auf die Mitarbeiter der Westfälischen Rundschau in Dortmund (Bernd Berke, Jürgen Overkott und Nadine Albach) sowie auf die beiden „Freien“ Ingo Juknat und Christian Scholze. Habe ich noch jemanden vergessen? Richtig: mich selbst, den Revierflaneur, gebürtig, wohnhaft und flanierend hauptsächlich in Essen. Wollte man hier schon mäkeln, dann müsste man sagen: Es wirkt auch im Rückblick reichlich konzeptionslos, was die Planer am Grünen Tisch bei der WAZ da als „Blogredaktion“ zusammengewürfelt hatten, zumal es für diese „Gastautoren“ nach meiner Kenntnis keinerlei Vorgaben zu den Inhalten ihrer Beiträge gab. Aber das feine Wort „Kultur“ ist ja geduldig wie ein Kieselstein, mit dem man so ziemlich alles machen kann: bunt anmalen, kaputtkloppen und die Splitter als Talismane verteilen – oder aber ab in die Tonne damit.

Weil die Planer gerade beim Ausprobieren waren, schließlich handelte es sich ja um ein „Experiment“, eröffneten sie wagemutig jeder Leserin und jedem Leser die Möglichkeit, selbst eigene Artikel zu publizieren, mit der kleinen Einschränkung, dass die Leser-Artikel im Unterschied zu denen der „Gastautoren“  jeweils von der Redaktion freigeschaltet werden mussten. Zur Animation für diese Leserbeteiligung wurden regelmäßig neu erschienene Bücher als Freiexemplare angeboten, unter der Voraussetzung, dass die Interessenten diese läsen und anschließend bei Westropolis besprächen. Auch dieser Versuch schien halbwegs zu glücken, wenngleich die Rezensionen, die dabei herauskamen, gelegentlich wenig schmeichelhafte Rückschlüsse auf das Urteils- und Ausdrucksvermögen ihrer Verfasser zuließen und schon aus Rücksichtnahme auf deren Leumund besser nicht dem Licht einer unbegrenzten Öffentlichkeit hätten preisgegeben werden sollen. Andererseits kann man diese grenzenlose Toleranz der Administratoren natürlich auch begrüßen, gewährten die nach gängigen journalistischen Kriterien völlig mangelhaften bis ungenügenden Publikationen doch ab und zu ausgesprochen interessante Einblicke in das Geistesleben zeitgenössischer Mitteleuropäer.

Last but not least möchte ich das optische Erscheinungsbild dieses kulturellen Internet-Auftritts loben. Vielleicht bin ich befangen, weil ich mich dort ja immerhin 16 Monate lang nahezu täglich aufgehalten und unterdessen geradezu eine Art Heimatgefühl für diese Umgebung entwickelt habe. Aber es ist schon erstaunlich, dass sich noch nach langer Abstinenz, als ich kurz vorm letzten Jahreswechsel wieder einmal bei Westropolis vorbeischaute, mein altes gutes Gefühl beim Anblick dieser farblichen und formalen Gestaltung wieder einstellte. Wenn den Entwicklern bei vi knallgrau etwas gelungen ist, dann diese Optik! Und fast scheint es mir, als wäre die Empörung der bis zuletzt Westropolis treu gebliebenen Stammgäste über die Abschaltung der Website wenigstens teilweise dieser gelungenen Optik gutzuschreiben, die sie zu schätzen gelernt haben und nun schmerzlich vermissen. Das gibt mir aber nun zugegebenermaßen bloß mein subjektives Gefühl ein, ist vielleicht reine Geschmacksache. Jedenfalls war ich sehr optimistisch, als ich mir Ende Februar 2007 die Westropolis-Seite zum ersten Mal anschaute, sonst hätte ich mich schließlich nicht um eine Stelle als „Gastautor“ beworben. Daraus müsste sich doch mit etwas gutem Willen und sehr viel Fleiß etwas machen lassen, so dachte ich. Warum trotzdem nichts draus wurde, das werde ich in den nächsten Folge versuchen zu ergründen.

[Zur nächsten Folge. – Zurück zum Anfang der Serie.]

Warum geborgen?

Monday, 10. January 2011

blase6

Auf dem Bild, das das ZDF der Süddeutschen zur Verfügung gestellt hat, sehen wir heute einen ausgestreckt auf dem Deck eines Bootes liegenden Mann. Allerlei Treibgut ringsum, Seetang oder ähnlicher Schmock, lässt darauf schließen, dass dieser Körper unlängst aus dem Wasser geborgen wurde. Über ihn beugt sich ein Ermittler, wie wir aus der nebenstehenden Bilderläuterung erfahren: „Psychologisierende Vernehmung: Schauspieler Alexander Held versucht als Kommissar Hidde im CSI-Stil zu ermitteln, warum ein Mann tot aus der Ostsee geborgen wurde.“ (Frederik Obermaier: Viel Länge, wenig Tiefe. Ein ZDF-Reihenkrimi streckt sich sehr nach amerikanischen Vorbildern wie CSI, ohne sie auch nur annähernd zu erreichen; in: SZ Nr. 6 v. 10. Januar 2011, S. 15.)

Eins vorweg: Sehr wahrscheinlich kann Autor Obermaier nichts für diesen in vielerlei Hinsicht mangelhaften Text. Die Bildunterschriften werden gewöhnlich erst beim Layout kurz vor Drucklegung und deshalb unter argem Zeitdruck von anderen zurechtgeschustert. Deshalb drücke ich meist beide Augen zu, wenn mir wieder mal ein BU-Lapsus begegnet. Aber in diesem Fall kommt es schon dicke, wie wir sehen werden. Darum konnte ich der Versuchung heute nicht widerstehen.

Zunächst zur Aufklärung für fernsehferne Bevölkerungsschichten: Was haben wir uns unter „CSI-Stil“ vorzustellen? Die Abkürzung steht zunächst im Englischen für Crime Scene Investigation, zu deutsch etwa „Spurensicherung am Tatort“. Davon leiten sich mehrere US-amerikanische TV-Krimiserien ab, die seit Jahren auch im deutschen Fernsehprogramm einen festen Platz haben. In Obermaiers Kritik der deutschen Version von CSI – Serientitel hierzulande: Stralsund – lesen wir, dass hier die Vernehmung „bemüht psychologisiert“ wirke, was immer das heißen mag. Der BU-Texter hat diesen Nonsens dankbar aufgegriffen und sieht nun auf dem Bild prompt eine „psychologisierende Vernehmung“. Aber wie soll ich mir die Vernehmung eines Toten vorstellen? Denn dass der Hingestreckte auf dem Bild tot ist, erfahren wir ja wenige Zeilen später aus der selben Bildunterschrift.

Aber es kommt noch schöner. Zunächst überrascht uns der Texter mit der Nachricht, dass nicht Kommissar Hidde (dargestellt von Alexander Held) auf diesem Bild ermittelt. Diese Illusion wird uns geraubt, wenn wir sie denn jemals hatten. Ganz unverblümt wird uns mitgeteilt, dass hier Schauspieler Held selbst ermittelt, genauer: zu ermitteln versucht. Warum versucht er nur, was ein Kommissar berufsbedingt doch einfach können sollte? Gar deshalb, weil das ZDF ihm als Schauspieler keine professionelle Ausbildung zum Kriminalbeamten hat angedeihen lassen? Oder etwa deshalb, weil das Opfer mausetot ist und der Kriminalschauspieler es bloß noch nicht gemerkt hat?

Und nun die Krönung. Was genau versucht der Mann, egal ob schauspielernder Ermittler oder ermittelnder Schauspieler, der da an einem vermutlich doch ertrunkenen Verbrechensopfer herumfingert? Was versucht er zu ermitteln? Wenn wir unserem anonymen BU-Texter glauben sollen, dann versucht er zu ermitteln, „warum ein Mann tot aus der Ostsee geborgen wurde.“ Man lese und staune. Hier wird nicht etwa ermittelt, warum der Mann tot ist. Auch nicht, wie er in die Ostsee kam. Auch nicht, was zu seinem Tod geführt hat. Sondern? Warum er geborgen wurde. Genauer: Warum er tot geborgen wurde. Nachdem wir diese Bildunterschrift gelesen und verstanden haben, meinen wir geradezu die Frage zu vernehmen, die Alexander Held alias Karl Hidde seinen triefnassen Kollegen von der Wasserschutzpolizei (nicht im Bild) soeben stellt: „Warum habt ihr den denn geborgen? Der ist doch schon tot!“

Conscience Dreaming

Sunday, 09. January 2011

jared

Wieder mal ballert ein entfesselter Egomane um sich, reißt sechs Menschen in den Tod, verletzt weitere schwer – und schweigt vorerst. Immerhin gelang es, den Amokschützen außer Gefecht zu setzen, ohne ihn dabei endgültig zum Schweigen zu bringen. Für die Angehörigen der Opfer solcher Wahnsinnstaten ist es ja oft besonders belastend, wenn die Tatmotive völlig im Dunklen bleiben. Sie wüssten gern, was den Killer geritten hat, und seien es noch so konfuse Phantasmen. Im aktuellen Fall hat der Killer, ein 22-jähriger Sunnyboy [siehe Titelbild], eine nicht ganz uninteressante Spur im Web hinterlassen.

Bei YouTube sind drei „Textfilme“ von ihm hinterlegt, weiße Schrift auf schwarzem Grund, seine „Endgültigen Gedanken“, ein Filmchen über „Mind Controll“ und eine „Einführung“, die er noch am 15. Dezember 2010 online gestellt hat. Die Zusammenfassungen dieser Texte, die unsere Zeitungs- und Magazin-Redaktionen am Wochenende auf ihren Internet-Seiten publiziert haben, sind mal wieder erbarmungswürdig hingehudelte Machwerke. So schreibt SPON: „Es ist nicht möglich, aus den drei Videobotschaften L.s so etwas wie ein geschlossenes Weltbild zu rekonstruieren. Die von bedrohlicher Musik unterlegten Texte kreisen immer um dieselben Motive: Gedankenkontrolle, Gehirnwäsche, Grammatik, Analphabetismus, Bürgerrechte und die US-Verfassung. Das alles hält weniger einen Leitgedanken als vielmehr ein diffuses Verschwörungsgefühl zusammen.“ Und die WELT weiß zu berichten: „Der College-Abbrecher verfasste wirre Anti-Regierungs-Propaganda und nannte Schulen einen Verfassungsbruch. Die Mehrheit der Bürger im Wahlkreis 8 (dem Distrikt von Giffords) seien ,Analphabeten – lächerlich‘. Am 30. Dezember notierte der spätere Amokläufer: ,Mit jeder weiteren Beschwerde wird mein Schuss nun sein Ziel finden. Die Jagd ist mein beherrschender Gedanke.‘“

Bevor nach dem Facebook-Eintrag von Jared Lee Loughner auch seine YouTube-„Testamente“ gelöscht werden, dokumentiere ich hier vorsichtshalber mal die vollständigen Texte:

Jarred Lee Loughner My Final Thoughts

Loughner hat überdies eine Liste seiner Lieblingsbücher veröffentlicht. Immerhin mal ein belesener Amokschütze! Aber aus unseren Medien erfährt man bloß, dass Hitlers Mein Kampf und das Kommunistische Manifest auf dieser Liste stehen. Hier der Rest der Liste für alle, die noch immer der antiquierten Auffassung anhängen, dass zu einer qualifizierten Meinungsbildung eine halbwegs vollständige Materialgrundlage gehört:

George Orwell: Die Farm der Tiere; Aldous Huxley: Schöne neue Welt; Lyman Frank Baum: Der Zauberer von Oz; Äsop: Die Fabeln; Homer: Die Odyssee; Lewis Carroll: Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln; Ray Bradbury: Fahrenheit 451; James Matthew Barrie: Peter Pan; Harper Lee: Wer die Nachtigall stört; Ayn Rand: Vom Leben unbesiegt; Norton Juster: Weckerhund, Wedermann und Schlafittchen; Ken Kesey: Einer flog über das Kuckucksnest; Charles Bukowski: Ausgeträumt; Karl Marx / Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest; Hermann Hesse: Siddhartha; Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer; Jonathan Swift: Gullivers Reisen; Adolf Hitler: Mein Kampf; Platon: Der Staat und Menon. [Nachsatz vom 10. Janaur 2011: Heute schreibt SPON über Loughner: „[…] er scheint überhaupt keine klaren politischen Überzeugungen zu haben. Zu seinen Lieblingsbüchern zählte er das Kommunistische Manifest, Hitlers Mein Kampf und Peter Pan, ein wirres Sammelsurium.“ Als ob man aus einer Liste von 21 Lieblingsbüchern auf die politischen Überzeugungen des Lesers schließen könnte! Und wie der anonyme Verfasser dieses Schnellschuss-Artikels darauf kommt, es handele sich bei der Zusammenstellung um ein „wirres Sammelsurium“, das bleibt sein Geheimnis. Vielmehr ist sehr wohl ein gemeinsamer Nenner zu erkennen – aber nur für jemanden, der den größten Teil der genannten Bücher kennt.]

Minipics und andere Macken

Saturday, 08. January 2011

innenistaussen

Bei der Durchsicht der ältesten Artikel in diesem Blog anlässlich der Rekonstruktion meiner Abnabelung von Westropolis zwischen März und August 2008 fiel mir auf, dass ich anfangs offenbar Probleme hatte, die Titelbilder in einer akzeptablen Größe einzubinden. Bis zum 16. September 2008 hatten meine Abbildungen bloß Briefmarkenformat – und haben es bis heute, ein Makel, den ich nun in den nächsten Tagen beheben werde.

Dies ist ja neben ein paar anderen Kleinigkeiten eines jener unauffälligen Merkmale, die mein Weblog von den meisten anderen unterscheiden: Die älteren Beiträge sind mir nicht bloß deshalb schon gleichgültig, weil sie auf den allerersten Blick nicht sichtbar sind. Mich schert sehr wohl auch mein Gestriges – das ich notfalls lösche, wenn es mir aus der zeitlichen Distanz als Geschwätz erscheint. Ansonsten aber trachte ich danach, es zu berichtigen, zu verbessern, zu präzisieren, zu kürzen oder zu erweitern. (Für Hinweise genauer Leser auf Fehler u. ä. bin ich dankbar.)

Ich weiß, dass es längst nicht nur die besagten Minipics sind, die ich überarbeiten muss. Manche frühen Beiträge haben ja noch gar kein Titelbild. Etliche Bilder gefallen mir nicht mehr und sollten durch passendere ersetzt werden. Ein weiteres drängendes Problem betrifft die Links. Viele Pfade, besonders natürlich die älteren, dürften mittlerweile ins Nirgendwo führen. Anfangs habe ich das Mittel der Verlinkung im Überschwang dieser neuen Option gewiss viel zu freigiebig eingesetzt. Hier wäre eine radikale Bereinigung angezeigt. Aber das verschlingt viel Zeit. Vielleicht finde ich einen Assistenten, der mir solche Jobs abnehmen kann?

Besonders belastet mich die Ordnerstruktur, die schon seit etlichen Monaten völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Zunächst dachte ich ja, alle meine Themen in den 26 alphabetisch geordneten „Mappen“ unterbringen zu können, die ich mit dem Haupttitel Würfelwürfe versehen hatte. In meinem Abracadabra hatte ich versucht zu erklären, womit ich jede einzelne dieser Mappen zu befüllen gedachte. Aber selbst mit diesem Entwurf kam ich nicht zu Rande. Nun gibt es längst Konkurrenz auf der Ebene des Haupttitels, zu dem sich allerlei Sonderbarkeiten von Absturz! bis Zeitsprünge gesellt haben. All dies ist äußerst unbefriedigend und bedarf dringend einer Generalrevision.

Und schließlich stellt sich die Frage, wie ich die mir noch wichtigen Westropolis-Beiträge der Zeit von März 2007 bis August 2008 in mein Revierflaneur-Blog integrieren soll. Einstweilen kann ich hier nur bekennen, dass ich mir all dieser Macken bewusst bin; und versprechen, dass ich sie beheben werde, sobald es mir eben möglich ist.

Philip K. Dick (I)

Friday, 07. January 2011

einkleinesloechlein

Auf dieses Leseabenteuer habe ich mich lange gefreut und mich deshalb so gründlich darauf vorbereitet wie lange auf keines mehr. Nahezu alles, was von Philip K. Dick seit Anfang der 1960er-Jahre in deutscher Übersetzung erschienen ist, alle Erzählungen und alle Romane und noch manches an autobiographischem Kleinkram steht nun geriffbereit neben meiner Chaiselongue in einem freistehenden Bücherbord aus poliertem Shishamholz mit Elfenbeinintarsien.

Am Neujahrstag habe ich mit der Lektüre der Erzählungen begonnen, wie sie in der zehnbändigen Gesamtausgabe vorliegen, die der Haffmans-Verlag verdienstvollerweise in den Jahren 1993 bis 2001 herausgebracht hat. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mir täglich nur eine dieser 118 Geschichten zu gönnen, aber auch hier hat wieder einmal mein Suchtcharakter das Regiment an sich gerissen und alle meine guten Vorsätze überrannt, sodass ich innerhalb von nur sechs Tagen die ersten 44 Storys mit Haut und Haar verschlang.

Mein erster Eindruck übertrifft meine eigentlich schon kühnen Erwartungen noch um ein Mehrfaches!

Nicht allein, dass Dick es versteht, den Leser mit den ersten vier oder fünf Sätzen vom Fleck weg am Schlafittchen zu packen und bis zur letzten Zeile nicht mehr loszulassen, macht sein Genie aus. Und auch sein offenbar unerschöpflicher Ideenreichtum ist nicht sein wertvollstes Vermögen, obzwar es ihm immerhin erlaubt, manch grandiosen Einfall in einem Stückchen Kurzprosa zu verschleudern, aus dem andere Schriftsteller ganze Romanzyklen zimmern würden. Noch von manch weiteren Begabungen wird hier ausführlich zu reden sein – wie von seinen atemberaubenden prophetischen Talenten, seiner schlafwandlerischen Intuition bei der Verfertigung glaubwürdiger Dialoge, der klugen Ökonomie beim Einsatz seiner narrativen Mittel –, die aber doch alle nicht die Krone sind, die ihn zu einem einsamen König außer Konkurrenz macht.

Was ich wahrhaft vielbelesener Bücherfresser noch bei keinem Autor gleich welcher Zeit und Sprache so gefunden habe, das ist die chamäleonhafte Fähigkeit, sich völlig verschiedene epische Witterungen, ach was: Klimata anzuverwandeln. Philip K. Dick bringt es fertig, im Abstand weniger Tage solch eine abgrundtief hoffnungslose apokalyptische Vision wie Breakfast at Twilight zu schreiben und gleich darauf eine Geschichte wie A Present for Pat, bei der ich seit langem wieder einmal Tränen gelacht habe. Es fällt mir schwer zu glauben, dass all diese so unterschiedlichen Erzählungen aus der Feder eines einzigen Menschen stammen. Wenn ich nicht schon aus der großartigen Dick-Biographie von Lawrence Sutin wüsste, dass dieser Autor ein Acidhead und Speedy Gonzales vor dem Herrn war, ich wäre auch so drauf gekommen, denn für die Entwicklung solch einer multiplen Schriftsteller-Persönlichkeit gibt es keine andere Erklärung. Es sei denn …

Schneeschärfe

Thursday, 06. January 2011

schneeschmutz

Zweiter schneereicher Winter in Folge. Wieder wundern sich die Automenschen, dass es noch oder wieder ein Wetter gibt. Es wird allgemein als besonders empörend empfunden, dass man sich über dieses Zuviel an Schnee nirgends beschweren kann. Heiligabend kurz vor der Bescherung hatte sich albernerweise ausgerechnet ein Schneepflug in unserer engen Straße dermaßen in einer Wehe festgefräst, dass es kein Vor und kein Zurück mehr gab. Zwei völlig überforderte junge Männer schippten und fluchten erfolglos vor sich hin. Ich erbarmte mich und brachte als stoppelbärtiges Christkind zwei Tassen mit dampfendem Kaffee vor die Tür. Die beiden Jungs waren den Tränen nahe, halb vor Zorn und halb vor Rührung.

Neue Aufgabenstellungen ergaben sich laufend. Wie versetzt man einer knapp über der Dachrinne blockierten Schneelawine, der nur noch ein Quäntchen fehlt, um mit Getöse auf den darunterliegenden Bürgersteig zu donnern, den entscheidenden Klaps, damit dieses Ereignis unter fürsorglicher Aufsicht geschieht und nicht etwa unversehens ein zufällig darunter her wackelndes Mütterchen samt Schoßhund unter sich begräbt? Ich wurde Zeuge eines vergeblichen Versuchs mit verlängertem Besenstiel, aus der Dachlucke heraus. Es fehlten etwa zwanzig Zentimeter und mir die Zeit, die Fortsetzung der Experimente bis zum Erfolg abzuwarten. Daheim fiel mir ein, dass vielleicht ein von der Straße aus hinaufgeschleuderter Gegenstand eher zum gewünschten Ergebnis geführt hätte, sicherheitshalber befestigt an einem Seil.

Der Schnee blieb ungewöhnlich lange liegen. Und er veränderte unterdessen beständig seine Eigenschaften. Anfangs ließen sich mit ihm keine Schneebälle formen, er zerfiel nach dem Zusammenpressen zwischen den Handschuhen gleich wieder. Zwei Tage später eignete er sich zur Produktion von geradezu gefährlich festen Geschossen. Nach zwei weiteren Tagen pappte er wieder nicht mehr richtig, zerfiel aber auf eine andere Weise als anfangs. Mir fehlen zur Beschreibung der verschiedenen Konsistenzen die Begriffe. Dabei denke ich wieder an jene hundert Worte für Schnee, die die Eskimos angeblich kennen, um Nuancen des Schnees zu unterscheiden, die wir schneeblinden Mitteleuropäer gar nicht wahrnehmen, was aber längst als Ammenmärchen entlarvt ist.

Wenn es so ausdauernd schneit und der Schnee ein paar Tage liegen geblieben ist, kann man jedenfalls beim besten Willen nicht mehr übersehen, wie dreckig die Straßen unserer Städte sind [siehe Titelbild].

Und noch ein Letztes zum Schnee. Unsere Hündin schnuppert in mancher Spur mit deutlich größerem Interesse als sonst, was ich mir so erkläre, dass die Schneedecke zunächst alle Gerüche hermetisch verschließt, die durch die Löcher in dieser Decke durchbrechenden Düfte aber dadurch desto intensiver auf die feine Hundenase wirken.

Heinrich Funke: Das Testament (VII)

Wednesday, 05. January 2011

Heinrich Funke Das Testament (VII)

„Ein Leben dessen Sinn vom Zufall abhängt ist nicht wert gelebt zu werden“ – uff! Da muss ich erst einmal, zweimal, dreimal tief durchatmen. Ein Leben? Sinn? Zufall? Dieser Satz kommt mir vor wie eine Gleichung mit drei Unbekannten und einer Null im Ergebnis. Wenn ich mir ganz bildlich vorzustellen versuche, wie ein vom Zufall abhängendes Leben aussehen könnte, dann erscheint vor meinem inneren Auge ein verwegener Spieler, der die Trommel seines Revolvers rotieren lässt und sich dann den Lauf in den Mund schiebt, ganz tief, bis er knapp vor dem Zäpfchen an den Gaumen stößt. Und wenn es dann nicht wumm! macht sondern klick!, dann ist der Rest dieses Lebens nicht mehr wert, gelebt zu werden. Aber war es vor dem Klick vielleicht trotzdem sinnvoll? Und wäre es genauso sinnvoll gewesen, wenn es zufällig wumm! gemacht hätte? Wie gesagt: uff!

Ich habe mit allen drei Begriffen ein Problem, bei jedem ein anderes. Leben ist mir zu unbestimmt, weil ich nicht weiß, ob das Leben als ein Ganzes, als die gesamte Zeit von der Geburt bis zum Tod, gemeint ist; oder das Leben nur in dem Augenblick oder in der Lebensphase, da sein Sinn vom Zufall abhängt.

Sinn ist ein Wort, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellen, wenn es – um es mit einem Wortspiel auszudrücken – wesentlich mehr bedeuten soll als die schlichte Bedeutung im semantischen Sinn. Wenn ich jemanden sagen höre, nach dem Tod eines nahen Angehörigen habe sein Leben jeden Sinn verloren, dann weiß ich, was in allen ähnlichen Fällen damit gemeint ist, nämlich ein völliger Verlust von Lebensqualität. (Insofern hege ich den Verdacht, dass der hier zur Diskussion stehende Satz nicht mehr bedeutet als: „Ein Leben ohne Freude ist freudlos.“)

Über Zufall habe ich, wie gelegentlich beiläufig erwähnt, ein sehr dickes und definitives Buch geschrieben, das neben vielen anderen Ergebnissen auch darauf hinausläuft, dem Wort über seine triviale Verwendung hinaus jede Sinnhaftigkeit und Effizienz in ontologischen oder erkenntnistheoretischen Diskursen abzusprechen. Zufall? Ein ausgesprochenes Wischiwaschiwort!

Und noch was. Wenn ich nun sagte, dass der Sinn meines Lebens vom Zufall abhängt; oder wenn Heinrich Funke (oder die Geheimpolizei) nach genauer Beobachtung meines Lebens zu dem Ergebnis käme, dass es vom Zufall abhängt – und wenn es sich so verhielte, wie in diesem Satz behauptet: dass mein Leben deshalb nicht wert wäre, gelebt zu werden: Was folgte daraus? Was daraus folgen kann, wenn Menschenleben – ganz gleich mit welchen plausiblen oder irrwitzigen Begründungen – für unwert erklärt werden, das hat die Geschichte meines Vaterlandes vor noch nicht allzu langer Zeit vorgeführt. – Die drei chinesischen Opas schauen in einen Kessel, der mich an die Gefäße auf Witzzeichnungen erinnert, in denen weiße Missionare oder Forschungsreisende von schwarzen Menschenfressern gargekocht werden. Dieser Kessel hier scheint aber leer zu sein, so sinnleer wie der Satz, der darunter zu lesen ist.

Westropolis – ein Epilog (II)

Tuesday, 04. January 2011

sinkendesschiff

Seit heute ist die Westropolis-Seite im Web nicht mehr erreichbar. Mit vier Tagen Verspätung hat nun die WAZ-Gruppe ihre Drohung wahrgemacht und alle Inhalte aus knapp vier Jahren, etliche tausend Artikel und alle darauf eingegangenen Kommentare rückstandslos gelöscht. Das erstaunt mich nicht, denn ein Wertbewusstsein für geistige oder kreative Leistungen gab es in diesem Haus noch nie. Was mich eher schon wundert ist das Erstaunen einiger bis zuletzt dieser Plattform treu ergebenen Autoren-Kollegen und Kommentatoren, die darüber knatschten, dass man doch wenigstens die Inhalte stehen lassen könnte. Naja, solche Ewigkeitswerte haben wir hier nun auch wieder nicht geschaffen. Und wer seine eigenen Erzeugnisse für die Zukunft konservieren wollte, konnte ja verfahren wie Jens Matheuszik vom Pottblog und seine Beiträge noch rechtzeitig sichern.

Nachdem ich mich am 31. August 2008 bei Westropolis abgemeldet hatte, ging ich vielleicht wenn ’s hochkommt noch vier- oder fünfmal auf diese Seite, in großen Abständen und immer mit dem Ergebnis, dass die Schwächen dieses Auftritts fortbestanden, das Niveau der schwächsten Artikel immer noch weiter sank, einige wenige lesbare Autoren – wie Bernd Berke und Ingo Juknat – ihre Perlen vor die Säue warfen, der Kreis der ernst zu nehmenden Kommentatorinnen auf Kaffeekränzchenformat schrumpfte und der ehemalige Ausflugsdampfer Westropolis zuletzt an ein Geisterschiff erinnerte. In meinem Abschiedsgruß hatte ich ganz ohne Groll und Häme meine Kritikpunkte an der Kultur-Website der Zeitungsgruppe durchnummeriert: „1. Das war wohl nur ein Pilotprojekt für DerWesten, leider aber 2. ohne Pilot, mit einer 3. von Anfang an recht dilettantischen thematischen Struktur, die 4. anzupassen offenbar die Mittel fehlten, wie auch 5. ein engagiertes Management, das die Emphase und Energie aufgebracht hätte, die durchaus vorhandenen Potenziale über die Minimalvorgaben der Geschäftsführung hinauszuführen, geschweige denn 6. über deren vermutliche Bedenken, also 7. ein vorhersehbares (und auch vorhergesehenes) Scheitern, bei dem es 8. schließlich nun nur noch darauf ankommt, die Peinlichkeit in Grenzen zu halten, was 9. gewiss auch gelingen wird und das mir 10. für die Dauer meiner Teilnahme allerlei Illusionen beschert hat, die ich nicht missen möchte und deren schmerzvolle Zerstörung mich auf meinem Weg ein gutes Stück vorangebracht hat.“

Das könnte ich im Großen und Ganzen heute noch unterschreiben. Allenfalls die Begrenzung der Peinlichkeit gelang zuletzt immer schlechter, wie ich jetzt weiß, denn ich habe mir in den ruhigen Tagen „zwischen den Jahren“ die Bescherung noch einmal genauer angeschaut und muss sagen: Pfui Teufel! Und insofern war es endlich mal eine kluge Entscheidung der für dieses Desaster Verantwortlichen, den vergifteten Komposthaufen in Gänze abzufackeln, auch wenn dabei manches hübsche Pflänzchen mit in Rauch aufging. Was meine eigenen exakt 367 Westropolis-Artikel betrifft, immerhin ca. 6,55 % aller dort veröffentlichten rund 5.600 Artikel, so habe ich mir in kluger Voraussicht vertraglich zusichern lassen, dass mir deren Wiederverwertung in meinem eigenen Weblog vorbehalten bleibt. Mindestens jene Artikel, auf die ich in meinem Revierflaneur-Blog, also von hier aus verlinkt habe, werde ich bei Gelegenheit und vermutlich in einer überarbeiteten Version wieder online stellen.

Darüber hinaus bleibt natürlich eine Handvoll Fragen, die dieses Experiment aufgeworfen hat und zu deren Beantwortung ich eventuell den einen oder anderen Beitrag leisten könnte. Erstens: Welche Qualitäten führten dazu, dass sich anfangs bei Westropolis, wenn man den Kommentaren etwa der ersten beiden Jahre trauen darf, eine ambitionierte, gebildete und treue Leserschaft einfand? Zweitens: Welche Möglichkeiten hätten bestanden, diese Qualitäten zu kultivieren und damit das Profil der Website zu schärfen? Drittens: Warum geschah dies nicht – mit der Folge, dass sich schließlich Trolle und andere Wirrköpfe einnisteten und die ernsthaft an den kulturellen Inhalten interessierten Leser verschreckt wurden? Viertens: Welche Schlüsse kann man aus den Erfahrungen mit dem „Experiment“ Westropolis für die Voraussetzungen einer erfolgreichen Kulturplattform für das Ruhrgebiet im Internet der Zukunft ziehen? Fünftens: Wer ist interessiert und in der Lage, eine solche Plattform zu realisieren, sowohl inhaltlich als auch materiell?

In den Folgen III bis VII werde ich mich bemühen, meine persönlichen Antworten auf diese fünf Fragen zu finden.

[Zur nächsten Folge. – Zurück zum Anfang der Serie.]

Optimismus rational?

Monday, 03. January 2011

blase5

Zum Jahresauftakt begrüßt uns die Süddeutsche mit einem jener beliebten Pro-und-contra-Spielchen, die vermutlich gedacht sind, Ehepaare schon am Frühstückstisch für den Rest des Tages zu entzweien und einsame Menschen in die Persönlichkeitsspaltung zu treiben, im Alltag der Leser in aller Regel aber nicht mehr anrichten als ein lauwarmes Sowohl-als-auch-Gefühl, begleitet von jener etwas verspannt wirkenden Kopfbewegung, die sich nicht zwischen Nicken und Schütteln entscheiden mag.

Optimismus vs. Pessimismus, so lautet heute der streitbare Begriffsgegensatz; und die Kontrahenten, die diese gegensätzlichen Haltungen in den Ring schicken, sind der „Optimist“ Adrian Kreye, seit vier Jahren neben Thomas Steinfeld Feuilletonchef der SZ; und der „Pessimist“ Alain de Botton, in London lebender Schweizer, Verfasser einiger populärer Bücher über philosophische Lebensfragen, oder besser: die Philosophie der Lebenskunst. Warum nun gerade dieses Paar sich berufen fühlt, den uralten Menschheitswiderspruch zwischen Skepsis und Zuversicht zum Jahresbeginn einer aktuellen Betrachtung zu unterziehen? Ich weiß es nicht. Noch nicht einmal die Rollenverteilung erscheint mir plausibel, beschäftigt sich doch de Botton in seinen Büchern vorzugsweise mit so weltzugewandten, lebensfrohen Gegenständen wie Flugreisen, moderner Architektur, der Liebe und dem Shopping. So war ich zunächst hin- und hergerissen, welches der beiden Plädoyers ich aufs Korn nehmen sollte, scheinen sie mir doch beide gleich konfus und missglückt. Ich entschied mich dann doch für Kreyes Artikel Täglich eine Lösung, der uns ja schon im Titel den Optimismus wie eine ärztliche Zwangsverordnung in Pillenform andient und sich damit das Hintertürchen der Selbstironie offenhält. Zudem versteckt sich der Verfasser hinter Zitaten aus „Schlüsselwerken des rationalen Optimismus“ und macht dabei nicht recht deutlich, ob er mit den aus ihnen zitierten Kernthesen denn tatsächlich übereinstimmt.

Aus einem Vortrag des britischen Wissenschaftsjournalisten Matt Ridley zitiert Kreye eine bemerkenswerte Gegenüberstellung. Hier die vierzig Jahre alten Kassandrarufe europäischer Pessimisten, da die wunderbaren Realitäten unserer globalisierten Welt von heute: „Als ich in den siebziger Jahren hier in Oxford studierte, war es um die Zukunft der Welt nicht gut bestellt. Die Bevölkerungsexplosion war nicht aufzuhalten. Globale Hungersnot schien unvermeidlich. Eine Krebsepidemie durch Umweltgifte schien unsere Lebenserwartung zu reduzieren. Saurer Regen entlaubte unsere Wälder. Die Wüste breitete sich mit einer Geschwindigkeit von zwei Meilen pro Jahr aus. Das Öl wurde knapp. Ein nuklearer Winter würde uns den Garaus bereiten. Nichts davon trat ein. – Erstaunlicherweise haben sich die Dinge alleine während meines Lebens zum Besseren gewendet. Das globale Durchschnittseinkommen hat sich pro Kopf verdreifacht. Die Lebenserwartung ist um dreißig Prozent gestiegen. Die Kindersterblichkeit ist um zwei Drittel gesunken. Die Lebensmittelproduktion ist pro Kopf um ein Drittel gestiegen. Und all das, während sich die Weltbevölkerung verdoppelt hat.“ (Zit. nach Adrian Kreye: Täglich eine Lösung. Ein Plädoyer für rationalen Optimismus; in: SZ Nr. 1 v. 3. Januar 2011, S. 11. – Den vollständigen launigen Vortrag des Zoologen Ridley kann man sich hier ansehen und anhören.)

Der rhetorische Trick ist so leicht durchschaubar, dass es geradezu einer Beleidigung des Publikums gleichkommt, welches aber offenbar darauf reinfällt und sich köstlich amüsiert. Tatsächlich sind ja nahezu alle düsteren Prognosen aus den 1970er-Jahren, die Ridley eingangs aufzählt, eingetreten: Das exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung schreitet weiter voran; die absolute Zahl der Hunger leidenden Menschen ist heute mit über einer Milliarde größer als je zuvor; dass Krebserkrankungen zu einem beträchtlichen Teil durch zivilisationsbedingte Faktoren ausgelöst oder gefördert werden, steht nach wie vor außer Zweifel; pro Jahr verliert die Erde durch Desertifikation zwölf Millionen Hektar fruchtbaren Bodens von der Größe der gesamten Ackerfläche Deutschlands, Tendenz steigend; dass die Ölvorräte auf der Erde begrenzt sind, kann niemand bezweifeln, dass sie beim jetzigen weltweiten Verbrauch in spätestens 50 Jahren aufgezehrt sein werden, gilt als realistische Einschätzung, dass der gefürchtete Oil-Peak unmittelbar bevorsteht, traut sich niemand laut zu sagen; dass uns ein nuklearer Winter den Garaus machen könnte, ist vielleicht eher eine Prognose aus schlechter Science Fiction, doch sollte dies nicht davon ablenken, dass die Gefahr eines Dritten Weltkriegs unter Einsatz von Nuklearwaffen auch nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht gebannt ist; einzig das besonders in Deutschland in den 1980er-Jahren in den Medien überzeichnete Bedrohungsszenario eines „Waldsterbens“ hat sich als unbegründete Panikmache erwiesen, was aber keineswegs bedeutet, dass der Wald im globalen Maßstab keinen vom Menschen verursachten Existenzbedrohungen ausgesetzt sei. – Und nun kündigt der Redner an, „die Dinge“ hätten sich erstaunlicherweise zum Besseren gewendet. Aber dann spricht er gar nicht über die zuvor genannten „Dinge“, sondern zählt ganz andere auf: das gestiegene globale Durchschnittseinkommen, die höhere Lebenserwartung, die gesunkene Kindersterblichkeit, die gestiegene Lebensmittelproduktion. Jede dieser vier Positionen kann man einer genaueren Betrachtung unterziehen, um sehr bald zu erkennen, dass sie auf reine Augenwischerei hinauslaufen. (So ist es geradezu zynisch, das global gestiegene Durchschnittseinkommen als Beispiel für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse auf der Welt anzuführen, wenn man weiß, dass die soziale Ungleichkeit zwischen wenigen Reichen und vielen Armen weiter rasant zunimmt.)

Fazit: Dieser Matt Ridley ist offenkundig ein Scharlatan, vergleichbar den Hütchenspielern in unseren Fußgängerzonen; und dass ein angesehener und einflussreicher Journalist wie Adrian Kreye auf ihn hereinfällt, ist ein Armutszeugnis.

Heute vor 200 Jahren

Sunday, 02. January 2011

keulenaermel

Eine auf den ersten Blick begeisternde, auf den zweiten immerhin noch gut gemeinte Idee ist die Animation von Lesern im Internet durch tageweise Publikation klassischer Texte über einen mehr oder weniger „runden“ Zeitabstand hinweg. So publiziert der auch sonst überaus fleißige Giesbert Damaschke seit dem 10. Juni 2010 tagessynchron über einen Zeitraum von 187 Jahren hinweg die Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens von Johann Peter Eckermann, beginnend mit dem Eintrag Weimar, Dienstag den 10. Juny 1823. Der Nachteil hierbei: Eckermann machte große Pausen, sei es, dass er nicht zu seinem Herrn und Meister vorgelassen wurde, sei es, dass dieser ihn mit anderen Schreibarbeiten auf Trab hielt, sei es, dass Goethe vielleicht auch mal nichts Nennenswertes von sich gab – obwohl: daran kann es nicht gelegen haben, denn wann immer Goethe schwafelte, schrieb es sein getreuer Eckermann dennoch andachtsvoll in seine Kladde. Wie dem auch sei, gegenwärtig warten die Eckermann-Getreuen bereits seit knapp einem Monat auf die nächste Lieferung. Da ich in der glücklichen Lage bin, Besitzer einer der äußerst seltenen Buchausgaben der Gespräche zu sein, kann ich ihre Ungeduld mit dieser präzisen Auskunft dämpfen: Am 27. Januar ist es wieder soweit!

Was die regelmäßige Publikationsweise angeht, ist ein ähnliches Projekt modernen Klassiker-Recyclings wesentlich verlässlicher. Die von Heinrich von Kleist herausgegebenen Berliner Abendblätter erschienen vom 1. Oktober 1810 bis zum 30. März 1811 (täglich außer sonntags). Seit dem 1. Oktober vorigen Jahres stellt nun die Julius-Maximilians-Universität Würzburg alltäglich die auf den Tag genau 200 Jahre alte Ausgabe dieser Zeitung als PDF-Faksimile ins Internet. Allerdings muss man sich zuerst in eine Mailing-Liste eintragen. Per E-Mail wird man dann täglich über die Freischaltung des neuesten „Blattes“ informiert. Die standardisierte Serien-E-Mail der Uni Würzburg enthält allerlei ellenlange Links, bloß der allerletzte ist entscheidend. Wenn man darauf klickt, ist man fast schon am Ziel, jetzt muss man nur noch sein Passwort eingeben – und schon hat man eine stellenweise etwas vermanschte Frakturschrift auf dem Schirm.

Ich habe dieses Unternehmen erst vor zwei Wochen zufällig entdeckt, aber schon in dieser kurzen Zeit hatte ich zwei Aha-Erlebnisse, die die etwas mühselige Prozedur verlohnten und die ich hier für die Ewigkeit dokumentieren will. (Oder doch wenigstens für die nächsten 200 Jahre.)

An Silvester las ich im 77ten Blatte der Kleistschen Zeitung vom 31. December 1810: „Nach Briefen aus der Wallachei ist der Reis-Effendi, der wegen Friedensunterhandlungen daselbst angekommen war, unverrichteter Sache wieder aus dem Russ. Hauptquartier nach Constantinopel zurückgekehrt.“ Anlässlich dieser Meldung wurde mir erstmals klar, dass die Ortsbezeichnung Wallachei keineswegs ein Ulkname für eine unerreichbar ferne Gegend ist, wie ich bislang angenommen hatte, etwa wie das ähnlich komisch klingende Wort Jottwede, (als Abkürzung von „Janz weit draußen“), sondern vielmehr – wie ich dann schnell herausfand – der Name einer historischen Region im Süden des heutigen Rumänien. Sehr erstaunlich war dann aber mein dazu passendes Erlebnis am Neujahrstag. Ich hörte mit halbem Ohr im Deutschlandfunk die Sendung Bücher für junge Leser, in der die Jugendbuch-Bestenliste des Monats Januar vorgestellt wurde. Gleich der erste Titel war Tschick von Wolfgang Herrndorf, eine Art Roadmovie-Story von zwei jugendlichen Abenteurern. Die beiden Lausbuben stehlen ein Auto. „Wohin sollen wir denn fahren?“, fragt Maik. „In die Wallachai!“, antwortet der Russlanddeutsche Tschick. Und Maik? Der ahnt nicht, dass damit kein Phantasieland gemeint ist, sondern ein ganz konkretes Ziel. – Zufall?

Heute lese ich in den Berliner Abendblättern vom 2. Januar 1811 unter „Miscellen“: Zu Montesquieu’s Zeiten waren die Frisuren so hoch, daß es, wie er witzig bemerkt, aussah, als ob die Gesichter in der Mitte der menschlichen Gestalt ständen; bald nachher wurden die Hacken so hoch, daß es aussah, als ob die Füße diesen sonderbaren Platz einnähmen. Auf eine ähnliche Art waren, mit Montesquieu zu reden, vor einer Handvoll Jahren, die Taillen so dünn, daß es aussah, als ob die Frauen gar keine Leiber hätten; jetzt im Gegentheil sind die Arme so dick, daß es aussieht, als ob sie deren drei hätten.“ Bei der letzten der genannten Modetorheiten fielen mir gleich die Keulenärmel ein, die ich anlässlich meiner Pynchon-Lektüre und -Kommentierung hier einmal zu würdigen hatte. Aber da ging es erstens um die Mode der 1890er-Jahre in den USA; und zweitens beschränkte sich die voluminöse Aufplusterung der Ärmel in diesem Falle auf die Schulterpartie. Eine Ärmelmode, auf die die Beschreibung in Kleists Zeitung passen würde, gab es im Biedermeier [s. Titelbild]. Diese Epoche begann aber erst zehn Jahre später: Ab 1820 setzt die Biedermeier-Mode in Europa ein, keineswegs früher. – Wer kennt sich aus und kann diese Unstimmigkeit aufklären?

Vorsätze

Saturday, 01. January 2011

schwarzeaugenbohnen

Ruhig Blut bewahren! Keine Wutausbrüche zulassen. An mindere Dinge keinen Spott verschwenden. Gleichgültigkeit gegenüber Gleichgültigem beweisen. Immer dran denken, dass die vermeintliche Tücke des Objekts bloß Kraft gewordene Kumulation der eigenen Ungeduld ist.

Noch grundsätzlicher zweifeln. Die Skepsis niemals auf angenehmen Denkprovisorien zur Ruhe betten. Nicht fluchlos einschlafen. Die Furcht am Köcheln halten. Geborgenheit in der Flucht suchen. Weiter, weiter, weiter … aber stets im Zickzack.

Nichts überstürzen! Übermorgen ist fast immer ein günstigerer Tag. Zeitlupe vergrößert Erkenntnisse. Rückschritte führen auch voran. Wozu Wettervorhersagen? Das nächste Wetter kommt bestimmt.

Abschlaffen, nicht anschaffen! Beschleuniger? Weg damit! Wegweiser? Aus dem Weg damit! Ratgeber ausschlagen, Mutmacher auslachen, Wahrsager ausweisen. Zu Glück machen, was nicht niet- und nagelfest ist; den Rest verscherbeln.

Kraft sparen. Fragen spenden. Fehler sammeln. Träume meiden.

Kalter Kaffee

Friday, 31. December 2010

schwarzeflammen

Als ich heute vor einem Jahr, nur halb im Scherz, diese finstere Prognose für 2010 aufstellte, konnte ich noch nicht ahnen, wie strapaziös und gefahrvoll dieses nun endlich vergehende Jahr werden würde – für mich persönlich ebenso wie für den Rest der Welt. Dabei richte ich meinen Blick ja nicht einmal ungeschützt auf die teils traurige, teils erschreckende, teils ekelerregende, teils todlangweilige Wirklichkeit selbst, sondern meist nur auf deren sprachliches bzw. schriftliches Abbild. Doch das reicht mir schon, aber satt!

Längst finde ich kein noch so schwaches Anzeichen mehr, das auf Besserung deutete. Grundsätzlich entpuppen sich alle frohen Botschaften aus der Wirtschaft als Horrormeldungen, wenn ich sie vor einem weiteren zeitlichen und räumlichen Horizont ans Licht halte. Wie kann ich mich – um nur ein Beispiel anzuführen – darüber freuen, wenn in Deutschland neuerdings Beschäftigungsrekorde gefeiert werden, da ich doch weiß, dass diese erstaunliche Trendwende insbesondere von unserem rasant boomenden Autoexportgeschäft mit China ausgelöst wurde. An dieser Entwicklung ist ja nun gar nichts erfreulich! Erstens sollte man ein Land, das Jahr für Jahr seinen eigenen Weltrekord vollstreckter Todesurteile übertrifft und einen Friedensnobelpreisträger im Gefängnis verwahrt, eher mit einem Handelsboykott belegen, als seine Führungsschicht mit Luxuskarossen zu versorgen. Zweitens ist die Beihilfe zur Privatmotorisierung in einem Schwellenland mit demnächst 1,4 Milliarden Einwohnern ökologisch betrachtet eins der schlimmsten Verbrechen, das wir dem Globus antun können. Drittens werden sich diese Chinageschäfte ohnehin bald als ein Strohfeuer erweisen, denn die Ingenieure im Reich der Mitte arbeiten seit Jahren schon mit Unterstützung versierter Hacker fieberhaft an einem west-östlichen „Know-how-Transfer zum Null-Tarif“ von nie dagewesenen Ausmaßen und noch nicht absehbaren Folgen. Viertens erweist sich die Abhängigkeit, in die wir uns mit diesen Exportgeschäften begeben haben, als fatale Falle: Wir hängen am Tropf – und dieses Bild passt noch in anderer Hinsicht, sind wir doch auch demographisch eine Gesellschaft, die zunehmend zum Pflegefall degeneriert.

Wenn ich noch einen Schritt weiter zurücktrete und mir eine Grundwahrheit in Erinnerung rufe, die mich in meiner Jugend Mitte der 1970er-Jahre erreichte und die bei aller Patina, die sie mittlerweile vielleicht angesetzt hat, im Kern immer noch über jeden Zweifel erhaben ist, dann erscheint mir das Tagesgeschäft, das die gewählten oder selbsternannten Politiker als Sachwalter unserer und der Interessen unserer Kinder und Kindeskinder betreiben, wie ein blindwütiges Pfuschwerk. Im Jahr 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine Studie The Limit of Growth, deren Prognosen sich in manchen Details vielleicht als falsch erwiesen haben mögen. Aber die schon im Titel deutlich ausgesprochene Erkenntnis, dass die Möglichkeiten wirtschaftlichen Wachstums auf dieser Erde begrenzt sind, erweist seine Wahrheit in den alltäglichen Horrormeldungen über die schrecklichen Folgen, die wir angerichtet haben, indem wir diese Grenzen nicht respektierten und heute mehr denn je ignorieren.

Noch keine Neujahrsansprache keines Bundekanzlers kam ohne die Beschwörung des wirtschaftlichen Wachstums aus, das ist auch zu diesem Jahreswechsel nicht anders. Diesmal vermeiden Angela Merkels Redenschreiber zwar das mittlerweile vielleicht doch etwas suspekt gewordene Wort „Wachstum“, aber nur, um den gleichen Wahnsinn in andere Wörter zu kleiden. Nachdem die Bundeskanzlerin einige Leistungen der Bundesregierung im zurückliegenden Jahr 2010 aufgezählt hat, resümiert sie: „Das alles trägt zu Zusammenhalt und Wohlergehen bei. Denn Wohlergehen und Wohlstand – das heißt nicht nur ,mehr haben‘, sondern auch ,besser leben‘? Dafür brauchen wir Sie, die Menschen, die etwas besser machen wollen, die sagen: Geht nicht, gibt ’s nicht, die eine Idee haben und den Mut, sie auch umzusetzen.“ (Angela Merkels Neujahrsansprache für 2011; hier nach Welt Online.) – Es geht also wie gehabt um ein Mehr, um quantitatives Wachstum; und die Spitzfindigkeit, dass doch auch Qualität eine Rolle dabei spielen soll, indem ein Besser ins Spiel gebracht wird, ist schnell entlarvt. Schon bei den Ideen, die die Tüftler der Republik mutig verwirklichen sollen, damit die Erfindernation ihren Ruf als solche verteidigen kann, stutzt man und fragt sich, warum hier nicht von einer „guten Idee“ die Rede ist. Dass die bloße Machbarkeit noch kein hinreichendes Plazet für die geschäftstüchtigen Macher sein kann, ihre womöglich zerstörerischen Geisteskinder auf die Menschheit loszulassen, kommt dieser Kanzlerin erst gar nicht in den Sinn. Ideen sind gut, wenn sie sich rechnen und Arbeitsplätze schaffen, das ist nach wie vor das Credo dieser Politik. Eine solche Rhetorik braucht nur 17 Wörter, um den „Ausstieg aus dem Ausstieg“, die Rückkehr zur Atomkraft also, in einen ökologischen und zugleich wirtschaftlichen Geniestreich umzulügen: „Wir gehen den Weg zur modernsten Energieversorgung der Welt, die Klima und Umwelt schont und bezahlbar ist.“ (Angela Merkels Neujahrsansprache für 2011, a. a. O.)

Vorhersagen für das kommende Jahr kann ich mir sparen. Es wird schlimmer, das ist gewiss. Also gilt es der Wahrheit zuliebe, unbarmherzig Schwarzmalerei zu betreiben, Tag für Tag das Elend beim Namen zu nennen. Und wie kann man das durchhalten? Günther Anders kennt folgendes Mittel: „Denjenigen aber, die, von der düsteren Wahrscheinlichkeit der Katastrophe gelähmt, ihren Mut verlieren, denen bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen die zynische Maxime zu befolgen: ,Wenn ich verzweifelt bin, was geht ’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!‘“ (Günther Anders: Thesen zum Atomzeitalter; in: Die atomare Drohung. München: C. H. Beck, 1983, S. 105.) – So auch ich 2011.

Heinrich Funke: Das Testament (VI)

Monday, 27. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (VI)

Ich weiß schon, warum ich Heinrich hier als „Künstler“ vorgestellt habe – und nicht etwa als „Künstler und Autor“, was ja immerhin insofern nahegelegen hätte, als das hier vorgestellte Opus ein Bild- und Wort-Werk ist. Aber der Umgang mit den Wörtern ist Heinrichs starke Seite nicht, das wird wieder bei diesem unbeholfenen Satz deutlich. „Die tiefste Erfahrung lautet nicht Freiheit sondern Ohnmacht“. Eine Erfahrhung kann nicht „lauten“, das spürt man spätestens, wenn man mit einer Frage auf diese Satzaussage zielt: „Wie lautet die tiefste Erfahrung?“ Nein, das ist nicht bloß altbacken, sondern schief bis zum Umfallen. Allenfalls ginge noch „heißt“. Aber warum wählt er nicht die simpelste, doch so naheliegende Variante und schreibt schlicht und schön: „Die tiefste Erfahrung ist nicht Freiheit sondern Ohnmacht“?

Aber wir wissen ja, was das Verb meinen und der Satz bedeuten soll. Viel größere Schwierigkeiten habe ich mit dem Adjektiv „tief“. Was sind denn tiefste Erfahrungen? Haben Erfahrungen überhaupt Tiefe, gar eine mess- und vergleichbare? Und wie soll das Maß zum Vergleich von subjektiver Erfahrungstiefe noch zu deren kollektivem Ausloten tauglich sein? Ich versuche einmal, das Problem an einem konkreten Beispiel von Erfahrung zu erläutern und dabei nicht gleich den Superlativ in den Blick zu nehmen. Ich habe Zahnschmerz erfahren und ich habe Ohrenschmerzen erfahren. Ein Ohrenschmerz-Anfall, an den ich mich noch gut erinnere, war wohl schlimmer als mein schlimmster Zahnschmerz-Anfall. So könnte ich sagen, dass die Erfahrung von Ohrenschmerzen für mich tiefer war als die von Zahnschmerzen. Andererseits hatte ich bisher wesentlich häufiger Zahn- als Ohrenschmerzen, weshalb erstere dann doch die tieferen Spuren bei mir hinterlassen haben. Und wenn ich mich jetzt mit jemandem unterhalte, der ebenfalls bereits sowohl unter Ohren- als auch unter Zahnschmerzen gelitten hat, und dieses Gegenüber widerspricht mir nun energisch: „Aber nein, meine Zahnschmerzen waren viel schlimmer, viel ,tiefer‘, wenn du so willst, als meine Ohrenschmerzen!“ – dann wäre es doch unsinnig, bloß wegen meiner entgegengesetzten Erfahrung auf der allgemeinen Aussage zu beharren: „Ohrenschmerzen sind schlimmer – ,tiefer‘ – als Zahnschmerzen!“

Meine Bedenken gegen diese, um das Mindeste zu sagen, gewagte These von der tiefsten Erfahrung kann ich vielleicht am besten verdeutlichen, wenn ich noch ein paar weitere Vergleichssätze nach dem hier vorgegebenen Muster danebenstelle. Wie wäre es etwa mit: „Schmerz ist eine tiefere Erfahrung als Lust.“ Ist Lust denn überhaupt eine tiefe Erfahrung? Spricht man nicht vielmehr und mit gutem Grund im Gegenteil von höchster Lust? Tatsächlich wäre meiner Erfahrung, was Ohnmacht und Freiheit betrifft, dieser Satz viel näher: „Ohnmacht ist die tiefste, Freiheit die höchste Erfahrung.“ Und noch besser träfe es meine Sicht der Dinge, wenn dieser doch etwas zu allgemeine Satz noch begrenzt würde, etwa so: „Ohnmacht ist die tiefste, Freiheit die höchste Erfahrung unserer Grenzen.“

Aber, bitte! Ich bin ja hier nicht der Künstler und Autor, sondern bloß der Interpret – und als solcher habe ich das Gegebene hinzunehmen, wie es nun einmal vor mich tritt.

Die drei etwas verknittert aussehenden Herren – Chinesen? Philosophen? Mönche? – in ihren wallenden Gewändern stehen beieinander, als müssten sie sich über etwas beraten. Sie haben sich wohl um ein Fass herum versammelt, aus dem sie vielleicht Wein oder Wasser geschöpft haben. Sie haben möglicherweise die Macht, mit vereinten Kräften das Fass umzustoßen, sodass sich sein Inhalt, ganz gleich ob Wasser oder Wein, auf den Boden ergießt. Sie sind frei, dies zu tun und können ihre zwar sinnlose, aber folgenreiche Tat als einen Akt der Freiheit empfinden. Anschließend aber, wenn der Durst sich wieder meldet und der Wein oder meinetwegen auch das Wasser durch die Ritzen des Pflasters in den Boden gesickert ist, dann werden sie in ohnmächtiger Wut die Erfahrung machen, dass es nicht in ihrer Macht steht, das verschwendete Gut wieder ins Fass zurückzubringen. Und diese Wut wird mindestens dann eine tiefere Erfahrung sein als das Gefühl der Freiheit während der sinnlosen Tat, wenn die drei Herren elendiglich verdursten.

Ghana (V) – Bürgerkrieg beim Nachbarn

Sunday, 26. December 2010

fluchtuebergrenzen

Vor zwei Jahren war Ghana für mich ein afrikanischer Staat neben vielen anderen. Und Afrika war der arme Kontinent, Europas schlechtes Gewissen seit der Kolonisation und der Sklavenverschiffung gen Amerika, ein Erdteil der blutrünstigen Diktatoren seit Idi Amin und der Hungerkatastrophen seit Biafra, auch der Bürgerkriege und blutigen Umstürze, der Menschenschlächtereien und Epidemien, nebenbei auch der Ursprungsort von Aids – der Schwarze Kontinent eben, in doppelter Hinsicht: black skin and black sin.

Seither hat einer meiner Söhne ein Jahr in Ghana gelebt, hat dort seine Frau gefunden und sie mit nach Deutschland gebracht. Vor einer Woche ist meine Enkeltochter Liana zur Welt gekommen. Mein Verhältnis zu Ghana ist nach diesen Ereignissen, auf die ich zwar kaum Einfluss nehmen konnte, dennoch ein gewandeltes. Ob ich es will oder nicht: Ghana ist mir nun unversehens ans Herz gewachsen, es liegt mir jedenfalls näher als einer unserer geographischen Nachbarstaaten, näher als zum Beispiel Polen.

Seit einigen Wochen ist im westlichen Nachbarstaat von Ghana, in der Elfenbeinküste (République de Côte d’Ivoire), der Teufel los. Der amtierende Präsident, Laurent Gbagbo, hält sich schon seit fünf Jahren ohne legitimen Wahlentscheid an der Macht. Am 31. Oktober dieses Jahres fand nun endlich eine erste Wahlrunde statt, bei der sich Gbagbo vor seinem schärfsten Konkurrent Alassane Ouattara als Favorit durchsetzte. Bei der Stichwahl am 28. November errang dann Ouattara die Mehrheit. Dies wollte aber Gbagbo nicht akzeptieren und ließ sich, internationalen Protesten zum Trotz, als Präsident vereidigen. Sein Konkurrent gab nicht klein bei und ließ sich ebenfalls vereidigen. Seither hat die Elfenbeinküste zwei amtierende Präsidenten und steht kurz vor einem Bürgerkrieg. In meiner Tageszeitung kommt das Land dennoch nur unter „ferner liefen“ vor. Am Dienstag meldet dpa, dass die EU ein Einreiseverbot für Laurent Gbagbo verhängt habe – als ob dem selbsternannten Präsidenten, der sich seit der Wahl in seinem Amtssitz verschanzt, der Sinn nach einer Europareise stünde! Am Donnerstag meldet AFP, dass deutschen Staatsangehörigen vom Auswärtigen Amt die Ausreise aus Ghana empfohlen werde, da der Machtkampf zwischen Gbagbo und Ouattara jederzeit „auch großflächig in Gewalt umschlagen“ könne. In der Weihnachtsausgabe der Süddeutschen lese ich, dass bereits 200 Menschen in Ghana bei Unruhen zu Tode gekommen seien und die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg wachse. Und heute entnehme ich den Radionachrichten im WDR, dass bereits tausende Menschen aus der Elfenbeinküste ins benachbarte Ausland geflohen seien.

Die Gefahr rückt immer näher, zumal ich weiß, dass die Familie meiner Schwiegertochter in unmittelbarer Nähe der Grenze zur Elfenbeinküste lebt. Ihr Heimatort heißt Dormaa-Ahenkro, eine Kleinstadt mit rund 20.000 Einwohnern. Im aktuellsten Reiseführer für Ghana lese ich: „Die Hauptstraße führt von Sunyani über Berekum schnurstracks nach Dormaa-Ahenkro (80 km), einem Örtchen mitten im Regenwald an der Grenze zu Côte d’Ivoire. Es war einmal viel mehr los hier, nun ,sprudeln‘ die Menschenströme nicht mehr wie früher über die Grenze. Der Grenzposten in Dormaa-Ahenkro ist nur noch für den ,kleinen Grenzverkehr‘ zwischen den beiden Völkern, die eng miteinander verwandt sind, wichtig. – Die eigentliche Grenze liegt noch 7 km weiter westlich von Dormaa-Ahenkro in Badukrom bzw. Gonnokrom. Sehr wenige Autos fahren über diese Grenze zu Zielen in Côte d’Ivoire. Normalerweise ist ein Umsteigen in einer der beiden Grenzstädte notwendig, wobei Gonnokrom besser für den Grenzübertritt per Auto geeignet ist. Gäste mit etwas Zeit sollten Badukrom besuchen, da das Städtchen eine Kuriosität ist. Die Hälfte davon ist ghanaisch und die andere Hälfte ivorisch, Grenzmarkierungen sind jedoch nicht vorhanden. Man geht einfach zu Fuß durch den Ort und begegnet zwei verschiedenen Welten.“ (Jojo Cobbinah: Ghana. Praktisches Reisehandbuch für die „Goldküste“ Westafrikas. Frankfurt am Main: Peter Mayer Verlag, 2009, S. 386.)

Wenn die Grenzen dort so offen sind, dann ist Veronicas Heimat vielleicht schon von Menschen aus dem Nachbarstaat überlaufen, so denke ich. Aber dann erfahre ich aus anderen Quellen, dass die Flüchtlinge nicht nach Osten, sondern ins westlich angrenzende Liberia strömen – und atme auf. Meine Schwiegertochter selbst bekommt von all dem übrigens gar nichts mit. Sie hat jetzt ganz andere Sorgen, muss sich um das kleine Töchterchen kümmern. Wie sehr doch unser ganzes Sinnen und Trachten davon abhängt, was uns nah ist und was fern. Und insofern ist auch klar, da mache ich mir nichts vor, was mir bei aller Empathie stets am nächsten ist: Ich, ich, ich!

Westropolis – ein Epilog (I)

Saturday, 25. December 2010

westropolis

Dieser Tage bekam ich Weihnachtspost vom Comunity Management der Redaktion von DerWesten, dem Internetportal der WAZ-Gruppe in Kooperation mit dem WDR. Die Absenderin bedankte sich bei mir und den Lesern und Kulturfreunden, die „uns“ durch ihre Text- und Bildbeiträge zu der Kulturplattform Westropolis viele interessante und lehrreiche Eindrücke aus der Kulturlandschaft an Rhein und Ruhr vermittelt hätten. Mit der ersten Person Mehrzahl sind wohl einerseits die Comunity Manager bei DerWesten gemeint, andererseits können auch die Leserinnen und Leser in aller Welt mitgedacht werden, die Westropolis in den vergangenen knapp vier Jahren seit Mitte Februar 2007 besucht haben.

Viele waren das vermutlich nie. Und zuletzt dürften die Besucherzahlen wohl noch weiter in den Keller gesackt sein, wenn man von den gegen null tendierenden Kommentarzahlen auf die Gesamtfrequenz hochrechnen will. Dabei hatte das Kulturportal ursprünglich gute Aussichten, sich für das Ruhrgebiet zu einem etablierten Online-Forum für lebendige und unabhängige Kulturberichterstattung zu mausern. Das Webdesign und die Bedienfunktionen konnten sich durchaus sehen lassen. (Entwickelt hatte die Webseite vi knallgrau aus Wien, auf der Basis der hauseigenen Multimedia-Blog-Software twoday media.) Zudem zeichnete sich am Horizont das Kulturhauptstadt-Jahr 2010 ab, das sicher genügend Inhalte für eine lebendige und interessante Kulturberichterstattung bieten würde. Entsprechend aufgeregt reagierten Pottblog, Gelsenclan & Co, die angestammte Blogger-Szene im Revier, auf den Newcomer mit dem reichen Onkel im Hintergrund, der selbst überregional für kurzfristige Aufmerksamkeit sorgte.

Westropolis war gerade gestartet, da hörte ich von diesem „Experiment“. (So nennt es ja zum Abschluss jetzt „Das westropolis-Team“.) Zu diesem Zeitpunkt war für mich bereits absehbar, dass ich nach fast 30 Jahren in festen Anstellungen bald wegen Unternehmensstilllegung auf der Straße stehen würde. Zuletzt war ich u. a. als Redakteur für den Internet-Auftritt eines mittelständischen Verlagshauses tätig gewesen, das Schreiben für Online-Medien war mir also durchaus vertraut: „Knackige Headlines! Bündige Teasertexte! Kurze Sätze! Süffige Geschichten! Das Wichtigste zuerst! Viele Bilder! – Parole: Denk immer an den Döfsten!“ Mit dieser Referenz und jenen Qualifikationen stellte ich mich im frischmöblierten Großraumbüro von DerWesten an der Friedrichstraße in Essen vor und wurde nach Ablieferung einiger Kostproben aus meiner Feder zu meiner Verwunderung vom Fleck weg als regelmäßiger Beiträger engagiert, drei Beiträge pro Woche. Von Mitte April 2007 an prangte mein Zylinderporträt neben ein paar Kollegen im rechten Frame der Westropolis-Seite unter der Titelzeile „Gastautoren“. Mit von der Partie waren anfangs die Westfälische-Rundschau-Redakteure Nadine Albach und Bernd Berke, die Buchautoren Hatice Akyün und Johannes Groschupf, der Dramaturg Christian Scholze, der Musikjournalist Ingo Juknat sowie die Filmjournalistin, Buchautorin und Bloggerin Else Buschheuer; kurz drauf kam noch Jürgen Overkott hinzu, ebenfalls von der WR.

Ich stürzte mich gleich mit Feuereifer in die Arbeit und probierte in den folgenden 16 Monaten allerlei aus. Ich beließ es allerdings nicht beim Schreiben von Artikeln, sondern beteiligte mich auch eifrig als Kommentator, sowohl unter meinen eigenen als auch unter den Beiträgen anderer Autoren. Gerade die lebhafte Diskussion der Texte schien mir ja den besonderen Reiz der Bloggerei auszumachen, im Unterschied zu den langsamen Printmedien, in denen es als „Resonanzboden“ allenfalls eine stiefmütterlich unterhaltene Leserbriefspalte gibt. Hinzu kam, dass ich als Autor keine statistischen Auswertungen zu den Klickzahlen auf meine Artikel erhielt – angeblich gab es dergleichen Statistiken nicht. So war das einzige aussagekräftige Feedback, das ich zu meiner Arbeit erhielt, die Resonanz in den Kommentaren. Ich setzte also meinen Ehrgeiz darein, möglichst viele Kommentare „einzufahren“. Ob das der Qualität meiner Beiträge immer zuträglich war, will ich dahingestellt sein lassen.

Jetzt, wo der Vorhang fällt, scheint evident, dass das Pilotprojekt Westropolis bloß der Absicherung der unerfahrenen Entscheider bei der WAZ-Gruppe diente, um daran risikolos zu testen, ob vi knallgrau ein solches Großobjekt wie den Internet-Auftritt des Zeitungsriesen wohl hinbekäme. Anschließend ließ man den Versuchsballon noch ein Weilchen schweben, er kostete ja kaum was. An einem selbstgestellten Anspruch war vi knallgrau allerdings völlig gescheitert, hatte es über Westropolis doch geheißen, diese vorerst eigenständige Plattform im Kulturbereich solle nach dem Launch von WestEins (so der Arbeitstitel von DerWesten) in das Gesamtportal nahtlos eingegliedert werden können. Davon konnte freilich zu keiner Zeit die Rede sein. Der Button auf Westropolis wirkte bei DerWesten von Anfang an und bis zuletzt wie ein Fremdkörper, wie der verschämte Hinweis auf ein ungeliebtes Kind. – Was mich betrifft, so habe ich meine Arbeit für Westropolis als eine wertvolle Zeit in bester Erinnerung, mit vielen unvergessenen Begegnungen und nützlichen Erfahrungen. Ich nehme die Liquidation des Unternehmens darum zum Anlass, mich öffentlich an einige meiner vielleicht lehrreichsten Erlebnisse zu erinnern, den Kommenden zu Nutz und Frommen, allen anderen zur Unterhaltung oder Übelnahme.

[Zur nächsten Folge.]

Heinrich Funke: Das Testament (V)

Thursday, 23. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (V)

Das zweite Masereel-Bild lässt uns wieder in eine Gaststätte schauen, diesmal in ein Café, wie wir in Spiegelschrift auf der Glastür links hinten lesen können. Wenn wir die beiden Bilder nebeneinanderhalten, dann fällt auf, dass hier trostlose Leere herrscht – während die Trostlosigkeit im vorigen Bild gerade von der Überfüllung herrührte, gerade so, als sollte durch diese Gegenüberstellung deutlich werden: Dem Gast kann es kein Wirt recht machen! Entweder fühlt er sich beengt, oder er leidet unter Vereinsamung. Und natürlich könnte man diese Einsicht vom Gast auf den Menschen ganz allgemein übertragen, der sich auch selten wirklich rundum wohl fühlt in seiner Haut und in seiner Behausung.

Liege ich mit dieser Einschätzung überhaupt richtig? Vielleicht bilde ich mir das Missbehagen der Menschen, die ich in dieser Kneipe und in diesem Café hocken sehe, ja bloß ein. Das ist insofern nicht ganz abwegig, als ich noch nie ein eifriger Kneipenbesucher war und mich in den letzten Jahren schon aus wirtschaftlichen Gründen dort noch rarer gemacht habe. Insofern hätte ich allen Grund, die beiden Bilder mit einem Missbehagen zu betrachten, denn wenn mich die dort gezeigten Orte geselligen Beisammenseins anheimelten, müsste ich ja neidisch werden. Dann wäre meine Empfindung abgründiger Trostlosigkeit, die mich bei der Betrachtung beider Bilder befällt, ein ganz persönlicher Schutzreflex, von dem ich keineswegs eine allgemeingültige Interpretation ableiten dürfte.

Und nun dieser Satz, der wieder wie eine Ermahnung klingt: „Der Finger der auf den Mond zeigt ist nicht der Mond“. Dies könnte allerdings ein Fingerzeig von allgemeinerer Gültigkeit sein, der sich dann ganz grundsätzlich auf unsere Wahrnehmung und insofern auch auf die Betrachtung dieser Linolschnittfolge bezöge. Wir sollen demnach Bild und Text nicht zu eng auffassen und schon gar erst recht dem Zusammenspiel von beidem weitesten Raum lassen.

Ich kenne diese Sentenz nur in einer (allerdings entscheidend) abgewandelten Form: „Wenn der Weise auf den Mond zeigt,“ so heißt es in einem aus dem alten China überlieferten Sprichwort, „sieht der Idiot nur den Finger.“ Hierbei drängte sich mir allerdings immer die Frage auf, warum der vermeintlich Weise denn ein offenbar so untaugliches Mittel einsetzt, wenn er dem Idioten den Mond zeigen will. Ein weiser Lehrer wäre er dann jedenfalls nicht.

Aber auch das will ich gern noch konzedieren, dass es vielleicht Weise geben mag, deren Weisheit dermaßen fern von allen gewöhnlichen Blickrichtungen siedelt, dass auch der gutwilligste Hingucker darüber zum Idioten wird. Nicht selten sah ich aber solche, die beim Anblick des Fingers höchstes Vergnügen empfanden und sich nicht bloß gut unterhalten, sondern auch belehrt fanden. Wollen wir ’s ihnen nicht gönnen? Und was sind wir selbst für arme Tröpfe, wenn wir mit Fingern auf solche zeigen und sie Idioten nennen.

Nichts gefunden?

Wednesday, 22. December 2010

hohlblase

Doch, auch heute gäbe es Stoff genug für meine Zeitungsschelte. Allein, ich war nicht in der rechten Stimmung und muss überdies feststellen, dass ich mir mit meinem Alltäglichkeits-Versprechen für diese Rubrik ein etwas zu enges Korsett umgeschnallt habe. Heute blieb mir schlicht die Puste weg!

Es zeigte sich, dass ich mir selbst solch ein unscheinbares Kläpschen auf die Pfoten der Redakteure nicht mal eben so zwischen Frühstücksei und Stuhlgang abquetschen kann. (Ich weiß, das ist ein schiefes Bild!) Man denke nur an die gestrige Glosse über die Papst-Ansprache. Dazu ist schon einiges an Recherche und mühseligem Textvergleich nötig. Es kostet Zeit und auch Kraft. Zudem stehe ich bei diesen Kritiken an den Kolleginnen und Kollegen unter besonderem Druck, möchte ja um Himmels willen bloß selbst keinen noch so kleinen Fehler machen, denn die Blamage tu ja besonders weh, wenn man mit Steinen schmeißt und plötzlich feststellt, im Glashaus gesessen zu haben.

Darum korrigiere ich mich wieder einmal und modifiziere meine Selbstverpflichtung dahingehend, dass ich mindestens dann ein Zitat aus der Süddeutschen des Tages aufs Korn nehme, wenn ich sonst keinen Beitrag veröffentliche. Es soll ja nicht darauf hinauslaufen, dass ich nur noch „Sprechblasen“ ablasse, so wichtig ist mir das morgendliche Ärgernis der Zeitungslektüre auch wieder nicht. Genauer gesagt: bei Weitem nicht.

Dass ich mir selbst etwas Druck mache, ist ansonsten schon okay! Ich neige nämlich dazu, die Zügel gelegentlich schleifen zu lassen. Mir läuft aber die Zeit davon. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch bei einem Autor, der die Verlangsamung zum Hauptziel seiner Fortbewegung deklariert hat, sowohl in seiner Arbeit als auch in seinem übrigen Leben.

Heute jedenfalls habe ich nicht nötig, mich über den folgenden Werbeslogan in einer Buchrezension zu echauffieren: „Wenn es ein Buch gibt, das die Wall Street beschreibt, wie sie wirklich ist, dann ist es dieses: […].“ (Alexander Mühlauer: Die großen Helden; in: SZ Nr. 296 v. 22. Dezember 2010, S. 26.) Meine treuen Leser werden sich vermutlich selbst denken können, was mich an diesem Satz auf die Palme bringt. Heute darf ich einmal faul sein. Und überhaupt habe ich ja schon einen Blogbeitrag geschrieben – nämlich diesen hier, in dem ich erkläre, warum ich heute blau machen darf [s. Titelbild].

Unvorstellbare Dimension?

Tuesday, 21. December 2010

blase4

Gestern stellte ich noch für die fernere Zukunft in Aussicht, die Unpäpstlichkeit der päpstlichen Rhetorik an einem Beispiel vorzuführen, will sagen: dass der Papst sich beileibe nicht so klar und deutlich ausdrückt, wie es von ihm als der maßgebenden Stimme der katholischen Kirche zu erwarten wäre. Heute nun scheint mir die Süddeutsche ein Kostpröbchen dieser Unklarheit auf dem Silbertablett zu liefern – vorausgesetzt, man traut ihrer redaktionellen Redlichkeit.

Anlass der Berichterstattung war die Ansprache des Papstes an die Römische Kurie mit den traditionellen Weihnachtsgrüßen. Den Inhalt der Botschaft fasst meine Tageszeitung so zusammen: „Die Kirche müsse überlegen, ,was falsch war an unserer Botschaft‘, und die ,Demütigung‘ als Aufruf zur Erneuerung begreifen. Das Ausmaß des Missbrauchs, wie es in diesem Jahr offenbar wurde, habe ,eine unvorstellbare Dimension‘ angenommen, sagte Benedikt vor den im Vatikan versammelten Kardinälen und Bischöfen. ,Wir wissen um die besondere Schwere dieser von Priestern begangenen Sünde und unsere entsprechende Verantwortung‘, sagte der Papst. Die Verbrechen müssten aber auch in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext gesehen werden, etwa im Zusammenhang mit der Verbreitung von Kinderpornographie und Sextourismus. So sei Pädophilie noch in den siebziger Jahren nicht so verpönt gewesen wie heute.“ (Papst fordert Selbstkritik; in: SZ Nr. 295 v. 21. Dezember 2010, S. 6; gleichlautend im Internet bei www.sueddeutsche.de.) Nun sind nur wenige Worte dieser Nachricht, nämlich genau 25, als wörtliche Zitate durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Zudem beruft sich die Zeitung auf Nachrichtenagenturen (dpa und dadp). Somit ist Vorsicht geboten, denn wenn ich nun diese Worte auf die Goldwaage lege, dann will ich nicht später zerknirscht zugeben müssen, dass meine Kritik bloß auf Übersetzungsfehlern, Verdrehungen und Verkürzungen beruht.

Aber immerhin schien mir doch ein Ausdruck eindeutig genug, um mein Missfallen bekunden zu können. Dass das Außmaß des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche „eine unvorstellbare Dimension“ angenommen habe, fand ich sprachlich unscharf und inhaltlich enttäuschend. Ist mit der Dimension der rein zahlenmäßige Umfang gemeint? Dann verstehe ich nicht, was daran unvorstellbar sein soll. Nichts kann man sich doch präziser vorstellen als eine Zahl oder einen Prozentsatz von Tätern. Eher schon kann ich mir denken, dass vielleicht die Vorstellungskraft eines katholischen Geistlichen damit überfordert ist, sich das Ausmaß der Verderbtheit seiner Glaubensbrüder, in jedem einzelnen Fall und in allen schrecklichen Einzelheiten, auszumalen. Aber wenn das so wäre, dann müsste man doch fragen, woher eine solche Weltfremdheit denn rührt – und ob sie nicht geradezu ,systemimmanent‘ ist in einer Kirche, die die Religion über das Leben stellt. Wenn nun aber der Papst selbst dem Ausmaß des Missbrauchs eine „unvorstellbare Dimension“ abliest, muss ich mir Sorgen machen, den eine für viele Millionen Anhänger vorbildliche Instanz sollte doch über genügend Vorstellungsvermögen verfügen, um nicht von den alltäglichen Lastern der übelsten Sünder überrascht zu werden.

So etwa gedachte ich, den in der SZ zitierten Passus – „unvorstellbare Dimension“ – zu demontieren. Sicherheitshalber suchte ich aber im Internet den vollständigen Text der päpstlichen Weihnachtsbotschaft an die Kurie und wurde auch sehr schnell fündig. In dieser Übersetzung – die Ansprache wurde vom Papst wie üblich in lateinischer Sprache verlesen – lauten die von den Presseagenturen zusammengefassten Passagen so: „Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, daß solches geschehen konnte. […] Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. […] [Wir waren] erschüttert, gerade in diesem Jahr in einem Umfang, den wir uns nicht hatten vorstellen können, Fälle von Mißbrauch Minderjähriger durch Priester kennenzulernen, die das Sakrament in sein Gegenteil verkehren, den Menschen in seiner Kindheit – unter dem Deckmantel des Heiligen – zuinnerst verletzen und Schaden für das ganze Leben zufügen. […] Der besonderen Schwere dieser Sünde von Priestern und unserer entsprechenden Verantwortung sind wir uns bewußt. Aber wir können auch nicht schweigen über den Kontext unserer Zeit, in dem diese Vorgänge zu sehen sind. Es gibt einen Markt der Kinderpornographie […]. Von Bischöfen aus den Ländern der Dritten Welt höre ich immer wieder, wie der Sextourismus eine ganze Generation bedroht und sie in ihrer Freiheit und Menschenwürde beschädigt. […] In den 70er Jahren wurde Pädophilie als etwas durchaus dem Menschen und auch dem Kind Gemäßes theoretisiert.“ (Monumentale Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Kurie; zit. nach www.kath.net, 20. Dezember 2010, 14:00 Uhr.) Es geht also nicht um eine Dimension, sondern um den Umfang des Missbrauchs. Und der ist nicht dem Papst nach wie vor unvorstellbar, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen – die meint wohl das „wir“ – hatte es sich nicht vorstellen können, dass so viele Priester auf diesen Abweg gerieten. Daran ist nun tatsächlich nichts auszusetzen. Ich hätte dem Papst Unrecht getan, wenn ich mich auf die „Zitate“ in der Süddeutschen verlassen hätte.

Übrigens bedarf es nur eines kurzen Gegoogels, um an diesem Beispiel wieder einmal zu sehen, dass die Pressevielfalt in den deutschsprachigen Ländern wie so oft nur noch eine vermeintliche ist. In allen Artikeln, die über die päpstliche Ansprache berichten, tauchen die gleichen Versatzstücke der Agenturen auf. Nicht eine der großen Zeitungen macht sich die Mühe, die ja wohl offizielle und vollständige Veröffentlichung des österreichischen Online-Magazins kath.net zu lesen und auf dieser Textgrundlage einen „gerechteren“ Artikel zu verfassen. Erbärmlich!

Trümmerfrau?

Monday, 20. December 2010

blase3

Heute ist die SZ nur ganz indirekt dafür verantwortlich zu machen, wenn ich mit der Faust vor Zorn dermaßen heftig auf den Frühstücktisch schlagen musste, dass die Kaffeetassen bis zur Zimmerdecke sprangen. Übertrieben? Ja, es geht heute um maßlose Übertreibung.

Urheber der Entgleisung des Tages ist diesmal Hilmar Kopper (75), berühmt-berüchtigt für unangebrachte Wortwahl seit seinem „Peanuts“-Ausrutscher von 1994. Auf seine alten Tage ist der Banker nun damit befasst, die HSH Nordbank aus der Krise zu führen, deren Aufsichtsrats-Vorsitzender er seit Juli 2009 ist.

Das mag ein Job sein, der einige Anstrengungen erfordert. Im übetragenen Sinne könnte man vielleicht sagen, dass Kopper die Ärmel aufkrempeln muss, um in dem Laden für Ordnung zu sorgen. Immerhin verstärkte sich bei Kristina Lasker und Klaus Ott, die heute in der Süddeutschen über den aktuellen Stand der Dinge berichten und den 30-seitigen Prüfbericht über die neueste HSH-Affäre eingesehen haben, „der Eindruck, dass es sich bei der Staatsbank aus dem hohen Norden um ein Tollhaus handelt.“ (Projekt Wasserpfeife; in: SZ Nr. 294 v. 30. Dezember 2010, S. 23; vgl. auch den Kommentar v. Caspar Busse auf S. 17.)

Desto schlimmer, dass nun der Aufsichtsratschef, der aus dem Tollhaus wieder ein nach rationalen Regeln geordnetes Kreditinstitut machen soll, selbst närrisch geworden zu sein scheint. Diesen Eindruck gewinne ich nämlich, wenn ich lesen muss, Kopper fühle sich in all den Affären „wie die Trümmerfrau, die nun saubermacht“. Dieser Vergleich ist schamlos! Als die hungernden, frierenden, meist ganz auf sich gestellten Frauen nach dem verlorenen Weltkrieg in den zerbombten deutschen Städten begannen, oft mit bloßen Händen den Schutt beiseite zu räumen und in den Kellern behelfsmäßige Behausungen für sich und ihre Kinder zu schaffen, da war der kleine Hilmar zehn Jahre alt – eigentlich alt genug, um den himmelweiten Unterschied zwischen dieser Plackerei und seinem heutigen Geschäft empfinden zu müssen. Übrigens soll Kopper für seinen Job dem Vernehmen nach, ganz anders als die Trümmerfrauen, mit denen er sich vergleicht, Geld bekommen. Auch insofern ist keinerlei Ähnlichkeit erkennbar. Und wenn ich gedanklich bis an die Wurzeln dieser Geschmacklosigkeit dringe, muss ich gar erkennen, dass Kopper sich den Trümmerfrauen ja nicht etwa als aller Ehren werte Vorbilder zur Seite stellt, sondern sie im Gegenteil als despektierliche Beispiele für eine Arbeit von sich weist, die völlig unter seiner Würde ist.

Und was nun kann meine arme SZ dafür? Auf den ersten Blick nicht viel, da sie ja bloß zitiert, gar aus zweiter Hand, denn Hilmar Kopper hat diesen dummen Vergleich ursprünglich in einem Interview angestellt, das der heutige Spiegel veröffentlicht. Auf den zweiten Blick hätte ich aber doch erwartet, dass die SZ diese neuerliche Entgleisung des Top-Bankmanagers wenigstens als solche benennt. (Ich bin mal gespannt, ob außer mir überhaupt noch jemand daran Anstoß nimmt.)

Heimspiel?

Saturday, 18. December 2010

blase2

Heute berichten S. Braun und C. von Bullion vom Heckmeck um den für September 2011 bevorstehenden Berlin-Besuch des Papstes: Heikler Auftritt im Reichstag (in: SZ Nr. 293 v. 18./19. Dezember 2010, S. 10). Schon der erste Satz lässt nichts Gutes erwarten: „Die Materie ist sensibel, das Terrain unwegsam, die Einhaltung des Protokolls von größter Bedeutung.“

Über Materie, Terrain und Protokoll erfahren wir anschließend: dass der Besuchstermin ursprünglich auf eine Einladung des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) zurückgeht; dass der diese Einladung 2006 spontan ausgesprochen hat, ohne sich mit den Fraktionen abzustimmen, was diese verstimmt habe; dass einige Berliner Grüne (Ströbele), Schwule und Lesben Benedikt XVI. nicht mögen, andere (Künast) aber doch; dass eine Rede unter freiem Himmel vielleicht im Pfeifkonzert dieser Szene untergehen könnte; dass viele deswegen eine Rede im Reichstag sicherer fänden; dass auch der Berliner Erzbischof Georg Sterzinsky froh wäre, wenn der Papst vor dem Bundestag reden dürfte; dass daraufhin ein Sprecher des Bundestagspräsidenten den Erzbischof kühl darüber belehrt habe, allein Herrn Lammert stehe es zu, den Papst ins Hohe Haus einzuladen, und keineswegs Herrn Sterzinsky.

Wenn mich ein Blick auf die Schneeberge vor meinem Fenster nicht eines Besseren belehrte, würde ich annehmen, die Pressetexter steckten im tiefsten Sommerloch. Unwegsam ist allenfalls das Terrain für die Autoren, die blindlings nach einer Materie tasten, aus der sich ein Artikelchen machen ließe, aber sie partout nicht finden – sensibel oder nicht. Ein Sturm im Wasserglas!

Als mir noch Menschen zum Geburtstag gratulieren mussten, die vorgezogen hätten, wenn ich erst gar nicht geboren worden wäre, überreichten sie mir Geschenke, deren einziger Zweck für sie wohl darin bestand, das schreckliche Altpapier nicht zum Container tragen zu müssen, in das sie sie eingewickelt hatten. Ganz ähnlich verfahren heute manche Auftragsschreiber. Wenn sie schon nichts mitzuteilen haben, dann wollen sie bei dieser Gelegenheit wenigstens die eine oder andere sprachliche Schlamperei loswerden. Das Paar Braun / von Bullion (Praktikanten?) musste dringend folgenden Satz entsorgen: „Berlin mit seiner schwul-lesbischen und kirchenkritischen Szene ist, vorsichtig ausgedrückt, kein Heimspiel für Katholiken.“ Einmal kurz durchatmen, bitte! Vorsichtig ausgedrückt? Nicht vorsichtig genug, denn sonst hätte den Autoren dämmern müssen, dass Berlin mitnichten ein Spiel ist, kein Heim-, kein Auswärts- und auch kein Kinderspiel, sondern eine Stadt. Und wenn die beiden gemeint haben, dass der öffentliche Auftritt eines hohen katholischen Würdenträgers in Berlin kein Heimspiel sei, dann sollen sie das doch bitte sagen, diese Umständlichkeit um der sprachlichen Richtigkeit willen können und wollen wir ihnen nicht ersparen.

Mancher gnädigere Leser wird mir nun vorhalten, ich sei päpstlicher als der Papst. Ach was, in Fragen sprachlicher Präzision ist mir der jetzige Papst, obgleich er allenthalben für seine Bildung, gar Intellektualität gerühmt wird, längst nicht päpstlich genug. (Gewiss wird sich beizeiten die Gelegenheit bieten, auch einen Lapsus des Josef Ratzinger aufzuspießen.)

Problemlos?

Friday, 17. December 2010

blase1

Für den allerersten „Schenkelklatscher“ dieser neuen Serie können die Redakteure von der Süddeutschen nichts. Sie zitieren ja nur. Aber dass sie einen solchen Satz wortwörtlich zitieren, ist doch auch wieder ein starkes Stück, denn es lässt nur zwei mögliche Erklärungen zu. Entweder, sie wollen auf diese Weise die Bundesjustizministerin in die Pfanne hauen, deren Mangel an logischem Denkvermögen damit vorgeführt wird; oder aber sie finden nichts dabei, wenn eine Person in dieser Stellung einen solchen Un-Satz zu Protokoll gibt.

Der Hintergrund: Guido Westerwelle, noch amtierender FDP-Bundesvorsitzender und Bundesminister des Auswärtigen, gerät auch aus den Reihen der eigenen Partei zunehmend unter Beschuss, weil laut aktuellen Meinungsumfragen nur noch knapp fünf Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme für die Liberalen abgeben würden. Aus den Landesverbänden wird scharf auf den Vorsitzenden geschossen, da fordern führende Bundespolitiker der FDP ein Ende der internen, aber öffentlich geführten Personaldebatte.

In diesem Zusammenhang meldet sich nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu Wort. Sie räumt ein, dass viele Wähler ihrer Partei enttäuscht seien, weil sie sich in der jetzigen Regierungspolitik nicht wiederfänden. Und dann verbricht sie den folgenden Satz: „Das ist unser Problem und nicht, dass wir die Bürgerinnen und Bürger [jetzt] auch noch mit großen Personaldiskussionen öffentlich behelligen.“ (FDP-Chef in Bedrängnis; in: SZ Nr. 292 v. 17. Dezember 2010, S. 1.)

Die Ministerin sagt hier wörtlich, es sei nicht das Problem der FDP, dass sie die Bürgerinnen und Bürger mit Personaldiskussionen behelligt. Aber das meint sie natürlich nicht, und tatsächlich ist ja nahezu das Gegenteil wahr. Es ist doch eben gerade ein Problem für die FDP, dass einige ihrer führenden Mitglieder in den Landesverbänden, wie Wolfgang Kubicki und Herbert Mertin, eine Personaldiskussion angestoßen haben, denn sonst hätte schließlich die Justizministerin zu diesem Thema überhaupt nicht das Wort ergreifen müssen. Richtig hätte sie etwa so formulieren können: ,Das ist unser Problem, um das wir uns kümmern sollten, und wir machen alles nur noch schlimmer, wenn wir nun öffentlich eine große Personaldiskussion führen und die Bürgerinnen und Bürger mit unseren internen Zwistigkeiten behelligen.‘ Es ist doch so einfach, einen Gedanken klar zum Ausdruck zu bringen – wenn man denn einen klaren Gedanken hat.

Aber wozu soll man sich heute als Politiker anstrengen, klar zu denken, gar zu sprechen? Solche Unschärfen gehen ohnehin unbemerkt im allgemeinen Durcheinander unter oder werden vom medialen Grundrauschen neutralisiert. Diese Gleichgültigkeit geht so weit, dass Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sich nicht scheut, das Interview mit dem geistesschwachen Satz, das sie übrigens Thomas Mayerhöfer vom Rundfunksender Bayern 2 gegeben hat, im O-Ton auf ihre Web-Seite zu setzen. (Daher weiß ich, dass die SZ-Redaktion, die übrigens Quellenangaben für Zitate aus anderen Medien selten für nötig hält, ein „jetzt“ im Satz der Ministerin geschlabbert hat, und konnte es der Richtigkeit zuliebe in eckigen Klammern hinzufügen.)

Der allmorgendliche Schenkelklopfer

Friday, 17. December 2010

blase0

Seit ich mein Interview-Vorhaben mit Oskar Lerbs notgedrungen zu Grabe habe tragen müssen, fehlt mir was. Und jetzt, wo mein Gesprächspartner sich aus dem Staub gemacht hat, kann ich ja freimütig gestehen, dass dieses Projekt eigentlich von Anfang an nicht so lief, wie ich ’s mir ursprünglich gedacht hatte. Die Pausen zwischen den Terminen waren viel zu lang, schon deshalb kam unser Dialog nie richtig in Fluss. Und auch die sture Begrenzung auf fünf Fragen – die allerdings Lerbs zur Bedingung gemacht hatte – war nicht eben förderlich.

Um es rundheraus zu sagen: Was mir eigentlich fehlt, ist die alltägliche Rubrik, mit einem festen Bezugspunkt, der mir gleich in den frühen Morgenstunden zuverlässig einen Anlass bietet, federleicht in Schwung zu kommen und dem Rest des Tages mit dem ruhigen Gewissen entgegensehen zu können, immerhin etwas schon geleistet zu haben.

Jetzt hab ich – Heureka! – genau dieses missing link zwischen meinem äffischen Traumgeschehen in meinen dschungelschwarzen Nächten und den sonnengrellen Geistesblitzen meiner besseren Tage gefunden, das mir an den unvermeidlichen schlechten immerhin doch den kleinen Trost gewährt, mein vegetatives Nervensystem mit allen sonst so überflüssigen Vitalfunktionen nicht ganz umsonst am Laufen gehalten zu haben.

Und dieser Einfall birgt sogar noch einen Zusatznutzen! Seit etlichen Wochen quäle ich mich nämlich mit dem Gedanken, ob ich mich nicht angesichts der angespannten Haushaltslage unserer Familie von dem einzigen klassischen Massenmedium, das mich noch über den aktuellen Verfallszustand unserer Welt unterrichtet, verabschieden soll. Das Abonnement der Süddeutschen Zeitung kostet immerhin monatlich 43,90 Euro. Rechnet man die Sonn- und Feiertage heraus, dann wende ich für meine tägliche Zeitungslektüre am Frühstückstisch rund 1,75 Euro auf. Lohnt sich das? Schließlich bekomme ich die allerschlimmsten Dinge ja unweigerlich aus dem Rundfunk mit (GEZ-Gebühr mtl. 5,76 Euro). Und wo mich „Hintergründe“ und „Meinungen“ interessieren, bin ich im Internet besser bedient, weil vielseitiger orientiert, im weiten Spektrum zwischen Weltwoche und jungle world.

Also stellte sich die unabweisliche Frage: Was würde ich am meisten vermissen, wenn ab Januar 2011 neben meinem Frühstücksteller nicht mehr die SZ läge, sondern – nichts? Die Antwort war schnell gefunden und fiel eindeutig aus. Was ich wirklich entbehren würde, das wären jene sprachlichen und gedanklichen Mängel, Versehen, Unschärfen, Verwechslungen und Fehler, ohne die heute keine einzige Seite einer Tageszeitung mehr auszukommen scheint, selbst jener überregionalen Blätter nicht, ob Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Welt, tageszeitung oder eben meine Süddeutsche. Mich über die täglich aktuellen „Fundstücke“ aus deren Redaktionsstuben zu echauffieren, ist zwischen Traum und Tag mein liebstes Mittel, in Fahrt zu kommen. Dabei bin ich nicht wählerisch. Mal ist es eine grammatische Unmöglichkeit, mal ein Schnitzer bei der Wortwahl, was mich auf die Schenkel klopfen lässt, mal stammt der alltägliche Lapsus vom Leitartikler, mal springt mich der satzgewordene Nonsens aus dem wörtlichen Zitat eines Politikers an. Diese Frühstücksfreuden werde ich ab sofort alltäglich hier unter der neuen Überschrift Sprechblasen rubrizieren und dokumentieren. Und mit dem Titelbild mache ich es mir ganz einfach, wie man sehen wird. (Vielleicht gewährt mir ja die SZ-Redaktion, wenn sie souverän genug ist, meine leidenschaftliche Anteilnahme an ihren Schwächen als Liebeskummer zu verstehen, demnächst ein Gratis-Abo, wer weiß?)

Heinrich Funke: Das Testament (IV)

Thursday, 16. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (IV)

Wer sich ein wenig mit der Druckgraphik des 20. Jahrhunderts auskennt, wird hier gleich sagen: Das Bild sieht aus wie ein Holzschnitt von Frans Masereel. Heinrich Funke, von mir darauf angesprochen, nickte gleich und stellte klar: „Es ist ein Holzschnitt von Masereel.“ Womit natürlich gemeint war, dass er das Motiv mehr oder weniger genau von einem Masereel-Holzschnitt übernommen hat. Nun könnte man auch sagen: geklaut. Aber das ist nun wieder albern, denn selbst ein oberflächlicher Kenner der Kunstgeschichte wie ich identifiziert ohne große Mühe den Urheber der Vorlage. Der Linolschneider Funke hat also den Holzschnitt eines großen Meisters der Druckgraphik „abgekupfert“, um eine der Sentenzen seines Testament genannten Spätwerks zu illustrieren. Nehmen wir das mal so hin und erwähnen noch das Offensichtliche am Rande, dass dieses Bild auf Farbe verzichtet. (Ein kolorierter Masereel wäre allerdings auch ein Sakrileg, gerade so als wollte man Picassos Guernica „in bunt“ nachmalen.)

Nun mag es vielleicht reizvoll sein, das Vorbild mit dem Nachbild zu vergleichen und gegebenenfalls aus den Abweichungen etwelche Schlüsse zu ziehen, als wüchse das Zitat hierdurch zu einer modernen Interpretation heran und gleichsam über die Vorlage hinaus. Aber abgesehen davon, dass ich mir diese gerade in den Künsten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts epidemisch gewordene Zitiererei in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle aus einem Mangel an Originalität jener blutleeren Epigonen von Pop bis Camp erkläre, geht mir ebensosehr jenes Vergleichsgeschwafel der Museumsführer ganz schrecklich auf den Wecker, die ja nur deshalb ununterbrochen darauf hinweisen, dass dieser Federstrich des Malers A entfernt an den des späten B erinnert, damit sie zu dem Bild, vor dem die gläubig lauschende Exkursionsgruppe verharrt, zu dem konkreten Bild da an der Wand, seiner sinnlichen Erscheinung, womöglich gar zu seinem Sinn nichts sagen müssen – weil sie es nämlich auch nicht können.

Reden wir also lieber von etwas ganz andrem. Als notorischer Pedant, der ich nun mal bin, wollte ich wenigstens wissen, aus welchem der bekannte Zyklen des Belgiers die Vorlage für die Gaststättenszene [s. Titelbild] denn nun stammt. Da ich selbst von Frans Masereel nur das Stundenbuch in einer hübschen kleinen Reclam-Ausgabe besitze, das kein auch nur annähernd ähnliches Motiv enthält; und da mein lustloses Rumgeklicke in der Bilderabteilung von Google auch zu nichts führte, begab ich mich vertrauensvoll in die Essener Stadtbibliothek. Dort würde ja gewiss ein Œuvre-Katalog des Meisters vorrätig sein, schlimmstenfalls ausgeliehen, dann ja aber vormerkbar. Fehlanzeige! Seit Jahren schon beobachte ich diese allmähliche Ausdünnung der Bestände in der öffentlichen Leihbibliothek meiner Vaterstadt. Das hat vermutlich mit einem verknappten Anschaffungsetat zu tun. Ich werde dann mit meinen „anspruchsvollen“ Wünschen stets an die hiesige Universitätsbibliothek verwiesen. Die liegt nun aber nicht gerade an meinen üblichen Wegen. Also verzichte ich auf diese Expedition und begnüge mich mit den eher mageren Beständen der Otto-Normalverbraucher-Bibliothek. Da stoße ich immerhin auf einen schmucken und sorgfältig edierten Bildband von Karl-Ludwig Hofmann und Peter Riede: Frans Masereel – Zur Verwirklichung des Traums von einer freien Gesellschaft. (Saarbrücken: Verlag der Saarbrücker Zeitung, 1989), und dort auf acht Holzschnitte aus der Folge Die Stadt von 1925, von denen einer thematisch und in der Detailfreude deutlich an unser hier zu behandelndes Werk erinnert. Beide Bilder zeigen Szenen in gut besuchten gastronomischen Betrieben der Großstadt. Allerdings dürfte ein Abend in der Weinstube [s. Titelbild] eher für ein kleinbürgerliches Publikum in Frage kommen, während die orgiastischen Vergnügungen in der Bar [siehe unten] der Hautevolee vorbehalten bleiben. Diese und manch andre Bilder von Masereel, nicht nur aus dem Zyklus Die Stadt, kommen und kamen mir schon immer so vor, als wollte der Künstler uns mit der Nase darauf stoßen, dass die Laster von Sodom und Gomorra hier und jetzt stattfinden und nicht in ferner Zeit und am Toten Meer.

nasereeldiestadt

Nun also diese acht Worte: „Hochmütig sein heißt vergessen dass man Gott ist“. – Was heißt aber „vergessen“? Etwas aus dem Sinn zu verlieren, das man einmal darin hatte, oder? Prüfen wir den Begriff der Vergesslichkeit an einer konkreten sprachlichen Verwendung: „Hast du den Mann mit der schwarzen Kappe gesehen, der da gerade über die Straße gelaufen ist? Wie heißt er noch? Irgendwas wie ,Schäbig‘ oder ,Weichling‘? Ich hab ’s wohl vergessen!“ Dieses Verständnis von Vergesslichkeit vorausgesetzt, müsste jeder einmal gewusst haben, dass er Gott ist, wenn der Satz wahr sein soll. Auch dieser Satz, der ja wieder eine provokante Behauptung ist, krankt übrigens an einer Unschärfe, denn wenn er das meint, was ich aus ihm herausgelesen habe, dann müsste er klarer lauten: „Hochmütig sein heißt vergessen haben dass man Gott ist“. Oder soll er etwa tatsächlich bedeuten, dass man üblicherweise immer weiß, dass man Gott ist, und dies nur in gelegentlichen Momenten des Hochmuts vergisst? Und dann dieses verallgemeinernde „man“, das ja im Zweifelsfall „alle Menschen“ heißt. Mich machen solche Pauschalurteile immer hilflos. Einerseits antworte ich: „Kann sein, kann auch nicht sein; führt zu nichts und ist mir darum egal.“ Andererseits pariere ich sie mit der subjektiven Widerlegung: „Da kann ich nur für mich sprechen. Ich kann mich tatsächlich nicht daran erinnern, jemals Gott gewesen zu sein. Ob ich hochmütig bin, maße ich mir nicht an, selbst zu beurteilen; das sei anderen vorbehalten, die mich besser kennen als ich. Gesetzt den Fall, sie würden mir Hochmut zuschreiben, dann verstünde ich aber nicht, warum diese Schwäche sich auf mein Gedächtnis auswirken sollte.“ Und überhaupt halte ich den Satz für einen Taschenspielertrick. Wenn ich behauptete, Gott zu sein, dann würde mancher ja gerade dies als den Gipfel des Hochmuts bezeichnen! Und hier wird nun dieses gewöhnliche Verhältnis gewaltsam auf den Kopf gestellt – um zu verblüffen? Effekthascherei? Der Verdacht liegt jedenfalls nahe. Sollte er sich an weiteren Beispielen erhärten, bleibt immer noch die Frage, ob das Ergebnis, zu dem dieser Effekt führt, einen Nutzen für den Betrachter bedeutet. Wenn ja, dann wäre die Hascherei entschuldbar. (Klappern gehört zum Handwerk.)

Aber wie passen Text und Bild hier zueinander? – Was das betrifft, bin ich diesmal noch ratloser als sonst.

Wieso ich?

Tuesday, 14. December 2010

condensdissenz

Immer mal wieder erreichen mich über meine Adresse info[at]revierflaneur[dot]de E-Mail-Angebote einer vermeintlich lukrativen Zusammenarbeit. Meist sind mir diese Offerten nicht einmal eine Antwort wert. Heute aber konnte ich es nicht lassen, wenigstens öffentlich zu replizieren. – Hier zunächst der Anlass meiner Irritation, das Angebot der Unister GmbH in Leipzig:

„Hallo Herr H., auf der Suche nach relevanten Partnern zum Thema Reisen, Urlaub o. ä. bin ich auf Ihre interessante und optisch sehr ansprechende Webseite revierflaneur.de gestoßen. – Unser Unternehmen betreibt das Portal ab-in-den-urlaub.de und wir entwickeln derzeit das Affiliate-Partnerprogramm Content4Partners. Über dieses Programm (WordPress-Plugin) haben Sie die Möglichkeit, Beschreibungen zu Städten und Hotels in von Ihnen gewählten Regionen, beispielsweise Hotels Afrika oder Hotels Ghana auf Ihrer Seite einzubinden. Das Layout der generierten Seiten wird automatisch an das Aussehen Ihrer Website angepasst. – Das Plugin liefert Ihnen suchmaschinenfreundliche Inhalte und dadurch erhöhte Zugriffszahlen. Des Weiteren ermöglicht es Ihnen, Provisionszahlungen für Reisebuchungen über Ihre Website zu generieren und ist somit eine sehr gute monetäre Ergänzung zu den bisherigen Inhalten auf Ihrer Website. – Die Einbindung des Plugins (Programm) erfolgt über eine einfache One-Klick-Installation. – Momentan befindet sich Content4Partners in der späten Beta-Phase. Dafür suchen wir nach interessierten Partnern, die Content4Partners testen würden. – Aus diesem Grund möchten wir Sie herzlich dazu einladen, sich kostenlos und unverbindlich für die Beta-Phase von Content4Partners anzumelden. – Wenn Sie sich das Plugin innerhalb der nächsten 2 Wochen auf Ihrem WordPress Blog installieren, aktivieren und mindestens einen Monat testen, dann bekommen Sie eine einmalige Aufwandsentschädigung von 40 € brutto. – Für weitere Informationen hänge ich Ihnen eine Präsentation an und stehe Ihnen natürlich sehr gern für Rückfragen zur Verfügung. – Wir freuen uns auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit! – Freundliche Grüße, Frank Z. Projektmanager“

Reflexartig frage ich mich bei solchen Gelegenheiten immer: Wie, um alles in der Welt, kommen die bloß ausgerechnet auf mich? Diesmal lag die Antwort realtiv nahe, denn offenbar ist Herr Z. oder einer seiner Zuarbeiter beim Googeln nach den Top-Destinationen dieses Online-Reisebüros auf dem Weg über das Suchwort Ghana Hals über Kopf in mein Weblog hineingestolpert. Das Kompliment gleich eingangs – „Ihre interessante und optisch sehr ansprechende Webseite“ – verfehlte leider seinen Zweck, ist es doch völlig unglaubwürdig. Denn um mein Blog interessant zu finden, muss man erstens schon reichlich schräg drauf sein; und wer dessen Gestaltung ansprechend findet, hat vermutlich zweitens noch das falsche Kräutlein geraucht! Aber Scherz beiseite: Wenn eines gewiss ist, dann dass der Projektmanager und seine Leute maximal fünf Minuten auf die Absendung dieser Akquise-Mail an mich verwendet haben, davon allenfalls 90 Sekunden aufs Anschauen meines Weblogs.

Gelesen haben sie jedenfalls nicht darin. Nicht einmal den einzigen der mittlerweile über 700 Beiträge, der sie vielleicht hätte interessieren können, haben sie zur Kenntnis genommen: das Impressum. Denn sonst hätten sie dort gleich eingangs gelesen: „Die Website revierflaneur.de ist ein rein privates Weblog zur Information, Meinungsbildung und Unterhaltung seiner Leser. Kommerzielle Zwecke werden mit diesem kostenlosen Angebot nicht verfolgt. Werbung wird nicht geschaltet.“

Wirklich absurd ist dieses Anerbieten aber insofern, weil der Revierflaneur ein strikter Gegner des Massentourismus ist, schon seit vielen Jahren keine Erholungs- oder Vergnügungsreisen mehr unternimmt, erst recht das Verreisen per Flugzeug als einen völlig inakzeptablen Anschlag auf die Überlebenschancen künftiger Generationen ablehnt und sich deshalb niemals und für kein Geld der Welt dazu hergeben würde, diesen selbstmörderischen Luxus zu bewerben oder solche Werbung zu unterstützen.

Ghana (IV)

Monday, 13. December 2010

goldkueste

Im Erdkunde-Unterricht „meines“ Gymnasiums habe ich 1967 in der Quinta gelernt, dass die generösen europäischen Kolonialmächte, allen voran Frankreich und Großbritannien, seit Beginn des Jahrzehnts die meisten afrikanischen Staaten in die Unabhängigkeit entlassen hätten. Ich glaubte unserem braven Geographie-Lehrer aufs Wort, und vermutlich glaubte er sogar selbst an das, was er uns da erzählte. Knapp drei Jahre später war ich „politisiert“ und protestierte lautstark gegen den Bau des Cabora-Bassa-Staudamms in Mosambik, aber in den tieferen Schichten meines Bewusstseins blieb der Edelmut der Dekolonisateure als eine unbezweifelbare Tatsache abgespeichert – bis heute früh, als ich im Wikipedia-Artikel über die Dekonolisation Afrikas diesen Absatz über die europäische Kolonialpolitik nach 1945 las:

„Als in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts die europäische Wirtschaft wieder in Schwung kam, wurde in den Kolonialländern zum ersten Mal über die Entlassung der afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit debattiert. Dabei ging es insbesondere um die Frage der Rentabilität der Kolonien für die Mutterländer. Der Entschluss zur Dekolonisation kam primär aus volkswirtschaftlichen Gründen, denn die Mutterländer konnten ihre Kolonien nicht mehr finanzieren. Also war man allgemein zu dem Schluss gekommen, dass es wirtschaftlich günstiger wäre, sich politisch aus Afrika zurückzuziehen. – Zudem sahen sich die europäischen Machthaber vom aufstrebenden Nationalismus in den Kolonien immer mehr bedroht. […] Ein Kampf um die Herrschaft mit militärischen Mitteln oder auch eine Umstrukturierung der Kolonialreiche kamen auf lange Sicht nicht in Frage. Dazu kamen ,Versprechen‘ auf größere Selbstverwaltung, die die Kolonialmächte während des Krieges gemacht hatten, als Truppen aus den Kolonien ihre Armeen verstärkten. Daher ging man etwa ab 1950 daran, die Staaten in die Unabhängigkeit zu entlassen. Soziale Träger der Entkolonialisierung waren meist lokale Eliten, die untere Funktionen in der Kolonialverwaltung besetzten und durch fehlende Aufstiegschancen frustriert waren. – Bei der Machtübergabe waren die Kolonialherren immer darauf bedacht, Regierungen zu fördern bzw. zu installieren, die ihnen genehm waren. Europa wollte zwar ein demokratisches Afrika, aber auf allen Einfluss verzichten wollte man auch nicht.“ – Tja, die historische Wahrheit ist doch meist sehr ernüchternd.

Immerhin kommt Ghana im afrikanischen Dekolonisations-Prozess eine Vorreiterrolle zu, denn bereits drei Jahre vor dem legendären ‚Afrikanischen Jahr‘ 1960, als gleich 17 Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen wurden, erkämpfte die Convention Peoples Party (CPP) mit dem nachmaligen ersten Premierminister Dr. Kwame Nkrumah an der Spitze die staatliche Souveränität jenes Landes, das in den vorausgegangenen acht Jahrzehnten Goldküste (Gold Coast Colony) geheißen hatte.

Den neuen Namen Ghana borgten sich die Staatsgründer von einem mittelalterlichen Königreich Gana, das allerdings tausend Kilometer nordwestlich vom heutigen Staatsgebiet gelegen hatte, etwa dort, wo sich heute Republiken Mauretanien, Senegal und Mali befinden. Auf den ersten Blick mag es verwunderlich scheinen, warum der neue Staat sich nicht mit dem Namen eines jener Königreiche schmückte, die tatsächlich auf dem Territorium des heutigen Ghana beheimatet waren und deren Völker noch heute dort leben, wie etwa Ashanti, Fante oder Dagomba. Tatsächlich war es aber ein kluger Schachzug, einen zeitlich und räumlich entlegenen Namen zu wählen, denn die Bevorzugung einer der zahlreichen Ethnien hätte bei der verbleibenden Mehrheit aller anderen für Entrüstung und für ewigen Unfrieden gesorgt.

Die Bedeutung des Namens Ghana resp. Gana liegt im Dunklen. Und auch die Geschichte der zahlreichen Völker, die sich im Laufe der Jahrhunderte auf dem heutigen Staatsgebiet ansiedelten, ist nur sehr lückenhaft rekonstruierbar, da es aus der Zeit vor der Konolisation kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt.

Protected: Lingba Xianzhang

Sunday, 12. December 2010

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Protected: Förderpreis für Éclaireure

Saturday, 11. December 2010

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Tuesday, 07. December 2010

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Heinrich Funke: Das Testament (III)

Sunday, 05. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (III)

Bild Nummer drei der grausamen Tötungsfolge. Nun muss dringend mal was zu einer Besonderheit der Texte gesagt werden. Sie verzichten ja offenbar prinzipiell auf jede Interpunktion: weder Punkt noch Komma, weder Ausruf- noch Fragezeichen – welch letzteres man sich diesmal wohl hinzudenken soll: „Darf ein Mensch sich für die Wahrheit töten lassen?“

Und wieder gibt es im Bild einen Hinweis, dass wir Zeugen eines Ereignisses auf christlich beeinflusstem Territorium sind. Das Opfer, dem hier von zwei geschäftigen Henkersknechten der Darm aus dem Leib gespult wird, trägt auf dem Kopf eine Mitra, die traditionelle liturgische Kopfbedeckung der Bischöfe seit dem 11. Jahrhundert. Ob hier freilich ein Bischof zu Tode gequält wird, oder ob lediglich einem christlichen Feind, sozusagen als ,Narrenkappe‘, das verhasste Symbol aufgestülpt wurde, vielleicht von feindlich gesonnenen reformierten Christen im Dreißigjährigen Krieg – wir wissen es nicht.

Nun ist meine Haltung bei der Betrachtung von Gewalt, die Menschen einander antun, neben dem spontanen Mitleidsreflex für das unterlegene Opfer, ein wohlerwogenes Bedauern für die Schwäche der Täter. Wer es nötig hat, seinen Willen gewaltsam durchzusetzen, kann nicht im Recht sein. Ich weiß, dass dies eine nach wie vor gewagte, zahlreichen Angriffen mit starken Gegenbeispielen ausgesetzte Grundhaltung ist. Ich weiß auch, dass diese Haltung dem christlichen Grundsatz, die andere Wange hinzuhalten, verwandt ist. Um im Bilde zu bleiben, könnte man sagen: Wenn sie dir den Darm rausreißen, schmeiß ihnen dein Hirn noch hinterher!

Hier aber wird das eklige Schmerzensbild von einer Frage begleitet, ob sich nämlich ein Mensch für die Wahrheit töten lassen dürfe. Wenn ich diese Frage in ihrer plumpen Allgemeinheit beantworten sollte, müsste ich wahrheitsgemäß antworten: Das kommt auf die Wahrheit an, auf die Umstände und auf den Menschen. Ich führe hier, denn Weiteres würde zu weit führen, für jeden der drei Fälle ein Beispiel an, das erzwingen würde, die Frage mit einem klaren Nein zu beantworten. Wenn das Bestehen auf einer Wahrheit diesen Barbaren gegenüber und der daraus folgende Tod weder für die Wahrheit, noch für den Gesinnungswandel der Täter, noch für die Nachwelt einen Vorteil brächte, wäre dieser Tod in jeder Hinsicht sinnlos und darum abzulehnen. Wenn die Wahrheit etwa den Verrat unschuldiger und unbeteiligter Menschen nach sich zöge und der Tod zugleich den Verräter der Möglichkeit beraubte, diese noch zu warnen, dann wären beide, Verrat und Tod, verwerflich. Und wenn schließlich der Mensch, der um der lieben Wahrheit willen freiwillig den Tod wählte, weil er sich seiner irdische Verantwortung entziehen will oder auf einen vermeintlichen, jenseitigen Vorteil spekuliert, dann wäre diese Rolle – des Selbstmörders durch fremde Hand bzw. des Selbstmordattentäters – ebenfalls abzulehnen.

Prinzipiell habe ich, gelinde gesagt, gewisse Schwierigkeiten mit solchen sehr allgemein gehaltenen Sentenzen, als da sind Kalender- und Orakelsprüche, Küchenweisheiten und Bauernregeln, Suggestivfragen und Paradoxien. Sie mögen manchmal geeignet sein, zum Nachdenken anzuregen. Ob sie zu produktiven Gedanken und nützlichen Antworten führen, ist aber im Einzelfall zu prüfen und hängt hauptsächlich vom Nachdenkenden ab.

Heinrich Funke: Das Testament (II)

Thursday, 02. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (II)

Quizfrage: Was haben dieses und das vorangegangene Bild gemeinsam? Richtig, auf beiden sind fünf Personen zu sehen. Allerdings ist das Verhältnis Täter zu Opfer diesmal eins zu vier, gegenüber zwei zu drei bei der ersten Hinrichtung. Zudem finden beide Gräueltaten unter freiem Himmel statt. Haben sich nicht üblicherweise die Schinder und Henker aller Zeiten hinter dicken Kerkermauern ihrem blutigen Handwerk hingegeben, um vor unwillkommenen Zeugen sicher zu sein, die etwa im Falle eines Wechsels der Regentschaft auf Rache sinnen könnten? Gewiss, es gab auch jene demonstrativ öffentlichen Liquidationen, zu denen das Volk geradezu zusammengetrommelt wurde, zur Abschreckung und zugleich zur Befriedigung blutrünstiger Schaulust, die ja leider immer schon verbreiteter war als die Menschenfreunde unter uns glauben wollen. Aber Zuschauer sieht man auf den beiden hier zur Rede stehenden Bildern ja nicht.

Neu ist an diesem Bild das kleine Kirchlein im Hintergrund. In diesem Land gelten also die Zehn Gebote, deren fünftes seit Luther traditionell übersetzt wird mit „Du sollst nicht töten“. Spätestens seit militante Vegetarier und Tierschützer sich auf dieses Gebot berufen und damit manchem christlichen Leckermäulchen den Appetit auf den Sonntagsbraten verderben wollen, hat sich herumgesprochen, dass die wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen des Alten Testaments lautet: „Du sollst nicht morden.“ Ob nun die Vollstreckung eines höchstrichterlichen Todesurteils über einen schlimmen Übeltäter, beispielsweise einen Mörder, selbst wieder Mord ist oder nicht vielmehr eine gerechte Strafe zur Verhinderung weiterer Taten durch Beseitigung des Täters und Abschreckung möglicher Nachahmer, darüber streiten Gegner und Befürworter der Todesstrafe im Schatten der Kirchen seit Menschengedenken.

Wie schon einmal, so erleichtert auch diesmal der Text unterm Bild keineswegs dessen Verständnis, sondern gibt vielmehr weitere Rätsel auf. „Leben und Tod ist nicht einfach“, heißt es da zunächst. Hier muss das Sprachempfinden rebellieren, denn das klingt ja schrecklich falsch. Das Leben, der Tod – diese beiden sind ja zweifellos eine Mehrzahl, wenngleich die kleinste mögliche, nämlich ein Paar. Also müsste es doch nach allen Regeln der Logik und der Grammatik heißen: „Leben und Tod sind nicht einfach“. Kann man sich diese befremdliche Einzahl vielleicht so erklären, dass hier „Leben&Tod“ gewaltsam als eine Einheit, als ein Ganzes gesehen werden sollen? Aber dazu steht ja im Widerspruch, dass sie ausdrücklich als „nicht einfach“ bezeichnet werden. Was ist aber das Gegenstück zu einfach? Schwer? Schwierig? Zweifach? Vielfach?

Nehmen wir mal an, der Künstler meint, das Leben sei nicht einfach im Sinne von nicht leicht zu bewältigen. Könnten wird dieser Aussage so verallgemeinernd beipflichten? Ist das Leben uns allen nicht wenigstens zeitweise leicht gefallen? War es nicht immerhin unter günstigen Umständen oft sehr einfach für uns, zu leben? Und auch der Tod soll nicht einfach sein? Wer will behaupten, er wisse etwas über den Tod? Wenn es heißen würde, dass das Sterben nicht einfach sei, würde er vermutlich breite Zustimung ernten, denn wie qualvoll-schwer es manchem fällt, sein Leben zu verlassen, das haben viele schon mitansehen müssen, und die anderen wissen es immerhin vom Hörensagen.

Und nun die Aufforderung: „Sei wachsam“. Diese Warnung erhält ja in Verbindung mit der bildlichen Darstellung der Hinrichtung geradezu den Charakter einer Drohung: Pass auf, was du tust! Sei dir bewusst, dass das Leben nicht so einfach ist, wie es oft scheint! Wenn du zu leichtsinnig bist, kommst du unversehens in die traurige Lage der Gehenkten und Geköpften dort oben! (Aber auch hier sollte man noch den zusätzlichen Gedanken im Hinterkopf zulassen, dass schließlich auch die Lage des Henkers keine einfache ist.)

Protected: Christine Lavant: Aufzeichnungen

Tuesday, 30. November 2010

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Reck-Malleczewen: Tagebuch

Monday, 29. November 2010

reckportraet

Reck-Malleczewen, Friedrich Percyval [d. i. Friedrich (Fritz) Reck]: Tagebuch eines Verzweifelten. [Hrsg., m. e. Vorw. u. e. Nachw. v. Curt Thesing.] Lorch (Württemberg) / Stuttgart: Bürger-Verlag, 1947. – 202 & 2 S. & 1 Taf. mit dem Porträt d. Verf. v. Franz Herda im Frontispiz [s. Titelbild], 21,0 x 13,8 cm, OPb., Fadenheftung. – Rücken fehlt, Einband zum Gelenk hin mit Schadstellen, innen gut. – Erstausgabe, 1.-5. Tsd.

Nico Rost berichtet in seinem Tagebuch aus dem Konzentrationslager Dachau unterm Datum vom 15. April 1945 von der Begegnung mit einem völlig erschöpften und abgemagerten, etwa sechzigjährigen Mithäftling, der wie er selbst in der Krankenbaracke liegt, nun aber zurück in Block 25 verlegt werden soll, wo Flecktyphus herrscht. Inständig bittet ihn der Mann, sich für ihn einzusetzen, denn er fürchte, im Falle seiner Verlegung nicht mehr lange zu leben. Als Rost nach seinem Namen fragt, stellt er sich als Friedrich Reck-Malleczewen vor. Nun ist aber verbürgt, dass der Schriftsteller dieses Namens bereits zwei Monate zuvor, im Februar 1945 in Dachau zu Tode kam; lediglich das genaue Tagesdatum ist umstritten. Vermutlich bediente sich der Unbekannte nur des damals prominenten Namens, um seine Chance auf Rosts Unterstützung zu verbessern, der ein belesener Mann war. „Kennen Sie meine Bücher?“, hatte ihn der Fremde gefragt. Und Rost musste nicht lange überlegen: „Einige wohl, unter anderem einen historischen Roman über Jan Bockelson [den Münsteraner Wiedertäufer], ein sehr gut geschriebenes, technisch vortreffliches Buch, äußerst spannend, jedoch ohne Tiefe, ferner eine Studie über Charlotte Corday, auch Frau Übersee und, natürlich, Bomben auf Monte Carlo.“ Rost erinnerte sich aber auch daran, was er seinem Gegenüber freilich taktvoll verschwieg: dass Reck-Malleczewens Studie über die Mörderin Jean Paul Marats ein absolut konterrevolutionäres Buch war und bei ihrem Erscheinen 1937 der Reaktion in die Hand spielte. (Vgl. Nico Rost: Goethe in Dachau. Berlin: Verlag Volk & Welt, 1999, S. 279 ff.)

Antifaschistische Bekenntnisbücher, geheime Tagebücher und unter höchster Geheimhaltung verfasste Briefwechsel aus dem linken Lager – von Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten aller Schattierung, selbst von Anarchisten – gibt es ohne Zahl. Hingegen haben solche Dokumente wie das vorliegende, aus der Feder konservativer Feinde des Nazi-Regimes, eher Seltenheitswert. Das Tagebuch eines Verzweifelten ist eines von diesen raren Büchern. (Die Tagebücher Theodor Haeckers, der bei Reck sogar vorkommt, sind ein weiteres Beispiel.) Beeindruckend an ihnen ist die nahezu vollkommene Isolation ihrer Verfasser. Die Linken konnten doch meist noch auf ein verborgenes Netzwerk vertrauen, hatten geheime Verbindungen zu abgetauchten oder unerkannt in perfekter Tarnung lebenden Genossen, mit denen sie sich austauschen konnten und die ihnen in der Not vielleicht zu Hilfe kamen. Männer wie Reck oder Haecker hingegen scheinen auf verlorenem Posten, in großer Einsamkeit gekämpft zu haben. So klagt auch Reck in seinem Tagebuch einmal, „daß das bitterste Herzeleid in diesen Jahren uns Heimgebliebenen aus der wachsenden Vereinsamung, aus dem Fehlen der Kameraden, aus dem Absterben der Gegner sowohl wie der Gesinnungsgenossen entspringt.“ (Reck-Malleczewen , a. a. O., S. 78.)

Desto imposanter der unglaubliche Furor, mit dem der Gutsbesitzer und Arzt Friedrich Percyval Reck-Malleczewen seine Flüche gegen die braune Brut aufs Papier speit. Eine Kostprobe: „Mein Leben in diesem Pfuhl geht nun bald ins fünfte Jahr. Seit mehr als zweiundvierzig Monaten denke ich Haß, lege mit Haß mich nieder, träume ich Haß, um mit Haß zu erwachen: Ich ersticke in der Erkenntnis, der Gefangene einer Horde böser Affen zu sein und zermartere mir das Hirn über das ewige Rätsel, daß dieses nämliche Volk, das vor ein paar Jahren noch so eifersüchtig über seinen Rechten wachte, über Nacht versunken ist in diese Lethargie, in der es diese Herrschaft der Eckensteher von gestern nicht nur duldet, sondern auch, Gipfel der Schande, gar nicht mehr imstande ist, die eigene Schmach als Schmach zu empfinden …“ (Ebd., S. 22.) Man liest diese Tiraden mit einigem zwar teils grausligem Genuss, zumal der Verfasser einen unerschütterlichen Humor hat, der sich hier freilich im Gewand des Sarkasmus zeigt. Und sehr richtig betont er immer wieder, dass es ganz besonders die völlige Humorlosigkeit der Nazis ist, die ihre Entmenschlichung bedingt und befördert. (Adolf Hitler hat sein persönliches Verhältnis zum Humor und zum Lachen vielleicht am deutlichsten, obgleich unfreiwillig offenbart, als er anlässlich der Eröffnung des Winterhilfswerks im Berliner Sportpalast am 30. September 1942 sagte: „Die Juden haben einst auch in Deutschland gelacht. Ich weiß nicht, ob sie auch heute noch lachen oder ob ihnen nicht das Lachen bereits vergangen ist. Ich kann aber auch jetzt nur versichern: Es wird ihnen das Lachen überall vergehen.“)

Man zuckt freilich beim Lesen in diesem Tagebuch eines Verzweifelten immer wieder zusammen, wenn die merkwürdige Vokabel „Verniggerung“ vorkommt, die Reck bedonders gern verwendet, so wie er die stumpfsinnigen Parteigenossen, die grölend durch die Straßen ziehen, „weiß gebliebene Nigger“ nennt. Über solche aus heutiger Sicht unmöglichen Entgleisungen muss man gnädig hinwegsehen, um sich an den zivilisationskritischen Lichtblicken dieses sturköpfigen Anachronisten erfreuen zu können. So ist für ihn evident, „daß das Benzin, als Urquell alles motorisierten Glücksgefühles, zur tiefen Verkommenheit der Menschheit mehr beigetragen hat als der vielgeschmähte Alkohol.“ (Ebd., S. 47.) Eine wahrhaft hellsichtige Erkenntnis aus dem Jahre 1937, deren Wahrheit selbst sieben Jahrzehnte später noch den Wenigsten dämmert!

Heinrich Funke: Das Testament (I)

Sunday, 28. November 2010

testament 1

Schon mit dem ersten Bild wird klar, dass zarte Gemüter und empfindliche Seelchen gewarnt sein sollten. Lieblich, versöhnlich, gar gemütlich geht es hier nicht zu. Wir sehen einen nackten Männerleib, kopfüber aufgehängt wie ein erlegter Hirsch, der nun von zwei gnadenlosen Schindern fachgerecht zerteilt wird, mit einer scharfzackigen Baumsäge, angesetzt gerade dort, wo der Mensch am empfindlichsten ist. Und es gibt allen Anlass zu der schrecklichen Vermutung, dass das Opfer noch lebt, dass also dieses Zersägen nicht die Filetierung eines empfindungslosen Leichnams ist, sondern eine barbarische Tortur zum Tode.

Es gibt in den Märtyrer-Legenden des Christentums ein Vorbild für dieses Geschehen. Der Apostel Simon Zelotes soll der Sage nach auf diese grausame Weise getötet worden sein. Er wird darum oft mit einer Säge abgebildet und gilt als Schutzpatron der Holzfäller. Lukas Cranach der Ältere hat die Tortur des Simon um 1512 in einem bekannten Holzschnitt dargestellt, der einige Ähnlichkeit mit Heinrich Funkes Linolschnitt aufweist. Ich habe dieses erschreckende Bild von Cranach zuerst in George Batailles Die Tränen des Eros gesehen. Bataille merkt zu Cranach an, dass uns heute die großen Hüte der nackten Damen auf seinen Bildern zwar belustigen mögen, da wir angesichts der Darstellung nackter Leiblichkeit in der modernen Kunst um vieles unbekümmerter sind als die Menschen des frühen 16. Jahrhunderts. „Doch der Schöpfer der Szene, in der ein unbekleideter, an den Füßen aufgehängter Todeskandidat mit einer Säge gezweiteilt wird, hat mehr verdient als ein amüsiertes Achselzucken.“ (A. d. Frz. v. Gerd Bergfleth. München: Matthes & Seitz Verlag, 1981, S. 89, Abb. S. 94.)

Anders als bei Cranach vollzieht sich auf Funkes Bild das grausame Handwerk der Henker nicht vor Zeugen, wenn man von den beiden nackten und wohl gefesselten Opfern absieht, die im Vordergrund der Richtstätte am Boden liegen. Die Vermutung liegt nahe, dass ihnen das gleiche furchtbare Schicksal droht. Die bildende Kunst ist bekanntlich stumm, aber dieses Bild scheint förmlich zu schreien. Und die nahezu unbeteiligt wirkenden Mienen der Henker verstärken noch das Grauen der Szenerie.

Darunter zwei Worte, knapper geht ’s kaum: Sinnvoll scheitern. Mein erster Gedanke war, dass sich das Scheitern auf das Opfer beziehen müsse. Wenn hier ein Martyrium abgebildet ist, das aus der Treue zu einem Glauben unausweichlich wurde, dann gäbe es für den Sinn dieses ,Freitods durch fremde Hand‘ möglicherweise eine idealistische, transzendente, jenseitige Begründung. Und selbst eine diesseitige Sinnhaftigkeit wäre dem Opfer abzugewinnen, könnte es doch uns hienieden zurückbleibende Zeugen der Glaubenstreue und des Opfermutes dieses Zersägten zu dessen offenbar über jeden Schmerz erhabenen Gewissheiten bekehren.

Aber es gibt noch eine andere Lesart. Vielleicht sind die Scheiternden der blutigen Szenerie ja gar nicht die Opfer, sondern die Täter? Was das für den unterstellten ,Sinn‘ bedeutet, möge sich der Betrachter selbst zurechtlegen.

[Dieser Druck kann – wie alle Bilder des Zyklus Das Testament von Heinrich Funke – zum Preis von 200 Euro bestellt werden. Zu den Bestellkonditionen geht es hier.]

Heinrich Funke: Das Testament (Zum Werk)

Friday, 26. November 2010

testament plakat

Vor gut zwei Jahren hat Heinrich Funke mit einem neuen Linolschnitt-Zyklus begonnen, den er Das Testament nennt. Hier kombiniert er meist schon ältere Bildmotive, die aus ganz unterschiedlichen Anlässen entstanden sind, mit kurzen Spruchtexten, oft Antinomien – er selbst spricht von Paradoxien – aus allgemeinen Begriffen, die dem Betrachter mit frecher Selbstverständlichkeit zugemutet werden.

Zur Technik der Fertigung dieser Drucke ist zu sagen, dass mit der Presse lediglich die schwarzen Umrisse der Bilder und die Texte aufs 350 Gramm schwere Papier (von Hahnemühle) gebracht werden, während die Kolorierung in einem zweiten Arbeitsgang mit Pinsel und Eiweißlasurfarbe erfolgt. Weil Heinrich Funke gern mit unterschiedlichen Farbgebungen bei ein und demselben Bildmotiv experimentiert, ist jedes einzelne Exemplar als Unikat anzusehen.

Mein Freund hat unlängst angeregt, dass ich doch meine Gedanken zu jedem der Text-Bild-Motive dieses eigenwilligen und vielleicht auch rätselhaften Mappenwerks zu Papier bringen möge. Da ich aber schon vor längerer Zeit aufgegeben habe, auf Papier zu schreiben und meine Gedanken und Empfindungen vorzugsweise in den virtuellen Raum des Internets stelle, bot es sich an, diesem Wunsch mit einer neuen Serie in meinem Weblog zu entsprechen. Grundlage meiner Erörterungen sind die Originaldrucke der Mappe mit der laufenden Nummer 10, von denen ich auch die Titelbilder zu meinen Beiträgen abgelichtet habe. Die Reihenfolge der Bilder wurde vom Künstler festgelegt. Sie entspricht nicht der Chronologie der Entstehung, sondern folgt eher inhaltlichen Gesichtspunkten.

Die ersten zehn Drucke jedes Motivs sind gleichvielen geschlossenen Mappenwerken vorbehalten, die nur vollständig abgegeben werden. Sie sind von 1/10 bis 10/10 nummeriert. Da der Zyklus noch nicht vollendet ist, sind die Mappen zurzeit noch nicht im Handel. Mehrdrucke sind auf Bestellung von jedem hier vorgestellten Motiv möglich, sie werden ebenfalls von Hand koloriert, datiert und signiert, tragen aber keine Nummer.

Einzelexemplare aus dem Mehrdruck können per E-Mail beim Revierflaneur an die Adresse info[at]revierflaneur[dot]de geordert werden. Der Preis für den Druck beträgt 200 Euro, in schwarzem Rahmen hinter Glas 250 Euro zzgl. Porto und Verpackung.

Protected: Carl Bulcke et al.: Schönes Rheinland

Friday, 26. November 2010

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Heinrich Funke: Das Testament (Zum Künstler)

Thursday, 25. November 2010

selbstportraetheinrichfunke

Meine Bekanntschaft mit dem Essener Musiker und Künstler Heinrich Funke – zu Anfang kannte ich nur diese beiden seiner zahlreichen Berufungen – reicht zurück bis in die frühen 1970er-Jahre. Ich drückte damals die harte Schulbank am Helmholtz-Gymnasium und hatte wenig zu lachen, aber Träume ohne Maß und Ziel. Eines Tages berichtete mir mein Klassenkamerad, ein stets unverschämt grinsender Sitzenbleiber mit Spitznamen Piefke, er habe jüngst die Bekanntschaft eines außergewöhnlichen Typen gemacht, Zugbegleiter bei der Bahn im Brotberuf, zugleich aber Gründer einer Jazzband namens Hörb Ares, vorzüglicher Koch, ein Multitalent, auch Kunstmaler, Bildhauer, auf seine Weise vielleicht gar ein Philosoph? Piefke, der mir im Musikunterricht unserer Penne bisher nicht als sonderlich begabt aufgefallen war, erstaunte mich wenige Tage später mit der stolz verkündeten Neuigkeit, er sei nun zum Bandmitglied bei Hörb Ares avanciert, als Saxophonist. Meinen Einwand, er könne aber doch gar nicht Saxophon spielen, konterte er keck mit dem Hinweis, Heinrich habe gesagt, jeder Mensch sei musikalisch. Das leuchtete mir zwar insofern ein, als ja Joseph Beuys gerade bekannt gemacht hatte, dass auch jeder Mensch ein Künstler sei. Allein, die Ergebnisse dieses Musizierens, die ich mir wenig später im Essener Jugendzentrum an der Papestraße anhörte, überforderten meine Duldsamkeit dann doch um einiges mehr als ein Quäntchen, anders gesagt: Diese Musik war zwar etwas Unüber-hörb-ares, aber schlicht unerträglich, wenn man sie nicht selbst machte.

Wie es so geht, wenn zwei an Kunst, Musik, Literatur, Film, Kritik, Provokation und Revolte Interessierte in einer zwar bevölkerungsreichen, aber kulturarmen Stadt wie Essen wohnen, verlieren sie sich nie ganz aus den Augen, laufen sich immer wieder in den wenigen akzeptablen Kneipen und Cafés, in Programmkinos und bei Diskussionsveranstaltungen, in Galerien und auf Lesungen über den Weg, tauschen sich aus über öffentliche Ärgernisse und private Annehmlichkeiten oder umgekehrt, besuchen sich ab und zu auch gegenseitig – kurz: Wir lernten einander im Lauf der Jahre so gut kennen, dass wir irgendwann begriffen, wie wenig wir voneinander wussten, von Verständnis ganz zu schweigen.

Ab 2005 wohnten wir kaum zehn Minuten Fußweg voneinander entfernt im Moltkeviertel und sahen uns nun öfter. Zu Heinrichs 60stem Geburtstag durfte ich eine Rede auf ihn halten, in der ich seine staunenswerte Vielseitigkeit zum Thema machte. Ich weiß nicht, wer von uns beiden sich mehr geschmeichelt fühlte. Inzwischen hatte ich ihn ja auch als spät berufenen Philosophie- und Theologie-Studenten, Langstreckenläufer, Fahrradmonteur, Photographen, Diashow-Arrangeur und Triathlon-Coach kennengelernt, um nur die auffälligsten seiner mit Leidenschaft und Gründlichkeit betriebenen Geistesübungen und Werktätigkeiten zu nennen. Heinrich zog schließlich fort in den Stadtwald. Dorthin lud er mich ein zu einer Reihe von Gesprächen über seinen Lebensweg. Er wünschte sich, ich könnte auf dieser Grundlage seine Lebensgeschichte aufschreiben. Ich machte mir eifrig Notizen, doch obgleich manche nette Anekdote dabei heraussprang, reichten die mitgeteilten Erinnerungen doch längst nicht zu einem Text, der ihm auch nur annähernd hätte gerecht werden können. Dieses Projekt wurde also auf Eis gelegt, ob vorläufig oder endgültig, das mag die Zukunft weisen.

Im Sommer vorigen Jahres zog auch meine mittlerweile arg geschrumpfte Familie wieder einmal um – und nun wohne ich, wie der Zufall will, wiederum kaum zehn Minuten Fußweg von meinem Freund entfernt. Die Nähe förderte den Austausch, mit allerdings zwiespältigem Ergebnis. Gelegentlich prallten unsere unterschiedlichen Meinungen so harsch aufeinander, dass wir uns wochenlang aus dem Weg gingen. Aber waren das nun wirklich die Meinungen, die sich nicht vertrugen? Oder waren es, viel grundsätzlicher, die vollkommen andersartigen Perspektiven, die uns ein ums andere Mal aneinandergeraten ließen? Jedoch scheint es einen gemeinsamen Nenner zu geben, auf den wir uns verständigen können, um nach solchen Kollisionen immer wieder zueinanderzufinden. Dazu gehört zum Beispiel unsere gemeinsame Wertschätzung des Zweifels als einer unverzichtbaren Instanz bei der Wahrheitssuche, die tiefe Abneigung gegen ein seicht dahingelebtes Nichtsnutzdasein und die unersättliche Neugier auf unbekannte Antworten, mehr aber noch auf ungestellte Fragen.

Vor ein paar Monaten nun hat mich Heinrich mit seinem vorläufig letzten großen Projekt bekannt gemacht, seinem Testament, in Gestalt einer Serie handkolorierter Linoldrucke. Hier verbindet er vorgegebene Bildmotive aus dem ausgehenden Mittelalter mit kurzen Spruchtexten aus ebenfalls alten Quellen. Nach anfänglicher Unsicherheit und Scheu fand ich Gefallen an der Serie und beschloss, mich näher mit ihr auseinanderzusetzen, wobei mir sogleich klar war, dass diese Einlassung mit starker Reibung würde einhergehen müssen. Ich bin nun selbst gespannt, wozu mich diese neue Inspirationsquelle verleitet.

Walter Höllerer et al.: Das Gästehaus

Wednesday, 24. November 2010

hoellerergaestehaus

Peter Bichsel / Walter Höllerer / Klaus Stiller / Peter Heyer / Hubert Fichte / Wolf Simeret / Elfriede Gerstl / Jan Huber / Hans Christoph Buch / Wolf D[ieter] Rogosky / Martin Doehlemann / Corinna Schnabel / Nicolas Born / Joachim Neugröschel / Hermann Peter Piwitt: Das Gästehaus. Roman. Berlin: Literarisches Colloquium, 1965.– 234 & 2 S., 19,5 x 14,6 cm, OBrosch. m. OSchU., Fadenheftung. – Namenszug u. Datum auf Schmutztitel, Fleckchen auf Kopfschnitt, Umschlag mit wenigen kleinen Läsuren am oberen Rand. – Erstausgabe. – Gemeinschaftsroman in der Tradition von Die Versuche und Hindernisse Karls (1808) und Der Roman der Zwölf (1908); angeregt von Walter Höllerer.

Unabhängig von den genannten Vorbildern lag ein solches Experiment Mitte der 1960er-Jahre zweifellos in der Luft, brach doch nun eine Zeit an, in der der isolierte „Einzelkämpfer“ gegenüber dem Kollektiv ins Hintertreffen geriet. Das bürgerliche, noch schlimmer: kleinbürgerliche Subjekt, der Individualist ohne Verwurzelung in den Massen, ohne Kontakt zur werktätigen Bevölkerung galt aus Sicht der revolutionären Wortführer der Studentenbewegung jener fernen Zeit als Auslaufmodell eines solipsistischen Lebensentwurfes. Wie schon bald die Vorreiter der 68er-Bewegung die Kleinfamilie als kleinste Einheit des privaten Lebens verwarfen und durch das Modell der Kommune, später Wohngemeinschaft genannt, abzulösen suchten, so hielt auch das Teamwork Einzug in die Schulen und Universitäten, als vermeintlich effizientere und zudem solidarischere Technik der Bildung, Forschung und schöpferischen Arbeit.

Ich erinnere mich noch gut, dass es – besonders in psychedelisch gelockerter Geistesverfassung – sehr viel Spaß machen konnte, zu viert oder fünft um einen runden Tisch zu hocken und gemeinsam ein großes Blatt Papier mit Farben und Pinseln zu beschmieren. Merkwürdigerweise hat sich in meinem Besitz kein einziges dieser kollektiv gefertigten Bilder erhalten, obwohl ich ein ausgesprochener Aufbewahrer bin. Sollten vielleicht die Ergebnisse der gemeinschaftlich begangenen „Schmierage“, nüchtern betrachtet, doch nicht mehr ganz so erheiternd gewesen sein? (Ansehnlicher waren da fallweise die Ergebnisse unserer Zufallszeichnungen in der Tradition des Cadavre exquis der Surrealisten, aber hierbei trennte ja der Knick im Papier die einzelnen Teilnehmer ganz scharf voneinander, sodass von einem Kollektivbild streng genommen nicht die Rede sein konnte.)

Immerhin war ein kollektiver Malakt noch praktikabel, während das gemeinschaftliche Schreiben von vornherein ein Unding blieb. Natürlich konnte man sich auf ein Thema, einen Handlungsverlauf, ein Sujet einigen – um dann die verschiedenen Aufgaben zu verteilen. Aber dann saß wieder jeder allein in seinem Kämmerlein und schrieb vor sich hin; von einer kollektiven Arbeit konnte mithin keine Rede sein. Und so heißt es auch ganz offenherzig im Klappentext zu diesem Buch: „Die Aufgabe dieses Gemeinschaftsromans wurde von Walter Höllerer angeregt; in Diskussionen wurde sie präzisiert, wurden die Umstände im einzelnen abgesprochen und in weiteren Zusammenkünften und Lesungen der Kapitelentwürfe das Ganze immer weiter modifiziert und wechselseitig abgestimmt.“ Wozu aber dieser ganze Aufwand? Oder, wie der Klappentext ganz richtig fragt: „Was könnte der Reiz dieses Unternehmens sein?“ Die selbst gegebene Antwort lautet, dass die ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen für die Autoren eine interessante Herausforderung darstellten. Sie zwangen, so heißt es,  zu einer ungewohnten „Disziplin, dem anderen zuhören zu müssen, sich auf das einstellen zu müssen, was der andere vorgab.“ Das mag wohl so gewesen sein und man kann es umstandslos als eine interessante Übung im Rahmen von creative writing durchgehen lassen.

Aber muss man das Ergebnis veröffentlichen? „[…] in den hier vorliegenden Texten bleibt der Reiz,“ behauptet der anonyme Klappentexter, „diese Arbeit noch einmal verfolgen zu können, die Art zu sehen, wie jeder nach Maßgabe dessen, was abgesprochen war, einem Einheitsstil entgegenarbeitete oder ihm vielleicht erlag; mit welchen inneren und äußeren Problemen er sich abgab, sie gleichsam in dieses Gästehaus steckte und wie er der Welt, die vorgegeben war, die Interpretation lieferte.“ Das verräterische „noch einmal“ erweist endgültig, dass die einzigen Adressaten dieses Buches, die einen Gewinn aus seiner Lektüre ziehen können, die Teilnehmer des Experiments, seine Autoren sind. Alle anderen, wir außenstehenden Literaturfreunde, wissen ja eben nicht, was abgesprochen war, welche Probleme sich ergaben und welche Kompromisse geschlossen wurden oder auch nicht. So bleibt die Eingangstür zu diesem abweisenden Gästehaus uns Fremden, den unbeteiligten Lesern, leider verschlossen.

Nur keine Panik!

Monday, 22. November 2010

bruch

Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst des islamistischen Terrorismus. Alle Mächte des wiedervereinigten und erstarkten deutschen Staates haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet: die Kanzlerin und ihr Innenminister, die Medien von BILD bis Spiegel, von Das Erste bis ProSieben, ein überforderter Berliner Innensenator und übermüdete deutsche Polizisten. Dabei stecken sie alle miteinander im selben Dilemma: Was sie auch tun und sagen, kann je nach Gang der Dinge später gegen sie verwendet werden. Es ist schon kein leichtes Los, in Zeiten vager Bedrohung konkrete Verantwortung zu tragen! Spielen wir die beiden denkbaren Varianten durch.

Szenario 1 (nennen wir es, bevor wir es genauer wissen, vorläufig und in Anlehnung an den WTC-Anschlag von 2001) Twelve-Six: Es ereignet sich tatsächlich in den nächsten Wochen, zum Beispiel am Nikolaustag, ein katastrophaler terroristischer Anschlag in einer deutschen Großstadt, oder gar zeitgleich an mehreren Orten. Welcher Art die Attacke diesmal sein wird, ob sie einem der bisher bekannten Muster folgt (gezielter Flugzeugabsturz, Bombenanschlag auf Schienenverkehrsmittel, wahllose Liquidierung von Passanten), oder ob sich die Strategen des Terrors in Pakistan, im Jemen oder wo auch immer etwas ganz Neues ausgedacht haben, steht ebenso in den Sternen wie die diesmaligen Anschlagsziele. Weihnachtsmärkte? Der Reichstag in Berlin? Fußballstadien? Oder gar Kernkraftwerke? Vorsichtshalber ziehen die zuständigen Politiker und Beamten alle möglichen Varianten in Erwägung, damit sie hinterher darauf verweisen können, dass sie ja immerhin vor dem dann traurige Wirklichkeit gewordenen Unglück gewarnt haben. Umgekehrt müsste ein Innenminister wohl seinen Hut nehmen, der von den Ereignissen vollkommen überrascht wird oder auch nur einen solchen Eindruck hinterlässt. Geschieht aber etwas gänzlich Unerwartetes, ja Unerwartbares, dann sind „die Verantwortlichen“ auch aus dem Schneider, denn damit konnte ja nun wirklich keiner rechnen. Und verständlicherweise wiederholen sie gebetsmühlenartig die Binsenwahrheit, dass es einen 100%igen Schutz gegen terroristische Anschläge in einer freien Gesellschaft nun einmal nicht geben könne; dass mithin ein „Restrisiko“ immer bleibe. Insofern ist auch der Titel „Verantwortliche“ für die Entscheidungsträger im Bereich der öffentlichen Sicherheit angesichts der Bedrohung durch international operierende Terroristen fehl am Platz. Kein Mensch kann heute mehr die Verantwortung dafür übernehmen, einen solchen Anschlagsplan in jedem Falle zu vereiteln.

Szenario 2 (nennen wir es, nach der jüngst im namibischen Windhoek sichergestellten Bombenattrappe) Blindgänger: Es passiert nichts, nicht im November, nicht im Dezember, nicht im März und nicht im April nächsten Jahres. Allerdings kommen immer wieder von verschiedenen Seiten, einerseits aus mehr oder weniger dubiosen, andererseits aus mehr oder weniger ernst zu nehmenden Quellen mal eher vage, mal sehr konkrete Hinweise auf einen hier oder dort bevorstehenden Anschlag. Mit hohem Aufwand an Personal- und Materialkosten werden die geeigneten Maßnahmen ergriffen. Nachforschungen werden angestellt, Sicherheitsvorkehrungen getroffen, Verkehrswege gesperrt, Warenströme aufgehalten usw. Der entstehende wirtschaftliche Schaden für die Gemeinschaft ist immens, von der demoralisierenden Verunsicherung der Bürger ganz zu schweigen. Andererseits hält sich der von den Drahtziehern einer solchen „Red-Herring-Taktik“ betriebene Aufwand in engen Grenzen, ihre Risiken sind minimal. Fast könnte man sich fragen, warum die Terroristen nicht seit je diesen bequemen und sparsamen Weg beschritten haben. Allerdings wirkt eine Scheindrohung nur dann, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit aus realen Ereignissen in der Vergangenheit  herleiten kann. Die Anschläge von Luxor (1997), Nairobi und Daressalam (1998), auf die USS Cole in Aden (2000), auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington (2001), auf Pendlerzüge in Madrid (2004) und U-Bahnen und Busse in London sowie auf Touristen in Bali (2005), auf das Marriott-Hotel in Islamabad und auf willkürlich ausgewählte Passanten in Mumbai (2008) – all diese islamistischen Gruppen zuzurechnenden Gewalttaten haben genug Schrecken verbreitet. Nun kann sich al-Qaida vermutlich für längere Zeit auf seinen „Lorbeeren“ ausruhen und darauf vertrauen, dass schon ein Räuspern seiner Aktivisten im verhassten satanischen Westen für hektische Betriebsamkeit (und eben für hohe Kosten) sorgen wird. Erst wenn wieder eine gewisse Abstumpfung erreicht ist, dürfte der Zeitpunkt für eine neue Tat gekommen sein.

So weit das Dilemma der in jedem Fall überforderten „Verantwortlichen“, die entweder Panikmache betreiben können und somit unfreiwillig die Werbetrommel im Interesse der Terroristen rühren oder ihren Job riskieren, wenn sie die Bevölkerung beruhigen und dann doch ein Unglück geschieht.

Wenn ein konkretes Dilemma unauflösbar erscheint, bietet sich meist die Flucht in eine Abstraktion an. So auch in diesem Fall, wenn gefragt wird, welche Art „Unglück“ hier denn eigentlich verhandelt werde. Die Zahl der westlichen Opfer von al-Qaida seit Bestehen dieses weltweit operierenden Terror-Netzwerkes betrage schließlich gerade einmal fünftausend, in Europa waren es kaum 300. Pro Jahr, so heißt es, fallen allein in Deutschland 74.000 Menschen ihrer Alkoholkrankheit zum Opfer. Worüber regen wir uns also auf? Wovor haben wir Angst? Das Risiko, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, ist alltäglich um ein Vielfaches höher als das, jemals einem Terroristen vor die Flinte zu laufen. Und wer auch mit solchen abstrakten Zahlenspielen aus der Statistik seine irrationalen Sorgen nicht in den Griff bekommt, dem gelingt es vielleicht durch autosuggestiv erzeugten Heroismus: „Wir müssen eine heroische Gelassenheit entwickeln,“ rät der Berliner Soziologe Herfried Münkler bei Quarks & Co., „denn es wird auch bei uns früher oder später einen Anschlag geben. Dabei erwächst die Macht der Terroristen aus unserer eigenen Angst. Wenn wir aber die Anschläge als Unfälle ansehen würden, dann stellt sich heraus, die Terroristen können uns gar nichts anhaben.“ – Also nur keine Panik!

Protected: Myrte & Guave

Wednesday, 17. November 2010

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Stoßseufzer aus dem Lesesessel (III)

Monday, 15. November 2010

zumtoddeskobay

Die oben erwähnte Schilderung der Beerdigungsfeier für Konrad Bayer, mit anschließendem Jahrmarktsbesuch, aber ohne jedes Eingehen auf die Gründe und Hintergründe dieses tragischen Suizids eines Genies, wie sie sich in den jüngst erschienenen Raddatz-Tagebüchern der Jahre 1982-2001 findet, hat mich veranlasst, die Details nun selbst einmal ans Licht zu holen.

Die Konrad Bayers Tod vorausgehende sog. Sigtuna-Tagung der „Gruppe 47“ im Jahr 1964 ist in einer sehr detailreichen und gründlich recherchierten Monographie dokumentiert. (Fredrik Benzinger: Die Tagung der „Gruppe 47“ in Schweden 1964 und ihre Folgen. Ein Kapitel deutsch-schwedischer Kultur- und Literaturbeziehungen. Stockholm: Universität Stockholm / Germanistisches Institut, 1983.)

Der 31-jährige Bayer aus Wien las am zweiten Tag der Zusammenkunft, dem 11. September. Über seinen Auftritt und die anschließende Diskussion heißt es: „[…] mit Konrad Bayer beschäftigte sich die Gruppe zwanzig Minuten lang. Aber seine fünfzehn Prosapassagen aus Der sechste Sinn, geschrieben in einem ,burlesk-humoristischen und altertümlich-aristokratischen‘ Stil gefielen der Gruppe überhaupt nicht. Der alte Ton Bayers, der im Jahr zuvor Furore gemacht hatte, veranlasste [Walter] Jens jetzt zu der Bemerkung, dass die Stücke ,zu leicht durchschaubar‘ seien. […] Hans Mayer, im selben Verlag (Rowohlt) tätig, der Bayer herausbringen wollte, fand eine Prosa vor, die ,mit dem Geschehen nicht fertig wird‘. Das Ernsteste sei aber, meinte er, dass ,alles von aussen her gesehen‘ werde. Dadurch entstehe ,etwas schrecklich Erkältendes, Inhumanes. Das Geschehen erscheint sinnentleert.‘ […] Was verleitete den grossen Kritiker zu einer solchen unpräzisen Entgleisung? In dem Text verwendete Bayer, der selbst Jude war, eine Reihe jüdischer Namen, ohne dass, laut Mayer, ,der Inhalt das rechtfertigt‘. Diese bewussten Stilelemente waren in Mayers Augen offenbar ein schwerer Bruch gegen eine fast tabuartige Regel, die in der Gruppe streng aufrechterhalten wurde, dass keinerlei Spass über Juden geduldet wurde, eine umgekehrte Diskriminierung also. […] Die stark missbilligenden Worte von Mayer und Jens lenkten zwar die Debatte, empörten aber auch mehrere Teilnehmer. Nicolas Born verstand gar nicht, ,wie jemand aus diesen Textstücken Unmenschlichkeit herauslesen‘ und gar auf Auschwitz hinweisen könne. […] Im grossen ganzen waren aber diese konträren Aussagen weniger schwerwiegend und konnten den Gesamteindruck eines Verrisses nicht ändern. […] Dies war natürlich eine grosse Katastrophe für Bayer, der lange versucht hatte, im Literaturbetrieb Fuss zu fassen.“ (Benzinger, a. a. O., S. 69 f.)

21 Teilnehmer der Sigtuna-Tagung haben per Fragebogen ihre Erinnerungen mitgeteilt; unter ihnen übrigens auch Fritz J. Raddatz. 16 Teilnehmer wurden zusätzlich von Benzinger persönlich interviewt. An das Debakel der Lesung von Konrad Bayer erinnerte sich Christa Reinig: „Er hatte sich mit Gegenkritik gegen die Gruppengepflogenheiten zur Wehr gesetzt und meine Aufmerksamkeit erregt. (…) Er erschien mir als der Prototyp des Schriftstellers, der künftig Erfolg haben wird. Einige Wochen später verbreitete sich die Nachricht, er habe Selbstmord verübt.“ (Ebd., S. 71.) – Erich Fried hatte immerhin das Format, sein tragisches Fehlurteil im Interview einzugestehen: „Im Wiener Nihilismus liegt an sich ungeheuer viel antisemitisches Erbe. Glücklich war ich über diesen Text nicht, aber Bayer war kein Antisemit. Oft habe ich mich geirrt, doch nie so arg. […] Ausserdem war gegen ihn eine gehässige Literaturkampagne am Werk. Er hat am Abend vor seinem Selbstmord diese Kritiken noch gesehen. Der Redakteur, der sie ihm gezeigt hat und darüber sehr unglücklich war, Fritz, hat sich dann auch später umgebracht.“ (Ebd.) – Und auch Lars Gustafsson ist sich sicher, dass zwischen der Lesung und Bayers Selbstmord ein Zusammenhang bestand: „Konrad Bayer wurde so übel zugerichtet, dass es, wie ich glaube, dazu beigetragen hat, dass er sich später im selben Jahr das Leben nahm. Er wurde so verteufelt übel zugerichtet.“ (Ebd., S. 160.)

Fritz J. Raddatz hat zwar den Fragebogen ausgefüllt, aber offenbar keine nennswerten Beiträge liefern können, denn er findet in dem 200-Seiten-Buch nur an zwei Stellen knappste Erwähnung. Hans Mayer hingegen gehörte zu jenen zehn Personen, die die Befragung explizit ablehnten oder erst gar keine Antwort schickten. Angst? Oder gar ein schlechtes Gewissen? Das wird sich wohl nicht mehr klären lassen; es sei denn …

[Titelbild: Konrad Bayer nach einem Foto von Franz Hubman (Wien), hier aus Die Wiener Gruppe. Hrsg. v. Gerhard Rühm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1967, Abb. 4 (Ausschnitt). © Rowohlt Verlag.]

Ghana (III)

Thursday, 11. November 2010

oliveghana

Als autodidaktisch geschulter Marxist weiß ich, dass man sich der Wahrheit über einen Menschenschlag einzig und allein auf dem Verständnisweg nähern kann, der sich mit seinen allermateriellsten Lebensbedingungen befasst. Zu diesen Bedingungen gehören fundamental zunächst das Klima, dann die Bodenbeschaffenheit, gegebenenfalls noch die Tierwelt und jedenfalls entscheidend die Vegetation.

Wenn ich in der Geschichte Ghanas lese, dann fällt mir auf, dass dort vor 3.750 Jahren eine enorme Verbreitung der Ölpalme Eleas guineensis zu verzeichnen war. Dieser Wachstumsschub folgte auf einen moderaten Klimawandel im gesamten Westafrika, die den bis dahin dichten Regenwald zurückdrängte und savannenartigen Randgebieten Raum gab. (Sicher ist wohl diese plötzliche Ausbreitung des bis zu 30 Meter hohen Baumes allein auf klimatische Veränderungen zurückzuführen, und nicht etwa auf kultivierende Maßnahmen der frühen Ghanaer.)

Warum ist nun der Baum für den Menschen nützlich und wertvoll? Weil sich aus seinen schnell verderblichen Früchten zwei verschiedene Öle gewinnen lassen: aus deren Fruchtfleisch das Palmöl und aus den getrockneten, gemahlenen und dann gepressten Kernen der Früchte das Palmkernöl. Weit überwiegend finden beide Öle als Nahrungsmittel Verwendung, lediglich ein Zehntel wird als Zusatz für Reinigungsmittel und Parfüms, ein noch kleinerer Teil als Biokraftstoff verwendet.

Dieser mit anderen Wirtschaftsfeldern konkurrierende landwirtschaftliche Produktionszweig hätte doch immerhin für die Zukunft den Vorteil, nachhaltig zu sein, während der Raubbau an den endlichen, begrenzten Bodenschätzen – ich nenne Gold an erster Stelle, denn diesem Edelmetall verdankte die Goldküste bis zu ihrer Unabhängigkeit schließlich ihren Namen – und den nicht schnell genug nachwachsenden Edelhölzern bloß Strohfeuer in einem schnell abbrennenden kapitalistischen Boom-Feuerwerk sind. Während wir heute jubeln und uns unserer Prosperität und unseres Drittwagens freuen, werden unsere Enkel morgen weinen – hier in Deutschland, im fernen Ghana und überall auf der Welt.

Immerhin hat die Palmölproduktion in Ghana mittlerweile in der landwirtschaftlichen Entwicklung hohe Priorität. „Die Regierung investiert in den Anbau widerstandsfähigerer und vor allem ertragreicherer Ölpalmen und wirbt unter Kleinbauern für den Einsatz des neuen Saatgutes. Doch trotz dieser Anstrengungen entspricht das ghanaische Palmöl häufig nicht den Qualitätsstandards der internationalen Lebensmittel- oder Kosmetikindustrie. Der traditionelle Anbau und die Verarbeitung in Kleinbetrieben verhindern zudem kostensenkende Größenvorteile, sodass Ghana auf dem Weltmarkt auch nicht über den Preis konkurrieren kann. Eine Chance bietet hier der wachsende Markt für Bio- und Fair-Trade-Produkte. Die ghanaischen Bauern können jedoch ohne Unterstützung internationaler Abnehmer weder die notwendige Umstellung bewältigen noch die erforderlichen Mengen produzieren oder die Kosten für eine Zertifizierung nach international anerkannten Standards finanzieren.“ Woher ich das weiß? Weil ein deutscher Seifenhersteller, Dr. Bronner’s Magic Soaps, auf seiner Internet-Site über diese Zusammenhänge berichtet. Ob aber wirklich eine Chance für Ghana in solchen Projekten liegt, oder ob nicht vielmehr hier bloß wieder ein Unternehmen aus den hochentwickelten westlichen Industrienationen seine Chancen nutzt, aus dem schlechten Gewissen seiner noch zur Nachdenklichkeit befähigten Bevölkerungsanteile Kapital zu schlagen, à la: „Ich wasche meine Hände in Unschuld mit Ökoseife aus Ghana!“ – ob hier also echter Idealismus am Werke ist, der die Umverteilung der Nutzlast unserer maßlosen Naturausbeutung und -vernichtung von den Opfern allmählich auf die Täter verschiebt, oder doch nur wieder ein reines Geschäftinteresse, das sich den Naturschutz als zusätzliches Verkaufsargument ans Revers steckt, das lasse ich noch mal dahingestellt sein.

Ab nach Majak damit!

Wednesday, 10. November 2010

einlaufendewaggonsinsteufelsloch

Vielleicht wird unsere Spezies einmal ins ewige Goldene Buch der Schöpfung eingehen als die von Verdrängungsweltrekordlern. Wir haben es ja wirklich raus, was uns nicht passt beiseitezuschieben. (Vielleicht sollte ein kühner Historiker gelegentlich einmal wagen, die Geschichte der Menschheit allein von diesem zugegeben eindimensionalen Gesichtspunkt aus in den Blick zu nehmen. Was daraus resultierte, wäre vermutlich unterhaltsamer als die tägliche Zeitungslektüre, die doch immer nur punktuell Belegstücke für die These liefert, dass das Projekt Mensch auf Terra scheitern muss, weil seine humanen Protagonisten die Wahrheit nicht ertragen.)

Dieses Verdrängen hat nun gestern eine überraschende, neue Pointe gefunden. Eigentlich ist ja schon staunenswert genug, dass allerlei Todeszeichen der Gattung Homo sapiens – von der (ich verwende hier genüsslich das nur scheinbar abgenutzte, dessen ungeachtet doch sehr treffende Wort) Weltbevölkerungsexplosion über die heillose und irreversible Verschleuderung von Energie- und Materialreserven unseres geschundenen Planeten bis hin zum rückstandslosen Verlust jeder Idee von Sinn seines Daseins auf dem Bildschirm seiner Selbstwahrnehmung – allenfalls als Hintergrundrauschen auftauchen, als ein schwaches Flickern oder blasses Flimmern, bei all dem Starkulttrara, Skandalfeuerwerk und Selbstbeweihräucherungsnebel, mit dem uns unsere Massenmedien mittlerweile rund um die Uhr beschallen, verspotten und desensibilisieren.

(Und für diesen großen Fake gibt es demnächst noch die zwangsverordnete GEZ-Gebühr, die auch unsereiner, der einer mikroskopisch kleinen Minderheit von Fernsehverweigerern angehört, zu entrichten hat, weil es der Staat sich selbst nicht zumuten kann, die Lauterkeit meiner Nichtinanspruchnahme-Behauptung zu überprüfen. Und das wird uns perfiderweise verkauft als ein Fortschritt, weil damit doch endlich die penetrante Belästigung durch die GEZ-Schnüffler ein Ende habe. Ich hatte mich über die Besuche dieser freundlichen Kontrolleure nie zu beschweren, mit reinem  Gewissen und dem fröhlichen Blick in ihr erstauntes Gesicht wenn sie ausnahmsweise einmal einsehen mussten, dass es tatsächlich Menschen ohne Fernseher immer noch gibt: „Bitte, schauen Sie gern in jeden Kleiderschrank. Ich habe nichts zu verbergen!“ Wenn das Bundesverfassungsgericht diesen Rechtsbruch abnickt, will ich nicht länger Bürger dieses Staates sein. – Aber das nur am Rande.)

Dieses Verdrängen hat also nun gestern eine überraschende, neue Pointe gefunden, nachzulesen auf der Titelseite meiner Tageszeitung, der Süddeutschen Nr. 259 vom 9. November 2010. Noch in diesem Monat soll nach Informationen des Blattes ein Abkommen zwischen Deutschland und Russland getroffen werden, das es meinem Vaterland künftig gestattet, seinen strahlenden Scheißdreck kostengünstig außer Landes zu verfrachten – ohne kostspielige und imageschädigende Proteste im Wendland. Damit findet der Kolonialismus nun also endgültig in umgekehrter Richtung statt: Wo die „fortschrittlichen“ Staaten bislang die „unterentwickelten“ auspumpten und ihrer Bodenschätze (vom Gold bis zum Öl), Naturprodukte (von Kakao bis Koka) und Produktivkräfte (früher Sklavenimport, heute Arbeitsexport) beraubten, da pumpen sie künftig die giftigen Überbleibsel ihres hemmungslosen Hedonismus dorthin zurück, wo ja ohnehin kein Gras mehr wächst.

Sollen die Schotterer also künftig nach Tscheljabinsk pilgern, um dort das Gleisbett anzugraben? Das werden sie nicht können. Und genau das wissen die Herren in den steifleinenen Hemden nur zu gut, die in den Energiekonzernen, einer von den größten wenig mehr als drei Kilometer Luftlinie von meinem Schreibtisch entfernt, mit einem eiskalten Federstrich für diese Auslagerung sorgen. – Aber ich habe längst aufgegeben, meine Empörung über solche Schandtaten zu personifizieren. Es wäre doch naiv anzunehmen, dass Jürgen Großmann & Co. die Wahl hätten zwischen der Übeltat einer solchen Verdrängung und der Heldentat des Bekenntnisses zum doch – selbst vom sprichwörtlichen  Blinden mit Krückstock  – absehbaren Zusammenbruch nicht nur ihres, sondern unser aller Energieversorgungs-Unternehmens. Der Konkurs dieser sorglosen Versorgungsindustrie ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Ghana (II)

Tuesday, 09. November 2010

DormaaAhenkro

Ich will versuchen, diesem so fremden wie fernen Land Schritt für Schritt näherzukommen. Wie fern ist es denn eigentlich? Zwischen meiner Vaterstadt Essen (51° 27′ 25” Nord / 7° 00′ 38” Ost) und der ghanaischen Hauptstadt Accra liegen 5.155 Kilometer Luftlinie. Da der Herkunftsort meiner Schwiegertochter in der Nähe der Distrikthauptstadt Dormaa Ahenkro wiederum 350 Kilometer in nordwestlicher Richtung der Metropole gelegen ist, kann es gut sein, dass die Distanz zwischen ihrem alten und ihrem neuen Wohnort exakt fünftausend Kilometer beträgt. – Eine solche Strecke will man nicht unbedingt laufen. Wir versuchen es mit diesem wahnwitzigen Annäherungsversuch trotzdem einmal.

Kaum 40 Kilometer von Veronicas Herkunftsort entfernt liegt der Konfluenzpunkt 7° Süd / 3° West. Wie es dort aussieht, kann man hier sehen.

Die beste Landkarte, die ich im wohl kompetentesten Fachgeschäft meiner Vaterstadt, dem Buch- und Landkartenhaus Orgs in der Rosastraße 12, kaum 350 Meter von meinem Ursprungsort im Süthers Garten 8 entfernt gefunden habe, hat den Maßstab eins zu fünfhunderttausend. (Erschienen im Verlag ITMB Publishing Ltd., hierorts erhältlich zum Preis von 11,80 Euro.)

Was im – schreckliches Wort! – Umfeld des antipodischen Herkunftsorts dieser mir vorläufig noch vollkommen unverständlichen Schwiegertochter los ist, oder aus dem trennscharfen Blick eines von hiesigen Verhältnissen verwöhnten, möglicherweise verzogenen Blick als ein solches völlig fremdes Feld mit allen Anstrengungen erfahrbar gemacht werden kann, wollen wir künftig hier zu erfahren suchen. Welche Erfahrung? Welche Versuchung! Welches Glück des Erkennens.

Und nun nähern wir uns, ganz behutsam, dem Sand, der sich zwischen den Zehen des Mädchens zwanzig Jahre lang rieb, bevor es eins meiner Söhnchen mit sich nach Europa zog. (Was habe ich bloß für ein Glück, solchen Kontrasten nachzusteigen, da sich der Sand zwischen den Zehen in einen Sand zwischen den Zähnen verwandelt. – Sprich doch mal!)

Fernando Pessoa: „Algebra der Geheimnisse“

Monday, 08. November 2010

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Pessoa, Fernando: „Algebra der Geheimnisse“. Ein Lesebuch. Mit Beiträgen von Georg R[udolf] Lind, Octavio Paz, Peter Hamm u. Georges Güntert. Mit zahlreichen Abbildungen. Zürich: Ammann Verlag, 1986. – 193 & 5 S. m. 18 Abb. [auf den S. 31-50], 19,0 x 12,0 cm, ill. OBrosch., Rücken minimal nachgedunkelt, sonst wie neu. – Erstausgabe. – Bibliothek des Herrn Parnok, Bd. 8. – ISBN: 3-250-01057-X.

Vielleicht – wenn nämlich die Zeitläufte einmal gerechter mit ihren edelsten Geisteskindern umgehen sollten – werden die Bücher aus dem Zürcher Ammann-Verlag, der von 1981 bis zum Juni dieses zu Ende gehenden Jahres existierte, von Kennern und Könnern gesammelt als die in ihrer Zeit nahezu unvergleichlichen verlegerischen Heldentaten hoch ambitionierter, selbstausbeuterischer Literaturidealisten, namens Marie-Luise Flammersfeld und Egon Ammann. Solch ein Bändchen wie das hier und heute aus blanker Not für nur 18 Euro verscherbelte kann ich aber nicht nur deshalb nicht unkommentiert hingeben. Mein heutiges Geschreibsel soll vielmehr zuvörderst den Zweck erfüllen, dem nun auf sich selbst zurückgeworfenen Paar, das sich – wer weiß wie – doch gewiss trotz aller gründlichen Erwägung plötzlich nach dem geplanten Selbstentzug dieser durch nahezu drei Dezennien ertragenen Freudenlast aufrecht hielt, ein winzigkleines Glückshagelkorn auf seine (hoffentlich) noch gemeinsame Bettdecke prasseln zu lassen, wohl wissend, wie schnell solche Beglückungen von heute schon morgen dahingeschmolzen sind.

Aber selbst dann bleibt doch noch immerhin ein feucht-fröhliches Tröpfchen, wenngleich als nur bitterer Trost: „Wenn es etwas gibt, was dieses Leben uns gewährt und wofür wir, vom Leben selbst abgesehen, den Göttern dankbar zu sein hätten, so ist es die Gabe, uns zu verkennen: uns selbst zu verkennen und uns gegenseitig zu verkennen.“ (Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. A. d. Port. v. Georg Rudolf Lind. Zürich: Ammann Verlag, 1985, S. 132.)

Was wären wir schließlich, ohne diese Begabung zum Selbstbetrug? Einsamste Wanderer, verloren in unendlicher Leere. Aber ist es denn wirklich so unausstehlich schlimm, dass wir die Linderung unserer existenziellen Leiden einer Täuschung verdanken?

Vom Leben hat der vielnamige Pessoa nicht viel mehr verstanden als – immerhin – das Wesentliche. Doch das ist nicht genug, denn zum Überleben gehört das Unwesentliche unbedingt auch hinzu, ist gar das zuletzt Bestimmende. Und dieser Zugang ist dem insofern nur halben Mann aus Lissabon, nimmt man seine Aphorismen ernst, zeitlebens verschlossen geblieben; sehr zur Freude von uns aus dem Durchschnitt gezückten Lesern, die an der Peripherie des Verständlichen ihr Entzücken finden. (Besudelte Klingen, die wir sind.)

[Das Titelbild zeigt die Truhe mit den zum Zeitpunkt seines Todes 1935 unveröffentlichten Manuskripten Fernando Pessoas und im Hintergrund die Bibliothek des Dichters; aus dem hier veräußerten und besprochenen Buch, S. 48.]

Unschreibbare Romane (IV)

Sunday, 07. November 2010

dasvollkommeneglueckdesbeginnens

Wer waren doch gleich noch die drei größten „Stars“ des Zwanzigsten Jahrhunderts? Keine Frage: Adolf Hitler, John Lennon und ich. In dieser Reihenfolge, versteht sich. Ich bin schließlich nicht größenwahnsinnig. Da ich eine Frau bin, wird man verstehen, dass ich nicht ablehnen konnte, mich auf dieses Stüfchen zu stellen, wenngleich ich beanspruche, auf Platz zwei zu gehören. (Wem Platz eins gebührt, das weiß ich nicht, soll ’s meinetwegen Helmut Schmidt entscheiden. Der schäggige Adi aber auf keinen Fall!)

[Der folgende Absatz ist Robert Walser gewidmet:] Ich habe gerade gespürt, dass ich dem Wörtlein ,Stüfchen‘ einige Sympathiemoleküle abmelken kann, einfacher gesagt: Ich mag ’s! ,Stüflein‘ ist ein Wörtchen, über das man zwar stolpert, ohne jedoch allzu hart zu fallen. Im Gegenteil, das Stolpern über Stüfchen verschafft einen völlig ungefährlichen kitzelkleinen auffrischenden Nervenschwips, der es erlaubt, die nun unmittelbar folgenden Ereignisse zum Sturm im Wasserglas zu bagatellisieren, aus ihnen somit dermaßen liliputanisch kleine Phänomene zu miniaturisieren, dass sie nahezu nicht mehr erkennbar, schon gar nicht haftbar zu machen  sind, nachdem sie merklich unbemerkt durch allerfeinste tonlos gluckernde Gullylöcher flutschten. Spurenelemete der Vorboten einer Krise? Ach was, die haben wir längst schon futschgelutscht!

Das lassen wir uns nun auf der Zungenspitze zergehen. Immerhin haben wir uns wieder eingekriegt, und das gar auf dem Eisgipfel unserer Unverfrorenheit. Nun ab Marsch durch die Mitte und hinauf in den Abgrund! – So will ich denn von meiner Jugend erzählen. Schule? Das war der Ort, wo uns alte Männer gegenüberstanden, die uns verkündeten – während wir gerade an das absolute Gegenteil dachten –, dass wir uns in den kommenden Wochen, gar Monaten mit dem Besuch der alten Dame würden beschäftigen müssen. Nach dieser schlimmstmöglichen Drohung fühlten wir uns dürr und matt. (Wir hätten den Namen des Autors vermutlich auch so erraten.)

Ob ich sonst noch Probleme habe? Das nicht; aber ich weiß den kürzesten Weg von hier zur Antwort auf die Frage, die man dort erst erfährt. (Jedenfalls dann, wenn jemand vorausläuft, die Frage zu erfragen und mir umgehend verschweigt, wie sie denn lautet.) Und übrigens hasse ich Interviews, die nicht ohne Fragen auskommen. Ein aktuelles Zauberstichwort lautet ,Perspektiv-Wechsel‘. Dann versuchen wir ’s doch mal mit einer dummen Frage! Ist es denn so schwer, Personen, statt sie durch dumme Fragen zu plätten, mit dummen Aussagen zu dann vielleicht unebneren Antworten zu reizen? Mit der anglo-amerikanischen Gattungsbezeichnung Interview konnte ich noch nie viel anfangen.  Die in diesem Dialog stattfindende Intervention soll doch nicht auf ein Dazwischen zielen, sondern auf ein Darüberhinaus.  Darum bleibt fragenswert, ob es sich bei diesem Zufallsfund nicht um einen Ankerpunkt für die Literatur des 21. Jahrhunderts handelt, dessen viel versprechende Möglichkeiten nur leider vorläufig erstickt wurden im engmaschigen Strickmuster eines langweiligen Pingponspiels, nach dem immergleichen binären, bipolaren, bilateralen Schema: „Frage?“ – „Antwort!“ – „Frage?“ und so weiter bis zum „Dankeschön, der Ball ging neben die Platte!“

Um trotzdem den Blick auf diese vielversprechende Innovation zu lenken, die zwar streng genommen natürlich nichts andres ist als eine Reanimation des dramatischen Dialogs, taufte ich mein neues Arbeitsprojekt kurzerhand auf den unverdächtigen Namen Zwiesprachen und begann stehenden Hinkefußes mit der konzentriert-dislozierten Arbeit an dieser Einvernahme. (Wenn ich mich von diesem Schreck erholt habe, melde ich mich wieder zum brandwundigen Thema dieses Beitragsstrangs.)

[Fortsetzung folgt.]

Stoßseufzer aus dem Lesesessel (II)

Sunday, 07. November 2010

resignierendehaende

Jetzt habe ich sie bald „durch“, die dicke Tagebücher-Schwarte von Fritz J. Raddatz. Da ich ein Mensch bin und kein ausgeklügelt Buch, empfind’ ich ’s nicht als Widerspruch, wenn ich nämlich die Lektüre einerseits genossen und den Autor dennoch auf weite Strecken verachtet habe. On verra.

Dass diese Schlüsselfigur der westdeutschen Literaturszene eines Vierteljahrhunderts, nämlich von 1960 bis 1985, sein diaristisches Werk erst drei Jahre vor seinem „Waterloo“ – dem von seinen Feinden dankbar beim Schopf gepackten und emsig aufgebauschten Lapsus namens „Frankfurter Goethebahnhof“ – in Angriff nahm, hat seinen Grund wohl weniger in der schon früher zitierten „jahrzehntelange[n] Scheu, fast Keuschheit gegenüber diesem Voyeurismus“, als vielmehr in der mit Beginn seines sechsten Lebensjahrzehnts allmählich einsetzenden Ermattung, dem schrittweisen Rückzug aus dem Epizentrum des intellektuellen Mittelstands. Wir könnten diese vergleichsweise moderatere Alltagsgestaltung, die überhaupt erst die Mußestunden für solche Notizen freischlägt, allerdings auch auf das ruhigere Fahrwasser zurückführen, in das sich der bekennende Bisexuelle Raddatz seit seiner stabilen Lebenspartnerschaft mit Gerhard Bruns hat münden lassen. Dass er dieses Geschreibsel – gewiss überaus nützlich für die regelmäßige Frustabfuhr nach missglückten Geschäftsessen, enervierenden Telefonaten (mit so verschiedenartigen, so in ihrer jeweiligen „Einzigartigkeit“ petrifizierten Egomanen wie Rolf Hochhuth, Wolf Biermann, Jürgen Becker, Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser, Peter Rühmkorff, Reinhard Lettau, Walter Kempowski, Thomas Brasch, George Tabori, Hans Mayer und Peter Wapnewski) und immer wieder von seinen Gästen traurig gering geschätzten Event-Inszenierungen – in seiner nach eigener Schilderung gewiss traumhaft dekorierten Wohnung nicht nur zu Papier gebracht hat, sondern nun auch noch zu Lebzeiten drucken lässt, kann eigentlich nur zwei mir gleichermaßen unsympathische Gründe haben: Geldhunger und Rachgier.

Übrigens sollte uns emsige Leser das 29-seitige Personenverzeichnis nicht darüber hinwegtäuschen, dass – bei aller umtriebigen Aktivität des Kulturvermittlers Raddatz – der Kreis seiner „guten Bekannten“ doch stets eher überschaubar war, vom engsten Zirkel seiner Intimfreunde ganz abgesehen, zu dem nur zwei zu zählen sind: Günter Grass und Paul Wunderlich. Ich prophezeie, dass der Erstgenannte in hundert Jahren in der rasant kleiner werdenden deutschsprachigen Enklave der Weltliteratur etwa so prominent sein wird wie heute der Nobelpreisträger von vor einem Jahrhundert, Paul Heyse. Und zum wunderlichen Radier-Kitschier von der Waterkant enthalte ich mich jedes Kommentars, außer dem einen: dass ich Raddatzens Erzählung von Wunderlichs Töchterlein Hochzeit unterm Datum vom 28. August 1998 nur noch wahlweise degoutant oder absurd finden kann. Dieses allenfalls durch seine Kostspieligkeit imponierende Event kommt mir vor wie die anämische Variante des Orgien-Mysterien-Theaters von Hermann Nitsch. Merkt unser Tagebuchschreiber nicht, in welche weit unter seinen Verhältnissen zwielichternde Niederungen er sich da hat ziehen lassen? (Wenn Paul Wunderlich rechtens in der Tradition der Surrealisten steht, dann ist Helge Schneider aus Mülheim an der Ruhr ein würdiger Nachfolger von Tristan Tzara.)

Solange Raddatz Aufträge zu vergeben und Kontakte zu vermittel hatte, wurde seine Nähe und Sympathie gesucht, hauptsächlich von Autoren mit ungedruckten Werken in der Schublade und bildungsbeflissenen hanseatischen Kleinbürgern, die ihren Gattinnen imponieren wollten; sodann von etilen Kollegen, die ihn als Projektionsfläche ihrer narzisstischen Selbstdarstellungen missbrauchten. (Einige Glanzlichter des Buches finden sich unter den zahllosen referierten Telefongesprächen.) Raddatz leistet sich stets einen rücksichtslosen Blick auf die eigentlichen Beweggründe der zahllosen Liebediener, Anschleimer, Wichtigtuer, Ränkeschmiede und Selbstdarsteller, für die er nur der Postbote, Huldiger, Kumpane, Zuhörer oder Tränentrockner sein soll – und deren Interesse schlagartig auf den Nullpunkt sinkt, sobald er selbst einmal ein Anliegen hat.

Das bitterste Missgeschick und Fehlurteil unterläuft dem Diaristen übrigens mit einem Vernichtungsurteil kurz vor Toresschluss (S. 852), mit dem er keinen Geringeren als Jean Améry in die „Provinz-Liga“ verweist. Nur vier Seiten weiter vergleicht er seinen interessanten Marbacher Vorlass mit dem nahezu wertlosen Nachlass von Gottfried Benn, den er bei den Vorarbeiten zu seiner Benn-Biographie durchgesehen hat. Hier hält es unser Tagebuchschreiber nun für nötig, nach dieser Gegenüberstellung von zwei Materialsammlungen einem doch völlig abwegigen Tadel des Lesers zuvorzukommen: „(was NICHT heißt, ich vergliche mich mit Benn, ich weiß schon, ,in welcher Liga ich spiele‘).“ Mit der Selbsteinschätzung ist das nun mal so eine Sache. Nachdem ich nun sowohl des Kritikers Erinnerungen von 2003 (Unruhestifter. München: Propyläen Verlag, 2003) als auch seine täglichen Frustabfuhren in den Tagebüchern gelesen habe, maße ich mir das Urteil an: Raddatz spielt nicht in einer Liga, in der er in Gefahr geraten könnte, gegen Jean Améry zum Vergleich antreten zu müssen. (Diese beiden treten ja nicht mal in der gleichen ,Disziplin‘ an.)

[Das Titelbild zeigt die Hände des Tagebuch-Autors FJR. – Ausschnitt aus einem Porträtfoto der in Essen gebürtigen Fotografin © Karin Szekessy, Ehefrau von Paul Wunderlich bis zu dessen Tod am 6. Juni 2010, hier gescannt als Ausschnitt vom Umschlag des besprochenen Buches, dem ich recht viele Leser wünsche.]

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Friday, 05. November 2010

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Autocid

Thursday, 04. November 2010

schaulustigechinesen

Zur großen Freude beinahe aller Beobachter gibt es gegenwärtig einen in diesem Umfang selbst die Optimisten unter den Wirtschaftsweisen überraschenden Aufschwung in Deutschland. Wer hätte das noch vor einem halben Jahr für möglich gehalten? Die Arbeitslosigkeit befindet sich aktuell mit knapp drei Millionen, das sind sieben Prozent der Erwerbstätigen, auf einem Rekord-Tiefstand. So wenig Arbeitslose wie im September 2010 gab es seit 18 Jahren zu diesem Termin nicht mehr. Und nach aktuellen Steuerschätzungen können Bund, Länder und Kommunen bis 2012 auf Mehreinnahmen von 61 Milliarden Euro hoffen.

Woher kommen aber der erfreuliche Geldsegen und der heilsame Beschäftigungsimpuls? Hauptsächlich von einem über alles Erwarten boomenden Kraftfahrzeug-Markt in China, mit traumhaften Zuwachsraten gerade auch bei Luxuskarossen aus Deutschland. Denn bekanntlich ist ja dieser Produktionszweig die Schlüsselindustrie des – nach China – Vize-Exportweltmeisters Deutschland. Im deutschen Automobilbau sind gegenwärtig 710.000 Menschen beschäftigt. Nahezu jeder große Wirtschaftszweig im Land ist am Fahrzeugbau beteiligt, nach VDA-Angaben hängt jeder siebte Arbeitsplatz hierzulande am Automobil.

Es tritt also genau das ein, was zu befürchten war. Das mit 1,35 Milliarden Einwohnern bevölkerungsreichste Land der Welt – jeder fünfte Mensch auf unserem Planeten ist ein Chinese – gibt nun Gas und erhebt Anspruch auf genau jenen Komfort, der für die Artgenossen in den westlichen Industrienationen seit einem halben Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Mit welchem Recht dürften wir den Chinesen diesen Komfort verweigern, von dem wir selbst längst abhängig geworden sind? Und jetzt stellt sich diese müßige Frage schon gar nicht mehr, denn wir hängen mittlerweile am Tropf dieser fernöstlichen Wirtschaftsexpansion.

Gäbe es eine global orientierte Ethik des Wirtschaftens, die den kritischen Zustand unserer Ökosphäre und den irreversiblen Verbrauch unserer Energie-Ressourcen im Blick hat, so müsste sie den Verkauf von benzinbetriebenen Kraftfahrzeugen nach China und anderswohin in die Welt der Nachholstaaten verbieten. Dann freilich ginge es uns in Deutschland dreckig. Die Arbeitslosigkeit stiege auf nie gekannte Höhen; und ebenso müsste das sinkende Steuereinkommen die Verschuldung explodieren lassen. Marodierende Massen auf den Straßen und konsternierte Makler an den Börsen wären die Folge. Wollen wir das? „Nicht wirklich.“

So genießen wir also den kurzen Augenblick eines blitzlichtgewittrigen Hypes, wiegen uns im altgewohnten Vertrauen des Wirtschaftswunderlandes BRD und machen drei mal drei Kreuze: sechs auf dem Lotto-Zettel, um den Jackpot zu knacken; zwei bei der nächsten Bundestags-Wahl als Lohn für die schönste Plakatwand; und eins überm Taufbecken – ,Apage Satanas!’ – für den Mittelklassewagen von Vauwee für Chin Mai Pong.

Rahel Sanzara: Das verlorene Kind

Thursday, 04. November 2010

simsalasanzara

Sanzara, Rahel [i. e. Johanna Bleschke]: Das verlorene Kind. Roman. Berlin: Verlag Ullstein, 1926. – 442 & 6 S., 19,0 x 12,8 cm, Okt., Fadenheftung. – Schiefgelesen, am Schnitt leicht fleckig und minimal bestoßen, Umschlag unfrisch. Das Exemplar bietet sich an, fachmännisch neu aufgebunden zu werden. – Erstausgabe. Das Romandebüt der Autorin war zunächst als Vorabdruck in der Vossischen Zeitung in Berlin erschienen. – [Artikel-Nr.: 000346].

„Hier spricht eine deutsche Dichterin von überraschender Kraft des Bildes und der Stimme. Sie erzählt eine tief aufwühlende Geschichte von guten Menschen, die Furchtbares erleben.“ So steht es auf dem kartonierten Einband des Ullstein-Buches, nicht etwa auf einer verkaufsfördernden Banderole, sondern auf dem Einbanddeckel selbst. Wir dürfen also, wie schon die Leser vor 84 Jahren, darauf gefasst sein, dass uns Grauen und Schrecken bevorstehen. Es geht tatsächlich um ein Individualverbrechen, wie es kaum schlimmer auszudenken ist: um den Sexualmord an einem vierjährigen Mädchen.

Das Buch ist aber aus weiteren Gründen bemerkenswert, wurde doch seiner Autorin gleich in zweifacher Hinsicht Unlauterkeit vorgeworfen. Erstens nämlich habe sie den Fall, den sie mit romanhaften Ausschmückungen erzählt, aus dem bei Brockhaus in Leipzig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinenden Neuen Pitaval gestohlen. (Einem ganz ähnlichen Vorwurf sah sich in jüngster Zeit Andrea Maria Schenkel mit ihrem Krimi-Bestseller Tannöd ausgesetzt.) Und zweitens habe sie das Buch nicht allein verfasst, sondern mit erheblicher Unterstützung durch ihren Lebensgefährten, den renommierten Schriftsteller Ernst Weiß. Besonders der zweite Verdacht erhielt zusätzliche Nahrung, als Sanzara den ihr zugesprochenen Kleist-Preis des Jahres 1926 ohne Begründung ablehnte. Damit verzichtete sie immerhin auf die bedeutendste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik, vergleichbar dem Büchner-Preis im Deutschland der Nachkriegszeit. (Volker Weidermann hat den „Fall Sanzara“ in seinem zum 75. Jahrestag der Bücherverbrennung durch die Nazis erschienenen Buch der verbrannten Bücher 2008 auf knapp zwei Seiten abgehandelt und über den Tonfall des Romans richtig geurteilt, dass er heutigen Lesern „gefühlsschwer, mythisch verschlungen, sentimental und schaurig vorkommen“ müsse, „selbst wenn man den expressionistischen Zeitgeschmack abzieht“, und zudem wohl zutreffend erkannt, dass dieses Erfolgsbuch der Johanna Bleschke nur deshalb „dem Feuer übergeben“ wurde, weil ihr Pseudonym so jüdisch klang.)

Dass sich das Paar Weiß / Sanzara schon fünf Jahre früher auf die spektakuläre literarische Vermarktung von menschlichen Extremsituationen kapriziert hatte, kann man in einem Feuilleton des unvergleichlichen Joseph Roth nachlesen, erschienen im Berliner Börsen-Courier vom 12. Mai 1921. Roth war am Vorabend Zeuge gewesen, wie Rahel Sanzara die Weiß-Novelle Franta Zlin las. Die handelt von einem Soldaten, „der im Feld einen Unterleibsschuß erhält und das Geschlecht verliert. Invalid, am invalidesten zurückkehrt, seine junge Frau langsam in den Tod treibt, weil ihre Gegenwart ihm Bitternis, Qual, Vorwurf, täglichen Tod bedeutet. Der dann mit einem Mädchen von der Straße ins Hotel geht und seine verkrüppelte Geschlechtlichkeit in ohnmächtiges Morden wandelt; Geschlechtsdrang in Tötungsdrang umsetzt. Er prügelt das Mädchen halbtot und entflieht, gemeinsam mit einem aus dem Gefangenenlager ausgebrochenen russischen Kriegsgefangenen. Im Wald wird Franta Slin [!], der Perlen und Geld (Kriegsbeute) bei sich führt, von dem Russen ermordet. In seinem letzten Traum erlebt er noch die ersehnte Befreiung. Er träumt von der polnischen Jüdin, die er im Feld vergewaltigt hatte.“ Aus heutiger Sicht, nach Auschwitz und Hiroshima, mag es naiv erscheinen, wenn Roth seinen Eindruck von diesem Rezitationsabend mit diesen Worten summiert: „Vielleicht ist […] in keiner der vielen Antikriegsgeschichten die Bestialität der vaterländischen Mörderei eindringlicher in menschliches Bewußtsein gehämmert worden als in Franta Slin.“ (Joseph Roth: Werke I. Das journalistische Werk. 1915-1923. Hrsg. v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1989, S. 557 f. – Anm.: Roth schreibt den Nachnamen des Protagonisten der Novelle konsequent falsch mit S.)

Fußnote. Gottfried Benn hat seinerzeit „das Buchereignis des Jahres 1926“, neben Albert Ehrenstein, Carl Zuckmayer und anderen namhaften Kollegen, begrüßt und gefeiert – und in einem Plagiat überschriebenen Artikel im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung vom 11. Dezember 1926 gegen den Vorwurf mangelnder Originalität verteidigt (nachzulesen in: Sämtliche Werke. Band III. Prosa 1. 1910-1932. Stuttgart: Klett-Cotta, 1987, S. 166 ff). Im nun bald zu Ende gehenden Jahr hat der Dichter und Büchner-Preisträger Durs Grünbein diesen ollen Benn-Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Februar 2010 plagiiert, um der plagiierenden Axolotl-Roadkill-Autorin Helene Hegemann beizuspringen – und uns vielleicht den Gedanken nahzubringen, dass aber auch wirklich gar nichts echt sei, im Sinne von ,einmalig‘ und ,ursprünglich‘. Die Parallele war insofern geglückt, als auch das Hegemann-Plagiat im trivialen Ullstein-Verlag erschien; anderersits aber doch missglückt, weil Sanzara bloß einen anonymen Pitaval früherer Zeiten bestohlen haben mag, während Hegemann nachweislich einem leibhaftigen, wenngleich virtuellen Zeitgenossen namens Airen in die Tasche griff.

Rückzieher

Wednesday, 03. November 2010

veronica vor klausens bild

Vor knapp vier Wochen habe ich hier den Ausverkauf meiner Bibliothek bekannt gemacht und angekündigt, dass ich jedem verkauften Buch einen Abschiedsgruß mit auf den Weg geben würde. Dieses freibleibende Angebot muss ich nun leider aus drei guten Gründen widerrufen oder doch wenigstens modifizieren.

Erstens habe ich mich mit diesem Versprechen unter einen Druck gesetzt, der der Qualität meiner Arbeit – sowohl als Antiquar als auch als Blogger – abträglich ist. Naturgemäß ist das Bestellaufkommen starken Schwankungen unterworfen. Mal kommen tagelang keine Bestellungen herein, dann wieder sind es mehrere pro Tag. Sollte gar mein ungewöhnliches Projekt plötzlich über den kleinen Kreis meiner Leser hinaus bekannt werden, müsste ich fürchten, mit dem Schreiben der „Abschiedsgrüße“ nicht mehr nachzukommen, wodurch die Besteller, die vielleicht gar nicht wissen, was es mit meinem sonderlichen Projekt auf sich hat, ungebührlich lange auf das Eintreffen ihrer Bücher warten müssten. Denn eins ist klar: Ich kann unmöglich einen solchen Abschiedsgruß verfassen, wenn mir das Buch nicht mehr vorliegt – oder doch jedenfalls nicht mit den qualitativen Ansprüchen, denen ich bisher genügen wollte.

Zweitens hat sich bei der Arbeit an den mittlerweile 18 Blog-Beiträgen zu diesem „Ausverkauf“ herausgestellt, dass längst nicht jedes meiner Bücher den Aufwand verdient, den ich ihm hier angedeihen lasse. Den Eindruck, dass ich etwa ein Büchersammler wäre, dem niemals Fehlkäufe unterlaufen sind, will ich dann doch nicht erwecken, bei aller geschäftstüchtigen Betriebsamkeit, die mich antreibt, mich selbst, meine Bibliothek und mein Geschäft in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen. Nun könnte ich solche Missgriffe zwar mit angemessenen Verrissen auf den Weg schicken – aber wie würde es bei einem Kunden ankommen, wenn ich ihm mit allen Mitteln meiner Beredsamkeit nahebrächte, dass ich ihm mindestens nach meinem Urteil die Katze im Sack angedreht habe? Er müsste sich rechtens betrogen vorkommen und hätte vielleicht gar einen von mir, dem Verkäufer, gratis gelieferten Reklamationsgrund.

Und drittens schließlich gibt es in „meiner“ Bibliothek, die ja doch auch eine in vielen Jahren gewachsene Familienbibliothek ist, allerlei Bücher, die nicht auf meinem Mist gewachsen sind, sei es, dass sie uns zum (möglicherweise unwillkommenen) Geschenk gemacht wurden, sei es, dass sie den Bedürfnissen der übrigen Familienangehörigen entsprachen, über die ich mich erstens prinzipiell nicht äußern will und die zweitens meist längst verjährt sind. Warum über solche Fremdkörper meditieren, auf Teufel komm raus?

Fazit: Ab sofort werde ich nur noch jenen verkauften Büchern aus meiner Bibliothek einen Abschiedsgruß mit auf den Weg geben, die diesen Aufwand verlohnen. Und ich werde diesen Gruß künftig auch nicht mehr als Zertifikat auf die Rückseite der Rechnung des Empfängers drucken, denn die Mehrzahl der Empfänger ist von dieser „Beigabe“ vermutlich ohnehin mehr irritiert als erfreut gewesen. Und als Titel dieser Artikel werde ich ab sofort den (nötigenfalls verkürzten) Titel des verabschiedeten Buches wählen, statt der nichtssagenden Nummernfolge, wie bisher.

[Aus den genannten Gründen unterbleibt bei den Artikeln dieser Rubrik künftig auch der Hinweis auf den Erwerber mit dessen Initialen, seinem Wohnort und der Verkaufspreis-Angabe.]

Artikel-Nr. 0018-1312

Tuesday, 02. November 2010

unica

Zürn, Unica: Im Staub dieses Lebens. Dreiundsechzig Anagramme. Berlin: Alpheus Verlag, 1980. – 79 & 1 S., Porträtfoto d. Autorin im Frontispiz, 20,5 x 12,8 cm, Okt., Fadenheftung. – Der empfindliche Einband vorn mit größerem braunem Fleck, ohne den Transparentpapier-Umschlag, innen tadellos. – Erste Ausgabe dieser Sammlung von Anagrammen aus dem Nachlass. – ISBN: 3-922555-04-7.

Der Suicid ist ja (leider?) mittlerweile zu einem Signum exaltierter Kreativität geworden. Rechnen wir an dieser Stelle, der hier gewürdigten Wort-(besser: Buchstaben-)künstlerin zu Ehren, einmal zurück, wer nach ihr diesen allerletzten Weg wählte, dieser Zwangslage nicht entweichen konnte: David Foster Wallace, Jürg Federspiel, Hunter S. Thompson, Tristan Egolf, Hans A. Pestalozzi, Lothar Baier, Gilles Deleuze, Ernest Bornemann, Gert Prokop, Sandra Paretti, Guy Debord, Niklaus Meienberg, Gisela Elsner, Jerzy Kosinski, Bruno Bettelheim, Sandor Marai, Hermann Burger, Christian Schultz-Gerstein, Richard Brautigan, Arthur Koestler, Thaddäus Troll, Walter E. Richartz, Romain Gary, Harry Martinson, Jean Amery, Robert Neumann, B. S. Johnson, Henry de Montherlant, Bernward Vesper und  Peter Szondi – und dann eben Unica Zürn, am 19. Oktober 1970 in Paris, als sie sich von einem Fensterbrett hinunterkippen ließ, aufs Pariser Kopfsteinpflaster.

Kein Zweifel: Das ist eine Elite! Jede Einzelne, jeden Einzelnen von ihnen möchte ich an mein wummerndes Herz drücken. Was sind das doch für gequälte, für quälend authentische Liebeslebende!

Wenn ich die erotischen, um nicht zu sagen: pornographischen Zeichnungen des Lebensgefährten  dieser Wortkünstlerin Zürn, von Hans Bellmer nämlich, vor meinen Blick schieben wollte, dann könnte ich zu dem Ergebnis kommen, dass Unica Zürn aus ganz anderen Gründen der Sprung vom Fensterbrett in die Tiefe, auf das harte Pariser Pflaster unvermeidlich blieb. Aus welchen Gründen aber? Das bliebe dann doch ein unbeantwortetes Rätsel. Wenn ich nun aber andererseits dem großartigen grafischen Künstler Bellmer die Schuld in die Schuhe schieben wollte, am vorzeitigen, selbstständigen Tod der Dichterin Unica Zürn, wohl seiner Geliebten, dann wäre ich doch wohl ein rechter Spießer, oder? Ein Paradoxon aus Bigotterie und Libertinage.

Oder? „Sink ein in Asche, ans Bild der Stille, bald muss ich weg.“ (S. 24.)

[Abbildung aus dem ausverkauften Band, Frontispiz: Unica Zürn 1935.]

Artikel-Nr. 0017-1225

Tuesday, 02. November 2010

lewicameradavistalasiempre

Lewitscharoff, Sibylle: Montgomery. Roman. Stuttgart / München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. – 351 & 1 S., 20,9 x 12,7 cm, OPb. m. OSchU. – Neuwertig, ungelesen. – Erstausgabe. – ISBN: 3-421-05680-3.

Da ich mich ja zum Ungelesenhaben bekannt habe, kann ich dieses Buch nur im großen Radius umkreisen, will ich mich nicht selbst der Lüge überführen.

Selbst wenn ich einen zufälligen, beliebigen Blick hineintäte, zum Beispiel auf Seite 166, wo die Frage lautet: „,Haben wir noch genügend Orangen im Haus?‘“ – und die Antwort: „,Orangen und Zitronen‘“ … müsste ich befürchten, dass mein Kiebitzen, Stibitzen im Buch der Lewitscharoff eine Knickspur hinterließe, dem Kunden, dem Käufer, dem künftigen Leser als ein Störfall, eine Vorprägung, Irritation seines ursprünglichen Leseerlebnisses erschiene: ,Warum klappt das Buch denn immer ungewollt an dieser Stelle auf?‘ – Ja, warum?

Wie die Sonne strahlte, dem weißen Mädchen aus Bulgarien! Dem Mädchen der schlimmen Liebe. Es waren ja Orange und Zitrone, die Federico Garcia Lorca bedichtete, bevor sein Blut den Boden seines vergewaltigten Andalusien benetzte.

Nein! Ich halte mich zurück. Ich schicke dieses Buch ungelesen, und ungeprägt von schwergewichtigen Bedeutungen hinein ins Bodenlose einer filmreifen Verzweiflung – von der ich allerdings nicht sagen kann, wie weit sie trägt.

Protected: Stoßseufzer aus dem Lesesessel (I)

Saturday, 30. October 2010

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Artikel-Nr. 0016-0367

Thursday, 28. October 2010

palaver

Negri, Antonio: Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft. A. d. Ital. v. Werner Raith. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1982. – 288 S., 20,8 x 13,0 cm, Okt. – Neuwertig, ungelesen. – Erste Ausgabe der deutschen Übersetzung. Die ital. Originalausgabe ersch. 1981 u. d. T. L’anomalia selvaggia. Saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza im Verlag von Giangiacomo Feltrinelli in Mailand. – ISBN: 3-8031-3507-9.

Zufällig hat der Perlentaucher heute ein Eichendorff-Zitat in seiner Headline: „Ich glaube, die Leute in Italien sind alle verrückt.“ Ich kannte mal einen in Deutschland Zwischenstation machenden Anarchisten Gianfranco C., der meinen Lebensüberdruss besser verstand als jeder andere, mit dem ich eitel darüber sprach, mir zu diesem letzten Schritt Mut machte und mir nur den einen Rat mit auf den Weg gab, den ich dann doch nicht beschritt: „Wenn Du Dich verabschiedest, dann nimm aber doch immerhin möglichst viele Bullen mit ins Jenseits!“ Die Leute in Italien sind (oder waren damals wenigstens) wenn nicht verrückt, so doch immerhin ein Stückchen weiter an den Durchblick auf tiefere Erkenntnis gerückt als die deutschen Gartenzwerge. Ich hingegen erfreue mich ohne Skrupel meines allen Versuchungen zum konsequenten Opfergang trotzenden Durchschnittsdaseins – Gartenzwergendasein hin oder her.

Dass der Linsenschleifer aus Amsterdam einen selten unbescholtenen Blick auf die ewige Wahrheit hatte, wusste ich seit meiner gründlichen Lektüre von Bertrand Russells Panorama auf das abendländische Denken, A History of Western Philosophy (1945), besser als mancher Überflieger. Kaum einer der dort vorgestellten Philosophen erschien in Russells Porträt so rein und lauter, wie eben Spinoza.

Und an eben jenen Philosophen klammert sich der opferfreudige Sozialist Negri mit diesem Essay, mit dem er erneut eine Utopie entwickeln will, inmitten untergehender Hoffnungen auf ein besseres Diesseits. Ich hätte dieses Buch so gern gelesen, verstanden und in privater Praxis überwunden, wenn mir die Zeit dazu geblieben wäre. So gebe ich es dann also eilig weg und hoffe, dass es andernorts immerhin doch eine bessere Wirkung entfalten wird, denn als Mauerblümchen in meinem Lager.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 68,50 Euro geht dieses Buch in den Besitz von U. S. in Landau über.

[Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus dem Umschlagbild von Hans Peter Willberg.]

Artikel-Nr. 0015-0613

Thursday, 28. October 2010

prost

Ertl, Josef: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Mit einem Vorwort von [Bundeskanzler] Helmut Schmidt. Hrsg. v. Horst Dahlmeyer. Bonn: Verlag az studio bonn, 1979. – 8 S. & 8 unpag. Kunstdruck-Taf. & 308 S., 20,5 x 11,2 S., goldgepr. OLw. m. OSchU. – Umschlag unfrisch, etwas muffig. – Erstausgabe. – Widmungsexemplar: „Mit den besten / Wünschen / J. Ertl 19. 1. 82.“

Das Exemplar stammt aus dem Nachlass eines Essener Verlegers und frühen F.D.P.-Mitglieds. Der Verlag az studio bonn bestand von 1966 und 1980 und war spezialisiert auf die Publikation von Bundestagsreden, überwiegend aus dem konservativ-liberalen Lager (u. a. von Carlo Schmid, Adenauer, Strauß, Wehner, Barzel, Scheel, Genscher, Erhard, Brandt, Thomas Dehler und Helmut Schmidt). Meine Freunde werden sofort erkennen, dass ich zu einem Buch wie diesem nur gekommen sein kann wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde. Und doch haben auch solche Bücher eine Berechtigung, ernst genommen zu werden. Der Bayer Josef Ertl war für die F.D.P. von 1961 bis 1987 Mitglied des Deutschen Bundestags und von 1969 bis 1983 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Wenn mich diese Ressorts interessieren, dann naturgemäß unterm Aspekt des humanen Naturverschleißes, der ungehemmten Domestikation oder Elimination von Flora und Fauna nach den zudem fragwürdigen Bedürfnissen des Menschen. Pünktlich mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 endete allerdings die lange Amtszeit von Ertl. Mit solchen prinzipiellen Fragestellungen wie den anfangs von der jungen Partei aufgeworfenen hatte sich dieser schmerbäuchige Hüne nicht zu befassen. In aller naiven Unschuld schwenkt er gigantische Bierseidel [s. Titelbild aus dem veräußerten Buch], lässt sich von einem „Fellbereiter“ über dessen sicher noch nicht von PETA verschärften Probleme unterrichten oder schunkelt mit seiner herben Gattin auf dem Münchner Oktoberfest.

Finster-hinterweltlerische Zeiten, möchte man meinen. Andererseits mutet es aus heutiger Sicht doch auch wieder rührend demokratisch, unverbraucht optimistisch, offenherzig und ehrlich an, dass dieser Minister zur Dokumentation und vielleicht auch Rechtfertigung seiner politischen Tätigkeit auf deren Höhepunkt eine Auswahl seiner Bundestagsreden in die Druckerei schickte. Ertl scheint tatsächlich geglaubt zu haben, dass das jemand liest. (Aber doch nicht etwa jemand wie ich?) Oder immerhin muss er überzeugt gewesen sein, dass diese Zeugnisse seiner feinsinnigen Eloquenz im Streit um die Agrarpolitik der 1970er-Jahre in der BRD verdienen, für eine Nachwelt bewahrt zu werden, die sich daran entzücken würde, welch fein ziselierte Retourkutschen einstens ein Minister für Milch, Brot und Läberwurscht ritt. (Überhaupt scheint mir, dass dem Verständnis der deutschen Nachkriegspolitik ohne die eingehende Würdigung der individuellen Minderwertigkeitskomplexe ihrer Protagonisten eine entscheidende Dimension fehlt.)

Und noch ein ,Aber‘! Über sich selbst hinaus wächst selbst ein solcher Ertl, wenn er in den Schlussworten seiner Reden einen etwas weiteren Horizont in den Blick nimmt. So sagt er etwa am 21. April 1977 in der 23. Sitzung des Deutschen Bundestags in dessen 8. Legislaturperiode zum Abschluss seiner Rede über „Strukturpolitik“: „Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Agrarpolitiker und Ernährungspolitiker dürfen die Augen nicht vor den großen Herausforderungen verschließen, die durch Bevölkerungswachstum und damit zunehmenden Hunger in der Welt auf uns alle zukommen. Ich habe manchmal Angst, daß man glaubt, die großen Probleme des Jahres 2000 bestehen vorwiegend auf dem Energiesektor. Das Ernährungsproblem könnte für die Menschheit im Jahre 2000 ebenso schwer wiegen wie das Energieproblem. Auch daran müssen wir, glaube ich, heute und morgen denken. Wir müssen dabei wissen, daß Agrarproduktionen wie nur ganz wenige andere Produktionen enorm abhängig von Menschen, Boden und Klima sind, so daß sich aus diesen natürlichen drei Faktoren von vornherein zwangsläufig Beschränkungen ergeben. Es ist, glaube ich, auch notwendig, daran zu denken, daß das Jahr 2000 nicht so weit weg ist, damit wir uns nicht eines Tages schuldig machen.“ (S. 174 f.) – Allerdings erweist sich gerade in diesem letzten Satz des Josef Ertl doch auch wieder seine geistige Beschränkung. Er hätte ja lauten müssen: „[…] damit wir nicht eines Tages erkennen müssen, dass wir uns heute schuldig gemacht haben.“

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 11,35 Euro geht dieses Buch in den Besitz von Herrn B. B. in Offenburg über.

Artikel-Nr. 0014-1161

Wednesday, 27. October 2010

buchstabefuerbuchstabediegefallenegraefin

Reventlow, Franziska Gräfin zu: Der Geldkomplex / Herrn Dames Aufzeichnungen / Von Paul zu Pedro. Drei Romane. München: Biederstein-Verlag, 1958. – 304 S., 20,7 x 12,4 cm, OLw., Kopffarbschnitt, Fadenheftung. – Ohne den OSchU., der empfindliche gelbe Einband an den Deckelrändern nachgedunkelt, am Rücken ausgeblichen, Namenszug u. Datum auf Vorsatz, sonst gut. – Erste Ausg. dieser Zusammenstellung. – Die Originalausgaben erschienen zuerst 1916, 1913 bzw. 1912 im Verlag von Albert Langen in München. – Mit einem Nachwort von Friedrich Podszus.

Die verkrachte Gräfin ist mir erstmals im Zusammenhang mit meinen frühen Oskar-Panizza-Forschungen interessant geworden. Ihr störrisches Beharren auf ihrem leidenschaftlichen Freiheitsdrang gegen alle Versuchungen eines auskömmlich-sorglosen Adelslebens in der preußisch-hanseatischen High-Snobiety und ihre Kompromisslosigkeit als Liebhaberin gleich mehrerer grell unterschiedlicher Männer machten sie, wie mir schien, zu einer schillernden Kreuzung zwische Femme fatale und heiliger Jungfrau. Dass die Feministinnen der 1970er-Jahre zur Gräfin ein eher gespaltenes Verhältnis hatten, obwohl sie doch solch ein auftrumpfendes Beispiel von Selbstständigkeit abgab, schien mir ein weiteres Verdachtsmoment – nicht gegen die tolle Fanny, sondern gegen deren olle Enkeltanten.

Die Romane der Reventlow? Sind vielleicht noch lesenswert, wenn man die Zeitumstände sehr genau unter die Lupe nehmen will. So schreibt zum Beispiel der auch nicht immer ganz verlässliche Bohème-Kenner Emil Szittya über die Entstehungsgeschichte des ersten Romans dieser zur Trilogie zusammengefassten Sammlung: „In Askona lebte ganz zurückgezogen ein russischer Baron Rechenberg. […] Wir beratschlagten jahrelang, wie wir Rechenberg eine Familie beschaffen könnten, bis es sich endlich Erich Mühsam zur Pflicht machte, ihm eine Frau mit einem Kinde zu verschaffen. Das Opfer war die Schriftstellerin Gräfin Reventlow (eine in Deutschland sehr bekannte Schriftstellerin). Sie brauchte Geld und heiratete darum den Baron Rechenberg; aber, wie es schon in derartigen Kinostücken Sitte ist, es gab im Testament eine Klausel, nach der sie die Erbschaft doch nicht bekamen, sondern ihr Sohn. Gräfin Reventlow schrieb darauf aus Grauen über die unangenehme Affaire einen Roman Geldkomplex. Ihr Sohn, der noch heute [1923] in Askona wohnt, soll nach ihrem Tode [1918] das Geld geerbt haben; aber da sich das Geld in Rußland befindet, wird er nicht viel davon haben.“ (Emil Szittya: Das Kuriositäten-Kabinett. Konstanz: See-Verlag, 1923, S. 99 f.)

Was mich persönlich noch an der Geschichte interessieren könnte, das wäre eine Fußnote zur Geschichte der Gräfin, die Geschichte ihres verzärtelten, über alles geliebten, 1897 geborenen Sohnes – ist er doch der Prototyp jener Heerscharen im Zuge der Emanzipation vaterlos gebliebenen, von befreiten Müttern alleinerzogenen, verhätschelten Einzelsöhnen. Was ist aus ihrem „Bubi“, dem unehelich geborenen, vergötterten, maßlos „das Göttertier“ genannten Sohn Rolf geworden? Er lernte den Beruf des Photographen, heiratete 1923 die Lehrerin, Frauenrechtlerin, Sozialdemokratin und Redakteurin Else Reimann, war Mitte der 1920er-Jahre in Heidelberg als Gewerkschaftssekretär der freien Angestelltenverbände tätig, trennte sich bei der „Machtergreifung“ der Nazis von Frau und Kind und floh 1933 in die Tschechoslowakei, nahm seit Herbst 1936 auf Seiten der Sozialisten am Spanischen Bürgerkrieg teil, floh 1939 nach Algier und kehrte erst 1953 nach Deutschland zurück. Rolf von Reventlow starb am 12. Januar 1981 in München.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 7,35 Euro geht dieses Buch in den Besitz von Frau A. Z. in Freising über.

[Das dekorative Initial der Autorin im Titelbild, vom Einbanddeckel der hier veräußerten Ausgabe, stammt von Werner Rebhuhn.]

Artikel-Nr. 0013-0291

Tuesday, 26. October 2010

schopenhauervorstellendenkenerkennen

Schopenhauer, Arthur: Vorlesung über Die gesammte Philosophie | d. i. Die Lehre vom Wesen der Welt und von dem menschlichen Geiste. In vier Theilen. Erster Theil. Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens. 1820. Zusammen mit: Probevorlesung (1820) | Lobrede (1820) | Dianoiologie (1821). A. d. handschriftlichen Nachlaß. Hrsg. u. eingel. v. Volker Spierling. – München: R. Piper, 1986. – 573 & 3 S., 19,0 x 12,1 cm, Okt. – Sauber u. kaum gelesen. – Erste Aufl. dieser Taschenbuchausg. – ‘Serie Piper’, Bd. 498. – ISBN: 3-492-00798-8.

Das ist nun wirklich merkwürdig, ein Fall wie aus Paul Kammerers Buch Das Gesetz der Serie. Gestern bestellte ein Kunde aus Kiel den dritten Band aus der vierbändigen Taschenbuch-Ausgabe der Berliner Vorlesungen von Arthur Schopenhauer von 1820/21, die Metaphysik des Schönen – und heute nun möchte ein Kunde aus Wien den ersten Band haben. (Die Bände zwei und vier hatte ich bereits im Juli nach Bergisch Gladbach verkauft.) Man möchte fast meinen, dass vorgestern das Philosophische Quartett mit dem Schopenhauer-Biographen Rüdiger Safranski getagt und dieser ein paar eingängige Sätze über die vergriffenen Vorlesungs-Skripte fallen gelassen hat.

An einer Stelle des (leider nicht durch Register erschlossenen) Buches unterscheidet der bittere Pessimist mit Bezug auf Machiavelli und Hesiod drei Arten von Köpfen: die große Mehrheit jener, die bloß im Dunklen herumtappen und nur das Vorgepredigte nachbeten können; eine wesentlich kleinere Zahl jener, die immerhin Urteilskraft haben, zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden; und schließlich die überaus seltenen Köpfe, die ganz eigenständig „etwas ausfinden, erfinden, erdenken“ können, mithin über „schöpferische Denkkraft“ gebieten.

Ich stelle mir gerade vor, wohin es mit uns gekommen wäre, wenn es sich geradezu umgekehrt verhielte und die Mehrzahl unserer Population schon immer – oder doch immerhin ab einem gewissen Umschlagpunkt unserer Evolution – mit schöpferischer Denkkraft versehen wäre. Die chaotischen Bilder, die sich mir da aufdrängen, sind keineswegs erfreulich. Ich muss an die Kindergärtnerin denken, die sich beklagte, dass ihr Arbeitsalltag mit der neuen Gruppe kaum noch zu ertragen sei, weil sie „einfach zu viele Kreative“ dabei hätte.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 51,50 Euro geht dieses Buch in den Besitz von W. K. in Wien über.

[Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt des Umschlags von Federico Luci unter Verwendung des Gemäldes Kreidefelsen auf Rügen von Caspar David Friedrich (nach 1818), das im Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten in Winterthur aufbewahrt wird.]

Artikel-Nr. 0012-0293

Tuesday, 26. October 2010

metaphysikdesschoenen

Schopenhauer, Arthur: Metaphysik des Schönen. Philosophische Vorlesungen Teil III. A. d. handschriftlichen Nachlaß. Hrsg. u. eingel. v. Volker Spierling. 1820. München: R. Piper, 1985. – 229 & 11 S., 19,0 x 12,1 cm, Okt. – Sauber u. ungelesen. – Erste Aufl. dieser Taschenbuchausg. – ‘Serie Piper’, Bd. 415. – ISBN: 3-492-00798-8.

Schopenhauer erweist sich besonders auch in seinen Vorlesungen als ein Meister der Begriffsbestimmungen (Definitionen). Die bis ins letzte Komma ausgereiften Satzgebilde führen uns Schritt für Schritt, oder vielleicht noch genauer: Schnitt um Schnitt an den Kern des zu begrenzenden Gegenstands. Ein Beispiel? Nach Schopenhauer „besteht Genialität in der Fähigkeit sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren, und die Erkenntniß, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um nur noch übrig zu bleiben als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge: und zwar dieses alles nicht auf Augenblicke; sondern so anhaltend und mit so vieler Besonnenheit, als nöthig ist, um das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu wiederholen, und (wie Göthe sagt [Faust I, Verse 348-349]) ,was in schwankender Erscheinung schwebt zu befestigen in dauernden Gedanken‘ […].“ (S. 67 des hiermit veräußerten Buches.)

Man möchte fragen, ob es schon genügen soll, aus der Welt heraus in dieses klare Weltauge zu schauen? Oder ob man gar anstreben darf, aus diesem klaren Weltauge auf die Welt zu schauen? Und wird man, ist erst einmal der rein anschauende Blick gewagt und geglückt, jemals noch auf triviale, praktische, zweckdienliche Weise aus der Wäsche kucken können? Nicht ohne Grund verbindet Schopenhauer ja diese Art Anschauung mit dem Verlust seiner selbst.

Gerade einmal fünf Studenten hörten sich 1920 diese Vorlesungen Schopenhauers in Berlin an, während bei seinem großen Kontrahenten Hegel der Hörsaal mit über 200 Studenten bis zum Bersten gefüllt war. Auch dieser „Philosophie-Star“ seiner Zeit hatte einen Begriff von Genie, mit dem er sich ganz konventionell auf „Göttlichkeit“ und „Erhabenheit“ ausruhte. Wenig inspiriert, so könnte man urteilen; eine auf den Hund gekommene Philosophie, die sich die Begeisterung nicht einmal verbieten muss, weil sie schlicht keine hat.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 33,35 Euro geht dieses Buch in den Besitz von Herrn M. M. in Kiel über.

[Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt des Umschlags von Federico Luci unter Verwendung des Gemäldes Junotempel von Caspar David Friedrich (um 1828-1830), das in der Hamburger Kunsthalle aufbewahrt wird.]

Ghana (I)

Saturday, 23. October 2010

artistikdeszebras

Ich beziehe mich auf den heute, am 23. Oktober 2010 aktuellen Wikipdia-Artikel über Ghana. Wenn Deutschland ein Drittel seiner Fläche abgäbe, dann wäre es genau so groß wie Ghana. Anders gesagt: Ghana ist um ein Drittel kleiner als Deutschland. Aber Deutschland hat mehr als dreimal so viele Einwohner wie Ghana.

Zufällig genau hundert Einwohner pro Quadratkilometer leben durchschnittlich in diesem Staat. Bei Afrika habe ich ganz undifferenziert immer an Übervölkerung gedacht, also an eine hohe Bevölkerungsdichte. Für diesen Staat, Ghana, trifft im Vergleich zum Wohlfahrtsstaat Deutschland jedenfalls das Gegenteil zu, wo fast zweieinhalbmal soviele Menschen auf der gleichen Fläche unterkommen müssen. Als Hymne singen sie dort God Bless Our Homeland Ghana. In unserer Hymne kommt Gott nicht vor; stattdessen Schutz und Trutz, Frauen und Treue, Wein und Sang in den ersten beiden Dritteln. Die dritte Strophe ist dem Dichter, August Heinrich von Fallersleben, übrigens gründlich misslungen, denn da ist von Einigkeit, Recht, Freiheit die hymnische Rede, wonach wir uns in Deutschland nun bis zum Sanktnimmerleinstag erfolglos recken müssen, statt uns unbeschwert unseren eigentlichen Vorlieben hingeben zu dürfen, als da sind: Unterhaltung, Ablenkung, Fitness, Sex, Musik, Sport, Schrebergarten und dergleichen. (Auf die ghanaische Hymne und andere Lieder Ghanas werden wir gewiss noch zurückkommen.)

Die Pfennige bzw. Cents heißen in Ghana Pesewa. (Ich halte soeben ein 10-Pesewa-Stück in meiner Hand. Und was sehe ich da? [s. Titelbild!]) Ein Buch! Willst Du von hier aus dorthin telefonieren, heißt die Vorwahlnummer 00233. Willst Du das tatsächlich machen: dorthin telefonieren – dann rate ich Dir, telefoniere nicht einfach los. Informiere Dich vor Deinen Ghana-Telefonaten, wo in Deiner Nähe der billigste Laden für verbilligende Telefonkarten zum Telefonieren nach Ghana zu finden ist. Das nationale Kfz-Kennzeichen von Ghana lautet GH, wie mein zweiter Schulfüller. Viele Fahrzeuge, die dort zum Straßenverkehr zugelassen sind, würden hier nicht einmal mit Waffenschein die Straße betreten dürfen.

Ihre 1957 erkämpfte Unabhängigkeit feiern die Ghanaerinnen und Ghanaer alljährlich am 6. März. Feiern sie sie? Sind sie unabhängig? Das werden wir ganz gewiss noch herausbekommen. Immerhin müssten die Ghanaer nicht so arm sein, wenn sie nicht so machtlos wären. Und wenn nicht statt ihnen, den ursprünglichen, althergebrachten Herren des Landes, jene weithergereisten Herren Europäer mit den Schießbüchsen von diesem Land Besitz ergriffen hätten, die es verstanden, augenblicklich seine verborgenen Vorteile zu entdecken und auszubeuten, also diejenigen Bodenschätze und Naturprodukte aufzuspüren, mit denen sich daheim in Europa Geld würde machen lassen können. Beim gesamten nun nachfolgenden Geschehen darf die ursprüngliche Einwohnerschaft nur noch (zwar willkomene) Handlangerdienste leisten.

Aber da gibt es ja das bekannte Argument zur Verteidigung des Kolonialismus: Sollen sie doch froh sein, dass sie überhaupt was abbekommt von der Ausbeutung der Schätze, die zu erkennen und zu verwerten die Damen und Herren Eingeborenen offenbar doch nicht in der Lage waren. Selbst schuld, oder? (Und wie rückständig sie noch immer sind, das sieht man an den hinterwäldlerischen Liedern, die sie singen.) Meine neue Verwandte hatte, das steht schon jetzt für mich fest, jede Menge ideologischen Sprengstoff im Gepäck. Nun lässt sich der Umstand nicht mehr verdrängen, dass es auf dieser Welt wohl neun Zehnteln meiner Artgenossinnen und -genossen schlechter geht als mir. Wenn diese Schlechtergestellten aber alle mit uns gleichzögen, dann würde der ökologische Kollaps nicht erst übermorgen erfolgen, sondern schon heute.  – Das Thema Ghana hat jedenfalls das Zeug, sich zu einer Goldmine in diesem Weblog zu entwickeln.

Artikel-Nr. 0011-0472

Friday, 22. October 2010

beutlersenundjunundgoethe

Tüngel, Richard / Hans Rudolf Berndorff: Stunde Null. Deutschland unter den Besatzungsmächten. Mit einem Essay von Laszlo F. Földenyi. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2004. – 440 S., 21,5 x 12,6 cm, OPb. m. OSchU. – Neuwertig. – Die Erstausgabe ersch. zuerst 1958 bei Christian Wegner in Hamburg u. d. T. Auf dem Bauche sollst du kriechen… Deutschland unter den Besatzungsmächten. – ISBN: 3-88221-809-6.

Eins der ersten Bücher, die nach dem Generationswechsel im Verlag Matthes & Seitz und dem Umzug von München nach Berlin erschienen sind. Ehrlich gesagt habe ich mir damals für den nun modisch unter „Matthes & Seitz Berlin“ firmierenden Verlag keine Zukunft ausmalen können. Mittlerweile ist eine beeindruckende Backlist zu bestaunen, der die gerade erst in Angriff genommene Jean-Henri-Fabre-Werkausgabe vielleicht einmal die Krone aufsetzen wird.

Das Buch von Tüngel und Berndorff interessierte mich ursprünglich, weil ich es im Vergleich zu anderen „Trümmergeschichten“ lesen wollte, neben Büchern wie Tage des Überlebens von Margret Boveri oder Der Untergang von Hans Erich Nossack. Meine Eltern, Jahrgang 1926 bzw. 1928, schwiegen sich über ihre Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegserlebnisse aus, von ein paar eher komischen Anekdoten aus dem Luftschutzkeller, oder von Hamsterfahrten ins Sauer- oder Münsterland abgesehen. Gern wird für dieses Beschweigen der Vergangenheit vereinfachend der Begriff „Verdrängung“ bemüht. Es mag sein, dass man das Verschweigen schrecklicher Tatsachen und Erlebnisse durch die Täter als Verdrängung bezeichnen kann. Meine Eltern aber waren zur Tatzeit zu jung, um in schuldhafte Verstrickung geraten zu können. Das macht sie nicht besser als ihre schuldig gewordenen Landsleute, sie hatten nur einfach Glück – soweit man von Glück sprechen kann, wenn einen das Schicksal nicht zum Täter, sondern „nur“ zum Opfer bestimmt. Hier kann ich mich, einmaliger Fall einer unwahrscheinlichen Annäherung, sogar ausnahmsweise an die Seite Helmut Kohls stellen, der zur Rechtfertigung seines umstrittenen Kanzlerworts sagte: „Die Gnade der späten Geburt ist nicht das moralische Verdienst meiner Generation, der Verstrickung in Schuld entgangen zu sein. Gnade meint hier nichts weiter als den Zufall des Geburtsdatums.“ (Bloß weiß der Ex-Kanzler im Unterschied zu mir nicht, dass er nicht weiß, wovon er spricht, wenn er Zufall sagt.) Insofern erkläre ich mir die Verschwiegenheit meiner Eltern über ihre doch gewiss abenteuerliche und lehrreiche Kindheit in der Nazizeit und Jugend im Krieg hauptsächlich mit ihrer fürsorglichen Rücksichtnahme auf uns doch in eine ganz andere, friedvolle Zeit hineingeborenen, unschuldigen Kinder. (Dass eine vermeintlich angestrebte „Verdrängung“ bei meinen Eltern ohnehin zu keinem Erfolg führte, das sah ich zum Beispiel daran, wie meine Mutter bei den in den 1960er-Jahren noch oblogatorischen Probealarmen aus der Fassung geriet; oder besonders pointiert daran, dass mein scheinbar kerngesunder Vater, 24 Jahre nach Kriegsende, gerade mal 43 Jahre alt, urplötzlich an einem Leberleiden krepierte, das er sich in britischer Kriegsgefangenschaft „geholt“ hatte.)

Das hiermit verabschiedete Buch erfüllte nur am Rande meine Erwartungen, den alltäglichen Geruch und Geschmack jener Jahre um 1945 in Deutschland besser spüren zu können. Sein Hauptgegenstand ist nicht die sinnliche Realität der Stunde Null, sondern (schon wieder!) die intellektuelle Konstruktion, die zwar provisorische, aber doch energisch betriebene Renovierung zivilisierter Verhältnisse in Politik, Wirtschaft, Technik und Kultur aus der Sicht zweier Presseleute. Wenn ich es dennoch mit Interesse gelesen habe, war es vermutlich die erst im Laufe der Lektüre erwachende Anteilnahme an der Lage von Besiegten unterm Joch siegreicher Invasoren.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 10,10 Euro geht dieses Buch in den Besitz von I. H. v. V. in Hannover über.

[Titelbild vom Schutzumschlag des besprochenen Buches: Der Goetheforscher Ernst Beutler mit seinem Sohn in der Ruine des Frankfurter Goethe-Hauses, Sommer 1945. – Übrigens habe ich das heute verkaufte Buch auch schon einmal unmittelbar nach meiner Lektüre hier gewürdigt.]

Artikel-Nr. 0010-1416

Wednesday, 20. October 2010

friedenthalundmarx

Friedenthal, Richard: Karl Marx. Sein Leben und seine Zeit. München / Zürich: R. Piper Verlag, 1981. – 652 & 4 S. u. 16 unpag. Kunstdruck-Taf. m. 27 Abb. & 6 weitere Abb. im Text, 21,9 x 13,7 cm, OLw. m. OschU. – Rückentitel etwas abgeblättert, feiner Namenszug u. Datum auf Schmutztitel, Schnitt wenig angestaubt, leicht muffig. – Erstausgabe. – 1. bis 15. Tsd. – ISBN: 3-492-02713-X.

Wenn es mehr solcher Enzyklopädisten wie Richard Friedenthal gegeben hätte, dann hätten vermutlich die papierenen Enzyklopädien den Kampf gegen Wikipedia & Co. nicht so schnell verloren. Die Verlage für solche Nachschlagewerke, wie hierzulande Brockhaus und Meyer, in Frankreich Larousse, im englischsprachigen Raum der Verlag der Encyclopædia Britannica, haben in den vergangenen Jahrzehnten ihr Heil in immer umfangreicheren, schmuckvolleren – und unpraktischeren Lexika gesucht. Friedenthal ist 1932 im Auftrag des Berliner Knaur-Verlags genau in die entgegengesetzte Richtung marschiert. Sein Konversationslexikon in einem [!] Band verzeichnete „nur“ 35.000 Stichworte auf knapp tausend zweispaltigen Seiten. Und doch kann man noch heute mit diesem kaum ein Pfund schweren Büchlein die erstaunliche Erfahrung machen, dass es – die Aktualität mal außen vor gelassen – fast immer genau das verrät, was man zu wissen wünscht. Wenn man sich dazu noch vergegenwärtigt, dass dieses überaus erfolgreiche Wissenskompendium im Manteltaschenformat das Werk eines einzigen Mannes war, wo in der Zeit des Niedergangs der vorgenannten Protzlexika ganze Heerscharen von Fachgelehrten beschäftigt werden mussten und dennoch nicht deren schließlichen Untergang verhindern konnten, dann muss man neugierig werden und sich fragen, was für ein stupend gebildeter und blitzgescheiter Mann dieser Richard Friedenthal gewesen sein muss! [Das Titelbild zeigt den Ausschnitt eines Porträtfotos von Richard Friedenthal von Rosemarie Clausen, vom rückwärtigen Umschlag des hier veräußerten Buches.]

1938 entkam der Jude Friedenthal gerade noch rechtzeitig vor den Nazis nach England. Ich weiß nicht mehr, wo ich ’s gelesen habe, vielleicht in einem Brief Friedenthals an Stefan Zweig, aber es ist mir unauslöschlich haften geblieben, dass er zwischen den Seiten der Bücher in seiner umfangreichen Bibliothek, die er ins Exil gerettet hatte, immer wieder Spuren von Putz und Geröll entdeckte, die von einem der schrecklichen „Baedeker bombings“ der „Krauts“ herrührten – der Deutschen also, die anhand präziser Pläne in den Baedeker-Reiseführern bis weit ins britische Hinterland hinein als Vergeltungsmaßnahme für den alliierten Angriff auf Lübeck im März 1942 ihren tödlichen Bombenhagel hinabregnen ließen. (Solcherlei Kleinigkeiten merkt man sich halt, wenn man 17 lange Jahre in der nun nicht mehr existierenden Buchhandlung gleichen Namens in Essen gearbeitet hat.)

Dass aber der Autor des Lexikons seinen bis heute nicht verblassten Nachruhm einer weiteren literarischen Großtat verdankt, nämlich seinen vielleicht nicht ,definitiven‘, aber doch immerhin auch heute noch gut zu lesenden Biographien von Goethe (1963), Luther (1967), Jan Hus (1972) und schließlich Karl Marx (1981), das ist schon staunenswert. Und erstaunlich auch, dass der Piper-Verlag damals gleich bei der ersten Auflage mit 30.000 Stück auftrumpfte! Heute, zwanzig Jahre nach der Niederlage des kommunistischen Machtblocks, würde er sich vermutlich nur noch ein Zehntel zutrauen. Jetzt, da ich das dicke Buch wieder zur Hand nehme, um es versandfertig zu machen, überkommt mich fast Lust, es noch einmal zu lesen. Aber nein, es ist verkauft, und damit Schluss!

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 12,10 Euro geht dieses Buch in den Besitz von Herrn A. T. in Mecklenburg-Vorpommern über.

Intermezzle (I)

Saturday, 16. October 2010

triefaugeseiwachsam

Ich habe mich jetzt doch durchgerungen, mir gelegentlich über meine Zeitgenossenschaft das Maul zu zerreißen. Bislang biss ich die Zähne zusammen, wann immer mir besonders bittere Enttäuschungen begegneten. Zum Beispiel, wenn ich kopfüber aus einer Verehrung in eine Verachtung fallen musste. Offenbar vertrage ich dergleichen Abstürze nun nicht mehr unwidersprochen. Es tut mir leid, wenn das erste Opfer meiner Mäkelei nun gerade ein Bekannter meines Freundes werden muss. Sei‘s drum!

Meine Tageszeitung brachte heute auf ihrer Literaturseite ganzseitig einen Essay, der in der Fußnote als Bearbeitung eines Vortrags ausgewiesen ist, welchen sein Autor, Georg Klein, beim Kulturfestival fliesstext 10 in Ingolstadt hielt. Abgesehen davon, dass ich nichts von „Kulturfestivals“ halte, die im Fließtext untergehen, und schon erst recht nichts von Essays, die auf Vorträge „zurückgehen“, zwingt mich diese Veröffentlichung zu einem knappen Affront.

Das Artikelchen mit der barbusigen Schönen, die offenbar als Eyecatcher herhalten soll [s. Titelbild], damit überhaupt ein Trottel wie ich seinen Blick auf dem Weg zum Interview in der Wochenendbeilage für das knappe Momentchen anhält, das ausreicht, um sich in die ersten Sätze zu verbeißen – dieses Artikelchen also hebt mit folgenden Worten an: „,Was Wörter sind, das wisst ihr?‘ So sprang es mir vor kurzem aus einem zu Recht berühmten Roman entgegen.“ (Georg Klein: Heimat im Wort; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 240 v. 16./17. Oktober 2010, S. 16.) An dieser Stelle dürfte der durchschnittliche SZ-Leser über seinem samstäglichen Frühstücksei, mittelweich gekocht zur nächsten Seite umblättern, um sich dort durch dick und doof ins Twitterlexikon verlocken zu lassen. Nicht so ich, vermutlich Georg Kleins einziger Leser. Ich frage mich: Woher hat er den Satz? Was für ein Buch ist es denn, von dem er da spricht? Und ich erfahre in der sechsten und letzten Spalte, dass der Mann, der diesen Satz angeblich geschrieben hat, kein geringerer als Arno Schmidt sein soll. Das kommt mir spanisch vor, und so steige ich auf meine wackligen Tage auf meine morsche Bibliotheksleiter, erklimme die oberste Sprosse und hieve Zettels Traum herunter. Und was lese ich da, auf Seite 24 unten und Seite 25 oben?

„Was ‚Worte‘ sind, wißt | Ihr – ?“ (Zum Vergleich: ,Was Wörter sind, das wisst ihr?‘ Ich zähle bei einem Satz mit fünf Wörtern fünf Abweichungen!) Wie billig es ist, gerade diesen Satz zu zitieren! Schon Gunnar Ortlepp schnappte sich vor vierzig Jahren in seinem Spiegel-Artikel anlässlich des Erscheinens von Zettels Traum genau diesen Satz, um flott und flüssig mit dem Wälzer fertig zu werden. Aber Klein hatte nicht vier Tage wie der Spiegel-Redakteur, sondern vierzig Jahre eines vermeintlich sorgfältig reflektierenden Intellektuellen Zeit, das Buch zu lesen, gründlich und genau. Unorigineller geht es nun gar nicht mehr. Vermutlich hat Klein sein vorgebliches Schmidt-Zitat aus dritter oder vierter Hand. Aber wenn man schon nicht originell ist, sollte man doch wenigstens richtig zitieren können, oder? Es ist ein Jammer mit dem Niedergang des Zeitungsfeuilletons in Deutschland.

Ob Schmidts dickes Buch zu Recht berühmt ist, darüber zu urteilen steht jedenfalls Georg Klein nicht zu, solange er sich nicht wenigstens als jemand erwiesen hat, der zu lesen versteht. (Vom Schreiben wollen wir hier noch gar nicht reden.)

Artikel-Nr. 0009-0498

Saturday, 16. October 2010

initialendesherrnk

Koestler, Arthur: Die Gladiatoren / Sonnenfinsternis / Ein Mann springt in die Tiefe. Drei Romane. M. e. Nachw. d. Autors. Bern / Stuttgart / Wien: Alfred Scherz Verlag, 1960. – 701 & 3 S., 20,7 x 13,3 cm, OLw. m. Deckel- u. Rückenprägung. – Umschlag m. kleinen Randläsionen, Papier altersbedingt gebräunt. – Erste Ausgabe dieser Zusammenstellung mit dem Nachwort. – Die engl. Originalausgaben erschienen u. d. T. The Gladiators (1939), Darkness at Noon (1940) und Arrival and Departure (1943).

Dieses Buch bekam ich vor ein paar Jahren mal von einem über 90-jährigen Herrn geschenkt, der mittlerweile verstorben ist. Er war zeitlebens sehr kulturbeflissen, allerdings galt seine große Liebe eher dem Theater. Zugleich war er sehr sparsam und liebte es, kleine Gefälligkeiten, um die er mich und andere bat, statt mit Geld mit kleinen Geschenken zu entlohnen, wenn eben möglich aus dem scheinbar unerschöpflichen Fundus seines eigenen Krimskrams, ihm selbst unwillkommene Geschenke, für die er angestrengt nach dankbaren Abnehmern suchte. Das klingt nun vielleicht abschätzig, so meine ich es aber keineswegs. Vielmehr hatten diese originellen Kompensationen auch etwas sehr Rührendes, steckte doch immer viel Nachdenken und Kombinieren dahinter. Nach Arthur Koestler hatte er mich einmal völlig ohne jeden erkennbaren Zusammenhang gefragt: Ob ich den denn kennte, was ich von ihm gelesen hätte, was ich von ihm hielte? Da dachte ich gleich: ,Nachtijall, ick hör dir trappsen!‘ Und richtig, ein paar Wochen später kam er mit der dicken Schwarte, drei Romane in einem Band, um die Ecke. [Das Titelbild zeigt die Initialen des Autors im vorderen Einbanddeckel.] Das war insofern eine kleine Enttäuschung, als ich sowohl Die Gladiatoren als auch Sonnenfinsternis in wenn nicht schönen, so doch originellen Einzelausgaben bereits besaß. Na gut, geschenktem Gaul schaut man nicht ins Maul. Und da ich schon dabei bin, Redewendungen vom laufenden Meter abzuspulen, hier gleich die nächste: Ich machte gute Miene zu bösem Spiel.

Der Name Koestler begegnete mir zum ersten Mal, als ich mich für den Spanischen Bürgerkrieg (Juli 1936 bis April 1938) interessierte, auf der Suche nach den wenigen Beispielen gelebter Utopie, nach einer Welt ohne Herren und Knechte, ohne Eigentum und Diebstahl, buddelnd nach dem Strand unterm Pflaster, nach der verlorenen Zeit, als das Wünschen wenn nicht geholfen, so doch immerhin gelindert hat, nämlich den Schmerz über das verlorene Paradies. Arthur Koestler gefiel mir in diesem Zusammenhang insbesondere wegen seiner schillernden Widersprüchlichkeit. In diesem Zusammenhang will ich nicht wieder das berühmte Wort von Conrad Ferdinand Meyer über den Menschen im Widerspruch zitieren, sondern zur Abwechslung mal Pier Paolo Pasolini, der wusste „wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.“ Dessen Beispiel zeigt ja, dass die Konsequenz eines nach Gewaltlosigkeit strebenden Revolutionärs schließlich in den gewaltsamen Tod führen muss. Wenn Koestler sein Engagement als Kriegsberichterstatter auf Seiten der Republikaner (nicht der Anarchisten um Buenaventura Durutti) im Spanischen Bürgerkrieg überlebt hat, war das wohl mehr Glück als Verstand. Ein Vaterland hat der aus Ungarn stammende Österreicher, deutschsprachige Sohn eines jüdischen Industriellen, der zudem in Englisch und Französisch schrieb, nie gehabt, nicht gekannt und kaum gewollt. Meine ganz große Verehrung für Arthur Koestler setzte aber viel später ein und hatte völlig andere Ursprünge, auf die ich später, anlässlich des Verkaufs anderer seiner Bücher aus meiner Bibliothek, sicher noch einmal zu sprechen kommen werde. (Vorausgesetzt, sie finden einen Käufer.)

Den dritten der hier versammelten Romane, Ein Mann springt in die Tiefe, hätte ich vielleicht doch gern einmal gelesen. Jedenfalls ist der Anfang – und ich bin ein Spezialist für die Ästhetik und Magie von Romananfängen – mindestens überdurchschnittlich gut gelungen: „Na, dann los, dachte der junge Mann, beugte den Oberkörper unbeholfen vor und sprang – es sah mehr nach einem Unfall als nach Absicht aus – in die Tiefe.“ (Ich nenne in meiner ewigen Hitliste der besten Romananfänge gegenwärtig nur 97 besser gelungene!)

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 52,10 Euro geht dieses Buch in den Besitz von M. Sch. in Berlin über.

Artikel-Nr. 0008-1100

Thursday, 14. October 2010

mitkinderzaehnchenbearbeiteterrueckwaertigereinband

Guha, Anton Andreas: Ende. Tagebuch aus dem 3. Weltkrieg. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag, 1983. – 181 & 3 S., 20,4 x 12,5 cm, Okt. – Einband knickspurig, unten von Kinderzähnen benagt, aber problemlos noch lesbar. – Erstausgabe. – ISBN 3-7610-8279-7.

Erinnern wir uns. Im April des Jahres 1983 stoppte das Bundesverfassungsgericht mit einer einstweiligen Verfügung die seit dem Vorjahr geplante Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland und knickte so vor der an Massenhysterie grenzenden Paranoia weiter Teile der aufgeklärten Bevölkerung ein. Man darf aber nicht vergessen, dass damals noch längst kein Gorbatschow in Sicht war, um Perestroika und Glasnost auszurufen und den auf mehr oder weniger kleiner Flamme köchelnden kalten Krieg abzulöschen. Die neue Seuche AIDS wurde wenig später durch einen Spiegel-Artikel, den ich auf dem Wartestuhl eines Friseursalons an der Alfredstraße las, salonfähig in den Fluren der Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord). Steckte nicht am Ende gar der Papst hinter dieser neuen Pest, die vorwiegend Schwule und promiske Lebeleute betraf? (Johannes Paul II. hatte aber doch gerade erst Galileo Galilei rehabilitiert. Vielleicht bloß zur Tarnung?) Am 22. Oktober versammelten sich im Bonner Hofgarten Hunderttausende, um für Frieden und Abrüstung und gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren. Insgesamt etwa 1,3 Millionen Menschen bekundeten in der Bundesrepublik Deutschland an diesem Tag ihre Abneigung gegen die Nachrüstung. Dieses Datum markiert somit den Siedepunkt der als „Heißer Herbst“ bekannte gewordenen Jahreszeit 1983.

Insofern wird das hiermit verscherbelte Buch erkennbar als ein typischer „Wellenreiter“. Gut gemeint, aber doch im Rückblick bloß noch komisch: „Die gefährlichste Nachricht aber aus Saudi-Arabien: Die US-Verbände der schnellen Eingreiftruppe sollen so gut wie aufgerieben worden sein. Die Sowjets haben die besseren Nachschubverbindungen. Amerikanische Entsatzversuche aus Stützpunkten in Oman und Somalia scheiterten. Viele Erdölfelder stehen in Flammen.“ (S. 130) Und auf dem hinteren Deckel lesen wir heute staunend: „Chaos, Panik, Durst, Tod, Auflösung aller sozialen Ordnung, in der Luft Millionen Tonnen Staub und Asche. Die Staubpartikel sind Träger der radioaktiven Strahlung, der nichts und niemand entgehen kann.“

Das Buch kommt ja als Tagebuch daher. Und weil mich Tagebücher aller Art, selbst fiktive, zunehmend interessieren, werde ich mir wohl bei Gelegenheit ein Ersatzexemplar zulegen müssen, wenn eben möglich ohne die hier zu beklagenden Kinderzahnbisse [s. Titelbild]. Die Kinder, die diesen Schaden anrichteten, sind mittlerweile vermutlich schon groß und würden sich wundern, wenn sie wüssten, welche Sorgen sich ihre Eltern Mitte der 1980er-Jahre um ihre Zukunft gemacht haben.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 26,00 Euro geht dieses Buch in den Besitz Herrn T. H. im thüringischen Rudolstadt über.

Artikel-Nr. 0007-0086

Thursday, 14. October 2010

preisfuerpreisfuerpreisabwaerts

Weiss, Ernst: Der Aristokrat. Boëtius von Orlamünde. Roman. Hamburg: Claassen Verlag, 1966. – 229 & 3 S., 20,5 x 12,8 cm, OLw. m. aufgeklebtem Rückenetikett, Fadenheftung. – Einband und Kopfschnitt fleckig, ohne den Umschlag. – Erste Auflage der Neuausgabe. – Die Erstausgabe erschien 1928 u. d. T. Boëtius von Orlamünde (W.-G.², 22).

Bei manchen Büchern vermag ich die Motive, die mich vor langer Zeit zu ihrem Kauf verführten, nicht mehr vollständig zu ergründen. So in diesem Fall. Es muss da am 25. Februar 1982 mehreres zusammengekommen sein, um mir im Antiquariat der Stern-Buchhandlung in Düsseldorf die sechs Mark aus dem Portemonnaie zu kitzeln, die das wenig ansehnliche Buch kostete. Witzig übrigens der mehrstufige Preisverfall, wie er im hinteren Deckel ablesbar ist [s. Titelbild]. Ich habe diese Entwertungskaskade extra nicht ausradiert, denn sie verrät ja einiges über die Verkäuflichkeit des als schwierig verschrienen Autors Ernst Weiss. Wenn man nach ihm die Hand ausstreckt, bekommt man von Kennern schon mal zu hören: „Ernst Weiss? Das wollen Sie sich antun? Aber dann lesen Sie doch lieber gleich Musil!“

Robert Musil kannte ich allerdings schon vergleichsweise wie meine staubige linke Westentasche, Anfang der 1980er-Jahre, wenngleich ich in seinem MoE auch im dritten Anlauf nach einem guten Drittel steckenblieb. Ernst Weiss war mir aufgefallen als Mentor und Geliebter der Rahel Sanzara, deren Roman Das verlorene Kind (1926) ich ebenfalls im Angebot habe. (Ernst Weiss soll zu diesem Buch einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet haben, weshalb er unter W.-G.², 20 als Mitverfasser gelistet ist.) Gut möglich ist allerdings auch, dass ich mich durch den ja nicht ganz üblen Anfang des Buches verführen ließ, und der geht so: „Ich heiße Boëtius Maria Dagobert von Orlamünde, oder besser gesagt, ich nenne mich Orlamünde. Das historische Geschlecht derer von Orlamünde ist im 16. Jahrhundert ausgestorben. Orlamünde ist also hier bloß ein Name. Ich entstamme einem anderen uradeligen Geschlecht, das ich nicht nennen will. Trotz meines hochklingenden Namens bin ich nicht viel. Auch meine Eltern lebten in den erbärmlichsten Verhältnissen. Wußten sie es? Täuschten sie sich? Sie besaßen noch Reste früheren Glanzes, aber sie hungerten, und unser alter Diener David mit ihnen.“ – Ich glaube nachträglich, dass mein Kaufentschluss spätestens nach dem mit „Trotz“ beginnenden Satz, den man sich ja nicht oft genug auf der Zunge zergehen lassen kann, unrevidierbar war.

Was macht der Hinterkopf? Der Hinterkopf sagt bei solch trivial häufigen Schriftstellernamen wie Mann, Walser, Roth oder eben Weiss, dass man doch den Heinrich nicht wegen der Prominenz seines Bruders Thomas vernachlässigen soll, den Robert aus dem Schatten von Martin und all die kleinen Pinscher namens Philip, Eugen, Di[e]ter, Jürgen oder Patrick wenigstens in ein mildes Funzellich treten lassen soll. So auch im Falle Weiss. Wir werden dem Peter seinen selbstzerstörerischen Opfermut niemals vergessen – aber was kann denn der erstgeborene Ernst dafür? Vielleicht wollte ich mit dem Kauf dieses Aristokraten-Romans dem Heiligen des Proletariats eins auswischen? Wenige Tage später, am 10. Mai 1982, ist Peter gestorben.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 26,00 Euro geht dieses Buch (mit den drei gleichzeitig bestellten) in den Besitz von Herrn T. H. im thüringischen Rudolstadt über.

Artikel-Nr. 0006-0096

Thursday, 14. October 2010

hagelgott

Die Geister des gelben Flusses. Chinesische Märchen. Aus dem Chinesischen und mit Anmerkungen von Richard Wilhelm. Mit einem Nachwort von Prof. Dshu Bai-Lan [in anderer Transkription Zhu Bailan] von der Nanking-Universität (d. i. Klara Blum). Rudolstadt: Greifenverlag, 1955. – 363 & 1 S. m. 8 ganzseitigen Abb., 19,5 x 13,0 cm, OLw., Fadenheftung. – Ohne den OschU. v. Hans Jordan. – Einband unfrisch. – Lizenzausgabe vom Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf für die DDR. – Veröffentlicht unter Lizenz-Nr. 384-220/11/55 – „Der Vertrieb nach Westberlin und Westdeutschland ist nicht gestattet.“ [Erfolgt nun aber doch, allen Restriktionen früherer Zeiten zum Trotz.] – Mit einer Widmung in Bleistiftschrift auf dem Vorsatz: „F. / l. Döchting | zum 15. 5. 1960 | herzlichst überreicht | von den | Parentes nominales [Nenneltern].“

Da ich jetzt das Buch nach Jahren wieder in die Hand nehme, scheint es mit vor allem wegen dieser verschollenen Klara Blum (1904-1971) erheblich und erwähnenswert. Mit diesen begeisterten Worten singt sie die Lobeshymne dieser aus dem chinesischen Volksmund geschöpften Geschichten: „Überwältigend zeigt sich in vielen Märchen der geniale Schönheitssinn des chinesischen Volkes. Welche Fülle, welche Feinheit der Einbildungskraft hat sich diese schmerzensreiche Nation noch in ihrem bittersten Elend bewahrt! Wie zart und duftig und verhalten spöttisch ist das Märchen von den Blumenelfen! [S. 106-110] Wie anmutig schwebt die Mondfrau vorüber, sie, die von manchen Chinesinnen als Vorläuferin der Frauenemanzipation angesehen wird [S. 45 f.]. Welche Musik der Farben läßt der Magier Morgenhimmel spielen, der verkörperte Wunschtraum, ein Mensch zu sein, dem alles gelingt [S. 67-71]. Und wie leuchten die wundertätigen Perlen der Drachenprinzessin, die wundertätigen Perlen der chinesischen Phantasie in der Nacht des leidenden Volkes, während es allmählich die Kräfte sammelte, seiner Nacht und seinen Leiden ein Ende zu machen! [S. 124-128]“ (S. 356).

Richard Wilhelm, der Doyen der Sinologie in Deutschland und trotz aller heutigen Einwände wegen seiner mangelnden Kenntnisse, etwa des Taoismus, und seiner von einem missionarisch Protestantismus getrübten Sicht auf Zhōngguó, das Reich der Mitte, auch aus heutiger Sicht mit seinen Übersetzungen des I-Ging und Tao Te King der wohl wirkmächtigste Pionier der China-Forschung in Deutschland, hat eine erste, noch schmale Sammlung chinesischer Volksmärchen unter diesem Titel zuerst 1926 als Heft 66 der Kranz-Bücherei im Verlag von Moritz Diesterweg in Frankfurt am Main herausgebracht. Da ich dieses schmale Bändchen nicht kenne, vermag ich nicht zu sagen, ob der „Bildschmuck nach chinesischen Motiven von Josefine Fleck“, den es laut Beschreibung enthält, mit den acht anonymen Abbildungen identisch ist, die die mir vorliegende Ausgabe von 1955 zieren. [Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus der Abbildung Der Hagelgott (S. 15).] Zum Abschied gebe ich hier die als „Kindermärchen“ einsortierte Geschichte Wer ist der Sünder? (S. 14) wieder, die das uralte Motiv des ,Wetterurteils‘ variiert:

»Es waren einmal zehn Bauern, die gingen miteinander über Feld. Sie wurden von einem schweren Gewitter überrascht und flüchteten sich in einen halbzerfallenen Tempel. Der Donner aber kam immer näher, und es war ein Getöse, daß die Luft ringsum erzitterte. Kreisend fuhr ein Blitz fortwährend um den Tempel her. Die Bauern fürchteten sich sehr und dachten, es müsse wohl ein Sünder unter ihnen sein, den der Donner schlagen wolle. Um herauszubringen, wer es sei, machten sie aus, ihre Strohhüte vor die Tür zu hängen; wessen Hut weggeweht werde, der solle sich dem Schicksal stellen. – Kaum waren die Hüte draußen, so ward auch einer weggeweht, und mitleidlos stießen die andern den Unglücklichen vor die Tür. Als er aber den Tempel verlassen hatte, da hörte der Blitz zu kreisen auf und schlug krachend ein. – Der eine, den sie verstoßen hatten, war der einzige Gerechte gewesen, um dessentwillen der Blitz das Haus verschonte. So mußten die neun ihre Hartherzigkeit mit dem Leben bezahlen.«

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 26,00 Euro geht dieses Buch (mit den drei gleichzeitig bestellten) in den Besitz von Herrn T. H. im thüringischen Rudolstadt über.

Artikel-Nr. 0005-0219

Wednesday, 13. October 2010

kreisendergeiervonfranquin

Franquin, André: Schwarze Gedanken. Hamburg: Carlsen Verlag, 1990. – 191 & 1 S., 18,0 x 11.0 cm, Okt. – Ohne Titelseite, sonst solides, sauberes Exemplar. – 1. Auflage. – Die Originalausgaben erschienen 1981 u. 1984 u. d. T. Idées Noires no 1- no 3 bei Audie Fluide Glacial in Paris. – Carlsen Pocket, Bd. 2. – ISBN 3-551-79002-7.

André Franquin (1924-1997) ist so etwas wie der finstere Schatten des anderen bedeutenden Großmeisters der Comic-Kunst aus Belgien, des freundlichen Hergé mit seinem Welterfolg Tintin (deutsch als Tim und Struppi berühmt und geliebt). Sein böser Stift übte sich zunächst an Spirou und Fantasio, um dann mit seiner ersten eigenen Kreation Gaston ganz zu sich selbst zu finden. Franquin ist ein Großmeister des Schwarzen Humors, und wenn es zu André Bretons Zeiten schon Comics gegeben hätte, wäre Franquin gewiss in dessen berühmte Anthologie aufgenommen worden.

Auch ganz wörtlich arbeitet Franquin mit sehr viel Schwarz [s. Titelbild, Ausschnitt aus S. 191 des hier veräußerten Buches – © Carlsen Verlag, Hamburg]. Das Männlein, das sich unter diesem im Schwarzen kriesenden Geier von dannen pirscht gen schwarzem Horizont, dieses Männlein muss aus urheberrechtlichen Gründen hier leider unterschlagen werden.

Franquin litt übrigens zeitlebens an Depressionen. Ob wegen oder trotz seiner makaber-witzigen Bildgeschichten, das wird ein ewiges Rätsel der Geschichte der „Neunten Kunst“ bleiben.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 26,00 Euro geht dieses Buch (mit den drei gleichzeitig bestellten) in den Besitz von Herrn T. H. im thüringischen Rudolstadt über.

Artikel-Nr. 0004-0839

Wednesday, 13. October 2010

olsonmelvillereichertteichmann

Olson, Charles: Nennt mich Ismael. Eine Studie über Herman Melville. Nachw. v. Klaus Reichert. [A. d. Am. v. Wulf Teichmann.] München: Carl Hanser Verlag, 1979. – 132 & 4 S., 20,2 x 13,2 cm, Okt. – Einband nachgedunkelt bzw. lichtrandig, innen gut. – Erste Ausgabe dieser Übersetzung. Beiliegend eine lose Titelei mit dem Hinweis auf den Übersetzer – Erschienen in der Schriftenreihe Literatur als Kunst, hrsg. v. Walter Höllerer. – Die amerik. Originalausg. des ersten Buches von Charles Olson erschien 1947 u. d. T. Call Me Ishmael bei City Light Books in San Francisco. – ISBN 3-446-12738-0.

Was hier in wenigen Zeilen an großen Namen aufgefahren wird, ist schon imposant. Charly Olson dürfte mir erstmals über den Weg gelaufen sein, als ich mich mit dem Komponisten John Cage beschäftigte, der natürlich im Zusammenhang mit meinen Zufallsforschungen interessant für mich werden musste. Habe ich irgendwo gelesen, dass Olson der Erfinder des Ausdrucks post-modernism war, oder verwechsle ich ihn da mit Robert Creeley? Seine Melville-Studie hat mich jedenfalls hervorragend eingestimmt auf meine erste, dann doch gescheiterte Moby-Dick-Lektüre, aber das ist ein anderes Thema und betrifft ein größeres Buch.

Klaus Reichert hätte ich gern einmal persönlich kennengelernt, ich kann die Zusammenhänge, in denen der Anglist als Übersetzer und Vermittler meine Leserouten kreuzte, gar nicht mehr alle hersagen. Da er bereits 1965 ein edition-suhrkamp-Bändchen mit Gedichten von Olson als Herausgeber und Übersetzer betreut hat, läge die Vermutung nahe, dass auch dessen Call Me Ishmael von Reichert übertragen wurde. Hier hat aber das Lektorat von Hanser offenbar geschlampt, denn auf dem Titel fehlt jede Angabe zum Übersetzer [s. Titelbild, links], und auch im rückseitigen Impressum sucht man diesbezügliche Angaben vergeblich.

Das hat nun offenbar – und durchaus verständlicherweise – dem tatsächlichen Übersetzer Wulf Teichmann ganz und gar nicht gefallen. Und so musste der Verlag die vervollständigte Titelei als 14,7 x 10,5 cm großes Zettelchen dem Buch beigelegt werden [s. Titelbild, rechts]. Meist gehen solche Zettelchen mit den Jahren irgendwann verloren, deshalb werden sie gelegentlich sogar – wenn nämlich die „vergessenen“ Mitarbeiter hartnäckiger auf ihrem Recht bestehen – im Buch festgeklebt. Nun, das hatte Wulf Teichmann 1979 vielleicht nicht mehr nötig, als Übersetzer so bekannter Autoren wie Alexander Trocchi, Oscar Wilde, Peter Ustinov, Alan Silitoe, Thomas Pynchon, Isaac Bashevis Singer, Ross Macdonald, Charles Bukowski, Erica Jong, Eric Ambler und Virginia Woolf. Aber bereits bei Teichmanns Übertragung von Ustinovs Krumnagel von 1971 hatte der Verlag (damals die DVA in Stuttgart) ihn zu erwähnen vergessen. Vielleicht ging es bei Olson nun ums Prinzip? Verständlich. Die Leistung der (guten) Übersetzer wird noch immer nicht ausreichend gewürdigt. Und Teichmann ist ein sehr guter!

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 27,50 Euro geht dieses Buch in den Besitz von G.-M. J. in Zürich über.

Artikel-Nr. 0003-0348

Tuesday, 12. October 2010

diegraefintolstoietwasechauffiert

Asquith, Cynthia: Ein Leben mit Tolstoj. Die Ehe der Gräfin Sofja mit Leo Tolstoj. A. d. Engl. v. Arno Dohm. München: Biederstein Verlag, 1962. – 361 & 3 S. u. 4 Kunstdrucktaf., 20,7 x 12,4 cm, OLw. m. aufgeklebtem Rückenetikett, im OSchU., Fadenheftung. – Der Umschlag unfrisch, etwas rissig, mit Spuren von Klebefilm [s. Titelbild], das Buch selbst sehr gut erhalten. – Erste Ausgabe d. deutschen Übers. – Die engl. Originalausgabe erschien 1961 [recte: 1960] u. d. T. Married to Tolstoy bei Houghton Mifflin in Boston.

Immerhin wollte ein Essener Antiquar vor wohl annähernd 25 Jährchen auch schon vierundzwanzig Westdeutschmark von mir, für dieses angeknüselte Exemplar der Ehegeschichte des Grafen mit dem ewigen Krieg zum ewigen Frieden im Gepäck.

Die Geschichte, die Lady Cynthia Mary Evelyn Asquith (1887-1960), sonst eine Verfasserin von Gespenstergeschichten, in ihrem wohl ambitioniertesten Buch erzählt, ist ja nun jüngst wieder einem größeren Publikum durch die Verfilmung von Michael Hoffman in Erinnerung gebracht worden; oder meinetwegen dem größten Teil des ohnehin schon kleinen Publikums, das sich für dergleichen überhaupt noch interessiert, erstmals zu Gemüte geführt worden. Und wenn sie in der verfilmten Version eine gewisse Aufmerksamkeit erfuhr, dann lag das vermutlich weniger an den einst so aufregenden ,Prinzipien‘ des Grafen Tolstoi, an denen sich seine Gattin aufrieb und die sie schier zur Verzweiflung trieben, als vielmehr an den mimischen Befähigungen von Helen Mirren, die die Sofia darstellen durfte. Dass Eheständigkeit bei aller ausgefransten Alleingangserziehungskunst überhaupt noch eine Gegenwart hat, von der Zukunft ganz zu schweigen, das ist doch ein kleines Wunder, nicht unbedingt von des Grafen Gnaden.

Ich frage mich, ob es ein besser dokumentiertes Beispiel für den ehelichen Zank gibt, als dieses Buch. Jeder Gatte und jede Gattin, jedes Ehepaar, das sich bis auf Blut zankt, sollte verpflichtet werden, dieses Buch zu lesen, wieder und wieder, bis ihm endlich alle Lust, zu zanken, ausgetrieben ist. Wenn man aber dieses Buch als Single liest, so wird man sich bestätigt finden, diese Hölle auch künftig in weitestem Bogen zu umgehen. „Jedem Zank folgte eine leidenschaftliche Versöhnung. Einmal meint sie danach: ,Ich könnte sterben vor Glück und vor Demut in Gegenwart eines solchen Mannes … Ich liebe ihn bis zum äußersten von ganzem Herzen.‘ Zwei Tage später klagt sie, ihr sei zumute wie ,einer Teufelin in Gegenwart eines Heiligen‘.“ (S. 48).

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 53,50 Euro geht dieses Buch in den Besitz von A. B. in Workum (Niederlande) über.

Artikel-Nr. 0002-1186

Tuesday, 12. October 2010

selbstmordschwesternmordenfroehlichansichselbstherum

Eugenides, Jeffrey: Die Selbstmord-Schwestern. Roman. A. d. Am. v. Mechthild Sandberg-Ciletti. Berlin: Byblos Verlag, 1993. – 210 & 2 S., 21,4 x 13,8 cm, goldgepr. OPb. m. OSchU. – Kopfschnitt etwas nachgedunkelt, sonst gut. – Erste Ausg. d. dt. Übers. – Die am. Originalausg. ersch. zuerst 1993 u. d. T. The virgin suicides bei Farrar, Straus and Giroux in New York. – ISBN: 3-929029-12-X.

Als ich das Buch kaufte, kurz nach seinem Erscheinen, häuften sich mal wieder die vorzeitigen Abdankungen in meinem allernächsten Bekanntenkreis. Es scheint, dass ich Suizidanten geradezu anziehe wie das Fliegenpapier die Stubensurrer. Schrrrr – und flapp! Bitte, ich will jetzt nicht makaber klingen, das Thema ist ja aller Ehren wert. Vielleicht ist der Selbstmord das Dessert der Endzeit-Gourmets.  Zusammenhänge? Bitteschön. In einem meiner Bücher der Bücher, eins von denen, die ich nie verkaufen werde, stieß ich anno Tobak auf den Hinweis: „morgenthaler, w., letzte aufzeichnungen von selbstmördern, 1945“ (S. CCI). Solche authentischen Hinterlassenschaften zeugen doch vermutlich von ehrlicheren Einsichten in die kompromisslose Ausweglosigkeit eines Daseins, als der Roman eines Mannes, der sich nicht umbringen, sondern bloß reüssieren will als Romancier, und sei’s unter Aufbringung aller spektakulären Mittel, Mord und Totschlag, gar Selbsttotschlag, noch dazu von ganzen Geschwistergruppen. (Eugenides wird ja hierzulande als würdiger Konkurrent und früher Freund von Jonathan Franzen verkauft.)

Aber ich will nicht ungerecht sein. Ich habe das Buch kurz nach Kauf in wenigen Tagen ,verschlungen‘, wie man so sagt. Aus unerfindlichen Gründen klebte zwischen den Seiten 54 und 55 ein Post-it mit der Notiz: „Hallo Jacinta, hallo Susanne! Wir könnten uns evtl. etwas verspäten. Wartet unbedingt! Manuel + Ulla“. Wenn ich mich heute frage, warum Gijs Sierman für ihre (seine?) Umschlaggestaltung [s. Titelbild] ein Puzzle-Raster gewählt hat, muss ich gestehen: Ich weiß es nicht. Ich weiß es vielleicht nicht mehr. Eventuell hätte ich auf diese Frage eine Antwort geben können, vor Jahr und Tag, knapp nachdem ich das Buch gelesen habe. Aber immerhin hatte ich das Buch doch nicht sofort nach der Lektüre vergessen, denn als ich Jahre später den wundervollen Film Lost in Translation von Sofia Coppola sah, erinnerte ich mich sehr gut, dass diese Regisseurin mit einer Verfilmung des Eugenides-Romans debütiert hatte. (Diese Verfilmung habe ich allerdings bis heute nicht gesehen.)

Wenn ich heute, kurz vorm Abschied, das Buch willkürlich aufschlage, fällt mein blasser Blick, unschuldig wie er immer ist, auf den Satz: „Letztlich war es nicht der Tod, den sie überraschend fand, sondern die Hartnäckigkeit des Lebens.“ – Yeah, mijnheer, das finde ich ebenso.

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 25,35 Euro geht dieses Buch in den Besitz von R. H. in Düsseldorf über.

Ausverkauf en détail

Tuesday, 12. October 2010

allerleibuecher

Probehalber habe ich mal ein Stück aus meiner Bibliothek nahezu an mich selbst verkauft, um für das künftige Prozedere dieser neuen Selbstdarstellungsweise einen verbindlichen Rahmen zu konstituieren.

Der Kunde resp. Käufer erhält neben dem Buch eine Musterrechnung und auf deren Rückseite ein Musterzertifikat zu seinem erworbenen Unikat aus der streng limitierten Auflagenarbeit Bibliothek des Revierflaneurs.

Gleichzeitig erscheint zum Abschied hier ein Artikel über das veräußerte Buch – mit einer präzisen bibliographisch-antiquarischen Beschreibung, einer kurzen Erklärung, wie und warum es in meinen Besitz gelangte, einer grundsätzlichen Bewertung des betreffenden Werks bzw. seines Autors aus meiner heutigen Sicht, einer sehr persönlichen Liebeserklärung an das spezielle Buch und einem Abgesang in Heller und Pfennig.

Die Preise, zu denen ich meine Unikate im Rahmen dieser Auflagenarbeit feilbiete, sind freibleibend. Interessanterweise spiegelt ja die Reihenfolge des Abverkaufs, der Stück für Stück in meinem Weblog unter der Rubrik Ausverkauf nachvollziehbar ist (und bleibt), einen allgemeinen Trend, die gegenwärtige Mode unter hiesigen Lesern (oder immerhin Käufern), das populäre und aktuellste Interesse wider. Der auf diese Weise ausgefilterte Bodensatz wird aber, je konzentrierter desto kurioser, in seinem Verkaufswert steigen, denn die Erwerber der letzten verbleibenden Stücke sind die eigentlichen Helden dieses nicht auf Durchschnittlichkeit, sondern aufs Extreme zielenden Kommerzexperiments. Dies wird sich gewiss auch in der Kuriosität der Abschiedsgrüße an die letzten Bücher widerspiegeln. Somit ist nicht nur jedes der auf diesem Weg und auf diese Weise veräußerten Bücher ein Pinselstrich zu meinem intellektuellen Selbstporträt und zugleich ein Dokument unserer Kultur in dieser Zeit; sondern es ist auch die von mir nur mittelbar und begrenzt beeinflusste Reihenfolge, in der die Perlen meiner Bibliophilie hier von der Schnur gezogen werden, die uns ein markantes Zeugnis unserer gegenwärtigen Denkungsart, unserer Vorlieben und Abneigungen ausstellt. Zukünftig wird man jedenfalls sagen können: Je höher die Abverkaufsnummer, desto exquisiter, abgedrehter, freakiger der Geschmack des spät berufenen Erwerbers. (Oder, für Blöde: Je später die Buchkäufe, desto höher die Preise!)

Mit Beginn dieser Internet-Verscherbelung einer Bibliothek, die als Ganze ein unersetzliches Kunstwerk ist, sind genau 1.475 Bücher lieferbar. Die komplette Verkaufsedition ist vorweg auf 3.333 Bücher limitiert. Sie soll – abzüglich der bis dahin veräußerten Bücher – bis spätestens zum 31. Dezember 2011 verfügbar sein.