Wer weiß?

Ich noch nicht, denn ich bin gerade einmal auf Seite 147 angelangt, habe somit noch nicht die Hälfte des wunderbaren Kriminalromans gelesen, der mich seit Anfang des Monats bei Laune hält. (Bettlektüre.) Ich habe zwar schon ein paar Ideen, wer der Mörder sein könnte, oder auch die Mörderin, wie ich mich beeile ausdrücklich zu ergänzen, denn ich habe „die feministische Sprachreform vollzogen“, die auf Seite 10 in Erinnerung gerufen wird. Zwar könnte ich mich trotzdem bewusst von solchen formalen Zwängen distanzieren, aber nach dem, was die Autorin an anderer Stelle über den beliebten „Verstoß gegen die political correctness“ geschrieben hat – „er war einmal witzig, als das Korrekte im Übermaß verordnet wurde, aber jetzt, wo es das Bemühen darum kaum noch gibt, spricht der Verstoß gegen die Verstoßer“ (Verschwunden. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2008, S. 33) – bin ich verunsichert, ob mein Trotz gegen die feministische Sprachreform doch schon wieder chauvinistisch ist.

Die Autorin ist mir nicht erst durch dieses Buch aufgefallen. Schon durch die durchweg hymnischen Besprechungen ihrer Betrachtungen zur Idiosynkrasie, Über-Empfindlichkeit, war ich auf sie aufmerksam geworden (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000). Als dann vor drei Jahren ihre Notizen über das Unvermeidliche erschienen, Älter werden, da machte ich das Buch meiner Gefährtin zum Geschenk, die es mit Gewinn gelesen hat und darauf Wert legt, dass dies kein Buch über das Alter sei, sondern eben, wie der Titel ja ausdrücklich sagt, ein Buch übers Älterwerden (Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006). Ich selbst habe aus Gründen, die zu erklären mich jetzt überfordern würde, beide nicht sehr umfänglichen, aber auf den ersten Blick hochkonzentrierten Bücher nicht gelesen. Aber sie stehen auf dem langen Bord meiner demnächst zu lesenden Bücher weit vorn und sind neuerdings noch ein gutes Stück weiter vorgerückt – weil nämlich Wer Weiß Was, das jüngste Buch der Autorin, mich schon nach den ersten Seiten im Sturm erobert hat (Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2009).

An Silvia Bovenschen (* 1946), von der hier – Liebhaber der höchsten Humorkunst werden es längst erkannt haben – die Rede ist, berückt mich allerhand: ihr Feinsinn; die grazile Technik; der erkennbare Fleiß beim Feilen an Details; nicht zuletzt die nie schlummernden Selbstzweifel, die sie davor bewahren, sich von den Fliehkräften ihrer beachtlichen Originalität aus der Bahn tragen zu lassen. Mancher Leser, der über die Liste der „Figuren“ auf den Seiten 7 und 8 des Kriminalromans stolpert und sich fragt, ob er sich einen Roman mit dreißig namentlich genannten Personen zumuten will, nicht gerechnet die beiden Tiere und vier nicht näher spezifizierte Wesen, die auf die überwiegend unglaubwürdig klingenden Namen Ertzuj, Iopö, Jkln und Kurt hören sollen … mancher von diesem Entree abgeschreckte Leser mag das Buch also gleich wieder aus der Hand legen, womit er sich freilich um einen Hochgenuss brächte, soviel kann ich schon nach 147 Seiten sagen. Auch der Schutzumschlag ist bestimmt nicht jedermanns Sache, ich mochte ihn selbst dann nicht, als ich herausgefunden hatte, dass seine Urheberin Sarah Schumann (* 1933) mit der Autorin die Wohnung teilt und eine international renommierte Künstlerin im Gefolge des Surrealismus ist. (Darf man so sagen?)

Dass ich hier auf eine Goldader gestoßen bin, dringend nun auch die älteren Bücher der Silvia Bovenschen lesen muss und jene, die noch nicht zu meiner Bibliothek gehörten, beschaffen – das wurde mir noch zusätzlich bestätigt, als ich bei der Recherche nach Informationen über die Autorin und ihr Werk auf so sympathische Internetseiten stieß wie die Website und das Blog von Jürgen Bräunlein, der ein sehr aufschlussreiches Portrait von Silvia Bovenschen geschrieben hat; oder das erstaunliche Monnier Beach Blog der Buchhandlung Reul in Kevelaar, wo eine Appetit machende Rezension von Verschwunden verschwände, wenn ich sie nicht hier ans Licht zerrte.

Und nun nehme ich, wie der als schweigsam und sanft bekannte Bibliothekar Simon Menzel in Bovenschens Buch, meine Brille ab und reibe mir die Augen, als sei plötzlich nach diesem gewollten Ausbruch eine tiefe Müdigkeit über mich gekommen.

[Schluss folgt zum Schluss. – Titelbild: Porträtfoto Silvia Bovenschen von Jürgen Bauer im Umschlag des besprochenen Buches. © S. Fischer Verlag.]

2 Responses to “Wer weiß?”

  1. Revierflaneur» Blogarchiv » Freitag, 13. November 2009: Glück und Pech Says:

    […] (leicht gekürzt) und Was ist denn? von Raymond Carver. Gern hätte ich auch aus dem Krimi der Bovenschen gelesen, aber welches der fünfzig kurzen Kapitelchen hätte ich da auswählen sollen? Nein, dieser […]

  2. Revierflaneur» Blogarchiv » Dienstag, 17. November 2009: Unversöhnt Says:

    […] nach Beendigung meines Wer-Weiß-Was-Lektüreberichts entdeckte ich das Interview, das Silvia Bovenschen dem womöglich […]

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