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Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (IX)

Tuesday, 17. August 2010

gelumbecktegrimmausgabe

Materialkundlich gesehen besteht das traditionelle Buch mindestens aus 1. Papier und 2. Druckfarben: dem sog. Buchblock; zudem aus 3. Bindemitteln wie Fäden oder Klammern, 4. Pappe und Bezugsstoff wie Leinen, Leder, Kunststoff, Pergament u. ä. sowie 5. Leim: dem sog. Einband. Letzterer hält die losen Seiten oder Lagen zusammen, schützt sie gegen Verschmutzung oder Beschädigung und verleiht dem Buch Stabilität, die für eine aufrechte Lagerung im Regal oder Bücherschrank zweckmäßig ist.

Je nachdem, ob der Einband als handwerkliches Einzelstück von einem Buchbinder gefertigt oder maschinell und serienmäßig für eine komplette Buchauflage produziert wurde, spricht man von einem Handeinband oder von einem Verlagseinband. Die wenigen von Hand gebundenen Bücher in meiner Bibliothek kann ich an den Fingern beider Hände abzählen. Über die drei Bände von Heinrich Manns Kaiserreich-Trilogie habe ich früher bereits einmal berichtet und noch früher sogar Abbildungen der kostbaren Einbände ins Netz gestellt.

Was nun die weit überwiegende Zahl der industriell gebundenen Bücher in meinen Regalen betrifft, so wäre, würde ich sie nach Erscheinungsjahr sortieren, ein trauriger Niedergang der Produktqualität unübersehbar. Im Gefolge des Taschenbuchs, das seinen Massenerfolg (ab 1950) dem niedrigen Preis verdankte, welcher wiederum durch die Einführung der Klebebindung nach Emil Lumbeck (1886-1979) möglich war, begannen die Verlage Mitte der 1960er-Jahre, auch bei gebundenen Büchern auf die haltbare Fadenheftung zu verzichten und den Buchblock zu lumbecken. Und nur wenige Jahre später entwickelten die Buchhersteller Verfahren, die es ermöglichten, Pappdeckel mit feinen Prägeprofilen zu versehen, die auf den ersten Blick selbst beim Fachmann den Eindruck einer Leinenstruktur vortäuschten. Erst recht ließen sich natürlich Laien von dieser Camouflage täuschen.

Diese beiden objektiven Verschlechterungen der materiellen Buchqualität erfolgten natürlich aus reinen Kostengesichtspunkten und unter Konkurrenzdruck. Wozu Geld in den Luxus einer Buchausstattung investieren, den kaum ein Leser wahrnimmt? Dann steckt man die eingesparten Mittel doch lieber in die Werbung oder erhöht den Umsatz durch Preisnachlass. Mit der Verbilligung der Bücher blieb der Anspruch auf der Strecke, mit ihrem Erwerb einen dauerhaften Wert anzuschaffen. Bezeichnend für diesen Trend zum Ex-und-hopp-Buch war auch die Entwicklung des Schutzumschlags, dessen immer grellere, glänzendere Erscheinung den Blick von der Verödung des Inhalts, nämlich des Buches selbst ablenkte. [Das Titelbild zeigt die vierbändige Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm aus dem Eugen DiederichsVerlag, in wundervoll verzierten Halbleinenbänden mit Lesebändchen – aber gelumbeckt!]

So sind in den letzten Jahrzehnten selbst halbwegs akzeptable Verlagseinbände in der Massenproduktion immer seltener geworden, wobei das deutsche Verlagswesen im internationalen Vergleich sogar noch vorbildlich ist. Der neueste Schrei ist die alberne Masche, in billigst gebundene Bücher und selbst in manche Taschenbücher Lesebändchen zu kleben, als wären mit dieser albernen Überflüssigkeit die eigentlichen Mängel auszugleichen. Ich habe übrigens noch nie ein gelesenes Buch gesehen, bei dem das Lesebändchen sich nicht unter der Nutzung in ein verschmutztes, ausgefranstes, geradezu unappetitliches Etwas verwandelt hätte. Für die kleine Schar anspruchsvoller Buchkäufer, die sich noch einen Rest sinnlicher Empfänglichkeit für solche Dinge bewahrt haben, gibt es eine Handvoll ambitionierter Verlage, die die Kultur des schönen, zweckmäßigen und haltbaren Buches pflegen. Die Andere Bibliothek, von Franz Greno und Hans Magnus Enzensberger 1985 gegründet, hat hier Maßgebliches geleistet und vorgeführt, dass ein solches Unternehmen mindestens für eine Zeit existenzfähig sein kann. Einige kleinere Verlage, wie die Friedenauer Presse in Berlin, der Weidle Verlag in Bonn oder zuletzt der Düsseldorfer Lilienfeld Verlag, haben solide und zugleich entzückend schöne Bücher vorgelegt, doch man muss immer um die Existenz dieser kleinen Unternehmen bangen.