Akkolade

handkuss

Die Begrüßung zwischen menschlichen Individuen wird üblicherweise von sprachlichen oder gestischen Handlungen begleitet, durch die die einander grüßenden Personen sich gegenseitig ihrer Beziehung zueinander versichern. So weisen Indianer sich gegenseitig bei einem Zusammentreffen in freier Prärie mit erhobenem rechtem Arm die offenen Handflächen vor, zum Beweis, dass sie keine Waffen tragen und einander friedlich gesonnen sind.

Solche traditionellen, symbolhaften Grußformen sind abhängig von der Kultur und Zeit – und modischen Wandlungen unterworfen. In meiner Kindheit waren Knicks und Diener noch anzutrainierende Devotionsrituale für Mädchen und Jungen gegenüber Erwachsenen. Die 68er mit ihrer Rebellion gegen den „Muff von tausend Jahren“ und ihrer Infragestellung von Autoritäten und geschriebenen wie ungeschriebenen Gesetzen haben dafür gesorgt, dass „Diener und Knicks […] ihre sichere Heimstätte heute nur in aristrokratischen Familien“ haben. (Asfa-Wossen Asserate: Manieren. Frankfurt am Main 2003, S. 222.)

Gleichzeitig sorgten die 68er mit ihrer sexuellen Revolution, ihrer Idealisierung von Spontaneität und der Befreiung des Körpers und der Gefühle dafür, dass sich bald neue Begrüßungsrituale etablierten. Erica Pappritz, Konrad Adenauers Protokollchefin im Auswärtigen Amt, hatte in ihrem Buch der Etikette 1956 über „Küsse, Handküsse und Umarmungen“ zur Begrüßung in der Öffentlichkeit noch verfügt: „Weder das eine noch das andere – und das dritte schon gar nicht! Die Öffentlichkeit ist nun mal kein Schauplatz für Zärtlichkeiten.“

Genau 50 Jahre später heißt es in einem Zeitungsartikel über Umarmung bis zur Entspannung: „Sich gegenseitig zu umarmen, ist heute selbstverständlich. Verwandte und Freunde tun es zur Begrüßung. Selbst Männer haben keine Sorge mehr, als schwul zu gelten, wenn sie einen Freund in den Arm nehmen.“ (Roland Mischke im Mannheimer Morgen vom 10. Oktober 2006). Und Prinz Asserate beobachtet die gleiche „Bereicherung“ mitteleuropäischer Begrüßungsgepflogenheiten: „Wenn man sich besser kennengelernt hat und eine gewisse Herzlichkeit zeigen will, gehört der Handschlag natürlich dazu – im ganzen Mittelmeerraum auch die Umarmung unter Freunden, die ,Akkolade‘, die mittlerweile auch in Deutschland weit über die Fußballplätze hinaus, auf denen sich besonders emphatisch umarmt wird, verbreitet ist.“ (A. a. O., S. 220.)

In wenigen Jahrzehnten wird so aus einer spontanen Grenzüberschreitung, aus einem von Herzen kommenden unmittelbaren Ausdruck tief empfundener Sympathie durch Routine und Gewöhnung eine gestische Floskel, ein hohler Brauch, eine bedeutungslose Selbstverständlichkeit. Und erst recht wird mir das modische Begrüßungsritual der Umarmung dann suspekt, wenn es zwanghaft wird. Wer sich ihm verweigert, gerät unter Rechtfertigungsdruck: „Was ist denn das für ein komischer Vogel? Reichlich verklemmt und distanziert, der Typ.“ Aber diesen Druck halte ich lieber aus, als mir selbst untreu zu werden. Die tiefe Bedeutung einer Umarmung lasse ich mir nicht durch Nachgiebigkeit gegenüber einem Gruppenzwang rauben. Ich möchte mir die Akkolade für sehr seltene und besondere Anlässe vorbehalten und sie nicht durch das Zugeständnis an eine herrschende Mode abnutzen lassen, durch mechanische, alltägliche Wiederholung. Ich bin kein Bewohner des Mittelmeerraums.

13 Responses to “Akkolade”

  1. Günter Landsberger Says:

    Schulhofaufsichten ab 7.55 Uhr haben doch auch ihr Gutes. So habe ich über die Jahre hinweg die Veränderung der Begrüßungsrituale unter Schüler…n Schritt für Schritt kennengelernt. Seit etwa 10 Jahren (oder ist es schon 15 Jahre her) umarmen sich die Schüler… zur Begrüßung. Wobei sich die Mädchen derselben Klasse wechselseitig als erste umarmt haben.

  2. Günter Landsberger Says:

    Sehr aufschlussreich für die Einordnung der verbreitetsten Grußweise des “3. Reiches” ist übrigens das Buch “Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste” von Tilman Allert (F.a.M. 2005).

  3. Matta Schimanski Says:

    “In wenigen Jahrzehnten wird so aus einer spontanen Grenzüberschreitung, aus einem von Herzen kommenden unmittelbaren Ausdruck tief empfundener Sympathie durch Routine und Gewöhnung eine gestische Floskel, ein hohler Brauch, eine bedeutungslose Selbstverständlichkeit.”

    Dem stimme ich so nicht zu.

  4. Günter Landsberger Says:

    Es ist ja auch von Mensch zu Mensch verschieden. Manchmal, hoffentlich immer noch in der Regel, entspricht der Gestus dem von Herzen Gemeinten. Wer will das von außen entscheiden? Wenn allerdings ein weniger Naher genauso herzlich umarmt wird wie ein Nächststehender, wird man sich die Nähe hinzufühlen müssen. Es fehlt das äußere Zeichen. Man könnte also, um Missverständnisse zu vermeiden, in dieser Umarmungsinflation auf Umarmungen öffentlicher Art fast verzichten. Sie auf das berechtigte Maß einzuschränken, mag allerdings angehen.

  5. Revierflaneur Says:

    “Man könnte also, um Missverständnisse zu vermeiden, in dieser Umarmungsinflation auf Umarmungen öffentlicher Art fast verzichten. Sie auf das berechtigte Maß einzuschränken, mag allerdings angehen.”

    Lieber Günter, meine Haltung dazu ist, dass man nicht fast verzichten könnte, sondern grundsätzlich verzichten sollte. Der Handschlag, der Blick, die Mimik und die verbale Begrüßung bieten eine solche nuancenreiche Vielfalt der Abstufung, dass es der Umarmung, einer für mein Empfinden sehr intimen und sehr intensiven Geste, wahrlich nicht bedarf. Die behalte ich mir lieber für seltene Extremsituationen vor, für alltägliche Begrüßungen ist sie mir schlicht zu schade.

    Ich stelle mir gerade vor, in welcher Situation es mir angemessen erschiene, Dich zu umarmen. Etwa so: Wir lernen uns in den nächsten zehn Jahren sehr intensiv kennen. Du hast einen Trauerfall zu beklagen und lädst mich zur Bestattung Deines nahen Angehörigen ein. Wir stehen am offenen Grab und ich kondoliere. Lieber Günter, dann würde ich Dich wohl umarmen. Und wenn ich das zuvor bei jedem Wiedersehen in trister Regelmäßigkeit getan hätte, dann stünde mir in dieser Lage keine angemessene Geste mehr zur Verfügung.

    Deshalb halte ich es für ratsam, mit meinen Umarmungen im Alltag äußerst sparsam umzugehen.

  6. Günter Landsberger Says:

    Lieber Manuel, Du verstehst mich miss. Was mich selber und mein eigenes Verhalten angeht, bin ich völlig Deiner Ansicht. Was andere angeht, so meine ich zwar auch, dass man darauf meistens (schon wegen der Abnutzungsgefahr) verzichten sollte, aber ich kenne eben die Verhaltensweisen von einigen polnischen Freunden und österreichischen Verwandten, denen ich das eben nachzusehen bereit bin.

  7. Matta Schimanski Says:

    Es gibt viele verschiedene Arten zu umarmen – nur weil ihr die nicht zu kennen scheint, könnt ihr sie nicht unterscheiden und (ein-)schätzen.

  8. Günter Landsberger Says:

    Auch gerade was Dein spezielles Beispiel eines etwaigen Trauerfalls betrifft, lieber Manuel, kann ich Dich vollends bestätigen. Genauso habe ich mich selber verhalten bei einem sehr guten Freunde, vor etwa 10 Jahren, als dessen Frau nach einer verunglückten Operation ganz rasch gestorben ist.

  9. Günter Landsberger Says:

    Einer, der weiß, was auf französisch “je t’embrasse” heißt, kann auch verschiedene Umarmungen unterscheiden. Zudem: Er wird wohl auch unabhängig davon Umarmungen im engsten Familienkreis kennen. Oder Umarmungen des Abschiednehmens für lange Zeit oder überraschenden Wiedersehens, je nach der inneren Nähe zu der betreffenden Person.

  10. Revierflaneur Says:

    Matta Schimanski: “Es gibt viele verschiedene Arten zu umarmen” – mag sein. Ich kenne viele verschiedene Arten, die Hand zu geben, und diese Differenzierungsmöglichkeiten reichen mir für den alltäglichen Begrüßungsfall völlig aus.

    Günter Landsberger: “Begrüßungsrituale unter Schüler…n” beobachte ich ebenfalls mit großem Interesse, bei meinen Kindern, in öffentlichen Verkehrsmitteln usw. Interessant finde ich, dass Mädchen untereinander sich seit ein paar Jahren rechts und links auf die Wangen küssen (ein weiterer Schritt in Richtung “Profanierung des Intimen”) und Jungen untereinander den Handschlag sozusagen beim Wort nehmen, indem sie ihre Hände nicht mehr für einen Moment ineinander ruhen lassen (das scheint ihnen “unmännlich” vorzukommen), sondern sich “abklatschen”, wobei es auch hier “verschiedene Arten” gibt, deren Bedeutungsunterschiede mir naturgemäß verborgen bleiben. Ich beobachte diese Veränderungen mit Interesse und mache mir darüber meine Gedanken. Mein eigenes Verhalten daran anzupassen erschiene mir allerdings als Anbiederung an die junge Generation, als Preisgabe meiner generationellen Identität. Im Gegenteil, je älter ich werde, desto mehr schätze ich die Geborgenheit, die mir die würdevolle Distanz zu meinen Mitmenschen gewährt. Wer es nötig hat, sich auf seine alten Tage mit dem jungen Volk “handgemein” zu machen, wirkt bei Lichte besehen wie ein unreifes Opfer der Juvenalisierung – und erscheint den Jugendlichen, deren Sozialverhalten er täppisch zu imitieren sucht, mit gutem Recht als alberner alternder Narr, der den Anschluss nicht verpassen will. Bemitleidenswert.

  11. Günter Landsberger Says:

    Ich gebe Dir auch da ganz recht, lieber Manuel, und brauche als abschreckendes und zugleich bemitleidenswertes Beispiel noch nicht einmal den “falschen Jüngling” aus Thomas Manns “Der Tod in Venedig” zu bemühen.
    Um nur scheinbar beim Literarischen zu bleiben: Wolfgang Frühwald hat einmal in einem Interview gesagt, wie schwer es doch gewesen sei, seinen heutigen Studentinnen und Studenten zu vermitteln, was es mit dem Singular im Titel “Der Kuss von Sentze” seiner Bedeutung nach für eine Bewandtnis habe, welche Bedeutung ein einziger Kuss einmal gehabt habe.
    (Abklatschen ist unter Sportlern nach erfolgreichen Aktionen üblich und wurde wohl allgemein übernommen; Küssen erst rechts dann links, war z. B. in Polen schon viel früher verbreitet. Wie überhaupt in Polen der Handkuss sich auf beide Hände bezieht und nicht immer bloß vornehm angedeutet wird.)

  12. Bernd Berke Says:

    Bekannte aus Holland legen Wert darauf, dass sich bei der Umarmung jeweils dreimal die Wangen berühren. Bis heute weiß ich nicht recht, ob ich damit rechts oder links beginnen soll.

    Aber jedenfalls: Sei umarmt, Manuel, für diesen, Deinen Beitrag! *g*

  13. Günter Landsberger Says:

    “Umarmungen in der Literatur im Wandel der Zeiten” sich bewusst zu machen, könnte auch interessant sein. Mir fällt als eine Art Einstieg sofort das Schlussbild von Lessings “Nathan der Weise” ein.

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