Die Canettis

vezacanetti

Paketpost. Neulich las ich das André-Müller-Interview mit Elias Canetti vom Dezember 1971, wo es in einer Fußnote zu dessen Frau Veza heißt: „starb durch Selbstmord“. Bei Wikipedia klingt es vorsichtiger: „Veza Canetti starb 1963 im Exil in London, wo sie und ihr Mann seit 1938 lebten, wahrscheinlich durch Selbstmord.“ In neutralen Quellen liest man lediglich, dass Veza Canetti am 1. Mai 1963 in einer Londoner Klinik starb.

Herr Canetti (Nobelpreisträger 1981) war mir eine große Versuchung, wie alle Solitäre der Literatur, die nirgends leichthin einzuordnenden, widerspenstigen Einzelgänger, wie etwa Borges, Nabokov, Kafka, Robert Walser oder Hamsun. (Ich könnte aus dem vergangenen Jahrhundert noch ein weiteres gutes Dutzend nennen.) Canettis dreibändige Autobiographie las ich flott und mit Vergnügen, in seinem ehrgeizigen Zentralwerk Masse und Macht blieb ich nach wenigen Seiten stecken, seinen Roman Die Blendung legte ich nach einem knappen Drittel beiseite mit dem festen Vorsatz: „Deine Stunde wird mir noch schlagen.“ Das ist wohl zwanzig Jahre her.

Bruder Georges. Für körperliche Krankheiten als Symptome epochaler Krisen der Geistesgeschichte habe ich mich schon immer interessiert. Artaud als Magier der Pest, Panizza als Inkubus der Syphilis. Und natürlich die Tuberkulose. (Thomas Mann und sein Zauberberg? Ach Gottchen, ja.) Georges Canetti, der älteste der drei Canetti-Brüder, erkrankte selbst an TB, wurde später als Mediziner ein Spezialist für die Schwindsucht. Und verliebte sich in seine Schwägerin Veza. Eine Komplikation. (Susan Sontag hat mit Krankheit als Metapher ein mindestens originelles Buch geschrieben zu diesem Thema, das ihr auch körperlich nahe ging. In der Post-Aids-Ära warten wir – unausgesprochen, geduckt, zitternd, neugierig – doch eigentlich längst auf die nächste Seuche, oder? Die Vogelgrippe, der Rinderwahn, Morbus Alzheimer: diese Schreckgespenster hielten und halten doch allesamt nicht, was sie versprachen. Vielleicht, so es denn zukünftig noch eine Medizin-Geschichtsschreibung geben sollte, wird man dereinst Adipositas und Anorexie als die bipolare Doppelseuche des angehenden 21. Jahrhunderts identifizieren.)

Frau Canetti, die in Wien als Venetiana Taubner-Calderon geborene erste Frau des Schriftstellers, fast acht Jahre älter als ihr genialischer, mitunter verschrobener, von Selbstmordideen geplagter Gatte, der immer „auf dem Seitensprung“ war: nach rechts Richtung Eros oder nach links Richtung Thanatos; und der ohne Vezas klug regulierendes Geschick den Mittelweg wohl kaum hätte halten können, auf welchem ihm sein beachtliches Werk gelang – auf Kosten ihrer eigenen Schreibbegabung. (Erst posthum erschienen ihre Romane, Erzählungen und ein Bühnenstück, gnädig „freigegeben“ von Elias, dem lebenslangen Schattenwerfer. Am 19. April 1948 schreibt Veza an ihren Mann: „Du schreibst das Leben, aber wenn Du lebst, verschreibst Du Dich.“)

Paketpost also. Heute trifft ein das Buch von Veza und Elias Canetti: Briefe an Georges, gerade mal zwei Jahre alt – und schon wieder im Antiquariat. Eine komplizierte, in allen Untiefen wohl unauslotbare, schicksalhafte Dreiecksgeschichte. Eine Korrespondenz, die durch glückliche Fügung und den Spürsinn des Hanser-Lektors Kristian Wachinger in einem Pariser Keller vorm Verschimmeln in einem großen Überseekoffer gerettet wurde. (Wieder eins dieser doch auf den ersten Blick eher marginalen Bücher, von denen ich mir insgeheim, unermüdlich, penetrant erhoffe, dass sie mir aus ihrer Randständigkeit, aus ihrer so sehr speziellen, schwachen Perspektive heraus vielleicht Aufschluss geben könnten über das Wurzelhafte, Kernige, Existenzielle unseres so kläglich verunglückenden Daseins.)

One Response to “Die Canettis”

  1. Günter Landsberger Says:

    Herr Canetti:
    Meine Schwierigkeiten mit Canetti gab es nur ganz zu Anfang. In der Stadtbücherei Essen (damals noch an der Hindenburgstraße) geriet ich in den 60er-Jahren unversehens an einen Band “Aufzeichnungen” von einem mir damals völlig unbekannten Autor: Elias Canetti. Ich blätterte, verstand vieles nicht, bis ich an eine seiner Aufzeichnungen aus dem Jahre 1943 geriet, die mich sofort packte: “Mein ganzes Leben ist nichts als ein verzweifelter Versuch, die Arbeitsteilung aufzuheben und alles selbst zu bedenken, damit es sich in einem Kopf zusammenfindet und darüber wieder Eines wird. Nicht alles wissen will ich, sondern das Zersplitterte vereinigen. Es ist beinahe sicher, dass ein solches Unternehmen nicht gelingen kann. Aber die sehr geringe Aussicht, dass es gelingen könnte, ist an sich schon jede Mühe wert.”
    Seitdem habe ich von Canetti alles gelesen, was ich von ihm in die Finger bekam.

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