Archive for the ‘Verzeichnisse’ Category

Lexikon der SciFi-Plots

Sunday, 26. February 2012

Immer mal wieder fällt mir eine kleine Verzerrung der Wirklichkeit ein, aus deren konsequenter Weiterverfolgung sich eine wunderschöne Science-Fiction-Story entfalten ließe. Aber bevor ich noch ernsthaft darüber nachdenke, lähmt mich die Überzeugung, dass längst andere auf solch einen doch ganz naheliegenden Anlass für eine surreale Geschichte gekommen sein müssen und es sich insofern kaum lohnen dürfte, die Idee weiterzuverfolgen. Dagegen könnte man einwenden, dass es ja vielleicht auch auf die Umsetzung ankommt. Ein guter Plot im Kopf macht schließlich noch kein literarisches Meisterwerk auf dem Papier! Aber  mich schreckt eben gleich von vornherein der Gedanke ab, dass ich viel Zeit in die Niederschrift einer solchen Story investieren könnte, um mir dann vom erstbesten Lektor in einem auf dieses Genre spezialisierten Verlag sagen lassen zu müssen, genau dieses Thema habe doch, beispielsweise, „der SciFi-Klassiker Theodore Sturgeon auf schwer erreichbare, sicher aber unübertreffliche Weise in einer großartigen Erzählung aus dem Jahr 1951 in allen Tonarten durchdekliniert [!]. Lesen Sie das mal – und dann melden Sie sich wieder, wenn möglich mit frischeren Motiven! Anbei Ihr Manuskript zu unserer Entlastung zurück.“ Nein, das muss ich mir nicht antun. Bei dieser Gelegenheit wird mir aber bewusst, wie hilfreich ein wirklich nach Vollständigkeit strebendes Verzeichnis der Stoffe und Motive der Science-Fiction-Literatur aller Zeiten und Sprachen wäre. (Die wertvolle Pionierarbeit von Elisabeth Frenzel als Verfasserin zweier Nachschlagewerk zu Stoffen und Motiven der Weltliteratur wurde leider durch ihre politische Vergangenheit im Nationalsozialismus diskreditiert, was vielleicht sogar die Stoff- und Motivforschung in Deutschland lange Zeit ausgebremst hat.) Es müsste darin nicht nur das jeweilige Hauptthema eines Werks erfasst sein, sondern durchaus auch die bloß marginale Behandlung von Themen. Beispielsweise müsste ich unterm Stichwort „Tunnelbau“ nicht nur auf den Roman von Bernhard Kellermann verwiesen werden, sondern auch auf Erzählungen, in denen der Bau eines Tunnels vielleicht nur am Rande vorkommt. Und man müsste ein Regelwerk zur Bildung von mehrteiligen Lemmata finden, um auch komplexere Themen, die nicht in einem einzigen Stichwort ausgedrückt werden können, auffindbar zu machen. – Beispielsweise dachte ich heute darüber nach, wie es einem Menschen ergehen mag, der eines Tages nach dem Aufwachen feststellt, dass er wie unter einem Zwang immer die Wahrheit sagen muss; oder, um den Einfall in eine andere Richtung zu biegen, der plötztlich beobachtet, dass alle anderen zwanghaft die Wahrheit sagen, nur er selbst kann lügen, dass sich die Balken biegen. Welchen Gefahren ist der Mann im ersten Beispiel ausgesetzt? Und welche Chancen ergeben sich für ihn im zweiten? Gibt es nicht längst schon Geschichten, die sich aus diesen Ideen entwickeln? Und wenn es ein solches Verzeichnis gäbe, wie ich es mir wünsche: Unter welchen Suchbegriffen würde man dann Geschichten des beschriebenen Typs finden?

Dünn besiedelt

Monday, 28. February 2011

Vor auf den Tag genau dreieinhalb Jahren schrieb ich erstmals bei Westropolis über das „Konfluenzpunkt-Projekt“ von Alex Jarrett: Seit dem Jahr 1884, als in Washington die Internationale Meridian-Konferenz tagte, gilt ein einheitliches System von zweimal 180 Längengraden – westlich oder östlich des Nullmeridians, der durch Greenwich bei London verläuft. Ihm entspricht der größte Breitenkreis der Erde, der Äquator, der mit 0 Grad festgelegt wurde. Die Polpunkte sind mit 90 Grad nördlicher bzw. südlicher Breite beziffert. Die Rechnung ist also ganz einfach: Es gibt nach diesem Koordiantensystem exakt 360 x 179 = 64.440 Schnittpunkte ganzzahliger Längen- und Breitengrade, die beiden Pole ausgenommen. Den Nord- oder Südpol (90° nördlicher bzw. südlicher Breite, ohne Länegnangabe) zu erreichen, das war eins der letzten großen geografischen Entdeckerabenteuer des vorigen Jahrhunderts, neben der Ersteigung des Mount Everest im Himalaya und der Auslotung des Marianengrabens im Pazifik. Die Erfolgsjahre dieser Vorstöße in die örtlichen Extreme unseres Globus sind 1909 (Robert E. Peary), 1911 (Roald Amundsen und Sir Walter F. Scott), 1953 (Sir Edmund Hilary und Sherpa Tenzing Norgay) und schließlich 1960 (Jacques Piccard). Danach, so sollte man meinen, gab es keine attraktiven Ziele für Entdeckungsreisende auf der Erde mehr. Im Jahre 1969 machte sich die entdeckungslüsterne Menschheit auf den Weg zum Mond.

Im Februar 1996 blies aber ein gewisser Alex Jarrett zu einer neuen, zeitgemäßen Jagd. Nachdem im Jahr zuvor das satellitengestützte Global Positioning System (GPS) in Betrieb genommen worden war, kam Jarrett auf die Idee, die geographisch eindeutig bestimmbaren Schnittpunkte der Längen- und Breitengrade, Konfluenzpunkte genannt, weltweit von Abenteurern unserer Tage verorten und registrieren zu lassen, per photographischer Dokumentation. Wer als „Konfluenz-Pionier“ einen solchen Schnittpunkt als erster erreicht und vier Fotos in alle Himmelsrichtungen von diesem Punkt aus ins Internet stellt, sodann noch als Beweis seiner „Eroberung“ ein Foto von der Anzeige seines GPS-Geräts, dass er auch wirklich dagewesen ist, macht sich damit unsterblich.

Die Ergebnisse kann man beim „Degree Confluence Project“ bestaunen. Von den rechnerisch 64.442 Konfluenzpunkten befinden sich 21.543 an Land, 38.409 auf Meeresflächen und 4.490 im Bereich der Polkappen. Ziel des Projekts ist es, dass jeder sogenannte primäre Konfluenzpunkt besucht und fotografiert wird. Konfluenzpunkte, die auf dem Wasser liegen und von denen aus kein Land sichtbar ist oder die sich auf den Polkappen sehr nahe beieinander befinden, werden als sekundäre bezeichnet. Auf den ersten Blick kommt manchem dieses Vorhaben vielleicht reichlich abgedreht vor, denn schließlich erfolgt die Auswahl der Punkte ja nach einem ganz abstrakten System. Befasst man sich aber etwas gründlicher mit den Ergebnissen dieses Experiments, dann ist man verblüfft, wie verschwindend klein die Zahl jener Fotos ist, auf denen Spuren der menschlichen Zivilisation zu erkennen sind. Das gibt zu denken, da das Koordinatengitter mit seinen Schnittpunkten ja schließlich einen objektiven Durchschnitt aller Orte auf dieser Welt abbildet.

Das „Degree Confluence Project“ belehrt uns folglich darüber, dass wir längst keine so große Rolle auf unserem Heimatplaneten spielen, wie wir uns selbst gern einreden wollen. Neben manch anderem leiden wir offensichtlich auch unter maßloser Selbstüberschätzung. Ein Außerirdischer, der Terra nach den ganzzahligen Koordinatenschnittpunkten „scannen“ würde, nähme uns als „wesentliches Phänomen“ kaum wahr. Ist das nun eine eher verstörende oder vielmehr eine beruhigende Erkenntnis? – Beruhigend jedenfalls insofern, als es wohl tatsächlich sehr unwahrscheinlich ist, von einem künstlichen Satelliten getroffen zu werden, der nach Ablauf seiner „Lebenszeit“ vom Himmel fällt. Dieses Ereignis steht uns nämlich Ende des Jahres 2011 bevor. Der zweieinhalb Tonnen schwere deutsche Forschungssatellit Rosat, der im Juni 1990 auf eine Umlaufbahn in 550 Kilometern Höhe geschossen wurde, ist nämlich schon seit Jahren im Sinkflut und wird unweigerlich bald in die Atmosphäre eintauchen, wie dpa meldet. Andreas Schütz vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) sieht allerdings keinen Grund zur Besorgnis: „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Trümmer bewohntes Gebiet treffen, sei […] äußerst gering.“ (Dickes Ding; in: SZ Nr. 48 v. 28. Februar 2011, S. 10.) – Die Erde ist, auch wenn wir Stadtbewohner es manchmal vergessen, nach wie vor ein von Menschen extrem dünn besiedelter Planet.

(Der im Kartenausschnitt oben abgebildete Punkt – 80° westlicher Länge, 20° nördlicher Breite –, den ich auch schon in meinem Originalbeitrag bei Westropolis abgebildet hatte, wurde übrigens immer noch nicht „erobert“. Damals vermutete ich, dass erst Fidel Castro ins Gras beißen müsse, damit dort ein GPS-bewaffneter Konfluenz-Jäger seinen Triumph feiern könne. Groß wird dessen Triumph allerdings ohnehin nicht sein, denn der Ort befindet sich 32 Kilometer entfernt vom Land im Wasser und ist somit nur ein sekundärer Konfluenzpunkt.)

[Dieses Posting erschien zuerst am 31. August 2007 bei Westropolis unter dem Titel confluence.org als VIII. Folge der Serie „Meine 100 liebsten Nachschlagewerke“. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog aktualisiert, überarbeitet und erweitert. – Einen zweiten Beitrag zum Thema veröffentlichte ich am 4. November 2008 hier.]

Welt, Zahl und Bild

Sunday, 17. January 2010

fussballgott

Die Empfehlung, man solle keiner Statistik vertrauen, die man nicht selbst gefälscht hat, gilt seit Mitte des vorigen Jahrhunderts als fester Bestandteil des Skeptizismus gegenüber den durch Zahlen scheinbar unbezweifelbar gemachten Tatsachenbehauptungen über unsere unüberschaubar vielfältige und sich dazu noch rasend schnell verändernde Welt. Wer den Satz zuerst gedacht, ausgesprochen oder niedergeschrieben hat, das liegt weiterhin im Dunklen, doch deutet einiges darauf hin, dass er im Duell der Titanen moderner Massenmanipulation geboren wurde: Winston Churchill und Joseph Goebbels hatten im Zweiten Weltkrieg die Aufgabe, die Kampfmoral ihrer jeweiligen Völker durch überzeugende Erfolgszahlen hochzuhalten. Da lag ein solcher Satz zur sardonischen Diskreditierung des Gegners geradezu in der bleihaltigen Luft. Gegenüber statistischen Darstellungen der Wirklichkeit ist jedenfalls ein gesundes Misstrauen grundsätzlich am Platze. Die technischen Möglichkeiten zur Verzerrung der Realität im Interesse einer Beeinflussung des Betrachters sind so vielfältig, wie sie nur sein können, wenn sich der erfindungsreiche Menschengeist vor die Aufgabe gestellt sieht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Aber ebenso wahr ist, dass das trockene Zahlenwerk plötzlich eine entzückende Inspirationskraft entfalten kann, wenn die Statistiker und Infografiker von der Leine interessengeleiterter Auftraggeber gelassen und nur so, zu „Erbauung und Belehrung“, aber mit Esprit und gutem Willen tätig werden dürfen. Zum Jahreswechsel sind gleich zwei handliche Bücher erschienen, die sich, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise, genau dies zur Aufgabe gemacht haben.

Die Welt in Zahlen 2010 von der Wirtschaftszeitschrift brand eins hat ihren Ursprung in einer ständigen Rubrik des seit zehn Jahren monatlich erscheinenden Magazins. Zwei kleine Schönheitsfehler will ich gleich eingangs monieren, um mich sodann den vielen Vorzügen des Buches zuzuwenden. Schon die Rubrik hat sich einen stilistischen Tick zu eigen gemacht, der nun auch im Buch gehäuft auftritt und einem mit der Zeit ganz gehörig auf den Wecker fallen kann: Bandwurmartige Bezeichnungen der nachfolgenden Zahlenwerte werden in voller Länge wiederholt. Ein Beispiel gefällig? „Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 1998, in Minuten pro Tag: 77 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2001, in Minuten pro Tag: 107 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2008, in Minuten pro Tag: 120.“ (brand eins: Die Welt in Zahlen 2010. Statista. Hamburg: brand eins Verlag, 2009, S. 112.) Muss das sein? Die unnötige Verweildauer beim Lesen dieses doch sonst so interessanten Buches hätte sich durch Vermeidung solcher Mätzchen reduzieren lassen. Der zweite Wermutstropfen ist der Preis von 22 Euro für ein Taschenbuch von 250 Seiten.

Dies waren die beiden Wermutstropfen, nun folgt Ambrosia. Ich hätte nicht gedacht, dass Hunde in der Rangfolge der häufigsten Haustiere erst an dritter Stelle kommen, nämlich nach Katzen und Kleintieren. Auch erstaunt mich, welches die beiden mit Abstand häufigsten Farben neu zugelassener Autos im Jahre 2007 waren, nämlich Grau und Schwarz. Dass auf jeden dritten Deutschen eine zugelassene Handfeuerwaffe kommt, jagt mir einen gehörigen Schrecken ein. Seit ich weiß, welches die bei Frauen häufigste aller Operationsarten in deutschen Krankenhäusern ist, nämlich die Rekonstruktion der Geschlechtsorgane nach Dammriss bei der Geburt, frage ich mich, ob die Ausbildung unserer Hebammen reformbedürftig ist. Dass mir kein einziges der zehn umsatzstärksten verschreibungspflichtigen Medikamente wenigstens dem Namen nach bekannt ist, wundert mich ebenso wie der Umstand, dass auf Platz eins dieser Liste mit Risperdal ein Mittel gegen Psychosen steht. Soll es mich mit Mitleid erfüllen, dass 774 Millionen Menschen auf der Welt dieses Buch allen schon deshalb nicht lesen können, weil sie Analphabeten sind? Oder soll ich sie vielmehr beneiden, weil ihnen damit erspart bleibt, die vielen traurigen, erschreckenden und wütend machenden Zahlen in diesem Buch zur Kenntnis nehmen zu müssen? Übrigens hat auch hierzulande jeder fünfte Schüler mittlerweile Probleme mit dem Lösen einfachster Rechenaufgaben. Nach den vier Kapiteln „Was Wirtschaft treibt“, „Was Unternehmern nützt“, „20 Jahre Wiedervereinigung“ und „Was Menschen bewegt“ folgen als besonderes Schmankerl noch einige Seiten mit Prognosen über „Deutschland 2050“. Da werden ein paar Trends des ersten Jahrzehnts in diesem neuen Jahrtausend für die nächsten vierzig Jahre ohne Rücksicht auf Plausibilität extrapoliert. Demnach hätte zum Beispiel die SPD kein einziges Parteimitglied mehr und die Kinopreise lägen bei 9,44 Euro – die allerdings niemand bezahlen würde, denn die Zahl der Kinobesucher betrüge 0,0 Millionen.

Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist heißt das zweite Buch zur Lage von Welt und Nation. Auch in diesem Fall haben die Autoren, Matthias Stolz und Ole Häntzschel, ihre ersten Meriten mit einer Zeitschriftenrubrik erworben, mit der „Deutschlandkarte“ im ZEITmagazin. Und auch dieses Buch hat leider eine kleine Macke, es verzichtet auf Seitenzahlen. So muss man der Verlagsankündigung glauben, die uns 240 Seiten verspricht. Oder nachzählen, um bestätigt zu finden, dass das Versprechen gehalten wird. Es freut mich schon, dass das Buch nur 12,95 Euro kostet, geradezu begeistert bin ich aber, dass es – ein Taschenbuch! – fadengeheftet ist. Aber das sind Äußerlichkeiten. Der Content, wie man in Neusprech sagt, ist tatsächlich hinreißend. Im Vorwort erklären die Autoren knapp und deutlich, was sie mit diesem Buch versucht haben: „Das wahre Schmuddelkind journalistischer Texte ist die Infografik. Sie leidet von allen Zutaten, die zur journalistischen Veröffentlichung gehören, unter dem schlechtesten Ruf. […] Wir dachten, es sei Zeit, sie einmal aus ihrem Schattendasein zu befreien. Wetten, auch die Infografik hat eine humorvolle und unterhaltsame Seite?“ (Matthias Stolz / Ole Häntzschel: Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist. München: Knaur, 2010, S. 6 f.)

Naturgemäß kann ich in spröden Worten die mit den visuellen Möglichkeiten der Infografik virtuos spielende Umsetzung von Statistiken nur sehr unzulänglich beschreiben. Ich muss stattdessen auf eine Leseprobe verweisen, die der Verlag freundlicherweise ins Internet gestellt hat – und auf die Großzügigkeit dieses Verlages vertrauen, der es mir hoffentlich nicht übel nimmt, wenn ich eine besonders schöne Grafik hier als Titelbild verwende. Die zunächst etwas überanstrengt wirkende These, dass der sonntägliche Kirchgang in den letzten Jahrzehnten vom Schlachtenbummel auf den Fußballplatz abgelöst wurde, ist wohl noch nie so überzeugend (und dabei tatsächlich auch humorvoll) veranschaulicht worden. Ich bin bekanntlich weder dem einen noch dem anderen Ritual verfallen. Beten und jubeln sind mir gleichermaßen fremd. Aber ich bin noch längst nicht fertig mit der Frage, warum um Himmels Willen eine so schnelle Trendwende von der Kontemplation in die Exaltation erfolgen konnte.

[Titelbild aus dem zuletzt besprochenen Buch, S. 24/25: „Kirche gegen Bundesliga“. – © Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.]

Zahlen

Friday, 12. December 2008

48 Zeichentasten hat meine Tastatur. Davon entfallen 29 auf die 26 Buchstaben des Alphabets und die drei Umlaute in Klein- und Großschreibung. Drei Tasten sind Interpunktionszeichen vorbehalten. Die verbleibenden 16 Tasten, genau ein Drittel, sind mit Zahl- und sonstigen Zeichen belegt: für die Ziffern von 0 bis 9, für acht weitere Satzzeichen, häufig benötigte Sonderzeichen wie §, %, & oder # und das Eszett, meinen Lieblingsbuchstaben. – Auch die Evolution der Tastaturbelegung seit Erfindung der Skrivekugle lässt Rückschlüsse auf den Bewusstseinswandel in den seither vergangenen 143 Jahren zu. Meine erste mechanische Schreibmaschine hatte noch das Zeichen für die englische Währungseinheit Pfund im Angebot; heute muss ich mir das ₤ umständlich aus dem Sonderzeichen-Vorrat heraussuchen, während der $ nach wie vor auf der Tastatur präsent ist und dort längst auch der € seinen festen Platz neben dem E gefunden hat. Die zackigen SS-Runen hingegen, die auf den Tastaturen der Fabrikate reichsdeutscher Schreibmaschinen-Hersteller – wie Adler, Olympia oder Triumph – zwischen 1933 und 1945 obligatorisch waren, sind heute selbst in den entlegensten Zeichensätzen nicht mehr aufzufinden. Hin und wieder, wenngleich nicht eben häufig, zeigt der Fortschritt doch auch einmal ein freundliches Gesicht, und sei’s durch eine „Leerstelle”.

Ich bin ein ausgesprochener Buchstaben- und alles andere als ein Zahlenmensch. Das würde ein Sherlock Holmes unserer Tage mit seinem wachen Blick und seiner Kombinationsgabe vermutlich schon von meiner Computer-Tastatur ablesen können, sind dort doch die Ziffern-Tasten die schmutzigsten, weil der Staub auf ihnen ausreichend Gelegenheit findet, sich dauerhaft niederzulassen und festzusetzen. Schon zu Schulzeiten sprach mich Deutsch mehr an als Mathe – mit einer Ausnahme: Den Geometrie-Unterricht habe ich geliebt und war dort vorübergehend sogar Klassenbester. Aber sobald es darum ging, die euklidischen Dreiecksbeweise – nur mit Zirkel und Lineal! – in trigonometrische Zahlenverhältnisse umzusetzen und Kosinus und Tangens auf den Plan traten, war ich abgemeldet. Und dass ich es in meinem späteren Lehrberuf als Buchhändler überhaupt so weit gebracht habe, erscheint mir im Rückblick noch immer als ein kleines Wunder, da ich doch den rechnerischen Fächern wie Buchhaltung, Kalkulation oder Betriebswirtschaft so gar nichts abgewinnen konnte. Deshalb verbindet mich mit der Welt der Zahlen seit jeher eine innige Hassliebe. Aber auch solche „gemischten Gefühle” entwickeln ja oftmals staunenswerte Produktivkräfte, weshalb mich das hier vorgestellte Lexikon der Zahlen noch immer gelegentlich in seinen Bann zieht.

Die Zahlen also, von 0 bis 3↑↑3 usw. usw. Dies ist ein Nachschlagewerk der besonderen Art, schon allein durch die Anordnung seiner Artikel, die nicht, wie bei Wörterbüchern üblich, alphabetisch von A bis Z erfolgt, sondern numerisch aufsteigend. Was David Wells darin aus Hunderten von Büchern und Zeitschriften über ihre merkwürdigen und interessanten Eigenschaften zusammengetragen hat, kann selbst einen arithmetisch Minderbemittelten wie mich stets aufs Neue in Verzückung versetzen. Ob es sich nun um natürliche, ganze, irrationale, imaginäre oder hyperreelle Zahlen handelt – immer wieder stellt sich die spannende Frage, welche geheimen Gesetzmäßigkeiten diesem abstrakten Ordnungssystem zugrunde liegen. Und immer wieder bin ich erstaunt, auf wie viele Fragen der menschliche Geist bis heute noch keine Antwort gefunden hat und vielleicht (z. B. in Fragen der Primzahlenverteilung) niemals finden wird. Dies mag zu einem Teil daran liegen, dass uns der metaphysische Begriff der Unendlichkeit auf diesem Feld in so konkreter und streng logischer Gestalt begegnet, ohne uns auf diesem Wege seinem Verständnis wirklich näher zu bringen. Mir als ungeübtem Laien auf allen Gebieten der höheren Mathematik ist jedenfalls der Ausspruch des Mathematikers Leopold Kronecker (1823-91) sehr sympathisch, der bei einem Vortrag 1886 in Berlin gesagt hat: „Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.”

Wann immer ich dieses Buch aufschlage, entdecke ich in den unermesslichen Tiefen des Zahlen-Ozeans neue Wunder, die sich oft genug in ganz unscheinbare Sätze kleiden. So lese ich im Artikel unter 0,5 bzw. ½: „Es gibt zwölf Möglichkeiten, mit allen Zahlen zwischen 1 und 9 einen Bruch zu bilden, dessen Wert gerade gleich ½ ist.” (David Wells: Das Lexikon der Zahlen. A. d. Engl. v. Klaus Völkert. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1990, S. 25.) Warum aber, in drei Teufels Namen, sind es genau zwölf? „So ist es eben”, erwidert der gewöhnliche Faktenhuber, der keinen Blick hat für die Abgründe, die sich unter der Oberfläche des Selbstverständlichen, Allzuselbstverständlichen allenthalben auftun für jeden, der das naive Fragen des Kindes noch nicht ganz verlernt hat.

Auch Faktenhuber mögen an diesem Zahlen-Verzeichnis durchaus Gefallen finden. Sein eigentlicher Zauber jedoch erschließt sich vermutlich nur Menschen wie mir, die immer noch die Neunerreihe im kleinen Einmaleins durchbuchstabieren müssen, bis sie auf das Ergebnis 72 kommen. (72 ist übrigens die kleinste Zahl, deren fünfte Potenz sich als Summe von fünf fünften Potenzen schreiben lässt.)

Konfluenz

Tuesday, 04. November 2008

Für diesen Nonsens, der den imponierenden Namen Degree Confluence Project trägt, bedurfte es zweier geodätischer Errungenschaften der Neuzeit: erstens der Einführung eines verlässlichen Koordinatensystems aus Breiten- und Längengraden, das jedem Punkt auf dem Globus eine eindeutige, zweiteilige Zahl aus Grad, Minuten und Sekunden zuweist; und zweitens der technischen Entwicklung eines weltweit funktionierenden Messsystems mittels künstlicher Satelliten und erschwinglicher Empfangsgeräte der von ihnen ausgesandten Signale, das eine präzise, auf die Gradsekunde genaue Ortung ohne großen Aufwand und besondere Fähigkeiten erlaubt.

Die erste Voraussetzung war im Wesentlichen 1884 erfüllt, als sich der Null-Meridian durch Greenwich als willkürlich festgesetzte Bezugsgröße für die Längengrade gegen bis dahin konkurrierende Koordinaten durchsetzte. Nach der Inbetriebnahme des Global Positioning Systems (GPS), das im April 1995 seine volle Funktionsbereitschaft erreichte, sollte nur noch ein knappes Jahr vergehen, bis der Amerikaner Alex Jarrett das Degree Confluence Project aus der Taufe hob. Am 20. Februar 1996 begab er sich mit seinem Freund Peter Cline an den Schnittpunkt des 43. nördlichen Breiten- und des 72. westlichen Längengrads und hielt die Lokalität und das Ereignis dieser Eroberung in ein paar Fotos fest. Damit war der erste Konfluenzpunkt „im Kasten” und der Startschuss zu einem weltweiten Wettrennen abgefeuert, dessen Ende vorläufig noch in den Sternen steht.

Schließlich gibt es auf der Erdkugel exakt 64.442 Konfluenzpunkte, von denen 21.543 an Land, 38.409 auf Meeresflächen und 4.490 im Bereich der Polkappen liegen. Ein Konfluenzpunkt ist per definitionem der Schnittpunkt eines ganzzahligen Längen- und eines ebensolchen Breitengrades. Die Aufgabe, die sich den Teilnehmern an diesem Projekt stellt, lautet in wenigen Worten: „Suche einen bislang noch nicht dokumentierten Konfluenzpunkt auf, fotografiere von diesem Punkt aus in alle vier Himmelsrichtungen die umgebende Landschaft, stelle die Authentizität deiner Eroberung durch ein Foto von der Digitalanzeige deines GPS-Geräts unter Beweis und veröffentliche diese Fotos, wenn möglich ergänzt durch einen Erfahrungsbericht, im Internet.”

Dieser Einladung folgten in den vergangenen zwölf Jahren zahlreiche Konfluenzpunkt-Jäger in aller Welt. Mittlerweile kann man sich schon Umgebungsbilder von über 6.000 ganzzahligen Koordinaten-Schnittpunkten ansehen. Das auf den ersten Blick erstaunlichste Ergebnis einer solchen Weltbetrachtung ist, dass nur auf einer verschwindend kleinen Teilmenge dieser Bilder Spuren menschlicher Existenz auszumachen sind. So ist der erst vor zehn Tagen „eroberte” Punkt 32° N und 36° O in der Stadt Marka [siehe Titelbild, Blickrichtung gen Norden], nur wenige Kilometer von der jordanischen Hauptstadt Amman entfernt, eine seltene Ausnahme. Meist sieht man auf den Bildern nichts als unberührte Natur: Wald, Steppe, Wüste – und Wasser.

Bei der Betrachtung dieser vielen menschenlosen Bilder wurde mir so deutlich wie nie zuvor, dass wir an grenzenloser Selbstüberschätzung leiden. So gravierend uns selbst die Spuren erscheinen mögen, die wir in unserer gerade einmal 6.000 Jahre währenden Karriere als Spezies mit einem im Verhältnis zu unserem Körpergewicht beeindruckend schweren Gehirn auf der Oberfläche „unseres” Planeten hinterlassen haben, so marginal sind doch diese Zeichen unserer vorübergehenden Dominanz der belebten Natur auf Terra. Und so erteilt uns in unserer Hybris Befangenen dieses Nonsens-Projekt  nebenbei eine wertvolle Lektion. Wenn das nicht tröstlich ist …

[Einen früheren Blogbeitrag zum gleichen Thema veröffentlichte ich bei Westropolis, er ist dort Anfang 2011 der Komplettlöschung zum Opfer gefallen. Eine überarbeitete Fassung dieses Artikels findet der interessierte Leser hier.]