Archive for the ‘Nonsens’ Category

Schnupperwetter

Monday, 30. January 2012

Ein verbreitetes Kennzeichen des Genies ist, nach vielen kleinen Anekdoten in den Biographien genialer Menschen zu urteilen, die hartnäckige Hinterfragung von scheinbaren Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens. Die normalsterblichen Durchschnittsdenker geben sich damit zufrieden, dass etwas so ist wie es ist, weil es ja schließlich immer schon so war und weil es ihnen übrigens auch ganz egal ist, denn nichts würde sich scheinbar für sie ändern, wenn es anders wäre. In einer kleinen Serie will ich solche Beobachtungen unerklärlicher Phänomene hier beschreiben – nicht etwa, weil ich mich für ein Genie hielte, sondern allenfalls in der Hoffnung, dass das eine oder andere Genie unter meinen zukünftigen Lesern hierdurch vielleicht einen Gedankenanstoß erhalten könnte für eine geniale Entdeckung oder Erfindung. Heute teile ich meine Beobachtung mit, dass Lola bei Neuschnee wesentlich intensiver am Boden rumschnüffelt als gewöhnlich [s. Titelbild]. Dies erstaunt mich insofern, als ich doch immer davon ausgegangen bin, dass Kälte die Gerüche eher dämpft, in der Hitze des Sommers hingegen vielerlei zu faulen und zu stinken beginnt. Zudem hätte ich gedacht, dass die Schneedecke selbst, die ja schließlich aus nahezu geruchsfreiem Wasser besteht, etwaige Geruchsquellen abschließt und insofern für eine Hundenase eher unattraktiv ist. Doch tatsächlich scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Man komme mir nun nicht mit der Idee, Lola stupse ihre Nase bloß ins kalte Weiß, weil sie die Abkühlung so sehr schätze. Ich bin ganz nahe rangegangen und konnte eindeutig hören, dass sie schnuppert! – Nun bin sehr gespannt, ob in den nächsten Jahrzehnten irgendein Genie eine plausible Erklärung hierfür hat.

Zeilenschindereiverweigerung

Saturday, 02. July 2011

Der Antrieb zum Schreiben bleibt in der letzten Zeit immer häufiger weg. Dann sitze ich für eine unbestimmte Zeit an meinem Schreibtisch, schaue abwechselnd auf den weißen Monitor und knapp über ihn hinweg durchs Fenster auf die gegenüberliegende Hausfassade mit der Hausnummer 41, frage mich, ob ich nicht vielleicht mal wieder eine längere Schaffenspause einlegen sollte, wundere mich, dass ich mich gedanklich in eine solche Versuchung bringe, da ich doch weiß, wie leicht sich ein kleiner Schlendrian zu einer hartnäckigen Schreibhemmung auswachsen kann und zwinge mich zuletzt dazu, wenigstens über meine Schwierigkeiten zu schreiben, wenn ich sie schon nicht beheben, mir noch nicht einmal erklären kann.

Ernest Hemingway, der sich heute vor 50 Jahren den Gnadenschuss gab, musste dem Vernehmen nach bis zuletzt seine 700 Wörter täglich aufs Papier bringen, sonst konnte er nicht schlafen, ob mit oder ohne Alkohol. (Vgl. Willi Winkler: Das verriegelte Paradies; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 150 v. 2./3. Juli 2011, S. 17.) Das ist zufällig auch etwa mein Mittelmaß für meine täglichen Postings in diesem Blog. Möglicherweise bin ich Anfang Mai in eine Falle gegangen, als ich mir versprach, hier keinen Tag mehr auszulassen, koste es was es wolle. Möglicherweise habe ich damit meine Schreiberseele dem Teufel verkauft, der mich holt, wenn ich dieser Verabredung mit mir selbst auch nur ein einziges Mal untreu werde. Und wohin wird er mich dann verschleppen? In die Hölle der Sprachlosigkeit? Aber was ich früher nicht für möglich gehalten hätte, das beobachte ich seither doch mit einigem Erstaunen, dass nämlich sture Disziplin tatsächlich ein taugliches Mittel ist, der Kreativität Beine zu machen; und dass das Gerede von der unberechenbaren Inspiration, auf die man nur warten könne und die sich nicht erzwingen lasse, dummes Gewäsch ist von Leuten, die keine Ahnung haben oder bloß eine Ausrede für ihre Faulheit suchen.

Was freilich die Qualität des Geschreibsels betrifft, das auf diese erpresserische Weise zustande kommt, so mögen sie andere beurteilen, mir steht es nicht zu. Das hindert mich zwar nicht, eine Meinung davon zu haben, doch die ist sehr wechselhaft, was mir gelegentlich die Laune verdirbt. Ich glaube, ich wiederhole mich, indem ich bekenne, dass mir manche meiner älteren Beiträge in diesem Blog so sehr viel besser gefallen als die aktuellen. Gründe dafür weiß ich keine, tröste mich aber immerhin damit, dass es mir andersherum auch nicht gefiele, denn dann geriete ich vermutlich in die Versuchung, ältere Beiträge zu löschen.

Gelegentlich hadere ich mit den Grundgegebenheiten dieser Publikationsform „Weblog“: dass bloß die letzten sieben Artikel ohne Umstände sichtbar sind, und nur der allerneueste auf Anhieb. Und selbst den kann der Leser nur bis zu Ende lesen, wenn er abwärts scrollt, das heißt: die Bildschirmdarstellung gleitend verschiebt. Für die übrigen 860 Artikel muss er Schritt für Schritt auf „Ältere Einträge“ klicken. Ein mühsames Geschäft! Wer macht das schon? Zwar kann er sich thematisch verwandte Artikel durch einen Klick auf die passende Kategorie zusammenstellen. Aber ich bin da ganz der nüchterne Skeptiker: Das große, noch immer im Wachsen begriffene „Gesamtwerk“ meiner Blog-Artikel nimmt kein Mensch zur Kenntnis. Vielleicht gibt es eine winzig kleine Schar von treuen Lesern, die von Anfang an einigermaßen regelmäßig bzw. gelegentlich immer mal wieder hier vorbeischauen; aber dann wohl hauptsächlich, weil sie mich persönlich aus dem „realen Leben“ kennen. Von einer echten literarischen Wirkung über diesen engen Bekanntenkreis und über den Tag hinaus kann jedenfalls sicher keine Rede sein. Und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern, dann ich habe nicht vor, meine Lieferungen auf die Kundenwünsche auszurichten, wie ich es in meiner Zeit bei Westropolis vorübergehend getan habe.

(Bis hierher waren es genau 600 Wörter. Doch es wäre ja wohl gelacht, wenn ich das letzte Siebtel zum vollen Hemingway-Pensum nicht auch noch hinbekäme! Dabei soll mein Kopf- und Handwerk aber keinesfalls zur plumpen Zeilenschinderei ausarten. Mein Ehrgeiz zwingt mich vielmehr dazu, die verbleibende Zeit meines Lesers so sinnvoll wie eben möglich zu nutzen. Er soll den Eindruck mitnehmen, es habe sich gelohnt, auch diesen letzten, fünften Absatz zu lesen; und das, obwohl er doch in Klammern steht und daher der Verdacht nahelag, dass er nicht ganz so wichtig wäre wie die vorangegangenen vier. – Jetzt fehlen mir die Worte!)

Und heute: das Wetter!

Sunday, 05. June 2011

Fast in jedem 23sten meiner bisherigen Artikel dieses Weblogs kommt das Wetter vor. Und das sind bloß die Präsenzen expressis verbis. Wenn ich noch die Postings zählen wollte, bei denen meine Stimmung indirekt durch das Wetter eingetrübt wurde, dann käme ich vielleicht gar auf fünfzig Prozent!

Nicht, dass man mich falsch versteht: Ich bin keineswegs wetterfühlig. Zwar habe ich gelegentlich vor aufziehenden Gewittern gegen Migräneattacken zu kämpfen, aber die können ebensogut durch den Geruch von faulen Kartoffeln, Schlagermusik, Karnevalsjecken, erzwungenes Beisammensein mit langweiligen Menschen und noch tausenderlei andere Umstände mehr verursacht werden.

Was mich je nach Tagesform belustigt oder in Rage versetzt, das ist keineswegs das unschuldige Wetter selbst. Das arme Wetter kann ja schließlich nichts dafür, dass es so ist wie es gerade nun mal ist. Vielmehr ist ’s das öffentliche Gerede meiner Mitmenschen über das Wetter, dass mich zuverlässig jedesmal aus dem Gleichgewicht bringt, wenn ich zum unfreiwilligen Ohrenzeuge dieser Jammerarien werde. Insofern ahne ich schon, was in den kommenden Tagen auf mich zukommt.

Ende Mai waren die Warnungen der Meterologen nicht mehr zu überhören: Deutschland sei nach einem relativ harten Winter und einem außergewöhnlich trockenen Frühjahr einer echten Dürregefahr ausgesetzt, die nicht nur der Landwirtschaft schwerste Schäden zufügen, sondern sogar das Wasser zum Kühlen der Kernkraftwerke knapp werden lassen könnte.

Nun könnten wir seit ein paar Tagen eigentlich aufatmen, denn für die kommende Woche werden für weite Teile Deutschlands Gewitter mit ergiebigen Niederschlägen vorausgesagt, die hoffentlich für die ausgedörrten Böden mehr bringen werden als den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein. Ich weiß aber jetzt schon, dass gleichzeitig mit den ersten Regentropfen, die vom Himmel fallen, das große Lamentieren unter den Schirmen wieder anheben wird, was das den für ein Sommer sei? Dieses Wetter könne einen ja geradezu schwermütig werden lassen. Jetzt sei es mal ein paar Tage sonnig gewesen – und nun das! Was sich der Petrus wohl dabei wieder gedacht habe? (Diese Ignoranz gilt mir als weitere Bestätigung für meine alte Überzeugung, dass die tagesaktuelle Informationsflut aus Medien wie Radio oder Fernsehen keineswegs geeignet ist, bei den Empfängern eine halbwegs vernünftige, reflektierte Einstellung zu den schlichtesten Zusammenhängen ihres alltäglichen Lebens zu fördern. Durch die tägliche Dauerflutung des Bewusstseins mit Fakten, Fakten, Fakten geht jedes Denken in Zusammmenhängen und über den Tag hinaus den Bach runter.)

[Regenzeichnung: Revierflaneur.]

Pizzaraten

Saturday, 11. April 2009

Wenn uns wieder mal zu später Stunde die letzte Straßenbahn Linie 6 Richtung Pestalozziplatz vor der Nase weggefahren war, vertrieben wir uns die Zeit bis zum Eintreffen der ersten Bahn am nächsten Morgen mit Ratespielen.

Solange die Straßenbeleuchtung noch ein fahles Licht spendete, spielten wir „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.” Oder blau, grün, gelb. Das war dann die Zipfelmütze des Weihnachtsmannes auf einem Werbeplakat für die Aidshilfe undsoweiter.

Ab drei Uhr brannte nur noch eine Lampe über dem Fahrplan des Wartehäuschens. Ihr Lichtkegel erhellte gewöhnlich einen großen Flatschen Erbrochenes, denn ganz in der Nähe befand sich die Pizzeria Marianna, die für ihre verdorbenen Zutaten bekannt war, weshalb sie von uns und allen regelmäßigen Besuchern dieses Kiezes strikt gemieden wurde, nicht so hingegen von arglosen Durchreisenden, die es nach Verzehr einer Pizza in aller Regel gerade noch bis zur Haltestelle schafften, wo sie dann undsoweiter.

Herbie war beim Pizzaraten unübertroffen. Wenn Wuzz und ich wie aus einem Munde auf Pizza Toscana tippten, weil wir einen öligen Schinkenstreifen und drei halbe Champignons erspäht hatten, korrigierte Herbie hämisch: „Von wegen! Was ist denn das da? Eine Krabbe. Und das? Scheibsken Salami. Capricciosa, Capricciosa!”

Erdreistete man sich, die Zuverlässigkeit seines Auges in Zweifel zu ziehen, war Herbie durchaus imstande, einem die Beweismittel handgreiflich nahezubringen. So gewann Herbie immer. Vielleicht lag es daran, dass Pizzaraten im Jahr drauf von Autoquartett abgelöst wurde.

Protected: Titelromane

Sunday, 05. April 2009

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Glücklos (II)

Thursday, 12. March 2009

So was kommt dabei heraus, wenn man einen ehemaligen Kulturstaatssekretär damit beauftragt, den Interviewer zu spielen. Dabei sollte doch eigentlich eine renommierte Wochenzeitung wie die ZEIT wissen, dass die Kunst des Interviewens kein hemdsärmelig zu bewerkstelligendes Nebengeschäft für jeden hergelaufenen Politiker und Schreiberling ist, mag er es zu noch so großer Prominenz und Macht gebracht haben.

Da stellt dieser Michael Naumann tatsächlich und ungelogen die dümmste und hohlste aller Interviewer-Fragen – und zwar keinem Geringeren als Philip Roth, dem von ihm hoch favorisierten Nobelpreis-Kandidaten: „Sind Sie glücklich, Mr. Roth?” (Wer es nicht glauben mag, kann es hier nachlesen: Die Zeit der neuen Ernsthaftigkeit. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth über das Alter, den Antiamerikanismus und sein Leben in den Büchern; in: Die Zeit Nr. 6 v. 29. Januar 2009, S. 48.)

Und was antwortet Mr. Roth? „Ich frage mich nicht, wer oder was ich bin. Ich bin derjenige, der an diesen und mit diesen Büchern arbeitet. Schreiben ist nicht identisch mit Selbstfindung. Es gleicht mehr der Arbeit an einem Objekt, das aus Charakteren, Handlungen und Wörtern gemacht ist. Ich arbeite die ganze Zeit.” Das antwortet Mr. Roth nicht etwa auf Fragen danach, was er sich selbst fragt oder wer er ist oder was das Schreiben für ihn bedeutet oder was er die ganze Zeit über tut, wenngleich jede einzelne dieser Fragen längst nicht so bescheuert gewesen wäre wie die von Herrn Naumann gestellte. Entweder hat Mr. Roth gar nicht gehört bzw. verstanden, was Herr Naumann von ihm wissen wollte; oder dessen Frage hat ihn dermaßen perplex gemacht, dass er daraufhin nur noch völligen Unsinn zum Besten geben konnte.

Doch Herr Naumann lässt nicht locker. „ZEIT: Aber sind Sie glücklich? ROTH: Das frage ich mich niemals. ZEIT: Warum nicht? ROTH: Weil es mich nicht interessiert. Ich frage mich nur: Geht es voran mit der Arbeit? Und wenn ich an einem Buch sitze, bin ich lebendig. Ich wache morgens auf und will sofort an die Arbeit. Die schlimmste Zeit ist diejenige zwischen zwei Büchern. Dann weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich gehe in drei Museen, und dann ist das erledigt. Aber was soll ich mit meiner Zeit anfangen? Ich bin einfach zum Schreiben da, und wenn ich nicht schreibe, komme ich mir vor wie ein Wagen, dessen Räder im Schnee durchdrehen.”

Jetzt wissen wir’s. Es wäre keine gute Idee, den Nobelpreis für Literatur an Mr. Philip Roth zu vergeben, denn damit würde man ihn kaum glücklich machen. Und selbst wenn man ihn glücklich machte, würde er dies vermutlich gar nicht merken, denn er fragt sich nach eigenem Bekenntnis ja niemals, ob er glücklich ist. Es interessiert ihn nicht. Und die Reise nach Stockholm würde ihn nur von der einzigen Beschäftigung abhalten, die ihn wirklich interessiert. Insofern ist es natürlich kompletter Humbug, wenn man in einem nicht namentlich gezeichneten Intro zu dem ZEIT-Interview (S. 47) liest: „Wahrscheinlich ist kein Schriftsteller so oft als Kandidat für den Nobelpreis genannt worden – eine jährliche Folter, die er wahrlich nicht verdient hat. Die Schwedische Akademie sollte sie durch eine rasche Vergabe beenden.” Da steht tatsächlich „Folter”. Ich fasse es nicht.

Glücklos (I)

Sunday, 08. March 2009

Im Januar dieses Jahres gab der US-amerikanische Romancier Philip Roth (74) dem deutschen Verleger und ehemaligen Kulturstaatsminister Michael Naumann (66) ein Interview. Äußerer Anlass des Gesprächs war das Erscheinen der deutschen Übersetzung von Roths dreiundzwanzigstem Roman, Indignation, unter dem Titel Empörung. Philip Roth ist somit ein für heutige Verhältnisse emsiger Autor. Zum Lesen kommt er nebenher offenbar kaum. „Sie schreiben sehr schnell,” meint Naumann. „Thomas Pynchon schreibt so langsam, weil er sich von seinen erdichteten Charakteren nicht trennen mag.” Mal abgesehen davon, dass Pynchon vermutlich zwanzig- oder fünfzigmal so schnell schreibt wie Roth, wenn man nämlich unterm Akt des Schreibens mehr versteht als das bloße Zu-Papier-Bringen einer Geschichte, ist die Erklärung, die Naumann für diese angebliche Langsamkeit von Pynchons Arbeit findet, vollkommener Humbug. Roth kann ihm nicht widersprechen, denn er kennt Pynchon offenkundig nicht. So fragt er Naumann über Pynchon aus, der ihn aber auch nicht kennt, sondern nur so tut als ob.

Naumann erzählt Roth noch etwas, das der nicht weiß: Im Oktober vorigen Jahres habe Horace Engdahl (60), Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, die die Nobelpreise verleiht, sich abfällig über die amerikanischen Schriftsteller geäußert. Sie seien zu empfänglich für die Trends ihrer eigenen Massenkultur, worunter die Qualität ihrer Werke leide. Daraus zieht Michael Naumann den Schluss, weder Thomas Pynchon (70) noch Don DeLillo (71), weder Paul Auster (60) noch Richard Ford (63), weder John Updike (75, inzwischen verstorben) noch sein Gegenüber habe damit wohl noch eine Chance, den Nobelpreis für Literatur zugesprochen zu bekommen. Solche Spekulationen finde ich immer ausgesprochen langweilig, wie ja dieser bestdotierte Literaturpreis der Welt ohnehin an Ödnis kaum mehr zu überbieten ist. Statt Naumanns kleine Stichelei im Gewande einer peinlichen Anbiederung mit einem Achselzucken zu quittieren, oder noch besser mit einem unendlich langgezogenen Gähnen, geht Philip Roth hier tatsächlich an die Decke wie das HB-Männchen seligen Angedenkens:

„ROTH: Also, das hat er [Horace Engdahl] nicht gesagt. ZEIT: Doch, doch. ROTH: Aber warum? ZEIT: Vielleicht hat er einen antiamerikanischen Vogel? ROTH: Jeder, der irgendetwas von Literatur versteht, weiß, dass die amerikanische Literatur seit 1945 von dauerhafter, ja größter Stärke ist. Ich könnte mindestens 12, nein 15 amerikanische Autoren nennen … Also, nein, das kann er nicht gesagt haben. ZEIT: Hat er. Aber was weiß er?” (Michael Naumann: Die Zeit der neuen Ernsthaftigkeit. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth über das Alter, den Antiamerikanismus und sein Leben in den Büchern; in: Die Zeit Nr. 6 v. 29. Januar 2009, S. 47 f.) Es scheint ihm also tatsächlich etwas zu bedeuten, diesen Preis noch entgegenzunehmen. Nun könnte man zu Roths Gunsten vermuten, dass er bloß auf das Preisgeld in Höhe von 10 Millionen schwedischen Kronen scharf ist, das sind umgerechnet immerhin 1.086.650 US-$. Aber das ist es nicht.

Lieber Philip Roth! Jeder, der irgendetwas von Literatur versteht, weiß, dass die Vergabe des Nobelpreises noch niemals etwas über die Schönheit, Stärke, Sinnlichkeit, Originalität und formale Gediegenheit eines literarischen Werkes ausgesagt hat. Von Paul Heyse bis Harold Pinter ist die Liste der Preisträger ein Verzeichnis von Sternen zweiter bis dritter Ordnung. Marcel Proust, James Joyce, Franz Kafka, Robert Musil, Fernando Pessoa, Vladimir Nabokov, Jorge Luis Borges – sie alle sucht man vergeblich auf dieser Liste.

Das erste Buch von Philip Roth, das ich gelesen gelesen habe, war Portnoys Beschwerden. Das fischte ich als rororo-Bändchen aus einer Trödelkiste in Werden, Mitte der 1980er-Jahre. Ich habe mich streckenweise köstlich amüsiert über die Unbefangenheit, mit der er hier pubertäre Wettbewerbe – „Wer spritzt am weitesten?” – und familiäre Bräuche karikiert. In weiteren zehn Romanen von Roth war ich vermutlich auf der Suche nach etwas, das sich diesem unschuldigen ersten Leseerlebnis vergleichen ließe. Leider ohne Erfolg. Je älter Philip Roth wurde, desto „bedeutungsvoller” wurden seine Romane. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Man kann diese vielen Bücher gut lesen, sie sind unterhaltsam, abwechslungsreich, amüsant, zynisch und manches mehr. Aber zu den ganz Großen gesellt sich Philip Roth damit sicher nicht. Und insofern sollte es mich nicht wundern, wenn er in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhielte, zumal der alte Schwede mit dem antiamerikanischen Vogel sein Amt zum 1. Juni 2009 an den Historiker Peter Englund (50) weitergeben wird.

[Es wird noch schlimmer: Fortsetzung folgt!]

Windschief

Monday, 23. February 2009

Neulich sah ich wieder mal Buster Keatons Kurzfilm One Week von 1920. Mir fällt zu dem Häuschen, das der handwerklich unbegabte Bräutigam seiner Braut errichtet, stets das Oxymoron vom “genialen Dilettanten” ein.

Komischer Zufall, dass 1981 beim Festival Genialer Dilletanten im Berliner Tempodrom auch Blixa Bargeld und seine Einstürzenden Neubauten auftraten, die sich seit dem Einsturz der Kongresshalle so nannten.

Dieses Gebäude hieß bekanntlich im Volksmund “Schwangere Auster”. Am Tag, als ich zum ersten Mal Vater geworden war, verließ ich den Kreißsaal und kaufte eine Zeitung. Auf der Titelseite wurde der Einsturz der “Schwangeren Auster” gemeldet.

Franz Schuh stellt die unfreiwillige Komik des Ungeschickten in den schiefen Rahmen eines Lobs der Nutzlosigkeit: “In einem Film baut Buster Keaton ein Haus für sich und die frisch Angetraute. Die Komik beim Hausbauen mag daran erinnern, daß es nicht immer leicht ist, ein Heim zu errichten, in dem man – auf der Grundlage des einander gegebenen Ja-Wortes – bis auf weiteres geborgen west. Man macht einen Plan, und für den Zuschauer ist es lustig, wenn er auf spektakuläre Art nicht funktioniert – auch weil in Keatons Film ein Feind dazwischengefunkt hat. Der Feind trägt den schönen Namen: Rivale. Der Rivale hat die Bestandteile des Hauses umnumeriert – Keaton wird zum freien Architekten jenseits seiner eigenen Pläne. Er baut ein in alle Richtungen hin windschiefes Haus.” (Franz Schuh: Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2006, S. 85.)

Mein Weblog ist auch ohne dazwischenfunkende, umnummerierende Rivalen durcheinander, windschief, schwanger. Ob’s dilettantisch ist? Ob’s genial ist? Ich selbst wohne ganz gemütlich drin, bald schon ein Jahr. Wenn Gäste kommen, zeige ich auf das Schild neben der Haustür: “Betreten auf eigene Gefahr!”

Protected: Steckertier

Friday, 26. December 2008

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Schreibzwang (I)

Thursday, 20. November 2008

Das Phänomen ist bekannt und wird hie und da in Weblogs beschrieben: Nach einem hoffnungsvollen Start mit befriedigenden Ergebnissen stellt sich plötzlich völlige Leere ein. Der Blogger schaut ratlos aufs leere weiße „Blatt” auf seinem Monitor und sucht krampfhaft nach einem Thema. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wo ist nur die Inspiration geblieben, die in den vergangenen Wochen und Monaten in zuverlässiger Regelmäßigkeit für die konkreten Anlässe zum Schreiben sorgte?  Soll ich tatsächlich heute über die Nominierung von Johannes Bultmann als Kaufmann-Nachfolger in der Intendantur der Essener Philharmonie schreiben?  Und wo bleibt der notwendige Drive, daraus einen lesbaren Text zu zaubern?

Die meisten Kolleginnen und Kollegen überwinden diese Schrecksekunde sehr bald und fahren achselzuckend ihren Rechner runter. Ganz cool bleiben! Ein paar Tage später fällt ihnen dann wieder was ein, worüber sie schreiben können. Sie haben den heldenhaften Mut zur Lücke, schließlich zwingt sie kein Mensch, täglich ihre Geistesprodukte im Internet abzuliefern. Oft lässt sich in der Folge eines solchen ersten Zugeständnisses an den inneren Schweinehund beobachten, dass die Lücken immer größer werden, bis der Elan der frühen Tage völlig versiegt ist. Ich habe schon Weblogs entdeckt, deren jüngstes Posting bereits ein paar Jährchen auf dem Buckel hat.

Die diszipliniertere Minorität scheut die Unterbrechung wie der Teufel das Weihwasser und wringt sich an schwachen Tagen lieber irgendeinen unausgegorenen Stuss aus dem ermatteten Hirn, notfalls eine Meditation über die Schreibblockade selbst. Für diese zum täglichen Schreiben verdammten Blogger ist das ursprünglich so unschuldige Vergnügen zur Sucht geworden, sie leiden unter Schreibzwang. Ein Tag ohne Blogbeitrag ist für sie ein verlorener Tag. Ich gehöre offenbar zu dieser zweiten Sorte.

Aber machen wir uns nichts vor: Diese Symptome und Syndrome sind ja nicht erst im Webspace entstanden. (Allenfalls sind sie hier unmittelbarer zu diagnostizieren.) Die bekanntesten Beispiele für eine akute, dann chronisch werdende Schreibhemmung aus der neueren deutschen Literaturgeschichte, Wolfgang Koeppen und Uwe Johnson, will ich nicht aufwärmen, von Hölderlin und Nietzsche ganz zu schweigen. Stattdessen serviere ich ein Zitat von einem unverdientermaßen nahezu vergessenen Zwangsschreiber, dem gebürtigen Essener und ungebärdigen Kiffer Helmut Salzinger [Titelbild, mit Fernglas im Kreis seiner Freunde, 1986]:

„Ein Joint. Zeitweise habe ich einen fürchterlichen Produktionsdruck, aber nichts zu produzieren. Es fällt mir einfach nichts ein und rein, das ich sagen wollte, raus. Also muß ein Joint her, ders lockert. – Es ist die Zwanghaftigkeit, was mich daran stört. Nicht bloß am Joint. Auch am Produzieren. […] Das gewonnene Terrain ist längst wieder verloren. Daß ich in meinem Geschriebenen alles, mich ganz, geben müsse, diese Anstrengung übersteigt alles. Daneben bleibt nichts. Ich kann nicht mehr im Garten arbeiten, keine Wanderungen machen, wenn ich darüber schreiben will, auch das krieg ich nicht mehr hin. – Als es nicht ums schreiben ging, da konnte ich machen, was mir einfiel, und sei es schreiben, und konnte es tun. – Jetzt ist mir da wieder ein regelrechter Leistungszwang angewachsen.” (Helmut Salzinger: Nackter Wahnsinn. Die Wirklichkeit und die Suche nach ihr zwischen Konsens und Nonsens. Hamburg: Verlag Michael Kellner, 1984, S. 154.) Das Schreiben ist, wenn es mit Ernst betrieben wird, ein lebensgefährlicher Beruf.

Konfluenz

Tuesday, 04. November 2008

Für diesen Nonsens, der den imponierenden Namen Degree Confluence Project trägt, bedurfte es zweier geodätischer Errungenschaften der Neuzeit: erstens der Einführung eines verlässlichen Koordinatensystems aus Breiten- und Längengraden, das jedem Punkt auf dem Globus eine eindeutige, zweiteilige Zahl aus Grad, Minuten und Sekunden zuweist; und zweitens der technischen Entwicklung eines weltweit funktionierenden Messsystems mittels künstlicher Satelliten und erschwinglicher Empfangsgeräte der von ihnen ausgesandten Signale, das eine präzise, auf die Gradsekunde genaue Ortung ohne großen Aufwand und besondere Fähigkeiten erlaubt.

Die erste Voraussetzung war im Wesentlichen 1884 erfüllt, als sich der Null-Meridian durch Greenwich als willkürlich festgesetzte Bezugsgröße für die Längengrade gegen bis dahin konkurrierende Koordinaten durchsetzte. Nach der Inbetriebnahme des Global Positioning Systems (GPS), das im April 1995 seine volle Funktionsbereitschaft erreichte, sollte nur noch ein knappes Jahr vergehen, bis der Amerikaner Alex Jarrett das Degree Confluence Project aus der Taufe hob. Am 20. Februar 1996 begab er sich mit seinem Freund Peter Cline an den Schnittpunkt des 43. nördlichen Breiten- und des 72. westlichen Längengrads und hielt die Lokalität und das Ereignis dieser Eroberung in ein paar Fotos fest. Damit war der erste Konfluenzpunkt „im Kasten” und der Startschuss zu einem weltweiten Wettrennen abgefeuert, dessen Ende vorläufig noch in den Sternen steht.

Schließlich gibt es auf der Erdkugel exakt 64.442 Konfluenzpunkte, von denen 21.543 an Land, 38.409 auf Meeresflächen und 4.490 im Bereich der Polkappen liegen. Ein Konfluenzpunkt ist per definitionem der Schnittpunkt eines ganzzahligen Längen- und eines ebensolchen Breitengrades. Die Aufgabe, die sich den Teilnehmern an diesem Projekt stellt, lautet in wenigen Worten: „Suche einen bislang noch nicht dokumentierten Konfluenzpunkt auf, fotografiere von diesem Punkt aus in alle vier Himmelsrichtungen die umgebende Landschaft, stelle die Authentizität deiner Eroberung durch ein Foto von der Digitalanzeige deines GPS-Geräts unter Beweis und veröffentliche diese Fotos, wenn möglich ergänzt durch einen Erfahrungsbericht, im Internet.”

Dieser Einladung folgten in den vergangenen zwölf Jahren zahlreiche Konfluenzpunkt-Jäger in aller Welt. Mittlerweile kann man sich schon Umgebungsbilder von über 6.000 ganzzahligen Koordinaten-Schnittpunkten ansehen. Das auf den ersten Blick erstaunlichste Ergebnis einer solchen Weltbetrachtung ist, dass nur auf einer verschwindend kleinen Teilmenge dieser Bilder Spuren menschlicher Existenz auszumachen sind. So ist der erst vor zehn Tagen „eroberte” Punkt 32° N und 36° O in der Stadt Marka [siehe Titelbild, Blickrichtung gen Norden], nur wenige Kilometer von der jordanischen Hauptstadt Amman entfernt, eine seltene Ausnahme. Meist sieht man auf den Bildern nichts als unberührte Natur: Wald, Steppe, Wüste – und Wasser.

Bei der Betrachtung dieser vielen menschenlosen Bilder wurde mir so deutlich wie nie zuvor, dass wir an grenzenloser Selbstüberschätzung leiden. So gravierend uns selbst die Spuren erscheinen mögen, die wir in unserer gerade einmal 6.000 Jahre währenden Karriere als Spezies mit einem im Verhältnis zu unserem Körpergewicht beeindruckend schweren Gehirn auf der Oberfläche „unseres” Planeten hinterlassen haben, so marginal sind doch diese Zeichen unserer vorübergehenden Dominanz der belebten Natur auf Terra. Und so erteilt uns in unserer Hybris Befangenen dieses Nonsens-Projekt  nebenbei eine wertvolle Lektion. Wenn das nicht tröstlich ist …

[Einen früheren Blogbeitrag zum gleichen Thema veröffentlichte ich bei Westropolis, er ist dort Anfang 2011 der Komplettlöschung zum Opfer gefallen. Eine überarbeitete Fassung dieses Artikels findet der interessierte Leser hier.]

Titelpuzzle

Wednesday, 22. October 2008

In den englischsprachigen Weblogs gibt es seit einiger Zeit eine neue Denksportaufgabe für Vielleser: „Stelle ein paar Bücher aus deinem Regal so zusammen, dass sich die Rückentitel als ein (mehr oder weniger) sinnvoller Satz lesen lassen!” Ergebnisse des müßigen Titel-Scrabbelns kann man sich hier und hier und hier ansehen.

Ich verdanke den Hinweis auf diese Entspannungsübung für überstrapazierte Intellektuelle, dessen Grundgedanke einer Kurzgeschichte des blinden Bibliothekars von Buenos Aires entsprungen sein könnte, der deutschen Bloggerin Anke Gröner. (Und hier der erste Nachahmer.)

Auf der Suche nach einem lesenswerten Filmkritik-Weblog – ein unlesbares hatte mich lange genug geärgert – bin ich schließlich bei ihr gelandet und dort schnell heimisch geworden.

Dort findet man – neben den einerseits ganz subjektiv urteilenden, andererseits aber in gutem, fast fehlerfreiem Deutsch abgefassten und somit störungsfrei lesbaren Filmbesprechungen – auch mancherlei anderes, was das Herz hüpfen und den Kopf nicken lässt. Der lesens- und bedenkenswerte Artikel von Stefan Niggemeier (zu dem ich sonst ein eher ambivalentes Verhältnis habe), über die verbreitete Gleichgültigkeit der Blogger, was die sprachliche Qualität ihrer Geisteskinder betrifft – dieser Artikel wäre mir ohne Anke Gröners Hinweis vermutlich entgangen.

Danke, Anke! (Ein solcher Kalauer muss in diesem Zusammenhang erlaubt sein, da der heutige Würfelwurf doch puren Nonsens zum Anlass nimmt.)