Archive for the ‘Memento’ Category

Alles gerät in Schieflage

Monday, 05. March 2012

Auch Herrndorfs work in progress zieht mich in letzter Zeit nur noch runter. Seine schubweisen Publikationen lassen nach meinem Gefühl immer länger auf sich warten und werden zugleich immer dünner, quantitativ und leider auch qualitativ. Ich hoffe, dass der Blogger H. das nicht liest. Sollte er sich dennoch hierher verirren, dann möchte ich ihm sagen, dass diese Anmerkung nicht als Kritik gemeint ist. Man kann nicht jemandes literarische Produktion unbefangen kritisieren, der in einer solchen Verfassung lebt. Dass es gegen Sand, diesen mindestens problematischen Roman, bisher keine ernst zu nehmenden Verrisse gab, ist schon verdächtig. Am Sonntag vor acht Tagen hörte ich nun eine geradezu hymnische Besprechung seines letzten Romans von Simone Hamm bei wdr3, die alle vorangegangenen an Lob weit übertrifft. Dass Hamm dabei, vielleicht als einzige unter ihren Kolleginnen und Kollegen, den gesundheitlichen Zustand des Autors nicht erwähnt, verstärkt bei mir noch den Eindruck, dass ihre Hymne zuvörderst mit Berechnung auf Wolfgang Herrndorf als Zuhörer geschrieben und gesprochen ist, erst in zweiter Linie für uns Radiohörer. Schlimm auch, dass er die Missverständnisse der Kritiker in einer Art ,Hitliste der Ignoranz‘ erfasst: „Michalzik entreißt Hünniger die Krone, Willmann nur noch unter ferner liefen.“ Als wollte er sich darüber beschweren, dass Leser nicht mit dem Notizblock neben dem Buch alle Namen, Orte und Ereignisse in Listen erfassen, um für alle losen Fäden die zugehörige Verknüpfung zu registrieren. Träumt der Autor etwa davon, dass ihm zu Ehren posthum ein Wolfgang-Herrndorf-Dechiffriersyndikat aus der Taufe gehoben wird? Das klingt makaber, ich weiß. Insofern müsste es Herrndorf ja eigentlich gefallen. Oder er legt mich in sein Säurebad Arbeit und Struktur. Was könnte ich dagegen sagen? Niemand kann ihm schließlich irgendwas ernsthaft verübeln. Das muss schrecklich sein, ein Schrecken mehr zu all den Schrecken.

Noch ein paar Autotote

Monday, 20. February 2012

Von der immer breiter werdenden Blutspur der Automobilisierung seit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts habe ich hier immer wieder einmal die eine oder andere Probe aufgenommen, nicht ganz ohne Hintergedanken. Ich will in einer irgendwann zu komponierenden Zusammenschau solcher Zeugnisse nachvollziehbar machen, wie die Ungeheuerlichkeit dieses Mordens im Laufe der Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Alltäglichkeit wird, die bloß noch im farblosen Spiegel der Statistik ihr Abbild findet. Gestern fand ich dieses erschütternde Beispiel in Kesslers Tagebuch: „Paris, 15. September 1927. Donnerstag – Die unglückliche Isadora Duncan ist gestern abend im Auto von ihrem eigenen Shawl, der sich in ein Hinterrad verwickelt hatte, erdrosselt worden. Ein tragisch-schicksalhafter Tod: der Shawl, der im Tanz ein so wesentlicher Teil ihrer Kunst war, hat ihr den Tod bereitet. Ihr Requisit und Sklave hat sich an ihr gerächt. Selten ist eine Künstlerin so tragisch umwittert gewesen und so aus ihrem eigensten Lebensschicksal heraus tragisch geendet: ihre beiden kleinen Kinder in einer Autokatastrophe umgekommen, ihr Mann, Jessenin, durch Selbstmord geendet, sie selbst jetzt in dieser Weise durch ihr eigenes Requisit, fast wie aus Rache, umgebracht.“ (Harry Graf Kessler: Tagebücher. 1918-1937. Hrsg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1961, S. 537.) Dieses Unglück trug sich in Nizza zu. Deirdre und Patrick, die beiden kleinen Kinder der Tänzerin, waren bereits 1913 durch eine Nachlässigkeit von Duncans Chauffeur ums Leben gekommen. Weil der Motor versagte, stieg er aus, um nach dem Rechten zu sehen, vergaß jedoch, die Handbremse anzuziehen. Das Automobil kam ins Rollen und stürzte in die Seine, die Kinder samt Kindermädchen ertranken.

Motortode

Thursday, 02. February 2012

Kann es sein, dass kreative Menschen häufiger durch Verkehrsunfälle zu Tode kommen als andere? Gerade in der letzten Zeit häufen sich in meiner Wahrnehmung wieder solche Fälle. Vielleicht ist es aber bloß so, dass generell der Tod auf der Straße oder hinterm Steuer öfter vorkommt, als man meint. Bei der Aufnahme meiner zum Verkauf bestimmten Bibliothek-Suhrkamp-Bändchen kommt mir Das Pesthaus unter die Finger, jener schwermütige Roman über Sterben und Tod in einem Sanatorium bei Palermo aus dem Jahr 1981. Am 14. Juni 1996 kam sein Autor, Gesualdo Bufalino, in der Nähe seines Heimatorts Comiso bei einem Autounfall ums Leben. (Es ist übrigens typisch, dass es mir jetzt nicht ohne Umstände gelingen will, die spezielle Art dieses Todes in Erfahrung zu bringen? Wurde Bufalino als Fußgänger zum Opfer eines Automobils – oder saß er selbst am Steuer und hat somit seinen Tod immerhin mitverschuldet? Das ist doch schließlich nicht vollkommen gleichgültig. Denn für mich ist das Automobil immer auch eine tödliche Waffe; und wer es bedient, wird damit jedenfalls leichter zum Mörder oder mindestens zum Totschläger, als jemand, der sich harmlos auf seinen eigenen zwei Beinen durch die Landschaft bewegt.) – Heute sah ich trotz der früher erwähnten Vorbehalte doch einmal wieder einen Spielfilm, Die Ewigkeit und ein Tag von Theodoros Angelopoulos. Er zeigt uns in heute unüblich gewordener Langsamkeit den letzten Tag des an Krebs erkrankten Schriftstellers Alexandros, dargestellt von Bruno Ganz. Es ist der Tag eines großen Abschieds, denn morgen soll Alexandros sich zum Sterben in eine Klinik begeben. Nachdem er bei seiner Tochter und deren unsäglich gefühllosem Mann keinen Schutz gefunden hat, klammert er sich an einen kleinen albanischen Jungen, den er vor Menschenhändlern in Sicherheit bringt, um ihm die Rückkehr in seine Heimat zu ermöglichen. Meist aber zeigt der Film Erinnerungsbilder des Sterbenden an die Menschen, die in seinem Leben wichtig für ihn waren und ihn doch irgendwann im Stich gelassen haben: seine Frau, seine Mutter, seine Freunde. Auch ein großer Hund spielt eine Rolle, als das einzige Lebewesen neben dem Jungen und einer treuen Haushälterin, für das es sich scheinbar gelohnt hat, zu lieben und zu sorgen. Sein letztes Werk, die Übersetzung eines großen Gedichtes, muss unvollendet bleiben. [Nachtrag: Zwei Tage später erfahre ich den Anlass, warum dieser Film von 1998 ins Programm genommen wurde. Am 24. Januar starb Angelopoulos in einem Krankenhaus in Neo Faliro bei Piräus an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Er hatte sich dort bei Dreharbeiten zu seinem Filmprojekt Das andere Meer befunden, als ihn ein Motorradfahrer erfasste.]

Gift oder Gas?

Saturday, 28. January 2012

Ausmusterung der Reihe Bibliothek Suhrkamp fürs Antiquariat. Die fadengehefteten Pappbände im farbigen Umschlag mit andersfarbigem Strich erschienen seit 1951, brachten es bis 1989 auf tausend Nummern und erscheinen noch heute und sind jetzt bei Nummer 1469 angekommen. Die Umschlaggestaltung lag seit 1959 bei Willy Fleckhaus. (Erst jetzt fällt mir auf, dass der vertikale Strich stets schwarz oder weiß ist, einzig wenn der Umschalg weiß ist, das der Strich farbig sein.) Von den rund hundert Bänden in meiner Sammlung werde ich drei Viertel abgeben – und selbst den kleineren Rest muss ich noch einmal gründlich durchsehen. Ein Buch, in dem ich seit gestern abends immer ein paar Seiten lese, ist Werner Krafts Spiegelung der Jugend, eine Erstausgabe von 1973. Diese Erinnerungen habe ich nach der Anschaffung des Buches vor dreißig Jahren schon einmal angelesen, allerdings wohl nur etwa bis Seite 68, denn da befindet sich die letzte meiner akkuraten Bleistiftunterstreichungen. Ein Passus, den ich nicht unterstrich, erscheint mir heute bemerkenswert. Kraft porträtiert eine Schwester seiner Großmutter, die in Celle wohnte und einmal besucht wurde. Was mag aus der jüdischen Frau geworden sein? „Sie hat 1933 noch gelebt, und ich hoffe, daß sie energisch genug war, dem schrecklicheren Tode als dem schrecklichen durch Gift zuvorzukommen.“ (Werner Kraft: Spiegelung der Jugend. Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag, 1973, S. 33.) Was ist das für eine Welt, in der der Hoffnung nurmehr die Wahl zwischen einem schrecklichen und einem schrecklicheren Geschick bleibt und eine liebe Großtante spurlos aus einem freundlichen Häuschen in Celle ins Nichts wechselt?

Nekro-Exhibitionismus

Saturday, 21. January 2012

Die neuen Mittel der öffentlichen Selbstdarstellung via Weblog, YouTube, Twitter, XING, MySpace, Facebook usw. haben nicht zuletzt auch neue Möglichkeiten der unfreiwilligen Selbstbeschädigung herbeigeführt, Versuchungen zur unbedachten Autodestruktion bereitgestellt, Lockmittel ausgestreut zur leichtfertigen Präsentation nicht nur geheimer Gedanken und intimer Körperzonen, sondern auch zur Preisgabe privatester Erlebnisse, wie Geburt, Krankheit, Sterben und Tod. Eine deprimierende ärztliche Diagnose wie Krebs, Depression, Parkinson oder Aids überfordert oft nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch deren Angehörige und Freunde. Die Angst vor nötigen klinischen Untersuchungen und Eingriffen, vor dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen belastet den Kranken umso mehr, als er erfahren muss, dass die Anteilnehme in seinem sozialen Umfeld bald ihre natürliche Grenze findet. Für die Gesunden geht das Leben mit seinem Ernst und seinem Spaß schließlich weiter bie bisher. Schon aus einem verständlichen Bedürfnis nach emotionaler Immunisierung gegen das dramatische Geschehen der schweren, möglicherweise todbringenden Krankheit meiden sie allzu intensive Begegnungen. Vom Kranken, gar Todgeweihten geht ein Sog in den Abgrund aus. Er „zieht runter“, wie man ganz unverblümt bekennt. In dieser Einsamkeit des Leidenden bieten sich die Social-Media-Plattformen im Internet an für ein offenherziges Bekenntnis zum eigenen Elend, für die Suche nach Gesprächspartnern, ob Leidensgefährten oder bloß Anteilnehmenden, ob im Schutze der Anonymität oder unter vollem Namen. Im Extremfall führt dies zu einer hochdramatischen Vorführung des eigenen Sterbens in Echtzeit und damit zu einem Exhibitionismus – bzw., je nach Perspektive, Voyeurismus – des Todes, wie er in dieser Direktheit noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. An dieser Stelle will ich auf das neue Phänomen bloß aufmerksam machen, ohne noch darüber reflektiert zu haben, was aus ihm für den Umgang mit Krankheit und Tod in unserer Gesellschaft folgt. Ich halte dies insbesondere deshalb für ein relevantes Thema in meinem eigenen Blog, weil ich unlängst ebenfalls von einer bösen Überraschung heimgesucht wurde und weil ich zudem sehe, dass sich auch sehr besonnene und gebildete Autoren mit ihrem Leid in die Öffentlichkeit des Web begeben.

[wird fortgesetzt]

Monday, 26. December 2011

Seit einer gefühlten Ewigkeit wartete ich auf die Fortsetzung von Wolfgang Herrndorfs Blog Arbeit und Struktur. Der letzte Eintrag war vom 19. November und berichtete in vier Sätzen von einem Besuch des Films Cheyenne mit Kathrin Passig und einem anschließenden traurigen Gespräch über gemeinsame Urlaube. Das letzte Wort war „gescheitert“. Tag für Tag klappte ich in den vergangenen Wochen, gleich nachdem der Rechner hochgefahren war, Kapitel Einundzwanzig auf, immer wieder dieser letzte Absatz mit Cheyenne und „gescheitert“. Darunter die Ankündigung, Versprechung: „[wird fortgesetzt]“. Dabei fürchten wir treuen Besucher dieser Seite doch alle, dass irgendwann hier noch für eine solche gefühlte Ewigkeit „[wird fortgesetzt]“ stehen wird, obwohl der Blogger seinem Glioblastom erlegen ist. Ich ertappte mich dabei, sicherheitshalber immer mal wieder auf Wikipedia nachzuschauen. Nein, er lebt noch! Heute nun kamen gleich vier Tagesnotizen, vom 20. bis zum 25. November, für die eigens ein neues Kapitel Zweiundzwanzig aufgemacht wurde. Wichtigste, erfreuliche Neuigkeit: H. erfährt im Abschlussgespräch nach seiner letzten Bestrahlung vom Arzt, dass er noch zehn bis zwölf Monate Aufschub erwarten darf, bis zum nächsten Rezidiv. – Ich fragte mich eben, ob ich hier überhaupt schon von meiner zweiten, intensiveren Begegnung mit dem Werk des Wolfgang Herrndorf berichtet habe. Die Suche nach seinem Nachnamen ergab aber nur einen einzigen Beleg. Vor fast genau einem Jahr hörte ich im Rundfunk eine überaus positive Besprechung seines Bestsellererfolgs Tschick, der mir aber erst durch einen besonderen Zufall so merkwürdig wurde, dass ich ihn wenig später kaufte und dann auch las. Die beiden jugendlichen Ausreißer brechen dort in eine gelobte Fremde auf, für die sie mangels konkreter Vorstellungen den Namen Walachei einsetzen. Und eben diese Walachei tauchte auch in einer 200 Jahre alten Ausgabe der Berliner Abendblätter auf, die anlässlich des bevorstehenden Kleist-Jahres gerade Tag für Tag online publiziert wurde und die ich gleichzeitig las. Ich wollte die Stelle bei Tschick genau zitieren und kaufte darum später das Buch. Nun lese ich Herrndorfers neues Buch Sand, über das ich erst urteilen will, wenn ich damit durch bin. – Sein Weblog jedenfalls ist stellenweise großartig, voller Tragik und Humor!

Haufen Schlamm

Thursday, 22. December 2011

Wie erscheint der Tod in Flauberts vielleicht größtem Roman, Bouvard et Pécuchet aus dem Jahr 1881? Ganz richtig, in Gestalt eines Hundes. Die berühmte Stelle hat es mir schon damals angetan, als ich das Buch zum ersten Male las, vor genau einem Vierteljahrhundert. Damals hatten wir noch keinen Hund. Mein Verhältnis zu Hunden war gestört, ich hatte Angst vor ihnen, wenn ich ihnen auf der Straße begegnete. Handelte es sich um besonders große Tiere, dann wechselte ich nicht selten den Bürgersteig, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Über Hundebesitzer, die ihr Tier nicht an der Leine führten, konnte ich mich sehr erregen. Einem toten und gar verwesenden Hund bin ich hingegen bisher noch nicht begegnet, wie es den Herren Pécuchet und Bouvard einst widerfuhr: „Kleine Schäfchenwolken standen am Himmel, die Glöckchen des Hafers wiegten sich im Wind, an einer Wiese murmelte ein Bach, als plötzlich ein furchtbarer Gestank sie stehenbleiben ließ, und sie sahen auf dem Kies zwischen Brombeergestrüpp den Kadaver eines Hundes liegen. Seine vier Glieder waren vertrocknet. Der weitgeöffnete Rachen entblößte unter bläulichen Lefzen elfenbeinweiße Fangzähne; an Stelle des Bauches war da ein erdfarbener Haufen Schlamm, der zu beben schien, so lebendig wimmelten darunter die Würmer. Sie kribbelten hin und her, von der Sonne beschienen, von Fliegen umsummt, in diesem unerträglichen Geruch, diesem wilden, gleichsam verzehrenden Geruch.“ (Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet. A. d. Frz. v. Erich Marx. Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1959, S. 303.) Längst haben wir nun unseren Hund. Sie ist schon alt. Vielleicht sehr bald wird sie sterben. Aber den Würmern und Fliegen wollen wir sie nicht überlassen.

Entwischt

Friday, 04. November 2011

Nun bin ich also noch einmal davongekommen.

Auf der Strecke blieben ein walnussgroßer Tumor, eine rechte Niere samt zugehörigem Harnleiter, knapp drei Wochen Arbeitszeit, sehr viel Kraft und ein paar Illusionen.

Gewonnen habe ich zwei beeindruckende Narben, etliche nicht immer schmeichelhafte Einblicke in meine seelische Konstitution, die Neubestimmung meiner Prioritäten und lehrreiche Eindrücke vom Alltag eines modernen Klinikbetriebs.

Aber diese Bilanz gibt natürlich nur einen blassen Schein davon wieder, was mir geschah.

Und welche Auswirkungen es auf mich und mein Blog haben wird, ist mir noch völlig unklar.

Fristsetzung als Formgeber

Friday, 30. September 2011

Ich frage mich gerade, welchen Einfluss es auf mein Schreiben hätte, wenn meine verbleibende Lebenszeit genau begrenzt wäre. Wüsste ich zum Beispiel, dass ich nur noch ein halbes Jahr, zwei oder zehn Jahre zu leben hätte – würden dann meine Ergebnisse konziser? Hätte eine solche Limitierung Einfluss auf meine Themen? Oder verlöre ich gar, was ja auch vorstellbar wäre, gänzlich die Lust am Schreiben, um die verbleibende Zeit mit anderen Betätigungen hinzubringen?

Möglich wäre auch, oder doch immerhin vorstellbar, dass ich – angesichts der Aufgabe, nun einzig das Wesentliche in den Blick nehmen zu müssen – erstarrte und rein gar nichts mehr zu Papier brächte. Oder ich packte dies und jenes an, ließe es aber bald wieder fallen, weil mir etwas noch Wesentlicheres in den Sinn käme, wogegen das zuvor für wesentlich Gehaltene plötzlich trivial erschiene. Vielleicht verständigte ich mich in dieser Unrast schließlich doch gegen alle Unsicherheit auf einen festen Entschluss, an den ich mich nun klammerte, als stünde er für mein schwindendes Leben selbst, ohne freilich den nagenden Zweifel ganz zum Verstummen zu bringen, dass ich auf ein falsches Pferd gesetzt haben könnte.

Unwahrscheinlich, vielleicht unmöglich scheint mir hingegen, dass die Aussicht auf einen definierten Ultimo meines Lebens ganz folgenlos für mein restliches Tun und Lassen als Schreibender bliebe. Dabei stand ich schon immer – oder doch mindestens, soweit ich mich besinnen kann – unter dem inneren Druck, keine Arbeitszeit mit Marginalien zu Quisquilien zu verplempern. Es war ja schon schlimm genug, dass ich viele Jahre lang nur den kleineren Teil meines Tages aufs Schreiben verwenden durfte, während Familie, Brotberuf und Schlaf den großen Rest auffraßen.

Wieder eine andere Idee: Ich schreibe keine einzige neue Zeile mehr, sondern konzentriere all meine verbleibenden Kräfte darauf, das Vorhandene zu sichten, zu sortieren, auszumustern, zu vernichten und den guten Rest zu konservieren. Dieser Plan hat etwas Versöhnliches und überdies den Vorzug, dass er den vermutlich von Tag zu Tag nachlassenden Kräften am ehesten noch Rechnung trägt. Im günstigsten Fall kann er sogar Kraft spenden, wenn die Begegnung mit der Vergangenheit erfreuliche Erinnerungen ans Licht bringt.

(Ganz anders verhielte es sich freilich, wenn die Frist noch wesentlich kürzer wäre. Wenn sich der Erlebenskorridor auf die berühmten ,Letzten Worte‘ hin verengte. Was wäre da zu sagen? Dazu zu sagen?)

Original und Fälschung

Friday, 29. July 2011

Manche Menschen sind befremdet über die an Schamlosigkeit grenzende Bereitschaft vieler Blogger, ihr Privatestes öffentlich zu machen, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Sie unterstellen ihnen Narzissmus, Starallüren oder mindestens eine egomanische Weltsicht. Gleichzeitig wundern sie sich über die Arglosigkeit, mit welcher diese eitlen Menschen sich vor aller Welt offenbaren, wo man doch heute vielmehr auf der Hut sein sollte, dass man nicht von Marktforschern, Staatsbeamten, Arbeitgebern oder dem Nachbarn um die Ecke virtuell ausspioniert wird; und zwar selbst dann, wenn man sich bemüht, die Schotten dicht zu halten und so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Die an Exhibitionismus grenzende Selbstpreisgabe der Blogger scheint in einem schwer verständlichen Widerspruch zu stehen zu den Warnrufen der Datenschützer. (Hagen Rether hat vor Jahren schon diesen Widerspruch unterhaltsam auf die Bühne gebracht.)

Thomas Assheuer erinnerte jüngst in der ZEIT an eine Prophezeihung des Futurologen und Kommunikations-Theoretikers Marshall McLuhan, der genau diese Paradoxie prophezeit hat. Den Einfall der Medienöffentlichkeit ins Wohnzimmer, die sich in den 1950er-Jahren vollzog, würden die Menschen bald einmal damit beantworten, dass sie sich selbst veröffentlichten. Sie würden dann sein wie Reptilien, die sich auf links drehen, den Panzer nach innen wenden, während die seelischen Weichteile nach außen gekehrt würden. Assheuer erkennt in unserer heutigen Medienwirklichkeit das Eintreffen dieser Vorhersage, wenn „der Handybenutzer von heute […] einen voll besetzten Bus ungefragt über seinen Liebeskummer unterrichtet.“ (Thomas Assheuer: Der Magier; in: Die ZEIT Nr. 30 v. 21. Juli 2011.)

Oder wenn ich meine Nierensteine öffentlich mache, die heute früh von meinem Hausarzt diagnostiziert worden sind [s. Titelbild]. Welche Blöße gebe ich mir denn damit? Und wie kann eine solche Information schlimmstenfalls gegen mich verwandt werden?

Die Intimsphäre ist ein in mehrfacher Hinsicht zwielichtiger Raum. Wer Anspruch auf ihren Schutz erhebt, bekennt sich damit indirekt zu einem Verhalten, das das Licht der Öffentlichkeit scheuen muss; oder zu einem Zustand, der das Empfinden seiner Mitmenschen verletzt. Andererseits verliert bekanntlich manches Vergnügen seinen Reiz, wenn es aus dem Halbdunkel des Privaten ins gleißende Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird. Und es war schon immer eine ureigenste Herausforderung der Kunst, genau diese Ambivalenz des Verbergens deutlich zu machen. (So könnte die abendländische Kunstgeschichte als ein immerwährender Schleiertanz interpretiert werden, bei dem ja der Reiz darin liegt, das Verhüllte zu entblößen und die Blößen zu verhüllen.)

Nichts anderes spielt sich in den Weblogs ab. Man erfährt hier Dinge, die man sich nicht hätte träumen lassen. Ob man sie wissen will, steht auf einem anderen Blatt. Und wieder eine Frage ist, ob sie wahr sind oder bloß gut erfunden. So kann die Ultraschallaufnahme von meiner Niere sehr gut auch eine plumpe Fälschung sein. Aber was ist im Zweifelsfall belastender? Dass ich gesundheitlich beeinträchtigt – oder dass ich ein Schwindler bin?

Zukünftige Aureole im Rückblick

Wednesday, 08. June 2011

Heute geht es mir dreckig. Krampfartige Schmerzen im Unterbauch, vorwiegend rechts. Blinddarm? Ein heißes Bad bringt vorübergehend Linderung. Der Schmerz kehrt aber bald zurück, und mit doppelter Wucht.

Ich werde in die Notfallambulanz des nächsten Krankenhauses fahren müssen. Dort wird mich ein Dr. (RUS) mit den Worten empfangen, da käme ich ja gerade noch rechtzeitig. Er habe nämlich schon so gut wie Feierabend. Hingelegt, Bein gestreckt, hier gedrückt, da gezogen: „Der Blinddarm ist es nicht!“

Er wird mir dann Novaminsulfon gegen die Schmerzen und weitere Tropfen gegen Motilitäts-Störungen im Magen-Darm-Bereich aufschreiben. Beim Gehen werde ich nach meiner scharzen Tasche greifen, die ich in aller Eile mit dem Nötigsten vollgestopft hatte. Irritiert und amüsiert wird er mich fragen, was ich denn da mit seiner Tasche wolle. Und es wird sich herausstellen, dass wir tatsächlich ganz gleiche Taschen besitzen, von Gardini. Ob ich die vielleicht in der Türkei gekauft habe, will er wissen.

Liegt es nun an der schmerzverschärften Wahrnehmung? Oder begegnen mir in solch inwendig außergewöhnlichen Verfassungen immer die extremsten Abstrusitäten? Die Apotheke mit Nachtdienst, zu der wir den Taxifahrer dirigieren werden, wird jedenfalls eher an eine Zwingburg als an eine Versorgungseinrichtung erinnern. Die Apothekerin wird eine halbe Ewigkeit benötigen, bis sie endlich mit den beiden Medikamenten anrückt. Und sie wird anschließend große Mühe haben, die Tüte mit den Packungen durch die engen Sprossen des Gitters zu quetschen, das sie vorm AIDS-Biss zähnefletschender Rauschgiftsüchtiger bewahren soll.

Tags drauf, also übermorgen, wird es mir nicht wesentlich besser gehen. Immerhin werde ich mich in mein Bücherlager schleppen, um eine Bestellung – Jules Vernes Geheimnisvolle Insel in der Übersetzung von Lothar Baier – ausliefern zu können. Wieder zurück in meinem Arbeitszimmer werde ich feststellen müssen, dass sich in der Mitte meines Gesichtsfelds dauerhaft eine hell leuchtende kreisförmige Erscheinung festgesetzt hat, die bei geschlossenen Augen so aussieht wie im Titelbild skizziert. Ich werde in Panik geraten und mit meinem Hausarzt tefelfonieren, der mir raten wird, einen Augenarzt aufzusuchen. Noch während des Gesprächs wird die Furcht einflößende Aureole sich verflüchtigen. Besonders bemerkenswert werde ich im Nachhinein finden, dass sie, wie in meiner Skizze angedeutet, nicht ganz regelmäßig gewesen sein wird.

Jugendfreundschaft

Tuesday, 07. June 2011

Schon die üblichen Klassentreffen zu runden Abi-Jubiläen habe ich immer gemieden, weil ich die Mehrzahl der Knaben, mit denen ich die Schulbank drückte, nicht wiedersehen möchte. Also bestand für mich auch nie Veranlassung dazu, auf Internet-Plattformen wie StayFriends & Co. nach gründlich vergessenen Jahrgangsgefährten vom Essener Helmholtz-Gymnasium zu fahnden.

Anders verhält es sich mit den wenigen Freunden, die mich in meiner unglücklichen Schulzeit positiv beeindruckt und mich – was noch seltener der Fall war – ein wenig verstanden haben. Einer von ihnen war Dieter Schnack, drei Klassen über mir, Gründer und Chefredakteur der Schülerzeitung Holtzwurm. Bis dahin hatte es an diesem Jungengymnasium nur eine „Schulzeitung“ gegeben, in der kritische Beiträge zum Schulalltag keinen Platz hatten. Nun ließ Direktor Hugo Vollmerhaus gleich die erste Ausgabe des großformatigen Heftes – es erschien 1970 oder 1971 – beschlagnahmen. Der Grund? Eine Karikatur, die die Frage aufwarf, ob wohl ein Mitglied des Kollegiums neuerdings ein Halbperücke trüge. Die Bildunterschrift lautete: “Toupet or not toupet, that’s the question?” Die Antwort war zwar ohnehin längst allgemein bekannt, nachdem der Englisch- und Sportlehrer mit dem Haarersatz beim Kopfsprung vom Zehnmeterbrett einmal seine Bedeckung eingebüßt hatte. Aber zum Thema machen durften es die Schüler nicht, das erfüllte eindeutig den Tatbestand der Beleidigung und Untergrabung der Autorität. Mein bester Freund und ich waren die jüngsten Redaktionsmitglieder der ersten Stunde. Ich steuerte einen Beitrag zum Thema „mens sana in corpere sano“ bei, bestehend aus einer langen Liste von Genies, die alles andere als gesund gewesen waren, weder körperlich noch geistig – und etliche Rauschgiftsüchtige waren auch darunter. (Ich bediente mich dafür großzügig aus einem Essay von Gottfried Benn über Genie und Wahnsinn, aber das merkte einer.) Von Dieters Beiträgen erinnere ich mich noch an einen, indem er sein Befremden zum Ausdruck brachte, dass seine Altersgenossen in der Tanzschule zu dem Anti-Vietnamkriegs-Song Purple Haze von Jimi-Hendrix „ausgelassen herumhopsten“. Diese Ernsthaftigkeit imponierte mir damals sehr.

Nachdem ich die Schule vorzeitig verlassen hatte, verlor ich Dieter Schnack für viele Jahre aus den Augen. Er machte Abitur, studierte Pädagogik bis zum Diplom, schrieb zusammen mit Rainer Neutzling das erfolgreiche Buch Kleine Helden in Not (1990). Ich war unterdessen Buchhändler geworden und leitete die Rüttenscheider Filiale von G. D. Baedeker in Essen. 1993 wurde mir vom Rowohlt-Verlagsvertreter eine Autorenlesung mit Schnack und Neutzling aus ihrem neuen Buch Die Prinzenrolle angeboten. So kam es am 22. Oktober jenes Jahres zu einem Wiedersehen nach gut zwei Jahrzehnten. Wie es so geht, wenn man einen älteren Freund in der Erinnerung idealisiert, konnte dieses Treffen nur enttäuschen. Dieter hatte kaum noch eine Erinnerung an mich, und meine Erinnerungen an ihn schienen ihm nicht zu gefallen. Er glaubte gar, ich müsste ihn mit jemandem verwechseln, denn meine Erzählungen passten so gar nicht auf ihn. In sein Buch schrieb er mir die belanglose Widmung: „Mit den besten Wünschen für Dich und die Deinen!“

Nachdem nun weitere 18 Jahre ins Land gegangen sind, fiel mir unlängst ein drittes Buch in die Hände, dass er wieder gemeinsam mit Rainer Neutzling verfasst hatte: „Der Alte kann mich mal gern haben!“ Es erschien 1997 als rororo-Taschenbuch. Ich wollte wissen, ob inzwischen die Liste seiner Veröffntlichungen noch länger geworden sei, und gab seinen Namen in den Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ein. Dort findet man neben den bibliographischen Angaben auch einen knappen „Steckbrief“ zu jedem Autor: „Schnack, Dieter | auch Schnack-Jürgens, Dieter | Diplom-Pädagoge und Journalist | 1953-2000.“ Dass Schnack verheiratet war, wusste ich. Aber dass er nicht mehr lebt, weiß ich erst seit eben. Gerade mal 47 Jahre alt ist er also geworden. Sein Ko-Autor erwähnt in irgendeinem Vortrag, den man auch im Internet findet, dass Dieter Schnack nach langem Kampf an Krebs gestorben ist.

Die Prinzenrolle ist ein außergewöhnlich offenes und ehrliches Buch über die männliche Sexualität, gerade auch des männlichen Kindes. Natürlich beschränkt es sich lokal auf die mitteleuropäische Zivilisationssphäre und temporär auf die Lebenszeit meiner Generation, wobei die Generation unserer Eltern und die unserer Kinder natürlich mit in den Blick genommen wird. Im Rückblick auf die eigene Erziehung suchen die Autoren nach Erklärung, im Hinblick auf die Erziehung unserer Kinder nach Möglichkeiten der Befreiung. Insofern ist Die Prinzenrolle eine späte und reife Frucht jener sexuellen Revolution, die mit Volkmar Sigusch, Gunther Schmidt, Ernest Bornemann und dem jüngst tragisch verunglückten Günther Amendt mit den 68ern ihren Anfang nahm. Es bleibt im Bestand meiner via „Antiquariat Revierflaneur“ ständig schrumpfenden Bibliothek.

[Titelbild: Dieter Schnack, Rainer Neutzling und der Revierflaneur (v. l.) am 22. Oktober 1993 in der Stadtbibliothek Essen.]

Meine Migräne und ich

Saturday, 28. May 2011

Welch große Bereicherung für mein Schreiben bedeutet es doch, dass hier in meinem Blog ohne mein Zutun immer ein tagesaktuelles Gesamtregister aller meiner Hinterlassenschaften erstellt wird! Ich gebe das Stichwort meines heutigen Beitrags ins Suchfester ein, und schon weiß ich, dass ich bisher an vier Stellen über Migräne geschrieben habe. Im Juni 2008 notierte ich, wie sehr mich die hässliche Tristesse der städtischen Umwelt doch bisweilen peinige, und dass mein armer Kopf dann gelegentlich keinen anderen Ausweg finde als die Flucht in einen Migräneanfall. Im Dezember 2008 bekannte ich mich zu den beiden körperlichen Beeinträchtigungen, die mich seit frühester Kindheit bis heute begleiten: ein zu Migräneattacken neigender Kopf und zwei deformierte Füße. Damals frohlockte ich, das erste dieser Leiden habe mir nach den maskulinen Wechseljahren offenbar endgültig Lebewohl gesagt. Zu früh gefreut! Mittlerweile habe ich eine neue Serie von Anfällen hinter mich gebracht. Im März 2010 nannte ich als einen von tausend Fällen, in denen mich meine Migräne daran hinderte, Pläne in die Tat umzusetzen, den verpassten Besuch einer Diskussionsveranstaltung mit Timm Ulrichs im Essener Folkwangmuseum. Und schließlich nannte ich den heftigsten Migräneschmerz, den ich je ertragen musste, neben einem Ohrenschmerz der Kindheit und dem Knochenschmerz nach der Operation meines rechten Fußes, in meiner Antwort auf eine der letzten Fragen von Max Frisch im Juli 2010 als Beispiel für einen Schmerz, den auszuhalten ich immerhin dem Tod vorgezogen hatte.

Welch große Bereicherung war doch für mich, und ist noch immer für mich die regelmäßige Erfahrung des Schmerzes, in seiner zivilisierten, domestizierten Form, als Migräne! Ja, ich weiß, das bedarf einer Erklärung.

Wer wünscht sich schon, von Schmerzen heimgesucht zu werden? Wann immer sich ein neuer Anfall bei mir angekündigt hat, im Übergang von einem zunächst noch kaum wahrgenommenen Kribbeln irgendwo zwischen Stirn und Hinterhaupt und der Gewissheit, dass ich nun wieder einmal das Steuer über mein Selbstempfinden werde abgeben müssen an eine fremde Macht namens Schmerz, stellte sich ein Gefühlschaos aus Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit und Angst bei mir ein. Einerseits weiß ich zwar, was kommt; andererseits ist das Ereignis durch diese Vertrautheit kein wenig erträglicher. Wenn ich das Glück habe, mich jeglicher Verantwortung gegenüber der Außenwelt für die Dauer des Anfalls entziehen zu können, konkret: wenn ich mich in ein stilles, kühles, abgedunkeltes Zimmer zurückziehen kann und Störungen jeder Art nicht einmal mit geringer Wahrscheinlichkeit befürchten muss, dann kann ich mich immerhin dem Schmerz stellen, ihm meine ganze Aufmerksamkeit schenken, ihn in Schach halten. Das mildert ihn zwar nicht, aber ich wahre ihm gegenüber immerhin noch einen Rest von Würde. Wenn ich aber, um das andere Extrem auszumalen, mit einer verantwortungsvollen Verpflichtung mitten unter Menschen geworfen bin, mir nichts anmerken lassen darf, kein Ende dieser Höllenveranstaltung abzusehen ist, dazu noch ein Gewitter in der Luft liegt, schwüle Luft und schlechte Gerüche, schrille Klänge und primitives Gelächter, wenn von verachtenswerten Individuen dumme Fragen an mich gerichtet werden – dann erzeugt das ohnehin schon unerträgliche Ereignis in meinem migränekranken Kopf ein Schmerzinferno, das mit Worten nicht zu beschreiben ist.

Und genau diese Unbeschreiblichkeit ist die Erfahrung, die mein Inderweltsein um eine unentbehrliche Dimension erweitert hat. Erst durch sie erkannte ich, dass das Beschreibenkönnen mein Dispositiv für alle Fälle ist. Und wo dieses Können seine Grenze findet, bin ich ein anderer, das Nicht-Ich, zum Tier entmachtet.

Gehupft wie gesprungen sind diese Zustände zueinander. Das man diesen schmerzvolle Krankheit nennt und jenen gesundes Wohlbefinden, ist eine verständliche Wertung. Wer hat schon gern Schmerzen. Und doch gibt es eine absolute Gleichwertigkeit zwischen Migräne und Migränefreiheit, was den Blick von hier nach dort und den von dort nach hier betrifft. Wenn ich Migräne habe, kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie es ohne diesen Schmerz ist, denn ich bin überzeugt, dass die Vorstellung von der Schmerzfreiheit diese sogleich herbeiführen müsste, was meiner Imagination hingegen niemals gelingt. Aber warum nicht? Schließlich spielt sich doch beides, der Schmerz und die Vorstellung von Schmerzfreiheit, am gleichen Ort ab: in meinem Kopf. – Und wenn ich frei von Migräneschmerzen bin, verstehe ich nicht, wie ich dort überhaupt jemals hineingeraten konnte. Und noch weniger verstehe ich, dass ich diesen Schmerz im Kopf nicht mit größerer Gelassenheit ertragen kann, da ich doch tausende Male erlebt habe, dass der Schmerz von allein weicht, nachdem er mich kaum jemals länger als einen Tag behelligt hat. Für die Grenzen zwischen wachem Normalbewusstsein und Zuständen wie Traum, Wahn oder Rausch führte der amerikanische Psychologe Roland Fischer den Terminus state boundaries ein. Ich finde sein Schema eines halbkreisförmigen Wahrnehmungs-Halluzinations- bzw. Wahrnehmungs-Meditations-Kontinuums sehr plausibel. Allerdings störte mich immer schon, dass die doch so existenzielle menschliche Erfahrung von Schmerz in diesem Modell keinen Platz fand. (Vielleicht sollte Fischers Modell um eine dritte Dimension ergänzt, also zur Halbkugel erweitert werden?)

Abgrund mit Schleimrand

Friday, 08. April 2011

Die bittere Wahrheit über den Menschen ist unter den Menschen verständlicherweise wenig angesehen. Sie wenden sich ab von den Miesmachern, den Pessimisten, den Zynikern und verbuchen deren ätzendes Genöle unter Misanthropie, also als Krankheit. Dass vielleicht die Menschheit selbst die für den Rest der irdischen Schöpfung schlimmste Krankheit sein könnte, die Errettung dieser Restnatur nur durch die Ausrottung des ,Untiers‘ (Ulrich Horstmann) vielleicht noch möglich – diese naheliegenden Einsichten passen nicht in die Zeit. Haben wir nicht wahrlich schon genug Probleme mit unserer Existenzsicherung, als dass wir uns noch weitere aufhalsen könnten durch die Infragestellung unserer Existenzberechtigung?

Wir optimistischen Misanthropen müssen bescheidener sein: „Wer auch immer, aus Zerstreutheit oder aus Unzulänglichkeit, die Menschheit […] nur ein klein wenig in ihrem Vormarsch aufhält, ist ihr Wohltäter.“ Ein klitzekleinwinzig wenig tut man dies ja schon, wenn man sich selbst bremst, vom Marschschritt ins Schleichen verfällt, gar stehen bleibt und zurückschaut. (Ungefähr das ist es ja, was ich hier probiere.)

Doch ob dies Wenige und immer weniger Werdende genügt? Wohl kaum.

Der Philosoph Emile M. Cioran, den ich soeben zitiert habe und der heute vor hundert Jahren im siebenbürgischen Reschinar nahe Hermannstadt geboren wurde, faszinierte den jungen Mann, der ich 1979 war, durch seinen radical chic am Rande des Abgrunds. Spätestens seit seinem natürlichen Tod am 20. Juni 1995 scheinen mir die gebetsmühlenhaften Insinuationen von Ciorans Selbstmordabsichten entwertet, wie Spiegelfechtereien eines narzisstischen Poseurs.

Immerhin möchte ich seine Bücher in meinen wenigen verbliebenen Regalen (noch) nicht missen; am wenigsten seine Syllogismen der Bitterkeit, denen ich für heute einen weiteren Aphorismus entnehme: „Die Würde der Liebe liegt in der ernüchterten Zuneigung, die einen schleimigen Moment überlebt.“ (A. d. Frz. v. Kurt Leonhard. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1969, S. 54 & S. 89.) – um allerdings hinzuzufügen: … und deren Sinn im gleißenden Augenblick vor diesem Moment.

Memento

Wednesday, 03. March 2010

judoka

Ab und zu ist es angebracht, sich seiner Vergänglichkeit wieder einmal bewusst zu werden und die Sterblichkeit dieser fleischlichen Hülle, die uns alle egalisiert, nüchtern und scharf wahrzunehmen. Die Zeit, die uns unsere Späße mit frohem Herzen und bei bester Gesundheit zu genießen einräumt, hat eben nur den einen Nachteil, endlich zu sein. Tröstlich ist da bloß, dass der Unterschied zwischen einem nach menschlichem Maß langen zu einem kurzen Leben kaum das Wesentliche ist. Auch hier dürfte Qualität, nicht Quantität das entscheidende Kriterium sein.

Übrigens kann ja die gewaltsame Verkürzung des Lebenswegs auch eine Befreiung bedeuten, wenn nämlich leidvoller Schmerz oder unleidliches Gleichmaß dieses Leben vergällte. Und dies kann nicht nur so sein, rechtbesehen ist es vielleicht sogar der üblichste Ausweg. Wann liest man denn in den Todesanzeigen schon einmal, dass ein Hingegangener lebenssatt hinüberglitt, friedlich im Schlafe verschied?

Ich werde in diesem Sommer 54 Jahre alt, so ich denn so alt werde. Würde es mich bekümmern, wenn nicht? Welche alten Rechnungen hätte ich noch offen? Was bliebe mir noch, dringend zu tun? Braucht mich die Welt? Habe ich ihr noch etwas zu geben, was nur ich allein ihr zu geben vermag? Wie stünden jene da, die mir am nächsten stehen, wenn sie auf meine Anwesenheit hinfort verzichten müssten? Kommt aus solchen Erwägungen der dringende Impuls, dem Tod mit allen Kräften zu widerstehen? Ich fürchte: Nein!

Unser Überlebenswille ist somit vermutlich nicht viel mehr als ein triebhafter Reflex, nichts ausgemacht Menschliches. Menschlicher wäre da schon die Einsicht, wie wenig an jedem von uns gelegen ist, angesichts des Übermaßes unserer Vorhandenheit. Und unser Lebenswunsch wäre insofern bloß eine romantische Reminiszenz aus der Zeit, als man noch annehmen konnte, niemand andres als gerade ich sei fähig, die Dinge zu tun, die gerade ich tun kann.

Und übrigens: Warum soll ich das Nein zum Abschluss des dritten Absatzes eigentlich fürchten? Ist die Negation der vorangestellten Frage nicht vielmehr der Schlüssel zu einer Freiheit, die alle Furcht hinter sich lässt?

Überlebt

Monday, 08. February 2010

marcal

Am 30. Januar las ich zur Feier des 50. Geburtstags einer guten Freundin in Düsseldorf-Flingern Gedichte von Johannes Bobrowski (1917-1965) und kurze Prosastücke von Hermann Harry Schmitz (1880-1913), Edgar Allan Poe (1809-1849) und Joseph Roth (1894-1939). Erst nachdem ich das Programm zusammengestellt hatte, wurde mir bewusst, was allen vier Autoren gemeinsam ist: Keiner von ihnen hat das Alter der Jubilarin erreicht.

In den Kalendern und natürlich auch im Internet, so zum Beispiel auf der Startseite von Wikipedia, werden wir alltäglich daran erinnert, wer heute vor wieviel Jahren geboren wurde oder gestorben ist. Und wenn ich wissen will, welche Geburts- und Sterbefälle prominenter Menschen auf meinen Geburtstag fallen, ist die Antwort auf diese Frage auch nur einen Mausklick weit entfernt.

Dabei wäre es doch viel interessanter, beim Frühstück daran erinnert zu werden, welche Heldinnen und Helden der Vergangenheit ich heute wieder „überholt“ habe, weil sie auf den Tag genau in dem Alter, das ich jetzt erreicht habe, das Zeitliche gesegnet haben. Ein solcher Datenservice müsste natürlich für jeden Menschen je nach seinem Geburtstag individuell eingerichtet werden, aber das wäre mit den heutigen technischen Mitteln kaum ein Problem. Die Grundlage eines solchen Geburtstags-Sterbetags-Vergleichsrechners wäre ein Datenstamm, bei dem das erreichte Alter aller verstorbenen Berühmtheiten exakt ein Lebenstagen ausgedrückt ist. Damit ist die einfache Vergleichbarkeit mit meiner eigenen Lebenszeit (und der jedes anderen Interessenten) gewährleistet.

Praktischerweise rechnet man dazu alle Daten zunächst in das Julianische Datum (JD) um. Mein Geburtstag fiel auf das JD 2.435.666, heute haben wir das JD 2.455.236. Die Differenz dieser beiden Zahlen beträgt 19.570, das ist somit die Summe meiner bisherigen Lebenstage. Maria Callas (1923-1977), um eine beliebige bekannte Vergleichsperson zu wählen, deren Sterbealter ich noch nicht erreicht habe, wurde am 2. Dezember 1923 geboren (JD 2.423.756), starb am 16. September 1977 (JD 2.443.403) und erreichte somit ein Alter von 19.647 Tagen. Am Sonntag, dem 25. April dieses Jahres werde ich mich auf den Tag genau im Alter von Maria Callas am Tage ihres Todes befinden und sie dann „altersmäßig“ überholen.

Ich stelle mir vor, dass es manchen griesgrämigen Zeitgenossen allmorgendlich erfreuen würde zu erfahren, welche berühmten Menschen er, was das Lebensalter betrifft, heute wieder hinter sich lässt. Ist ein solcher „Vitalitätsrechner“ nicht vielleicht eine pfiffige Internet-Geschäftsidee, mit der ich viel Geld verdienen könnte? Oder gibt es diesen Rechner schon längst? In meiner Vorstellung besteht er aus einem achtstelligen Eingabefenster für das individuelle Geburtsdatum nach Tag, Monat und Jahr; darunter zeigt er sodann die siebenstellige Zahl für den Julianischen Geburtstag an; in der dritten Zeile erscheint das aktuelle Alter in Tagen. Und schließlich werden alle Prominenten mit ihren Geburts- und Sterbedaten aufgezählt, die zum Tag der Abfrage exakt dieses Alter erreicht haben.

Abwege (I)

Wednesday, 27. January 2010

skyfishing

In diesen unfreundlichen Wintertagen, da man keine schlafenden Hunde weckt, um sie vor die Tür zu jagen, möchte ich dennoch dem Flanieren nicht ganz entsagen und muss ja auch keineswegs auf meine geliebte Streunerei verzichten. Dank Internet kann ich schließlich, ohne mir Frostbeulen zuzuziehen oder über Nässe zu klagen, in der warmen Stube das weltumspannende Datennetz nach geheimen Zusammenhängen durchstöbern. An jedem Satzende bietet sich mir dabei die Möglichkeit, verschiedene Richtungen einzuschlagen. Hier zum Beispiel könnte ich nun über unfreiwillige Reime in Prosatexten nachdenken. Welche Beispiele gibt es dazu etwa bei Swift, Wieland oder Balzac? Bilde ich mir das nur ein, oder hat sich lange vor mir jemand mit genau diesem abwegigen philologischen Gegenstand befasst? Wie googelt man nach solch einer Abstrusität?

Das Abzweigen unterwegs ist ja ein leichtes Unterfangen, wenngleich es nicht selten in Irren führt, aber gerade Irrtümer bieten ja oft genug Gelegenheiten zu unverhofften Einsichten. Viel mühevoller gestaltet sich meist das Aufbrechen. Der erste Schritt ist ein erbarmungsloser Knochenjob, wovon nicht nur die Morgenmuffel unter den Schreibknechten ein Klageliedchen zu singen haben. Darum verwahre ich in der langschwänzigen Lesezeichenliste meines Browsers allerlei Appetizer, die mir den Schlaf aus den Augen treiben sollen.

Heute früh zum Beispiel stöberte ich zur Abwechslung wieder einmal in Letters of Note, dem traumhaften Briefe-Blog von Shaun Usher. Unterm 13. Oktober 2009 entdeckte ich dort das seltsame Briefkunst-Event eines Künstlers aus Albany (NY), der Anfang der 1970er-Jahre rund 500 prominente und weniger prominente Leute um ihre Beteiligung an dieser skymail genannten Aktion bat. G. C. Haymes schrieb: „guten morgen, hiermit werden sie eingeladen, sich an skymail zu beteiligen (erstes event). skymail ist ein künstlerisches event, bei welchem ausgewählte künstler aus verschiedenen bereichen eingeladen sind, den himmel zu beschreiben. ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn sie sich die zeit nähmen, die beigefügte karte auszufüllen & in einen briefkasten zu werfen (das porto wurde vorausbezahlt). – ich suche momentan einen schauplatz für das event. sie werden über den zeitpunkt & ort der ausstellung unterrichtet. – ich danke ihnen vielmals. – genießen sie den himmel – g c haymes – koordinator skymail (erstes event)“. [Übers. a. d. Am. v. M. H.] Auf der Website von Haymes ist dokumentiert, wer die annähernd 500 bedeutenden Leute waren, die zu dieser großangelegten Himmelsbeschreibung eingeladen wurden – und man kann dort alle 28 Antworten nachlesen, die über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren in Albany eingingen, unter ihnen immerhin auch welche von Sam Peckinpah, Gary Snyder und John Cage! Shaun Usher hat lediglich zwei Antwortkarten ausgewählt: eine sehr bemühte vom weltbekannten Science-Fiction-Schreiber Isaac Asimov und eine überaus unfreundliche von Jerzy Kosiński, ohne Unterschrift  und mit folgendem Wortlaut: „Imbezillogramm – Lieber Idiot: Hast Du nicht irgendwas Besseres zu tun? Der Himmel ist tatsächlich eine Grenze für anmaßende Idioten wie Dich.“ [Übers. a. d. Am. v. M. H.]

Wer war noch mal dieser Jerzy Kosiński (1933-1981)? Und wo ist er mir, vor vielen Jahren, erstmals über den Weg gelaufen? Ich las den englischsprachigen Wikipedia-Artikel über ihn und verfing mich in allerlei merkwürdigen Abwegigkeiten seiner Vita. So fällt auf sein dem Vernehmen nach bestes Werk, den autobiographischen Roman The Painted Bird, insofern ein Schatten, als Kosiński darin schildert, wie er als kleiner Judenjunge im besetzen Polen vor den Deutschen über die Dörfer floh und zahlreiche Abenteuer erlebte. Tatsächlich aber kam er während der ganzen Zeit der Nazi-Okkupation bei polnischen Katholiken unter und überlebte dank eines gefälschten Taufzeugnisses. Seine späteren Romane wiesen dermaßen auffällige Stilunterschiede auf, dass Kritiker nicht glauben wollten, diese Werke könnten aus ein und derselben Feder stammen. Die Plagiatsvorwürfe gegen ihn wollten bis zu seinem gewaltsamen Tod nicht verstummen. Am polnischen Nationalfeiertag, dem 3. Mai 1991 legte sich Jerzy Kosiński in seinem Appartement in der West 57th Street in Manhattan in die Badewanne, nahm eine tödliche Dosis Barbiturate und zog sich sicherheitshalber noch eine Plastiktüte über den Kopf. Seine zweite Ehefrau, Katherina „Kiki“ von Fraunhofer, fand am nächsten Tag neben der Leiche einen Zettel mit einer kurzen Nachricht ihres Gatten: “I am going to put myself to sleep now for a bit longer than usual. Call it Eternity.” Was hatte er da bloß getan? Etwas Besseres als den Himmel zu beschreiben?

Und jetzt weiß ich auch wieder, wo mir der polnisch-amerikanische Schriftsteller zum ersten Mal begegnete: in Ed Sanders‘ Buch über die Manson-Morde! Um ein Haar wäre Jerzy Kosiński nämlich bereits schon viel früher, in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969 in Los Angeles (CA), eines gewaltsamen Todes gestorben, damals aber nicht von eigener Hand. „Der Romancier Jerzy Kosinski und seine Frau sollten am 7. August in der Polanski-Villa in Los Angeles eintreffen; sie wollten dort bis zu Romans Rückkehr [aus Polen] zu seinem Geburtstag [am 18. August] und bis zur Ankunft von Sharons Baby bleiben. Doch Kosinskis Gepäck war auf dem Weg von Europa nach New York verlorengegangen, und anstatt gleich nach Los Angeles zu fliegen, blieben sie in New York und warteten dort auf ihre Koffer. Das hat ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet […].“ (Ed Sanders: The Family. Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy-Streitmacht. A. d. Am. v. Edwin Ortmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1972, S. 230.)

Balthasar

Wednesday, 06. January 2010

balthasar

Da ich mittlerweile auch langsam ins Sachdochmalschnell-Alter hinüberrutsche, also in jene gerade für einen Schreibwerker verstörende Übergangsphase, in der man sich die gelegentlichen Wortfindungsstörungen noch mit allerlei kurzfristigen Irritationen und Ablenkungen plausibel zu machen versucht, interessieren mich alle Arten von Gedächtnisausfällen, sowohl akute wie chronische Amnesien, Verwechslungen, Fehlleistungen, bis hin zu Berichten über katastrophales Totalversagen des Gedächtnisses, sowie die gegen dergleichen aufgebauten Eselsbrücken, Hirntrainingsprogramme und logopädischen Therapien. So ist zu erklären, warum ich in den vergangenen Tagen die Autobiographie eines Autors mit wachsender Anteilnahme gelesen habe, der mich als Dramatiker und Satiriker bisher wenig bis gar nicht interessiert hat: Balthasar von Sławomir Mrożek. (A. d. Poln. v. Marta Kijowska. Zürich: Diogenes Verlag, 2007.)

Der Pole Mrożek (* 1930) erlitt am Vormittag des 15. Mai 2002 an seinem Schreibtisch in Krakau einen Gehirnschlag, der zu einem völligen Verlust seiner Sprache führte. Die Aphasie war so total, dass er sogar seinen eigenen Namen ablegte und sich seither mit Bezug auf einen bedeutsamen Traum Balthasar nennt: „Im Dezember 2003 hielt ich mich kurz in Paris auf. Wir wohnten in einem geräumigen Appartement im vierten Stock eines Hauses an der Rue Guynemer, gegenüber des Jardin du Luxembourg. Diese Umstände können wichtig sein im Hinblick auf den Traum, den ich damals hatte. – Ich träumte, daß mein Vor- und Familienname auf einem amtlichen Schreiben auf polnisch gedruckt waren. Die Buchstaben, an die ich mich sehr genau erinnere, stammten von einem Computerdrucker. Gleichzeitig hörte ich eine Stimme, die quasi aus dem Nichts kam. Die Stimme sagte, daß ich bald eine weite Auslandsreise antreten würde. Das beigefügte Dokument würde ich mitnehmen und nach meiner Ankunft den dortigen Behörden vorlegen. Sie würden daraufhin jede meiner Forderung[en] erfüllen, unter der Bedingung, daß ich nie wieder meinen echten Vor- und Nachnamen benutzte. Mein neuer Name sollte Balthasar lauten. – Als ich aufwachte, stand ich stark unter dem Eindruck dieses Traums. Balthasar… Ich war noch nie ein Enthusiast meines Familiennamens gewesen. Er begleitete mich immer als eine langweilige Notwendigkeit. Später, als ich anfing zu schreiben, behielt ich ihn aus Rücksicht auf meinen Vater. Bis zu dem Moment, in dem ich von der Aphasie heimgesucht wurde.“ (Ebd., S. 363 f.) Mit der Unterstützung seiner Logopädin, Beata Mikołajko, gelang es Mrożek, seine Sprachbeherrschung und damit auch sein verbalisierbares Gedächtnis zurückzuerobern, wenngleich nur in seiner Muttersprache, dem Polnischen. Die Sprachen seiner verschiedenen Exile, in Frankreich und zuletzt in Mexiko, blieben unrettbar verloren.

Die Autobiographie, die mit diesem traurigen Ereignis endet, ist zunächst Teil der Therapie und genügt sich insofern selbst. Erst in zweiter Linie zielt das Buch auf ein Leserinteresse, und ob es ernsthaft eine ästhetische oder politische Relevanz beansprucht, bleibt sogar fraglich. Die wenigen Kritiken, die in Deutschland nach dem Erscheinen von Balthasar zu lesen waren, gehen sehr rücksichtsvoll mit dem Autor um, nennen ihn den auch international erfolgreichsten Dramatiker Polens nach dem Zweiten Weltkrieg und erwähnen, dass auch seine absurden Satiren in Kurzprosa über den Alltag unter einem totalitären Regime zu ihrer Zeit viel besprochen und gepriesen waren. Das klingt stellenweise fast so, als hätte Sławomir Mrożek durchaus Chancen gehabt, den Nobelpreis für Literatur wieder einmal nach Polen zu holen, wären ihm nicht 1980 Czesław Miłosz und 1996 Wisława Szymborska zuvorgekommen. Auch werden Dramatiker bekanntlich selten prämiert, nach Beckett 1969 waren Harold Pinter und Dario Fo die einzigen, die den Nobelpreis zugesprochen bekamen. Aber was folgt daraus? Allenfalls, dass es nicht viel bedeutet hätte, Mrożek in Stockholm im Frack zu sehen.

Nun also hat er im Alter noch einmal etwas ganz anderes versucht. Der Gegenstand seines Spottes, die Wurzel seiner Verbitterung, der Quell seiner Ängste: die stalinistische Diktatur, sie existiert ja schließlich längst nicht mehr. Insofern war sein literarisches Aufbegehren in den vier Jahrzehnten von 1950 bis 1990 längst gegenstandslos geworden. Tatsächlich kam seine literarische Produktivität Anfang der 1990er-Jahre vollständig zum Erliegen. Und dann löscht der Hirnschlag auch die Erinnerung, soweit sie sich im Sprachzentrum abgelagert hatte, vollständig aus, der Speicherinhalt ist gelöscht. Aber Balthasar, wie das Wesen jetzt heißt, gibt nicht auf. In jahrelanger mühseliger Anstrengung erobert es sich immerhin eine verständliche, zusammenhängende, erzählbare Geschichte von der eigenen Person zurück.

Die Erzählung verblüfft durch akribische Schilderungen konkreter Situationen, Begegnungen, Erlebnisse, die wie durch ein Vergrößerungsglas und in Zeitlupe betrachtet werden. Und noch etwas fällt auf: Die frühesten Kindheitserinnerungen erscheinen am deutlichsten vor dem inneren Auge des Lesers, während die Präzision und Ausführlichkeit immer mehr abnimmt, je näher die Gegenwart rückt. Bekanntlich ist das Leben für das subjektive Zeitempfinden ja mit Erreichen des Erwachsenenalters zur Hälfte abgelaufen, ganz gleich, welch biblisches Alter man immer erreicht. Dieser Gesetzmäßigkeit scheint die Darstellungsweise des Buches Rechnung zu tragen, das sich ja ausdrücklich Autobiographie nennt und insofern den Anspruch erhebt, ein ganzes Leben in wohl bedachten Proportionen abzubilden. Eben habe ich ein paar von Mrożeks Satiren gelesen (aus: Striptease. A. d. Poln. v. Ludwig Zimmerer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1965). Ich sehe auch, dass er eine Schach-Geschichte geschrieben hat, ein Thema, das mich prinzipiell interessiert. Aber ich habe ausreichenden Grund zu der Annahme, dass Balthasar das einzige seiner Werke ist, das in fünfzig Jahren noch verdient, gelesen zu werden. Das Thema Kommunismus hat keine Zukunft mehr, das Thema Aphasie hingegen ist mächtig im Kommen.

[Titelbild aus dem besprochenen Buch:  Der kleine Sławomir Mrożek mit seinem Hund Mars.]

Selbstbeschreibung (I)

Friday, 21. August 2009

Heute jährt sich der Tod meines Vaters zum vierzigsten Mal. Ich kann davon nur berichten, was mir durch vielfache mündliche Erzählungen über dieses Ereignis in der Erinnerung haften geblieben ist. Deutlicher gesagt: durch meine vielfach wiederholte Schilderung des Todestags aus meiner Sicht. Denn meine Mutter beschwieg diesen tiefsten Einschnitt in meinem Leben ebenso wie die näheren und ferneren Verwandten und Bekannten, die übrigens nur einen sehr beschränkten Personenkreis ausmachten. Meine Großmutter väterlicherseits brach augenblicklich in Tränen aus, wenn die Sprache auf ihren Hansi kam. Sie hatte nach dem älteren Sohn Kuno im Krieg und ihrem Ehemann durch Asthma und Herzinsuffizienz nun auch noch den dritten und letzten „meiner Männer” verloren.

Ich also bin an diesem sonnigen Sommerferientag des Jahres 1969 mit meinem Cousin Jörg ins Kino gegangen. Wir sahen im Filmstudio am Glückaufhaus eine klamaukige Komödie um ein Wettfliegen aus der Frühzeit der Aviatik. Wann immer mich ein Film begeistert, muss ich ihn jedem erzählen, der mir über den Weg läuft, das war schon damals so und gilt noch heute. Und wann immer sich meine Zuhörer einen solchen Film, durch meine Erzählung animiert, persönlich ansehen, berichten sie nachher prompt von einer herben Enttäuschung. Dann habe ich wohl wieder einmal „ausgeschmückt”, „übertrieben” oder gar die Handlung „völlig verfälscht”, wie meine Gefährtin schmunzelnd anmerkt. „Er kann es einfach nicht lassen.”

Am 20. August des besagten Unglücksjahres kam ich zu meinem größten Bedauern gar nicht dazu, den für meine damaligen Ansprüche wirklich todkomischen Film über die Abenteuer der Fliegerasse meiner Mutter und meiner Tante zu erzählen, die mit merkwürdig verspannten Gesichtern in unserem Wohnzimmer am gläsernen Couchtisch beisammensaßen. Ich weiß noch, dass ich nur schwer meinen Ärger darüber verwand, den beiden Frauen kein noch so müdes Lachen entlocken zu können. Es war das letzte Mal, dass ich mit dem Geborgenheitsgefühl eines Sohnes einschlief, der den Schutz eines Vaters genießt.

Die Teilnahme an der Beisetzung der Urne wollte unsere Mutter uns ersparen. Das war lieb gemeint, hatte aber für mich fatale Folgen. Ich, der Vielredner, verstummte von da an allsogleich, wann immer die Sprache auf meinen Vater kam. Dieses eisige Schweigen spürte nahezu jeder, der arglos meinen wunden Punkt getroffen hatte, und wechselte ohne Verzug das Thema.

So war die plötzliche Abwesenheit meines Vaters, sein spurloses Verschwinden von einem Tag auf den anderen, für mein Empfinden eher einem Taschenspielertrick zu verdanken denn einem Trauerfall. Zwei Wochen zuvor hatte er sich noch mit uns am Nordseestrand im Sand gewälzt und war voller Zuversicht auf eine lange, friedvolle und genussreiche Zukunft gewesen. In diesem Sommer vor vierzig Jahren erreichten die menschlichen Ausdrucksformen Fest, Verbrechen und Abenteuer durch Woodstock, die Manson-Morde und die Mondlandung unerreichte Steigerungsformen. Alle drei Ereignisse hat mein damals dreiundvierzig Jahre alter Vater gerade noch miterlebt. Damit würde ich ihn trösten, wenn er sich über die Kürze seines Lebens beklagte.

Grabaufhebung

Sunday, 09. August 2009

In wenigen Tagen läuft nach vierzig Jahren die Ruhezeit für dieses Urnengrab ab. Deshalb nutzte ich heute eine günstige Gelegenheit, es mir zum ersten und letzten Mal anzuschauen.

Schön, dass es unter einem alten Ahornbaum liegt. Dass der Vorname in dieser Koseform gewählt wurde, lässt Raum für Spekulationen.

Eine sentimentale Regung, die ich für nicht ganz ausgeschlossen gehalten hatte, stellte sich nicht ein. Wieder machte ich die überraschende Beobachtung an mir, dass mich Friedhöfe keineswegs traurig stimmen oder gar bedrücken. Eher im Gegenteil fühle ich mich beschwingt, frohgemut und durch die Beobachtung des Eifers amüsiert, mit dem wacklige Witwen die Gräber ihrer Vorangegangenen pflegen.

Auch mit dem Tod hat der Gottesacker für mein Empfinden nur von Ferne etwas zu tun. Hier passt einmal das pervers missbrauchte Wort Entsorgung und gewinnt seine ursprüngliche Unschuld zurück.

Als meine Begleiter die Frage aufwerfen, wie ich selbst es denn gern hätte, posthum, betreffs die Verbringung der sterblichen Hülle, die dann wohl nicht mehr meine ist, bleibe ich unentschieden und verweigere eine Antwort. Vorläufig reicht mir für diesen Fall, dass ich meine Organe zur Weiterverwendung freigegeben habe. Was mit dem Rest geschieht, scheint mir völlig belanglos.

Protected: Lothar Baier

Thursday, 07. May 2009

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Protected: Lächerlich

Wednesday, 29. April 2009

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Protected: Omnibus

Monday, 27. April 2009

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Struwwelpläte

Friday, 06. March 2009

Ganz am Rande: Meine Haare haben mich nie glücklich gemacht. Vielleicht am ehesten ansehnlich waren sie in meinen allerersten Lebensjahren. Eine blonde Lockenpracht ist auf den Farbfotos der frühen 1960er-Jahre zu sehen, am Strand von Noordwijk aan Zee.

Dann wurde mir ein Kurzhaarschnitt verordnet, schließlich sollte man mich doch nicht mit einem Mädchen verwechseln. Die regelmäßigen Friseurbesuche an der Seite meines Vaters fand ich quälend wie alles, was mir eine künstliche Steifheit abnötigte und mich zu Tode langweilte.

Bald kam der Pilzkopf als neuer Standard, die Diktatur der Popkultur. Wer ihn bei den Eltern nicht durchsetzen konnte, wurde in der Schule gehänselt und hatte bei den Mädchen schlechte Karten. Mein Pech war, dass mir lange Haare nicht standen – oder, wörtlich genommen, eben gerade: völlig chaotische Wirbel. „Huch, die sind ja wie Draht!” So der Coiffeur im Salon Frank. „Da bricht mir glatt die Schere ab, har-har!”

Jetzt, in den besten Jahren, sind meine Haare fein wie Spinnfäden geworden. Ob das mit meinen veränderten Ernährungsgewohnheiten zusammenhängt? Oder mit meinen immer filigraner werdenden Denkgewohnheiten? Am Hinterkopf wird eine kahle Stelle Jahr für Jahr größer und größer, der sie umschließende Haarkranz schmaler und schmaler, wie ein Rauchring, den man gegen die Decke bläst.

Indes habe ich noch immer kein einziges graues Haar. Das Enzym Katalase ist in meinen Zellen offenbar noch ausreichend vorhanden und neutralisiert das Wasserstoffperoxid, das somit auch weiterhin keine Chance hat, das Enzym Tyrosinase anzugreifen und so die Aminosäure Methionin zu oxidieren. Diese Molekulardynamik, die zum Ergrauen führt, wurde erst jüngst wissenschaftlich ergründet. Mich würde mehr interessieren, warum man als Mann offenbar eher zur Glatze neigt, wenn man nicht ergraut; und warum Frauen weniger zur Glatze neigen als Männer. Aber auch das nur ganz am Rande. Da meine Haare – ich sagte es schon – mich noch nie glücklich gemacht haben, kann ihr Verlust mich auch nicht sonderlich unglücklich machen.

Schmutz

Monday, 02. February 2009

Was bleibt, nachdem nun diese 77 Jahre und 35 Tage gezählt sind? Ein Rechteck von 54 Quadratzentimetern, den einen Millimeter breiten schwarzen Rand mitgerechnet. Darin, rechtsbündig über dem Namen des Verstorbenen, seinen Lebensdaten und den Namen seiner engsten Angehörigen sowie dem Termin und Ort der Beerdigung, ein vieldeutiger Satz nach Michel de Montaigne: „Die Natur versteht ihre Sache besser als wir.”

Was noch? Bei einem seiner – nicht allzu zahlreichen – Leser wie mir: das Bedauern, dass hier wieder einmal jemand aus dem mächtigen Schatten eines Verwandten nie hat heraustreten können. Diesmal war’s der große Bruder, der wie zum Hohn seine Größe gleich mit im Namen führte. Und immer muss da ja im Hinterkopf der schmachvolle Verdacht schwelen, dass der geringere Erfolg sich teilweise auch noch von der strahlenden Prominenz des Namens herleitet, die der Bruder ihm verschafft hat. Gar Fälle von Verwechslung sind einzukalkulieren!

Aber dann bleiben vorzüglich seine Übersetzungen aus dem Englischen, insbesondere der Carroll’schen Alice-Romane, und hier wiederum an erster Stelle seine geniale deutsche Übertragung des Jabberwocky, den er Zipferlake nannte. Darauf muss man erst mal kommen!

Und schließlich bleibt sein letztes Buch, Was ist Was, das ich mir bei seinem ersten Erscheinen 1987 in der „Anderen Bibliothek” von Franz Greno in Nördlingen ausnahmsweise in der schon fast dekadent auf bibliophil getrimmten Vorzugsausgabe gegönnt habe: „Das Handbütten à Fleur mit eingeschöpften Blüten und Blättern der Auvergne lieferte Richard de Bas in Ambert d’Auvergne.” [s. Titelbild]

Und darin klingen jetzt die letzten Zeilen (S. 602) wie ein Epitaph (auf das Buch? oder die Menschennatur? oder auf sich selbst als Autor?): „Und noch nicht genug: denn jeder von uns hat ein solches kleines Buch in dem großen, ob geschrieben oder nicht, und jeder ein anderes – aber ein Buch jedesmal, und immer sagt es dasselbe: die Welt kann zu allem werden, was von ihr gewollt wird, wir müssen uns nur weitererfinden, erst so endlich bekommt das Schöne sein Recht übers Wahre, amen, das ist der Schluß, jetzt bin ich fertig.” (Und dann folgen doch noch zwei Wörter, die ich aber verschweige.)

Der Tod!?

Sunday, 21. December 2008

Ich erinnere mich noch so gut, als wäre es gestern gewesen, an jenen Augenblick, da mir, im Alter von vielleicht drei oder vier Jahren, plötzlich bewusst wurde, dass auch ich nicht ewig leben würde. Ich lag in meinem Bett im Kinderzimmer und konnte nicht einschlafen, weil mich dieser Gedanke völlig aus der Fassung brachte. Als mein Vater den Kopf zur Tür hereinsteckte, um mir eine gute Nacht zu wünschen, fragte ich ihn rundheraus, ob ich denn tatsächlich unbedingt irgendwann einmal sterben müsse. Gab es da wirklich keine Ausnahme? Der liebe Mann war offenbar erschrocken über diese direkte Frage seines kleinen Sohnes, gab sich aber redlich Mühe, mich in meiner tiefen Verstörung zu besänftigen, indem er mich mit dem Versprechen zu trösten suchte, dass es bis dahin ja noch eine sehr, sehr lange Zeit sei. Ich erinnere mich auch daran, dass dieser Trost mein Entsetzen nicht mildern konnte und ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von meinem Vater enttäuscht wurde, den ich doch bis dahin als einen allmächtigen Beschützer erlebt hatte, stark genug, alles Übel von mir fernzuhalten. An diesem Abend versagte er und ließ mich mit meiner Angst allein.

Das Trostpflästerchen, das mein Vater auf die Wunde geklebt hatte, die mir diese frühe Einsicht in meine Vergänglichkeit schlug, erwies sich als wenig beständig. Die Folge einer Fernsehserie von Prof. Heinz Haber in den 1960er-Jahren war dem Thema „Zeit” gewidmet. Dort lernte ich, dass für das subjektive Zeitempfinden des Menschen seine innere Uhr mit 18 Jahren bereits zur Hälfte abgelaufen ist, selbst wenn er ein gesegnetes Lebensalter von 80 Jahren erreicht.

Trost spendete mir später schon eher das bekannte Wort von Bazon Brock, in der Tradition des schwarzen Humors der Surrealisten: „Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter an der Solidarität aller Menschen gegen den Tod. Wer sich hinreißen lässt aus noch so verständlichen Gründen, aus Anlass des Todes […] ein rührendes Wort zu sprechen, eine Erklärung anzubieten, die Taten aufzuwiegen, die Existenz als erfüllte zu beschreiben, der entehrt ihn, lässt ihn nicht besser als die Mörder in die Kadaververwertungsanstalt abschleppen. Wer den Firlefanz, die Verschleierungen, die Riten der Feierlichkeit an Grabstätten mitmacht, ohne die Schamanen zu ohrfeigen, dürfte ohne Erinnerungen leben und sich gleich mit einpacken lassen. […] Der Tod ist ein Skandal, eine viehische Schweinerei! […] Lasst euch nicht darauf ein, versteht: Der Tod [ist] ein ungeheuerlicher Skandal, gegen den ich protestiere.” (Bazon Brock / Karla Fohrbeck: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln: DuMont Verlag, 1977, S. 796 f.)

Und dann gab es da noch die plausible Einsicht, schon bei den Vorsokratikern, dass ich mich doch wohl nicht um ein posthumes Nichtsein bekümmern muss, da mich mein pränatales Nichtsein ebensowenig je beunruhigt hat.

Schließlich und letzten Endes, als Fußnote zur Kopffrage, lauert der populäre Einwand, dass die Angst vorm Tod bei genauerer Betrachtung vielleicht bloß eine Angst vorm Sterben sein könnte: die Qualen des Übergangs, die doch angesichts der Ewigkeit eine gertenschlanke Nichtigkeit ausmachen. Immerhin ist das Thema Tod wohl wert, in den täglichen Notaten eines Sterblichen seinen vergänglichen Platz zu bestreiten.