Archive for the ‘Homo laber’ Category

Lockere Sprüche

Monday, 05. March 2012

,Zitat des Tages‘ neulich beim Perlentaucher ein Ausspruch des um flotte Sprüche bekanntlich nie verlegenen Oscar Wilde: „Jeder Erfolg, den man erzielt, schafft einen Feind. Man muss mittelmäßig sein, wenn man beliebt sein will.“ Danach kann sich jeder mittelmäßige Schnösel, der sich wie auch immer ein paar Feinde gemacht hat, in die Brust werfen und sich im Lichte seiner vermeintlichen Außergewöhnlichkeit sonnen. Ich will nicht in Abrede stellen, dass bei öffentlich wirksamen Personen der beschriebene Effekt eintreten kann, wenn beispielsweise ein politischer oder künstlerischer Erfolg dazu geeignet ist, Missgunst bei den Konkurrenten zu wecken. Das ist aber doch ein spezieller Fall, der mitnichten diesen generalisierenden Auftakt rechtfertigt („Jeder Erfolg, den man erzielt …“). Während Wilde sich lebenslänglich mit dem Thema sowohl theoretisch als auch praktisch beschäftigte und dabei noch allerlei weiteres aphoristisches Kleingeld unter die Leute brachte, ist der Große Meister der Gattung in seinen Sudelbüchern nur ein einziges Mal wortwörtlich auf den Erfolg zu sprechen gekommen, und da spricht er nicht einmal von dem Erfolg als öffentliche Anerkennung, sondern meint Erfolg als Gelingen (wissenschaftlicher Bemühungen): „Es gibt kein größeres Hindernis des Fortgangs in den Wissenschaften, als das Verlangen, den Erfolg davon zu früh verspüren zu wollen. Dieses ist munteren Charakteren sehr eigen; darum leisten sie auch selten viel; den sie lassen nach und werden niedergeschlagen, sobald sie merken, daß sie nicht fortrücken. Sie würden aber fortgerückt sein, wenn sie geringe Kraft mit vieler Zeit gebraucht hätten.“ (Aph. K 178; zit. nach Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Zweiter Band. München: Carl Hanser, 1971, S. 431.) – Es könnte eine dankbare Aufgabe für einen Possenschreiber sein, wollte er Lichtenberg und Wilde als Paar, wie es sich gegensätzlicher nicht denken lässt, auf die Bühne bringen. Nur diese beiden, aus einem Abstand von hundert Jahren in ein gemeinsames Jetzt geworfen! Sie träten jeweils durch zwei gegenüberliegende Türen auf, kämen aus ihren jeweiligen Welten von 1794 bzw. 1894, der geduldige Forscher Lichtenberg aus seinem Göttinger Gartenhaus an der Weender Chaussee, der muntere Charakter Wilde aus seiner Londoner Stadtwohnung, 16 Tite Street. (Was für Dialoge wären daraus zu entwickeln.)

Bitte nicht lachen

Thursday, 26. January 2012

Gerade lese ich ein paar Absätze in Roland Barthes’ Die Lust am Text. An einer Stelle ergeht er sich, der Vielbelesene, wie er in einem von Stendhal vermittelten Text „ein winziges Detail Proust“ wiederentdeckt und sich daraufhin an eine ähnliche Passage bei Flaubert erinnert. Er spricht von „zirkularer Erinnerung“, insofern das große Werk von Marcel Proust sein zentraler Bezugspunkt ist, wie es die Briefe der Madame de Sévigné für seine Großmutter gewesen seien oder für Don Quijote die Ritterromane. Das klingt mir vertraut, es besteht kein Zweifel, hier spricht ein Hirntier und Bücherfresser vor dem Herrn glaubwürdig von den Assoziationskaskaden, die ihm jede lustvolle Lektüre verursacht. – Aber dann? Lässt Barthes unvermittelt seinen Gedanken in einer Generalisierung gipfeln, die mir völlig unsinnig erscheint: „Und eben das ist der Inter-Text: die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben – ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist: das Buch macht den Sinn, der Sinn macht das Leben.“ (Roland Barthes: Die Lust am Text. A. d. Frz. v. Traugott König. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1974, S. 53 f.) Aber was ist das für eine plumpe Gleichmacherei? Es ist die Ignoranz des Intellektuellen vor den Quantensprüngen der technischen Entwicklung. Sein Unfalltod kommt mir insofern vor wie die gesuchte Pointe zu einem traurigen Witz.

Amt, beschädigt

Thursday, 05. January 2012

Ausnahmsweise werde ich mir doch einmal untreu und äußere mich zur Tagespolitik. Seit Guttenberg, mithin seit einem Dreivierteljahr, habe ich mich zurückgehalten und meinen Ärger, meinen Ekel und meine Belustigung über das alltägliche Hickhack unserer demokratisch gewählten, politischen Sachwalter und Repräsentanten und die nicht minder unappetitliche Ausplünderung dieses Spektakels in den kommerziellen Massenmedien hinuntergewürgt. Es gibt ja verdienstvolle Weblogs ohne Zahl, die auf diesem Feld vortreffliche Arbeit leisten, von netzpolitik.org und mediaclinique über Feynsinn, Schockwellenreiter und NachDenkSeiten bis hin zu den Sozialtheoristen und FeFes Blog. Setzt man nur diese Sieben Zwerge auf die Blogroll, dann ist einem alltäglich aus dem Herzen gesprochen und man kann sich allmorgendlich zwischen Frühstück und Tagwerk mit der schönen Illusion besänftigen, dass es noch genug kritischen Verstand in diesem Land gibt und wir uns um die Demokratie nicht sorgen müssen. – Jetzt aber muss ich doch einmal was sagen. Gestern hat Christian Wulff im Öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sendezeit zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Rede und Antwort gestanden. Da ich bekanntlich kein TV-Gerät beherberge und mir ohnehin solche wichtigen Einlassungen lieber schwarz auf weiß gedruckt zu Gemüt und Verstande führe, kenne ich das Ergebnis dieses knapp 18 minütigen Verhörs, dem der Bundespräsident seitens Bettina Schausten (ZDF) und Ulrich Deppendorf (ARD) unterzogen wurde, nur aus den jetzt als Abschrift im Internet verfügbaren Versionen. Hier also mein Urteil. Die Frage, ob sich Wulff etwas hat zuschulden kommen lassen, das seinen Rücktritt zwingend erforderlich macht, kann ich nicht beantworten. Ob seine Kreditgeschäfte oder sein Umgang mit der Presse gegen geltende Gesetze verstießen, müssen schlimmstenfalls die zuständigen Instanzen entscheiden. Was mich jedoch wirklich erschüttert, das ist das Bild, das dieser Mann in der erbarmungswürdigen Lage abgibt, in die er selbst sich durch sein doch wohl mindestens ungeschicktes Handeln und in die ihn die erbarmungslose Öffentlichkeit durch ihren unstillbaren Hunger auf Sensation getrieben haben. Es ist dies das Bild eines kleinen Jungen, der in der Ecke steht und um Straferlass bettelt. So ganz anders stand Wulffs Amtsvorgänger Horst Köhler bei seinem überraschenden Rücktritt im Mai 2010 vor der Medienmeute: trotzig, gar angriffslustig. Köhler hat sich unsere Sympathien, so wir denn überhaupt welche hatten, damals durch seine Uneinsichtigkeit verscherzt. Wulff hingegen ist nur zu bemitleiden. Die zynische Frage muss nun leider lauten: Welches Schauspiel fügt dem Amt des Bundespräsidenten den größeren Schaden zu?

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Friday, 01. July 2011

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Ort(h)ografie? Ort(h)ographie?

Tuesday, 03. May 2011

Die Verführungskraft der Patzer in der Süddeutschen ist in letzter Zeit wieder besonders groß. Erneut gelingt es einem ihrer Redakteure, in einem Artikel zum Thema richtiges Deutsch einen bösen Fehler unterzubringen. Ja, es kommt sogar noch dicker. SZ-Mitarbeiter alex macht seinen Schnitzer ausgerechnet in einem Satz über die (nach der neuen Rechtschreibung) korrekte Schreibweise des (aus dem Altgriechischen hergeleiteten) Fachworts für Rechtschreibung: Orthographie; und zwar, peinlicher geht ‘s nimmer, in diesem Wort selbst!

Worum geht es in dem Feuilleton-Beitrag? Seit gestern ist die neue Website des Duden online: „Endlich auch in Digitalien ein orthographischer Stecken und Stab für ahnungslose Sprach-User.“ So locker-flockig, mit gleich zwei kreativen Neologismen, die man auch in der aktuellsten Print-Version des Duden vergeblich suchen würde, führt uns alex ans Thema heran, um dann fortzufahren: „Apropos: Ist Orthographie überhaupt korrekt? Oder heißt es mittlerweile Ortografie? Gleich mal nachschauen auf www.duden.de/suchen/dudenonline: ,Orthografie, Orthographie, die. Wortart: Substantiv, feminin‘. Geht also beides.“ (alex: Aus Sprechern sollen User werden; in: SZ Nr. 101, S. 11. – Nebenbei: Auch der Titel dieser Glosse ist völlig danebengeraten. Nachschlagewerke zur Rechtschreibung, gleich ob traditionell als Buch oder digitalisiert und online, wurden und werden in erster Linie nicht von Sprechern, sondern von Schreibern genutzt. Und zudem sollen auch diese nicht ihr Verhalten als Schreibende ändern, sondern ihr Verhalten beim Nachschlagen. Allenfalls könnte die Headline also lauten: Aus nachschlagenden Schreibern sollen tippende und klickende User werden. Das wäre wohl als Überschrift viel zu lang, aber vermutlich die kürzeste korrekte Formulierung für den gemeinten Sinn. Was dort nun stattdessen als Titel steht, ist jedenfalls kompletter Blödsinn!)

Es geht also beides? Offenbar kann der Verfasser nicht einmal bis drei zählen, denn so viele Varianten des Wortes hat er doch selbst soeben gebracht: [1] Orthographie; [2] Ortografie; [3] Orthografie. Und wenn wir schon mal dabei sind, dann sollten wir auch die letzte nicht unterschlagen: [4] Ortographie. Um es vorwegzunehmen: [1] und [3] gehen, [2] und [4] nicht, aber nach [1] und [2] hatte alex gefragt, [1] und [3] gefunden – und geantwortet: „Geht also beides.“

Und sonst? Ansonsten verfehlt der flapsige Artikel sein Thema. Denn worum es bei der Kurzvorstellung eines neuen Online-Werkzeugs zuallererst gehen müsste, wäre doch dessen Funktionsweise. Was passiert, wenn ich ein Wort, dessen korrekte Schreibweise ich nicht kenne, ins Suchfeld eingebe? Dabei wäre besonders interessant zu erfahren, wie das Verzeichnis reagiert, wenn ich ein falsch geschriebenes Wort eingebe. Im konkreten Beispiel hätte alex vielleicht mal seine für möglich gehaltene Variante [2] Ortografie prüfen können. Ich habe genau das getan und erhielt unter der Überschrift Suchergebnisse folgende Antwort: „Die Suche nach ,ortografie‘ lieferte 0 Treffer | Oder meinten Sie: Kartografie, Fotografie, Areografie“.

Hier könnte nun ein Kritiker, der diesen Namen verdient, berechtigte Bedenken anmelden. Wenn ich als „User“ des neuen Duden-Onlinewörterbuchs den Begriff nur vom Hörensagen kenne, dann wüsste ich doch gern, wie das Wort sich richtig schreibt. Vielleicht würde ich in einem nächsten Versuch [4] Ortographie eingeben. Ich erhielte dann exakt das gleiche Ergebnis, wieder mit den kaum hilfreichen, geradezu unsinnigen Verweisen auf die Wörter Kartografie, Fotografie und Areografie. Außerdem würde mich gewiss interessieren, warum man den Wortteil „Ortho-“ nicht ohne „h“ schreiben darf, den Wortteil „-graphie“ hingegen sehr wohl mit „f“ statt „ph“. Richtige Schreibweisen von falschen zu unterscheiden fällt ja schließlich viel leichter, wenn man die Regeln kennt, die dem zugrunde liegen. Hier versagt Dudenonline völlig – und sein „Kritiker“ ebenfalls.

Einband des Umschlages?

Thursday, 28. April 2011

Sollte sich trotz meines längeren Schweigens gelegentlich noch der eine oder andere Leser auf dieses Blog verirren, und sollte sich unter diesen paar Versprengten gar einer tummeln, der mit langem Atem mein treuer Gast ist, dann könnte ihm aufgefallen sein, dass unter anderen Rubriken auch diese, Sprechblasen genannte, sanft entschlummerte, vor ziemlich genau zwei Monaten. Mir schien es nämlich nach nur 13 Folgen nicht mehr der Mühe wert, mich auf die alltägliche „Schnitzerjagd“ zu begeben. Das war zu leicht, das wurde bald fad! Zudem verspürte ich bei meiner hämischen Kritikasterei stets ein leichtes Unbehagen, da ich doch hier ausgerechnet eine jener wenigen Tageszeitungen deutscher Sprache aufs Korn nahm, die bei allen angekreideten Fehlern immer noch den Anspruch zu haben scheint, richtig und gut zu schreiben.

So ließ ich ’s also bleiben. Und wenn ich jetzt einmal rückfällig werde, dann nur deshalb, weil der Süddeutschen in ihrer heutigen Ausgabe ein Patzer unterlaufen ist, der mir gleich in zweifacher Hinsicht bemerkenswert erscheint, handelt es sich hier doch um einen Fall von Steinewerfen im Glashaus und zugleich um einen Fall von kulturellem Banausentum.

Erstens geht es in dem fraglichen Artikel gerade um „peinliche Fehler“, nämlich im Begleitheft zum Finale des Eurovision Song Contest, das am 14. Mai 2011 in Düsseldorf ausgetragen wird. Das in einer Auflage von 65.000 Exemplaren gedruckte Heft kündigt einen gleichtags stattfindenden „Aktionstag der Schwulen“ an. Und in den 35.000 Exemplaren der Broschüre in englischer Sprache ist analog von einem „Gay’s Day of Action“ die Rede. Dumm nur, dass es sich um einen „Aktionstag der Schulen“ handelt. Das ist verständlicherweise ein Fall für die Panorama-Seite der SZ, denn dort will sich der gebildete Leser dieses Blattes schließlich für alles entschädigen, was ihm durch seinen BILD-Boykott entgeht.

Was aber dem Fass den Boden ausschlägt: dass nun just in diesem Oberlehrer-Artikel dem anonymen Autor ebenfalls ein Lapsus widerfährt, und zwar einer, der nicht bloß auf Flüchtigkeit beruht wie in den von ihm monierten Fällen, sondern noch ganz andere Defizite offenbart. Er schreibt: „Ein weiterer Fehler findet sich auf dem Einband des Umschlages.“ (SZ Nr. 97 v. 28. April 2011, S. 9.) So etwas gibt es nicht und kann es nicht geben! Vielleicht hat der Leser dieser Zeilen im Unterschied zu dem zitierten SZ-Redakteur einmal ein Buch in der Hand gehalten und erinnert sich von daher, dass das viele Papier im Inneren äußerlich von zwei meist etwas stabileren Deckeln eingefasst war, einer vorn und einer hinten. Dies nennt man „Einband“. Viele Bücher hüllen sich nun zusätzlich noch in eine Schutzschicht, damit die Einbanddeckel beim Lesen am Früstücks- oder Abendbrottisch nicht so leicht bekleckert werden können. Diese Schicht nennt man „Umschlag“.

So wird auch dem Buchunkundigen hoffentlich klar, dass man notfalls von einem „Umschlag des Einbandes“ sprechen kann, mitnichten jedoch, wie in dem Artikel geschehen, von einem „Einband des Umschlages“. (Der lässliche Flüchtigkeitsfehler auf dem Umschlag des Einbands sei immerhin noch nachgetragen: „Statt ,Welcome to Duesseldorf‘ steht da ‚Wielcome‘.“ Geschenkt!)

Wortgefechte im Sandkasten

Saturday, 16. April 2011

„Der Vorwurf, meine Doktorarbeit sei ein Plagiat, ist abstrus“, teilte Guttenberg unmittelbar nach Bekanntwerden des Plagiatsverdachts gegen seine Doktorarbeit vor Medienvertretern in Berlin mit. (Spiegel online v. 16. Februar 2011.) Nun bedeutet abstrus im eigentlichen Wortsinn soviel wie „tief verborgen, dunkel, schwer verständlich oder geradezu unverständlich“ (nach Adolf Genius: Neues großes Fremdwörterbuch. Regensburg 1933, S. 9) oder auch „versteckt, verborgen […] (abwertend) absonderlich, töricht […] schwer verständlich, verworren, ohne gedankliche Ordnung“ (nach dem Duden Fremdwörterbuch. Mannheim: Bibliographisches Institut, S. 8). Das Wort passte nicht zur Sache – und der Fehler bei der Wortwahl erscheint nachträglich wie ein erster versteckter Hinweis darauf, dass der strahlende Politstar vielleicht doch ein Problem mit dem Verhältnis von Schein und Sein haben mochte.

Noch am gleichen Tag meldete sich Guttenbergs weltberühmter und über jeden Zweifel erhabener Doktorvater, der brave Professor Peter Häberle aus Bayreuth zu Wort und wies die Vorwürfe gegen seinen Ex-Doktoranden im empörten Brustton lauterster Überzeugung zurück: „Das ist absurd“, sagte er der Münchner Abendzeitung. „Die Arbeit ist kein Plagiat.“ (AZ online v. 16. Februar 2011.) Auch dieses Wort passt nicht so recht in den Zusammenhang, heißt es doch ursprünglich soviel wie „mißtönend“, dann auch „ungereimt, abgeschmackt, einen Widerspruch enthaltend“ (Genius, a. a. O.) bzw. „widersinnig, dem gesunden Menschenverstand entsprechend, sinnwidrig“ (Duden Fremdwörterbuch, a. a. O.). Einzig das vom Duden zuletzt noch angeführte Synonym „abwegig“ könnte passen, wenn Häberle unterstellen will, dass der Beweisführer für einen solchen Vorwurf die Argumente für seine Behauptung nur abseits von Logik, Vernunft und Realität finden könnte.

Neuerdings gibt es deutliche Anzeichen, dass das Gaddafi-Regime im Bürgerkrieg in Libyen Streubomben verwendet. Die libysche Führung bestreitet den Einsatz dieser international geächteten Munition. „Wir tun das nie“, wies Regierungssprecher M[o]ussa Ibrahim in der Hauptstadt Tripolis entsprechende Vorwürfe von Human Rights Watch zurück. Die Berichte seien „surreal“. (sueddeutsche.de v. 16. April 2011.) Dieses Adjektiv kommt bei Genius noch gar nicht vor; das Duden Fremdwörterbuch übersetzt: „traumhaft, unwirklich“ (a. a. O., S. 704). Könnten die Augenzeugen in Misrata den nächtlichen Hagelschlag tausender tödlicher Geschosse in den engen Straßen ihrer Stadt nur geträumt haben?

Interessant ist dabei ja, wie der libysche Regierungssprecher auf solch ein Wort überhaupt kommt. Zufällig stieß ich auf einen Bericht über eine Pressekonferenz des Gaddafi-Regimes Ende März, an der auch M[o]ussa Ibrahim teilgenommen hat. Die Autorin Lourdes Garcia-Navarro zitiert darin ihren Landsmann Don Macintyre, der Zeuge dieser unwirklich anmutenden Veranstaltung wurde: “There is something very surreal about sitting in Tripoli and hearing people talking about things that we actually know to be untrue, but having no access to the outside world […] That is a very surreal experience.” (In Libyan Capital, Reporters Encounter The Surreal; nach npr National Public Radio v. 30. März 2011.)

Vielleicht hat M[o]ussa Ibrahim diesen Radiobericht gehört und zahlt nun mit gleicher Münze heim, wie wir Kinder damals im Sandkasten: „Wer ’s sagt, der isses selber!“

Zwei Zitate

Sunday, 20. March 2011

Ich war in der vergangenen Woche verstimmt. Manchmal ist es besser, zu schweigen. Das sieht man nachträglich an jenen, die die Klappe einfach nicht halten können. Um mich vorsichtig wieder ans Bloggen heranzutasten, beginne ich mit zwei Zitaten zu diesem Thema.

Das eine stand in der WAZ in der Rubrik „Zitate des Tages“ und fiel mir beim Erfassen meiner Bücher fürs Versandantiquariat entgegen, auf einem undatierten Zeitungsausschnitt, viereinhalb mal fünfeinhalb Zentimeter groß, wohl ziemlich genau 30 Jahre alt. Es spricht der Vorstandsvorsitzende der VEBA AG, Rudolf von Bennigsen-Foerder: „Der weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung dürfte kein Verständnis dafür haben, wenn die Maschinenstürmer unserer Zeit aus ideologischen oder weltfremden Motiven alles, was wir bisher erreicht haben – unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung, unsere Wirtschaftsordnung – aufs Spiel setzen.“

Bennigsen-Foerder ist seit gut zwei Jahrzehnten tot. Sonst könnte man ihn fragen, ob er nicht jetzt erkenne, dass er durch seine Energiepolitik weit mehr aufs Spiel gesetzt hat als nur die von ihm hier angeführten Werte? Und ob er nicht einsehen müsse, dass wir es vor allem jenen von ihm verhöhnten ,Maschinenstürmern‘ zu verdanken haben, wenn in Deutschland immerhin vergleichsweise strenge Sicherheitsnormen für AKWs durchgesetzt wurden? Aber man darf ja nicht daran erinnern, dass man ,es‘ schon immer wusste. Vornehm geht die Welt zugrunde!

Das andere Zitat entnehme ich dem Interview, das Christa Wolf der ZEIT gewährt hat, aus gegebenem Anlass und trotz ihrer anfänglichen Unlust. Denn gleich eingangs bekennt sie, dass ihre Hoffnung geschwunden sei, mit dem, was man nach so einer Katastrophe sagen könne, irgendetwas zu bewirken. Leider verrät sie uns Lesern, deren Zeit sie ja nun in Anspruch nimmt, die Beweggründe nicht, warum sie dann doch Rede und Antwort stand. (Ich hätte da so ein kleines mickeriges Motiv im Angebot. Aber was soll ’s?) Viel schlimmer ist das hilflose Gefasel, das die „Expertin für den Weltuntergang“ von sich gibt (So nennt die ZEIT sie tatsächlich im Untertitel; ob allen Ernstes oder mit respektloser Ironie, das bleibe dahingestellt.)

Eine Kostprobe. Auf die Frage, wie einer Menschheit zu helfen wäre, die aus ihren Fehlern nichts lernt, antwortet Christa Wolf: „In Japan scheinen die Menschen unendlich technikgläubig zu sein. Man müsste sie fragen: Was ist eigentlich das Ziel unseres Daseins? Momentan wohl Profit, den wir in einem tödlichen Wettkampf zu erlangen versuchen. Die Utopien unserer Zeit treiben Monstren hervor. Aber das ist den meisten Menschen nicht bewusst, denn sie leben ja mitten in ihrer Zeit und können sich aus dem Hamsterrad des Fortschritts nicht lösen. Vielleicht kann ein Unglück wie dieses doch ein Nachdenken über andere mögliche Wege anstoßen. Aber wie soll man all die Menschen in eine andere Richtung lenken? Dafür reicht meine Fantasie nicht aus. Der Forscherdrang hat sich immer weiter in diese eine Richtung entwickelt: Was machbar ist, wird gemacht. Und wenn ein Land aus moralischen Gründen etwas nicht macht, macht es das andere. Und weil beide das voneinander wissen, machen sie weiter. Wir schaffen es einfach nicht, diese Entwicklung, die wir ,Fortschritt‘ nennen, zu bremsen.“ („Bücher helfen uns auch nicht weiter“; in: DIE ZEIT Nr. 12 v. 17. März 2011, S. 53.) Hat die bürgerliche Presse in diesem Land denn jede Ehrfurcht vor dem Alter verloren, dass sie es zulässt, wenn sich eine einst hoch angesehene Autorin mit solchen faden Gemeinplätzen, unausgegorenen Halbwahrheiten und albernen Stoßseufzern blamiert? – Dann doch lieber weiße Seiten, Leere und Schweigen.

Fehler?

Thursday, 24. February 2011

Ich komme einfach nicht hinweg über diese „Causa Guttenberg“. Eigentlich widerstrebt es mir ja, mich an Mainstream-Diskussionen der Bundespolitik zu beteiligen, weil die jeweils aktuellen Aufregungen bloß von den tatsächlichen, viel grundsätzlicheren Problemen und Skandalen ablenken. Das Dioxin in den Eiern ist mir egal. Dass die Konsumenten mal für ein paar Wochen die Regale mit den Bioeiern leerkaufen, um dann wieder zu den billigeren Varianten zurückzukehren, und dass sich dieses Spielchen nun alle Jahre wiederholt, worauf jedesmal wieder ein großes Geschrei anhebt, das ist eigentlich nur noch komisch. Da lachen ja die Hühner! Und ob ein Minister seine Doktorarbeit selbst geschrieben hat oder hat schreiben lassen, ist mir insofern völlig egal, weil ich längst begriffen habe, dass prinzipiell alle Ehrentitel und Würdezeichen in unserer Welt käuflich sind. Nun hat er sich erwischen lassen, weil er so dermaßen plump zu Werke gegangen ist bei seiner Fälschung, dass man es fast nicht glauben möchte. Das ist peinlich für ihn, aber im Grunde noch peinlicher für jene, die es nicht gemerkt haben, weil sie sich vermutlich von seinem politischen Amt haben blenden lassen. Und um dem Fass den Boden auszuschlagen, haben sie noch summa cum laude druntergeschrieben. Ist das nun ein Thema für mich? Nein, es ist doch nur der uralte Klassiker vom tragischen Höllensturz des vermeintlich engelsgleichen Lieblings der Massen, der sich nun als Übeltäter entpuppt. Ich weiß noch, ich wurde gerade elf Jahre alt, wie meine Oma sich ein Tränchen verdrückte, als ihr Traummann aus der Glotze, Lou van Burg, sich als Seitenspringer entpuppte. Über solche Schmierenkomödien muss ich doch hier nicht schreiben.

Und doch gibt es etwas an diesem speziellen Fall von ,Fall eines Helden‘, das ihn wertvoll macht. Ich will versuchen, genau das herauszustellen.

Heute berichtet die Süddeutsche auf ihrer Titelseite über den Auftritt Guttenbergs vor dem Bundestag am gestrigen Mittwoch: „Nachdem er Fehler eingestanden und auf seinen Doktor-Titel verzichtet habe, sehe er keine Veranlassung, von seinem Ministeramt zurückzutreten. Von einem Plagiat könne keine Rede sein, weil dies bewusste Täuschung voraussetze. Die Fehler in der Arbeit erklärte der Minister mit der Mehrfachbelastung als Abgeordneter, Doktorand und Familienvater.“ (Der Doktor-Titel ist weg; in: SZ Nr. 45 v. 24. Februar 2011, S. 1.) Hier bleibt die Zeitung, die doch ursprünglich den Stein ins Rollen gebracht hat, hinter ihren eigenen Erkenntnissen zurück, indem sie das Wort „Fehler“ zweimal nicht in Anführungszeichen setzt. Genau dies ist ja der Taschenspielertrick des Ministers, bei seinem groß angelegten Betrugsversuch als von „Fehlern“ zu sprechen, die ihm unterlaufen seien. Als wären das Flüchtigkeitsfehler, entschuldbar durch den großen Stress in diesen sieben Jahren, in denen er mit seinem Plagiat zugange war! Und Guttenberg hat gar die Kaltschnäuzigkeit, in der besagten Befragung im Bundestag jeden mit einer Anzeige wegen übler Nachrede zu bedrohen, der ihm etwa unterstellen wollte, er habe absichtsvoll getäuscht und die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens schuldhaft verletzt. Wenn man den Verteidigungsminister hier ernst nehmen wollte, dann belegten die im GuttenPlag Wiki mittlerweile dokumentierten zahllosen Fälle von Abschreiberei, dass Guttenberg beim Verfassen seiner Arbeit, also während sieben langen Jahren, unter einer schweren Bewusstseinstrübung gelitten haben muss. So etwas mag ja tatsächlich vorkommen, wie etwa auch Kleptomanen sich fallweise an ihre Diebstähle gar nicht erinnern können, verwundert das Diebesgut in ihren Taschen vorfinden und nicht wissen, wie es dort hineingekommen ist.

Genau diesen Weg beschreitet Guttenberg in seiner Argumentation, um sein Amt zu retten. Bei einer Rede vor unverdrossen ihm treu ergebenen Anhängern am Montag im hessischen Kelkheim schüttete er gleich sackweise Asche über seinem Haupt aus, um sich zu exkulpieren: „Ich habe in der – wenn man so will – in der Affäre um ,Plagiat: ja oder nein?‘ an diesem […] Wochenende mir auch die Zeit nehmen dürfen, […] mich auch noch einmal mit meiner Doktorarbeit zu beschäftigen. Und ich glaube, das war auch geboten und richtig, das zu tun. Und nach dieser Beschäftigung […] habe ich auch festgestellt, wie richtig es war, dass ich am Freitag gesagt habe, dass ich den Doktortitel nicht führen werde. Ich sage das ganz bewusst, weil ich am Wochenende – auch, nachdem ich diese Arbeit mir intensiv noch einmal angesehen habe – feststellen musste, dass ich gravierende Fehler gemacht habe; gravierende Fehler, die den wissenschaftlichen Kodex, den man so ansetzt, nicht erfüllen. Ich habe diese Fehler nicht bewusst gemacht. Ich habe auch nicht bewusst oder absichtlich in irgendeiner Form getäuscht und musste mich natürlich auch selbst fragen […]: Wie konnte das geschehen,? Wie konnte das passieren? […] Und das sind selbstverständlich Fehler. Und ich bin selbst auch ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Und deshalb stehe ich auch zu diesen Fehlern. Und zwar öffentlich zu diesen Fehlern, meine Damen und Herren, und bin auch ganz gerne bereit, dies in die hier stehenden Kameras zu sagen, […].“ (Zit. nach Hans Hütt: Guttenbergs Wettertannenrede; auf CARTA.) Die Professionalität, mit der Guttenberg vorgeht, wäre bewundernswert, wenn der Schaden, den er seinem Amt und dem Ansehen der Demokratie damit zufügt, nicht so beklagenswert wäre. All diese nachweisbaren wörtlichen oder – noch schlimmer! – geringfügig abgewandelten Textstellen, von denen mindestens eine auf drei Vierteln aller Seiten seiner über 400 Seiten umfassenden Schrift vorkommt, sind also von ihm unbemerkt dorthin geraten? Und das müssen wir ihm glauben, andernfalls er uns mit einer Anzeige wegen übler Nachrede bedroht? Vielleicht gar – Majestätsbeleidigung?

Ach, was schreibe ich mich hier in Rage? Was ich nur festhalten wollte, ist dies: Wenn der Noch-Verteidigungsminister und Ex-Dr. Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg einen Fehler gemacht hat, dann war es der darauf zu vertrauen, der Glanz seiner Herkunft und seiner Stellung könnte ausreichen, jegliche Zweifel an seiner Rechtschaffenheit dauerhaft zu überblenden und so seine plumpe Fälschung dem Zugriff kritischer Nachprüfung zu entziehen.

Baedecker?

Tuesday, 22. February 2011

In einem großen Artikel auf der Literatur-Seite stellt Thomas Senne heute in der Süddeutschen ein neues Büchlein über Samuel Becketts Deutschlandreisen der Jahre 1936 und 1937 vor. Natürlich schreibt der Rezensent den Namen des Nobelpreisträgers richtig, mit „ck“ und einem doppelten „t“ am Ende. (Thomas Senne: Unspeakable Eintopf; in: SZ Nr. 43 v. 22. Februar 2011, S. 14.)

Beckett hat während seiner Exkursion ins Reich der Finsternis Tagebuch geführt. Sein Neffe Edward Beckett untersagte „unverständlicherweise“, wie Senne findet, die Veröffentlichung dieser German Diaries seines 1989 verstorbenen Onkels. Nun hat der Musikkritiker Steffen Radlmaier, Feuilletonchef der Nürnberger Nachrichten, dieses Verbot immerhin teilweise unterlaufen, indem er in seiner jüngst erschienenen Studie Beckett in Bayern ausgiebig aus den Tagebüchern zitiert. (Bamberg: Kleebaum Verlag, 2011.) Auch den Namen Radlmaier schreibt Thomas Senne richtig.

Warum aber bringt er es nicht fertig, den Namen des vielleicht berühmtesten Reiseführers der Welt, der sich seit Jahrzehnten auch international als Eponym für diese spezielle Art von Nachschlegewerken durchgesetzt hat, korrekt mit einfachem „k“ zu schreiben?

Allerdings kann ich den Rezensenten damit trösten, dass er sich mit diesem Schreibfehler zwar nicht in gute, aber doch in große Gesellschaft begeben hat. Ich habe 17 Jahre lang in der gleichnamigen Buchhandlung in meiner Vaterstadt gearbeitet, deren Gründer Gottschalk Diederich Baedeker ein Vorfahre des Reiseführer-Verfassers Karl Baedeker war. Damals habe ich hunderte von Dokumenten aller Art gesammelt, vom Brief über den Zeitungsartikel bis hin zum Buchzitat, in denen mit sturer Ignoranz immer wieder „Baedecker“ geschrieben wurde.

Übrigens wissen wir ja nicht, ob Senne für den Fehler selbst verantwortlich ist, oder ob er ihn bei Radlmaier vorgefunden und bloß unhinterfragt abgeschrieben hat. Und selbst die schlimmste Befürchtung, dass der Patzer auf Samuel Beckett höchstpersönlich zurückgehen könnte, darf ich nach meinen traurigen Erfahrungen nicht mit letzter Gewissheit ausschließen, solange ich mich nicht vom Gegenteil überzeugt habe. Es ist doch ein rechtes Elend mit der Hudelei der Schreiber in unserer Zeit!

Wurzeln in Nachwehen?

Monday, 07. February 2011

blase9

Die unbeschränkte Kreativität der Zeitungstexter treibt erst recht auf dem unschuldigen Felde der Programmankündigung ihre Blüten, denn dort müssen sie ja nicht mal mit ihrem Namen dafür geradestehen.

Heute zum Beispiel widerfährt uns folgende atemlose Hatz: „Über mehrere Wochen jagt ein Trupp Männer den Trapper Gideon […] durch die Wildnis Nevadas. Ihr Anführer wird vom Wunsch nach Rache getrieben, dessen Wurzeln in die Nachwehen des amerikanischen Bürgerkrieges zurückreichen.“ (SZ Nr. 30 v. 7. Februar 2011).

Was Wehen sind, weiß jede Mutter. Wurzeln kennen Pflanzer und Dentisten. Dass ein Wunsch Wurzeln haben kann, mutet schon etwas sonderbar an. Dass diese aber in Nachwehen wurzeln können, muss bestritten werden. Und auch über die Nachwehen eines Bürgerkrieges würde man gern mal aufgeklärt. Wie nämlich heißt dann, wenn wir im Bilde bleiben, das Baby, das von den Wehen in die Welt getrieben wurde?

Andererseits ermuntert ein solcher Mumpitzsatz zur artifiziellen Nachahmung. Etwa so: „Etliche Monate hetzt eine Horde wilder Weiber den anämischen Nerd Tobias durch den Dschungel der nächtlichen Metropole. Ihre Anführerin wird von der Gier nach brutalem Sex aufgepeitscht, die in den Flashbacks morbider Drogennächte der Prohibitionszeit ankert.“

Auf eine solche Programmankündigung hin würde ich mich glattzu einem Fernsehabend bei meiner schwerhörigen Tante Lotte einladen.

Was denn nun?

Friday, 04. February 2011

riesenminiknochen

Gestern wurde ich Ohrenzeuge, wie Ariadne von Schirach im Deutschlandradio Kultur nahezu ekstatisch eine Broschüre aus dem Merve-Verlag besprach, François Julliens Die stillen Wandlungen. Die Rezensentin wurde bekannt durch ihr Buch Der Tanz um die Lust, das ich nicht gelesen habe und darum auch nicht beurteilen kann. Der in den Kritiken selten unterbleibende Hinweis auf ihren Großvater Baldur trug nicht dazu bei, mich mit dem Werk dieser Autorin näher zu beschäftigen. Ihr Auftritt gestern im Rundfunk ließ mich allerdings aufhorchen.

In einem hingerissenen Redeschwall, der an den leicht durchgeknallten Filmkritiker Hans-Ulrich Pönack erinnert, welcher ja beim selben Sender Unterschlupf gefunden hat, erklärte Schirach, was wir Zuhörer uns unter einer ,stillen Wandlung‘ vorzustellen haben: „Eine stille Wandlung ist das Alter. Eine stille Wandlung ist der Klimawandel. Eine stille Wandlung ist auch – sehr poetisch – das Fortgehen der Liebe. Man merkt es. Es fängt an, aber irgendwann … wir sehen nur die Ergebnisse. Wir haben kein Gespür für diese stillen Wandlungen. Vor allem geht es auch um Politik, also da geht es um die Unruhen in der islamischen Welt. Das ist gerade keine stille Wandlung mehr. Die ist realtiv laut und bevölkert unsere Nachrichten. Mit diesem Blick auf die stillen Wandlungen könnte man aber sagen: Was passiert denn bei uns? Was passiert in der Eurozone? Es zeichnen sich Dinge ab, mit Irland, mit Griechenland. Es kommen so kleine revolutionäre Schriften aus Frankreich. Das wären klassische stille Wandlungen. Jullien schärft unseren Blick. Er sagt, sie sind still, aber nicht unsichtbar. Sie bahnen sich an.“ – Von dem nahezu sprachlosen Moderator des Radiofeuilletons befragt, was uns dies denn bringe, prägte die studierte Philosophin folgenden Satz: „Zunächst, dass die Bedingungen unseres Denkens zufällig sind, zufällig und zugleich notwendig.“ Es habe, so offenbar ihre persönliche Erfahrung, „etwas ungeheuer Erfrischendes, zu begreifen, dass man die Welt ganz anders sehen kann.“ (Hier der O-Ton.)

Hm. – Deutschlandradio Kultur beschäftigt Ariadne von Schirach als freie Mitarbeiterin. Ob sie für solche Unsinnsgespinste einen großen Verdienst erhält, kann ich nicht sagen, große Verdienste um den menschlichen Erkenntnisfortschritt wird sie damit jedenfalls nicht erwerben. Wenn sie uns erklärt, die Konfrontation von westlichen Problemen mit östlichem Denken sei Julliens „großer Verdienst“, dann muss man der Philosophin (und leider auch dem Deutschlandradio, das den Fehler unberichtigt in sein Programmheft übernimmt) den kleinen, aber wesentlichen Unterschied erklären: Der Verdienst klingelt in der Kasse, das Verdienst hingegen ist ein rein ideelles Gut.

„Zufällig und zugleich notwendig“ – das klingt vielleicht in manchen hohlen Köpfen toll, denn solche bilden ja oft einen guten Resonanzkörper. Tatsächlich ist ’s ein arger Nonsens, den unsere schwärmerische Kritikerin offenbar so pfiffig findet, dass sie ihn ausgangs noch einmal strapaziert: François Jullien „beherrscht diese größte aller Künste, das Leben in seiner Zufälligkeit und Notwendigkeit zu illustrieren. Das ist fast wie eine Meditation.“

Wow! – Solcherlei Heißluft-Philosophasterie hat eindeutig weniger als zwei Prozent Fettgehalt, dafür enthält sie synthetische Geschmacksverstärker, dass die Lefzen tropfen [siehe Titelbild].

Gespenstische Nachricht?

Wednesday, 26. January 2011

blase8

Aus kaum einem anderen Anlass wird in unseren Zeitungen so viel heiße Luft in die Sprechblasen gepumpt wie im Todesfall prominenter Zeitgenossen. Wenn es einen jungen Menschen trifft oder wenn die Todesart ungewöhnlich ist, wird in den Redaktionsstuben fieberhaft nach dem passenden Adjektiv gesucht, das den Schmerz und die Verstörung der Menschen draußen im Lande angemessen auf den Begriff bringt.

Wenn uns im wahren Leben ein Verlust mitten ins Herz trifft, wenn wir fassungslos nach Atem ringen und uns die Tränen in die Augen steigen – dann verschlägt es uns die Worte und wir sind jeder Verbalisierungsnot gnädig enthoben. Diese Zurückhaltung im sprachlichen Umgang mit dem Werk des erbarmungslosen Schnitters können sich die bedauernswerten Presseschreiber naturgemäß nicht leisten.

Dass der Tod alle gleich macht, war schon das Thema der barocken Totentänze. Bevor diese totale Nivellierung durch Fäulnis und Vergessen eintritt, müssen aber die Unterschiede im aktiven Leben noch einmal abschließend in Erinnerung gerufen werden. Die traditionellen Schaubühnen dieser Abschiedsprozedur in der Zeitung sind die (bezahlte) Todesanzeige und der (kostenlose) Nachruf.

Hat eine Person des öffentlichen Lebens ihren eigenen Nachruhm überlebt, dann erreicht die Nachricht ihres Todes gelegentlich die Öffentlichkeit mit unziemlicher Verzögerung; so im Falle des am 13 Januar im Alter von 87 Jahren verstorbenen Lederstrumpf-Darstellers Hellmut Lange, dessen Tod die Süddeutsche erst gestern meldete. Um Lange war es schon lange still geworden, er war ohnehin ein ,eher zurückhaltender Typ‘, der ,kein großes Wesen um sich machte‘. Und als bekannt wurde, dass er an Altzheimer erkrankt war, verzichteten die Medien gnädig darauf, ihn und seine Angehörigen weiter zu belästigen. – Anders verhält es sich mit dem vorgestern bei einem Abendessen mit Freunden im Kreise seiner Familie ,plötzlich und unerwartet‘ verstorbenen Filmproduzenten Bernd Eichinger. Der war erst 61, stand ,mitten im Leben‘, hatte noch viele Pläne, ein Mann ,in den besten Jahren‘ und, nach allem was man so wusste, ,gesund und munter‘. Und dann, sozusagen ,aus heiterm Himmel‘, aus und vorbei! Herzinfarkt!

Das ist dann schon ein Fall für Die Seite drei. Natürlich liegt der Nachruf längst parat, wurde in regelmäßigen Intervallen auf den neuesten Stand gebracht. Und der Text geht auch angemessen ins Detail, das versteht sich ja bei einer in München, am Hauptwirkungsort des Verstorbenen erscheinenden Zeitung. Bloß der Titel fehlt noch: „Ich hatte einen Traum“ – das passt doch gut zu einem Manager der Traumfabrik Film. Der letzte Absatz, knapp und knackig, ist schnell daruntergesetzt: „,Der Bernd‘, wie sie ihn hier in München nennen, starb im Freundes- und Familienkreis. Er wurde 61 Jahre alt.“ Und nun noch der leidig-längliche Untertitel. Dass das noch sein muss! (Ich höre das Stöhnen des Schlussredakteurs, als säße ich neben ihm.) Aber es wäre doch gelacht, wenn einem dazu nicht auch noch was einfiele: „Am Dienstag erreicht eine schreckliche Nachricht München: Bernd Eichinger ist bei einem Essen in Los Angeles einem Herzinfark erlegen. Der deutsche Film verliert einen Mann, an dem man sich reiben konnte. Und den einzigen Produzenten von Weltrang. Er wurde nur 61 Jahre alt.“ Kann man das so stehen lassen? Ist doch ganz gut, oder? Bis auf die ,schreckliche Nachricht‘. Das klingt vielleicht doch etwas zu alarmistisch. Was soll man stattdessen schreiben? ,Bittere Nachricht‘? ,Traurige Nachricht‘? ,Verstörende Nachricht‘? Nee, das ist alles nichts. Und dann hat der einsame Mann diesen Geistesblitz: „Am Dienstag erreicht eine gespenstische [!] Nachricht München.“ (Tobias Kniebe: Ich hatte einen Traum; in: SZ Nr. 20 v. 26. Januar 2011, S. 3.) – Ein bitteres, trauriges, verstörendes Beispiel, zu welchen Entgleisungen die krampfhafte Suche nach Wirkungssteigerung in der Tagespresse führen kann.

Konkurrenzbeobachtung (I)

Sunday, 23. January 2011

konkurrenzbeobachter

Der Spiegel versucht neuerdings, seine unsägliche Online-Präsenz Spiegel online (SPON) mit einem trendigen Extra aufzumotzen. Seit dem 10. Januar 2011 nehmen sich sechs Kolumnisten abwechselnd Themen vor, „die den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen – oder ihren ganz persönlichen. Es sind Randnotizen zum großen Ganzen und zum kleinen Detail. Jeden Tag ein Stück Denkfutter. Zum Grübeln, Staunen, Schmunzeln, Anregen oder Aufregen.“ Oder zum Kotzen? – Mehr als eine Kostprobe monatlich kann ich von diesem Humburger Allerlei unmöglich verdauen. Ich mache mal den Anfang mit Sascha Lobo, dem einzigen aus der bunt gemischten Schar, gegen den ich ein Vorurteil habe. Die SPON-Redaktion stellt ihn ausgesprochen unvorteilhaft vor „als Autor und Strategieberater aus Berlin“, aber dafür kann er vermutlich nichts. Er solle „unter dem Titel Die Mensch-Maschine Entwicklungen [kommentieren], die im engeren und weiteren Sinne mit der Welt des World Wide Web zu tun haben.“ Mittwoch ist also nun ab sofort Irokesentag.

Lobos Popularität verdankt sich zwei simplen Ingredienzien: seiner schnittigen Frisur und seiner schmissigen Schreibe. Haarmoden haben mich noch nie interessiert, Schreibmoden nur dann, wenn sie als Camouflage von einer Leere ablenken sollen: Große Klappe, nix dahinter! Was die haarige Zutat betrifft, so ist ihre Wirksamkeit leicht zu beweisen. Frage ich einen beliebigen Deutschen mittleren Alters, der nicht auf dem Mond lebt, ob er Sascha Lobo kenne, dann fragt er entweder zurück: „Ist das nicht der mit dem bunten Irokesenschnitt?“ Oder er bittet: „Hilf mir auf die Sprünge!“ Wenn ich im zweiten Fall erläutere: „Das ist der mit dem Irokesenschnitt!“, dann antwortet der Befragte, wenn er jünger als 60 ist: „Ach, der!“ Ist er älter, so fragt er: „Was ist denn ein Irokesenschnitt?“ Erkläre ich ’s ihm, sagt er ebenfalls „Ach, der!“ So meine Erfahrungen bei der Ermittlung von Lobos Bekanntheitsgrad – oder besser: des Bekanntheitsgrades von Lobos Frisur. Denn wenn ich wissen will, wofür Sascha Lobo stehe, was ihn ausmache, gar auszeichne, kommt in neun von zehn Fällen nicht mehr als „Irgendsonn schräger Blogger?“ Und die restlichen zehn Prozent wissen noch was von einer wahlweise flotten oder frechen oder kessen oder schrägen Schreibe.

Was hat es nun mit dieser zweiten Zutat für ein Bewenden? Schauen wir uns einmal genauer an, was Die Mensch-Maschine am letzten Mittwoch unter der Headline Web ist, was man nicht weiß ausgespuckt hat. Wie es sich für einen von höchster philosophischer Warte herab argumentierenden Turboblogger gehört, eröffnet er seinen Essay gleich mit dem Zitat eines Kollegen: „,Unser Wissen ist ein kritisches Raten, ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen‘, schrieb der Philosoph Karl Popper 1934.“ Ich will jetzt gar nicht so weit gehen zu prüfen, ob dieses Zitat in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang zu Lobos nachfolgenden Ideen zu bringen ist. Ich begnüge mich damit zu fragen, was Lobo uns mit diesem Zitat sagen will. Vermutlich möchte er uns signalisieren, wes Geistes Kind er ist: Popper-Leser, kritischer Rationalismus und hastenichgesehn – alle Achtung, Sascha! Aber dieser Bluff gelingt leider daneben. Popper schrieb den Satz nämlich mitnichten 1934 in seinem Buch Logik der Forschung, sondern erst 1969 im Vorwort zu dessen dritter Auflage.

Zum Content des Aufsatzes. (Ich sage bewusst Content, denn so heißen laut Lobo „Inhalte, wenn irgendjemand damit Geld verdienen möchte“; und ich unterstelle jetzt mal böswillig, dass Lobo für SPON nicht gratis schreibt.) Seit wann gibt es eigentlich den modischen Ausdruck von der „steilen These“? In den letzten zwei, drei Jahren verbreitete er sich geradezu epidemisch, aber einen sehr frühen Beleg fand ich in einem Artikel des Weblogs SpiegelKritik vom 11. April 2006, der erklärt, „wie typische Spiegel-Geschichten entstehen. Es geht nicht darum, die Wirklichkeit angemessen wiederzugeben oder Pro und Contra abzuwägen. Sondern es geht darum, eine steile These zu haben. Zu dieser These werden dann alle Fakten und Zitate gesammelt, die diese These unterstützen könnten.“ Nach diesem uralten Muster fabriziert auch Sascha Lobo seinen Aufsatz über das „Wesen des Internets“. Lobos These ist, dass „der publizistische, ökonomische und technologische Motor des Internets“ mit einem schönen alten deutschen Wort benannt werden kann: Vermutung. Allerdings macht sich der selbsternannte Kommunikationsontologe nicht einmal die Mühe, diese steile These durch Fakten und Zitate zu stützen. Er begnügt sich mit der vielfachen Auslegung und Anwendung seines Zauberwortes auf alle möglichen Teilaspekte des Phänomens Internet, wobei es ihm – auch das in bester Spiegel-Tradition – stets mehr um den Witz als um die Folgerichtigkeit seiner Aussagen geht. Indirekt gibt er diese Schwäche selbst zu, wenn er schreibt: „Im Mediengeschäft verlässt man sich schon aus Zeitgründen selten auf langwierig zu beweisende Fakten, sondern auf Vermutungen […].“ (Sascha Lobo: Web ist, was man nicht weiß; a. a. O.)

Die Leserdiskussion über seine Beiträge eröffnete der Autor übrigens mit einer indirekten Restriktion: „Für Fragen, Anregungen und milde bis mittelharsche Beschimpfungen (wenn irgend möglich eher auf den Text als auf die Frisur bezogen) stehe ich gern zur Verfügung.“ Sachliche Kritik ist also nicht erwünscht. Oder traut Lobo sie dem SPON-Leser gar nicht zu? Tatsächlich geht es auch beim Spiegel nicht vornehmer zu als in den übrigen Online-Leserbriefspalten und Diskussionsforen der Printmedien. Für seinen zweiten Beitrag fängt sich Lobo allerdings einige sehr sachliche und gut begründete Reaktionen ein, die er in my not so honest opinion gar nicht verdient hat. Viele Leser erkennen in naiver Unschuld, dass sein Schlüsselbegriff „Vermutung“ sich zur Erklärung von allem und jedem ebensogut eignet wie als Iftah Ya Simsim fürs rätselhafte „Wesen des Internets“. Wenn er vermeiden will, dass seine Kommentatoren sein Äußeres zum bevorzugten Thema machen, sollte Sascha Lobo vielleicht ein unscheinbareres Erscheinungsbild wählen und lieber mehr Sorgfalt auf die Haltbarkeit seiner Argumente verwenden als auf die Haltbarkeit seiner Hahnenkammfrisur. Gegen einen Vorwurf muss ich ihn aber doch in Schutz nehmen. Wenn Lobo statt „selten“ an einer Stelle „unoft“ schreibt, so muss man darob nicht spotten wie einer seiner Duzfreunde im Kommentar. Solche Neologismen sollten erlaubt sein, bereichern sie die Sprache doch gelegentlich um feine Nuancen. So hat beispielsweise „unernst“ längst nicht die gleiche Bedeutung wie „lustig“.

Mond? Planet?

Monday, 17. January 2011

blase7

Im modernen Berufsleben unserer hochdifferenzierten Arbeitswelt ist Spezialisierung der Fachkräfte in jedem Bereich die erste Voraussetzung für deren Erfolg. So auch in den Redaktionen unserer überregionalen Zeitungen. Wer in der Schule gut rechnen konnte und trotzdem lieber schreiben will, wird Wirtschaftsredakteur. Für jene Blindgänger, die überall nur Dreien und Vieren hatten, aber in Sport oder Kunst eine Eins, haben kluge Blattmacher eigens den Sportteil und das Feuilleton eingerichtet. Klassensprecher bekommen die Landespolitik, Schulsprecher was Internationales.

Dann gibt es noch jene immer gut gelaunten Sonnenscheinchen, denen man nicht böse sein kann, obwohl sie eigentlich von nichts eine richtige Ahnung haben, aber wenigstens so tun als ob. Ich nenne sie hier mal die Merkt-ja-doch-keiner-Redakteure. Bevor sie etwas nachschlagen, lassen sie sich lieber totschlagen. Meine Theorie war, dass sie das Alphabet nicht aufsagen können und ihnen darum der Gebrauch von Wörterbüchern und Lexika verwehrt ist. Mit der Erfindung von Online-Enzyklopädien wurde diese Erklärung aber hinfällig, weil man dazu das betreffende Suchwort ja nurmehr in ein Fensterchen eingeben muss. Sollten die für Skandälchen und Fait divers zuständigen Schreibkräfte schlicht und ergreifend faul sein? Natürlich nicht! Sie stehen vielmehr extrem unter Stress, weil hier wie überall radikal Personal abgebaut wurde.

Bei der Süddeutschen heißt die betreffende Seite „Panorama“. (Genau genommen sind es sogar zwei, nämlich die Seiten 9 und 10.) Dort erfahre ich bespielsweise in der täglichen Rubrik „Leute“, dass der 93-jährigen Filmdiva Zsa Zsa Gabor der rechte Unterschenkel oberhalb des Knies amputiert werden musste und dass dem Panikrocker Udo Lindenberg vor dreißig Jahren von einer eifersüchtigen Brasilianerin eine große Schnittwunde am Kopf zugefügt wurde, die er seither unter seinem Markenzeichenhut verbirgt. Oder ich wundere mich über den tagesaktuellen Fall von massenhaftem Vogelsterben, ein Phänomen, mit dem seit Neujahr regelmäßig die Lücken gestopft werden. Das „Panorama“ der SZ könnte man mit Fug und Recht als eine Alljahres-Sauregurken-Zuchtanstalt bezeichnen.

Weil nun aber, siehe oben, die Stammautoren dieses Ressorts die schöne bunte Welt der Abenteuer aus mancherlei Perspektive betrachten, aber durchaus nicht mit verkniffenem Blick, kommen gerade hier die spektakulärsten Fehlschüsse und Rohrkrepierer vor. Heute beispielsweise modelliert Martin Zips mal eben unser Sonnensystem um und lässt den Mond um die Sonne kreisen!

Es geht in seinem Artikel um ein Pin-up-Foto aus dem Playboy, das ein Techniker der Apollo-12-Mission 1969 an Bord des Raketenmoduls Yankee Clipper geschmuggelt hat, genau genommen in den Spind von Commander Richard Gordon, abgeheftet im dort deponierten Ordner „Himmlische Körper“. Und nun schreibt Zips wörtlich: „Dort wurde es von Grordon entdeckt, als dieser gerade dabei war, sehr einsam den Mond zu umrunden. Nur seine zwei Astronauten-Kollegen durften raus auf den Planeten, er nicht.“ (Martin Zips: Himmlische Körper. Wie das Nackt-Model DeDe Lind im November 1969 mit der Astronauten-Mission „Apollo 12“ mal kurz zum Mond flog; in: SZ Nr. 12 v. 17. Januar 2011, S. 10.) – Na ja, was soll man da sagen? Astronomie ist ja nicht mal ein Schulfach.

Warum geborgen?

Monday, 10. January 2011

blase6

Auf dem Bild, das das ZDF der Süddeutschen zur Verfügung gestellt hat, sehen wir heute einen ausgestreckt auf dem Deck eines Bootes liegenden Mann. Allerlei Treibgut ringsum, Seetang oder ähnlicher Schmock, lässt darauf schließen, dass dieser Körper unlängst aus dem Wasser geborgen wurde. Über ihn beugt sich ein Ermittler, wie wir aus der nebenstehenden Bilderläuterung erfahren: „Psychologisierende Vernehmung: Schauspieler Alexander Held versucht als Kommissar Hidde im CSI-Stil zu ermitteln, warum ein Mann tot aus der Ostsee geborgen wurde.“ (Frederik Obermaier: Viel Länge, wenig Tiefe. Ein ZDF-Reihenkrimi streckt sich sehr nach amerikanischen Vorbildern wie CSI, ohne sie auch nur annähernd zu erreichen; in: SZ Nr. 6 v. 10. Januar 2011, S. 15.)

Eins vorweg: Sehr wahrscheinlich kann Autor Obermaier nichts für diesen in vielerlei Hinsicht mangelhaften Text. Die Bildunterschriften werden gewöhnlich erst beim Layout kurz vor Drucklegung und deshalb unter argem Zeitdruck von anderen zurechtgeschustert. Deshalb drücke ich meist beide Augen zu, wenn mir wieder mal ein BU-Lapsus begegnet. Aber in diesem Fall kommt es schon dicke, wie wir sehen werden. Darum konnte ich der Versuchung heute nicht widerstehen.

Zunächst zur Aufklärung für fernsehferne Bevölkerungsschichten: Was haben wir uns unter „CSI-Stil“ vorzustellen? Die Abkürzung steht zunächst im Englischen für Crime Scene Investigation, zu deutsch etwa „Spurensicherung am Tatort“. Davon leiten sich mehrere US-amerikanische TV-Krimiserien ab, die seit Jahren auch im deutschen Fernsehprogramm einen festen Platz haben. In Obermaiers Kritik der deutschen Version von CSI – Serientitel hierzulande: Stralsund – lesen wir, dass hier die Vernehmung „bemüht psychologisiert“ wirke, was immer das heißen mag. Der BU-Texter hat diesen Nonsens dankbar aufgegriffen und sieht nun auf dem Bild prompt eine „psychologisierende Vernehmung“. Aber wie soll ich mir die Vernehmung eines Toten vorstellen? Denn dass der Hingestreckte auf dem Bild tot ist, erfahren wir ja wenige Zeilen später aus der selben Bildunterschrift.

Aber es kommt noch schöner. Zunächst überrascht uns der Texter mit der Nachricht, dass nicht Kommissar Hidde (dargestellt von Alexander Held) auf diesem Bild ermittelt. Diese Illusion wird uns geraubt, wenn wir sie denn jemals hatten. Ganz unverblümt wird uns mitgeteilt, dass hier Schauspieler Held selbst ermittelt, genauer: zu ermitteln versucht. Warum versucht er nur, was ein Kommissar berufsbedingt doch einfach können sollte? Gar deshalb, weil das ZDF ihm als Schauspieler keine professionelle Ausbildung zum Kriminalbeamten hat angedeihen lassen? Oder etwa deshalb, weil das Opfer mausetot ist und der Kriminalschauspieler es bloß noch nicht gemerkt hat?

Und nun die Krönung. Was genau versucht der Mann, egal ob schauspielernder Ermittler oder ermittelnder Schauspieler, der da an einem vermutlich doch ertrunkenen Verbrechensopfer herumfingert? Was versucht er zu ermitteln? Wenn wir unserem anonymen BU-Texter glauben sollen, dann versucht er zu ermitteln, „warum ein Mann tot aus der Ostsee geborgen wurde.“ Man lese und staune. Hier wird nicht etwa ermittelt, warum der Mann tot ist. Auch nicht, wie er in die Ostsee kam. Auch nicht, was zu seinem Tod geführt hat. Sondern? Warum er geborgen wurde. Genauer: Warum er tot geborgen wurde. Nachdem wir diese Bildunterschrift gelesen und verstanden haben, meinen wir geradezu die Frage zu vernehmen, die Alexander Held alias Karl Hidde seinen triefnassen Kollegen von der Wasserschutzpolizei (nicht im Bild) soeben stellt: „Warum habt ihr den denn geborgen? Der ist doch schon tot!“

Optimismus rational?

Monday, 03. January 2011

blase5

Zum Jahresauftakt begrüßt uns die Süddeutsche mit einem jener beliebten Pro-und-contra-Spielchen, die vermutlich gedacht sind, Ehepaare schon am Frühstückstisch für den Rest des Tages zu entzweien und einsame Menschen in die Persönlichkeitsspaltung zu treiben, im Alltag der Leser in aller Regel aber nicht mehr anrichten als ein lauwarmes Sowohl-als-auch-Gefühl, begleitet von jener etwas verspannt wirkenden Kopfbewegung, die sich nicht zwischen Nicken und Schütteln entscheiden mag.

Optimismus vs. Pessimismus, so lautet heute der streitbare Begriffsgegensatz; und die Kontrahenten, die diese gegensätzlichen Haltungen in den Ring schicken, sind der „Optimist“ Adrian Kreye, seit vier Jahren neben Thomas Steinfeld Feuilletonchef der SZ; und der „Pessimist“ Alain de Botton, in London lebender Schweizer, Verfasser einiger populärer Bücher über philosophische Lebensfragen, oder besser: die Philosophie der Lebenskunst. Warum nun gerade dieses Paar sich berufen fühlt, den uralten Menschheitswiderspruch zwischen Skepsis und Zuversicht zum Jahresbeginn einer aktuellen Betrachtung zu unterziehen? Ich weiß es nicht. Noch nicht einmal die Rollenverteilung erscheint mir plausibel, beschäftigt sich doch de Botton in seinen Büchern vorzugsweise mit so weltzugewandten, lebensfrohen Gegenständen wie Flugreisen, moderner Architektur, der Liebe und dem Shopping. So war ich zunächst hin- und hergerissen, welches der beiden Plädoyers ich aufs Korn nehmen sollte, scheinen sie mir doch beide gleich konfus und missglückt. Ich entschied mich dann doch für Kreyes Artikel Täglich eine Lösung, der uns ja schon im Titel den Optimismus wie eine ärztliche Zwangsverordnung in Pillenform andient und sich damit das Hintertürchen der Selbstironie offenhält. Zudem versteckt sich der Verfasser hinter Zitaten aus „Schlüsselwerken des rationalen Optimismus“ und macht dabei nicht recht deutlich, ob er mit den aus ihnen zitierten Kernthesen denn tatsächlich übereinstimmt.

Aus einem Vortrag des britischen Wissenschaftsjournalisten Matt Ridley zitiert Kreye eine bemerkenswerte Gegenüberstellung. Hier die vierzig Jahre alten Kassandrarufe europäischer Pessimisten, da die wunderbaren Realitäten unserer globalisierten Welt von heute: „Als ich in den siebziger Jahren hier in Oxford studierte, war es um die Zukunft der Welt nicht gut bestellt. Die Bevölkerungsexplosion war nicht aufzuhalten. Globale Hungersnot schien unvermeidlich. Eine Krebsepidemie durch Umweltgifte schien unsere Lebenserwartung zu reduzieren. Saurer Regen entlaubte unsere Wälder. Die Wüste breitete sich mit einer Geschwindigkeit von zwei Meilen pro Jahr aus. Das Öl wurde knapp. Ein nuklearer Winter würde uns den Garaus bereiten. Nichts davon trat ein. – Erstaunlicherweise haben sich die Dinge alleine während meines Lebens zum Besseren gewendet. Das globale Durchschnittseinkommen hat sich pro Kopf verdreifacht. Die Lebenserwartung ist um dreißig Prozent gestiegen. Die Kindersterblichkeit ist um zwei Drittel gesunken. Die Lebensmittelproduktion ist pro Kopf um ein Drittel gestiegen. Und all das, während sich die Weltbevölkerung verdoppelt hat.“ (Zit. nach Adrian Kreye: Täglich eine Lösung. Ein Plädoyer für rationalen Optimismus; in: SZ Nr. 1 v. 3. Januar 2011, S. 11. – Den vollständigen launigen Vortrag des Zoologen Ridley kann man sich hier ansehen und anhören.)

Der rhetorische Trick ist so leicht durchschaubar, dass es geradezu einer Beleidigung des Publikums gleichkommt, welches aber offenbar darauf reinfällt und sich köstlich amüsiert. Tatsächlich sind ja nahezu alle düsteren Prognosen aus den 1970er-Jahren, die Ridley eingangs aufzählt, eingetreten: Das exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung schreitet weiter voran; die absolute Zahl der Hunger leidenden Menschen ist heute mit über einer Milliarde größer als je zuvor; dass Krebserkrankungen zu einem beträchtlichen Teil durch zivilisationsbedingte Faktoren ausgelöst oder gefördert werden, steht nach wie vor außer Zweifel; pro Jahr verliert die Erde durch Desertifikation zwölf Millionen Hektar fruchtbaren Bodens von der Größe der gesamten Ackerfläche Deutschlands, Tendenz steigend; dass die Ölvorräte auf der Erde begrenzt sind, kann niemand bezweifeln, dass sie beim jetzigen weltweiten Verbrauch in spätestens 50 Jahren aufgezehrt sein werden, gilt als realistische Einschätzung, dass der gefürchtete Oil-Peak unmittelbar bevorsteht, traut sich niemand laut zu sagen; dass uns ein nuklearer Winter den Garaus machen könnte, ist vielleicht eher eine Prognose aus schlechter Science Fiction, doch sollte dies nicht davon ablenken, dass die Gefahr eines Dritten Weltkriegs unter Einsatz von Nuklearwaffen auch nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht gebannt ist; einzig das besonders in Deutschland in den 1980er-Jahren in den Medien überzeichnete Bedrohungsszenario eines „Waldsterbens“ hat sich als unbegründete Panikmache erwiesen, was aber keineswegs bedeutet, dass der Wald im globalen Maßstab keinen vom Menschen verursachten Existenzbedrohungen ausgesetzt sei. – Und nun kündigt der Redner an, „die Dinge“ hätten sich erstaunlicherweise zum Besseren gewendet. Aber dann spricht er gar nicht über die zuvor genannten „Dinge“, sondern zählt ganz andere auf: das gestiegene globale Durchschnittseinkommen, die höhere Lebenserwartung, die gesunkene Kindersterblichkeit, die gestiegene Lebensmittelproduktion. Jede dieser vier Positionen kann man einer genaueren Betrachtung unterziehen, um sehr bald zu erkennen, dass sie auf reine Augenwischerei hinauslaufen. (So ist es geradezu zynisch, das global gestiegene Durchschnittseinkommen als Beispiel für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse auf der Welt anzuführen, wenn man weiß, dass die soziale Ungleichkeit zwischen wenigen Reichen und vielen Armen weiter rasant zunimmt.)

Fazit: Dieser Matt Ridley ist offenkundig ein Scharlatan, vergleichbar den Hütchenspielern in unseren Fußgängerzonen; und dass ein angesehener und einflussreicher Journalist wie Adrian Kreye auf ihn hereinfällt, ist ein Armutszeugnis.

Nichts gefunden?

Wednesday, 22. December 2010

hohlblase

Doch, auch heute gäbe es Stoff genug für meine Zeitungsschelte. Allein, ich war nicht in der rechten Stimmung und muss überdies feststellen, dass ich mir mit meinem Alltäglichkeits-Versprechen für diese Rubrik ein etwas zu enges Korsett umgeschnallt habe. Heute blieb mir schlicht die Puste weg!

Es zeigte sich, dass ich mir selbst solch ein unscheinbares Kläpschen auf die Pfoten der Redakteure nicht mal eben so zwischen Frühstücksei und Stuhlgang abquetschen kann. (Ich weiß, das ist ein schiefes Bild!) Man denke nur an die gestrige Glosse über die Papst-Ansprache. Dazu ist schon einiges an Recherche und mühseligem Textvergleich nötig. Es kostet Zeit und auch Kraft. Zudem stehe ich bei diesen Kritiken an den Kolleginnen und Kollegen unter besonderem Druck, möchte ja um Himmels willen bloß selbst keinen noch so kleinen Fehler machen, denn die Blamage tu ja besonders weh, wenn man mit Steinen schmeißt und plötzlich feststellt, im Glashaus gesessen zu haben.

Darum korrigiere ich mich wieder einmal und modifiziere meine Selbstverpflichtung dahingehend, dass ich mindestens dann ein Zitat aus der Süddeutschen des Tages aufs Korn nehme, wenn ich sonst keinen Beitrag veröffentliche. Es soll ja nicht darauf hinauslaufen, dass ich nur noch „Sprechblasen“ ablasse, so wichtig ist mir das morgendliche Ärgernis der Zeitungslektüre auch wieder nicht. Genauer gesagt: bei Weitem nicht.

Dass ich mir selbst etwas Druck mache, ist ansonsten schon okay! Ich neige nämlich dazu, die Zügel gelegentlich schleifen zu lassen. Mir läuft aber die Zeit davon. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch bei einem Autor, der die Verlangsamung zum Hauptziel seiner Fortbewegung deklariert hat, sowohl in seiner Arbeit als auch in seinem übrigen Leben.

Heute jedenfalls habe ich nicht nötig, mich über den folgenden Werbeslogan in einer Buchrezension zu echauffieren: „Wenn es ein Buch gibt, das die Wall Street beschreibt, wie sie wirklich ist, dann ist es dieses: […].“ (Alexander Mühlauer: Die großen Helden; in: SZ Nr. 296 v. 22. Dezember 2010, S. 26.) Meine treuen Leser werden sich vermutlich selbst denken können, was mich an diesem Satz auf die Palme bringt. Heute darf ich einmal faul sein. Und überhaupt habe ich ja schon einen Blogbeitrag geschrieben – nämlich diesen hier, in dem ich erkläre, warum ich heute blau machen darf [s. Titelbild].

Unvorstellbare Dimension?

Tuesday, 21. December 2010

blase4

Gestern stellte ich noch für die fernere Zukunft in Aussicht, die Unpäpstlichkeit der päpstlichen Rhetorik an einem Beispiel vorzuführen, will sagen: dass der Papst sich beileibe nicht so klar und deutlich ausdrückt, wie es von ihm als der maßgebenden Stimme der katholischen Kirche zu erwarten wäre. Heute nun scheint mir die Süddeutsche ein Kostpröbchen dieser Unklarheit auf dem Silbertablett zu liefern – vorausgesetzt, man traut ihrer redaktionellen Redlichkeit.

Anlass der Berichterstattung war die Ansprache des Papstes an die Römische Kurie mit den traditionellen Weihnachtsgrüßen. Den Inhalt der Botschaft fasst meine Tageszeitung so zusammen: „Die Kirche müsse überlegen, ,was falsch war an unserer Botschaft‘, und die ,Demütigung‘ als Aufruf zur Erneuerung begreifen. Das Ausmaß des Missbrauchs, wie es in diesem Jahr offenbar wurde, habe ,eine unvorstellbare Dimension‘ angenommen, sagte Benedikt vor den im Vatikan versammelten Kardinälen und Bischöfen. ,Wir wissen um die besondere Schwere dieser von Priestern begangenen Sünde und unsere entsprechende Verantwortung‘, sagte der Papst. Die Verbrechen müssten aber auch in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext gesehen werden, etwa im Zusammenhang mit der Verbreitung von Kinderpornographie und Sextourismus. So sei Pädophilie noch in den siebziger Jahren nicht so verpönt gewesen wie heute.“ (Papst fordert Selbstkritik; in: SZ Nr. 295 v. 21. Dezember 2010, S. 6; gleichlautend im Internet bei www.sueddeutsche.de.) Nun sind nur wenige Worte dieser Nachricht, nämlich genau 25, als wörtliche Zitate durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Zudem beruft sich die Zeitung auf Nachrichtenagenturen (dpa und dadp). Somit ist Vorsicht geboten, denn wenn ich nun diese Worte auf die Goldwaage lege, dann will ich nicht später zerknirscht zugeben müssen, dass meine Kritik bloß auf Übersetzungsfehlern, Verdrehungen und Verkürzungen beruht.

Aber immerhin schien mir doch ein Ausdruck eindeutig genug, um mein Missfallen bekunden zu können. Dass das Außmaß des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche „eine unvorstellbare Dimension“ angenommen habe, fand ich sprachlich unscharf und inhaltlich enttäuschend. Ist mit der Dimension der rein zahlenmäßige Umfang gemeint? Dann verstehe ich nicht, was daran unvorstellbar sein soll. Nichts kann man sich doch präziser vorstellen als eine Zahl oder einen Prozentsatz von Tätern. Eher schon kann ich mir denken, dass vielleicht die Vorstellungskraft eines katholischen Geistlichen damit überfordert ist, sich das Ausmaß der Verderbtheit seiner Glaubensbrüder, in jedem einzelnen Fall und in allen schrecklichen Einzelheiten, auszumalen. Aber wenn das so wäre, dann müsste man doch fragen, woher eine solche Weltfremdheit denn rührt – und ob sie nicht geradezu ,systemimmanent‘ ist in einer Kirche, die die Religion über das Leben stellt. Wenn nun aber der Papst selbst dem Ausmaß des Missbrauchs eine „unvorstellbare Dimension“ abliest, muss ich mir Sorgen machen, den eine für viele Millionen Anhänger vorbildliche Instanz sollte doch über genügend Vorstellungsvermögen verfügen, um nicht von den alltäglichen Lastern der übelsten Sünder überrascht zu werden.

So etwa gedachte ich, den in der SZ zitierten Passus – „unvorstellbare Dimension“ – zu demontieren. Sicherheitshalber suchte ich aber im Internet den vollständigen Text der päpstlichen Weihnachtsbotschaft an die Kurie und wurde auch sehr schnell fündig. In dieser Übersetzung – die Ansprache wurde vom Papst wie üblich in lateinischer Sprache verlesen – lauten die von den Presseagenturen zusammengefassten Passagen so: „Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, daß solches geschehen konnte. […] Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. […] [Wir waren] erschüttert, gerade in diesem Jahr in einem Umfang, den wir uns nicht hatten vorstellen können, Fälle von Mißbrauch Minderjähriger durch Priester kennenzulernen, die das Sakrament in sein Gegenteil verkehren, den Menschen in seiner Kindheit – unter dem Deckmantel des Heiligen – zuinnerst verletzen und Schaden für das ganze Leben zufügen. […] Der besonderen Schwere dieser Sünde von Priestern und unserer entsprechenden Verantwortung sind wir uns bewußt. Aber wir können auch nicht schweigen über den Kontext unserer Zeit, in dem diese Vorgänge zu sehen sind. Es gibt einen Markt der Kinderpornographie […]. Von Bischöfen aus den Ländern der Dritten Welt höre ich immer wieder, wie der Sextourismus eine ganze Generation bedroht und sie in ihrer Freiheit und Menschenwürde beschädigt. […] In den 70er Jahren wurde Pädophilie als etwas durchaus dem Menschen und auch dem Kind Gemäßes theoretisiert.“ (Monumentale Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Kurie; zit. nach www.kath.net, 20. Dezember 2010, 14:00 Uhr.) Es geht also nicht um eine Dimension, sondern um den Umfang des Missbrauchs. Und der ist nicht dem Papst nach wie vor unvorstellbar, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen – die meint wohl das „wir“ – hatte es sich nicht vorstellen können, dass so viele Priester auf diesen Abweg gerieten. Daran ist nun tatsächlich nichts auszusetzen. Ich hätte dem Papst Unrecht getan, wenn ich mich auf die „Zitate“ in der Süddeutschen verlassen hätte.

Übrigens bedarf es nur eines kurzen Gegoogels, um an diesem Beispiel wieder einmal zu sehen, dass die Pressevielfalt in den deutschsprachigen Ländern wie so oft nur noch eine vermeintliche ist. In allen Artikeln, die über die päpstliche Ansprache berichten, tauchen die gleichen Versatzstücke der Agenturen auf. Nicht eine der großen Zeitungen macht sich die Mühe, die ja wohl offizielle und vollständige Veröffentlichung des österreichischen Online-Magazins kath.net zu lesen und auf dieser Textgrundlage einen „gerechteren“ Artikel zu verfassen. Erbärmlich!

Trümmerfrau?

Monday, 20. December 2010

blase3

Heute ist die SZ nur ganz indirekt dafür verantwortlich zu machen, wenn ich mit der Faust vor Zorn dermaßen heftig auf den Frühstücktisch schlagen musste, dass die Kaffeetassen bis zur Zimmerdecke sprangen. Übertrieben? Ja, es geht heute um maßlose Übertreibung.

Urheber der Entgleisung des Tages ist diesmal Hilmar Kopper (75), berühmt-berüchtigt für unangebrachte Wortwahl seit seinem „Peanuts“-Ausrutscher von 1994. Auf seine alten Tage ist der Banker nun damit befasst, die HSH Nordbank aus der Krise zu führen, deren Aufsichtsrats-Vorsitzender er seit Juli 2009 ist.

Das mag ein Job sein, der einige Anstrengungen erfordert. Im übetragenen Sinne könnte man vielleicht sagen, dass Kopper die Ärmel aufkrempeln muss, um in dem Laden für Ordnung zu sorgen. Immerhin verstärkte sich bei Kristina Lasker und Klaus Ott, die heute in der Süddeutschen über den aktuellen Stand der Dinge berichten und den 30-seitigen Prüfbericht über die neueste HSH-Affäre eingesehen haben, „der Eindruck, dass es sich bei der Staatsbank aus dem hohen Norden um ein Tollhaus handelt.“ (Projekt Wasserpfeife; in: SZ Nr. 294 v. 30. Dezember 2010, S. 23; vgl. auch den Kommentar v. Caspar Busse auf S. 17.)

Desto schlimmer, dass nun der Aufsichtsratschef, der aus dem Tollhaus wieder ein nach rationalen Regeln geordnetes Kreditinstitut machen soll, selbst närrisch geworden zu sein scheint. Diesen Eindruck gewinne ich nämlich, wenn ich lesen muss, Kopper fühle sich in all den Affären „wie die Trümmerfrau, die nun saubermacht“. Dieser Vergleich ist schamlos! Als die hungernden, frierenden, meist ganz auf sich gestellten Frauen nach dem verlorenen Weltkrieg in den zerbombten deutschen Städten begannen, oft mit bloßen Händen den Schutt beiseite zu räumen und in den Kellern behelfsmäßige Behausungen für sich und ihre Kinder zu schaffen, da war der kleine Hilmar zehn Jahre alt – eigentlich alt genug, um den himmelweiten Unterschied zwischen dieser Plackerei und seinem heutigen Geschäft empfinden zu müssen. Übrigens soll Kopper für seinen Job dem Vernehmen nach, ganz anders als die Trümmerfrauen, mit denen er sich vergleicht, Geld bekommen. Auch insofern ist keinerlei Ähnlichkeit erkennbar. Und wenn ich gedanklich bis an die Wurzeln dieser Geschmacklosigkeit dringe, muss ich gar erkennen, dass Kopper sich den Trümmerfrauen ja nicht etwa als aller Ehren werte Vorbilder zur Seite stellt, sondern sie im Gegenteil als despektierliche Beispiele für eine Arbeit von sich weist, die völlig unter seiner Würde ist.

Und was nun kann meine arme SZ dafür? Auf den ersten Blick nicht viel, da sie ja bloß zitiert, gar aus zweiter Hand, denn Hilmar Kopper hat diesen dummen Vergleich ursprünglich in einem Interview angestellt, das der heutige Spiegel veröffentlicht. Auf den zweiten Blick hätte ich aber doch erwartet, dass die SZ diese neuerliche Entgleisung des Top-Bankmanagers wenigstens als solche benennt. (Ich bin mal gespannt, ob außer mir überhaupt noch jemand daran Anstoß nimmt.)

Heimspiel?

Saturday, 18. December 2010

blase2

Heute berichten S. Braun und C. von Bullion vom Heckmeck um den für September 2011 bevorstehenden Berlin-Besuch des Papstes: Heikler Auftritt im Reichstag (in: SZ Nr. 293 v. 18./19. Dezember 2010, S. 10). Schon der erste Satz lässt nichts Gutes erwarten: „Die Materie ist sensibel, das Terrain unwegsam, die Einhaltung des Protokolls von größter Bedeutung.“

Über Materie, Terrain und Protokoll erfahren wir anschließend: dass der Besuchstermin ursprünglich auf eine Einladung des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) zurückgeht; dass der diese Einladung 2006 spontan ausgesprochen hat, ohne sich mit den Fraktionen abzustimmen, was diese verstimmt habe; dass einige Berliner Grüne (Ströbele), Schwule und Lesben Benedikt XVI. nicht mögen, andere (Künast) aber doch; dass eine Rede unter freiem Himmel vielleicht im Pfeifkonzert dieser Szene untergehen könnte; dass viele deswegen eine Rede im Reichstag sicherer fänden; dass auch der Berliner Erzbischof Georg Sterzinsky froh wäre, wenn der Papst vor dem Bundestag reden dürfte; dass daraufhin ein Sprecher des Bundestagspräsidenten den Erzbischof kühl darüber belehrt habe, allein Herrn Lammert stehe es zu, den Papst ins Hohe Haus einzuladen, und keineswegs Herrn Sterzinsky.

Wenn mich ein Blick auf die Schneeberge vor meinem Fenster nicht eines Besseren belehrte, würde ich annehmen, die Pressetexter steckten im tiefsten Sommerloch. Unwegsam ist allenfalls das Terrain für die Autoren, die blindlings nach einer Materie tasten, aus der sich ein Artikelchen machen ließe, aber sie partout nicht finden – sensibel oder nicht. Ein Sturm im Wasserglas!

Als mir noch Menschen zum Geburtstag gratulieren mussten, die vorgezogen hätten, wenn ich erst gar nicht geboren worden wäre, überreichten sie mir Geschenke, deren einziger Zweck für sie wohl darin bestand, das schreckliche Altpapier nicht zum Container tragen zu müssen, in das sie sie eingewickelt hatten. Ganz ähnlich verfahren heute manche Auftragsschreiber. Wenn sie schon nichts mitzuteilen haben, dann wollen sie bei dieser Gelegenheit wenigstens die eine oder andere sprachliche Schlamperei loswerden. Das Paar Braun / von Bullion (Praktikanten?) musste dringend folgenden Satz entsorgen: „Berlin mit seiner schwul-lesbischen und kirchenkritischen Szene ist, vorsichtig ausgedrückt, kein Heimspiel für Katholiken.“ Einmal kurz durchatmen, bitte! Vorsichtig ausgedrückt? Nicht vorsichtig genug, denn sonst hätte den Autoren dämmern müssen, dass Berlin mitnichten ein Spiel ist, kein Heim-, kein Auswärts- und auch kein Kinderspiel, sondern eine Stadt. Und wenn die beiden gemeint haben, dass der öffentliche Auftritt eines hohen katholischen Würdenträgers in Berlin kein Heimspiel sei, dann sollen sie das doch bitte sagen, diese Umständlichkeit um der sprachlichen Richtigkeit willen können und wollen wir ihnen nicht ersparen.

Mancher gnädigere Leser wird mir nun vorhalten, ich sei päpstlicher als der Papst. Ach was, in Fragen sprachlicher Präzision ist mir der jetzige Papst, obgleich er allenthalben für seine Bildung, gar Intellektualität gerühmt wird, längst nicht päpstlich genug. (Gewiss wird sich beizeiten die Gelegenheit bieten, auch einen Lapsus des Josef Ratzinger aufzuspießen.)

Problemlos?

Friday, 17. December 2010

blase1

Für den allerersten „Schenkelklatscher“ dieser neuen Serie können die Redakteure von der Süddeutschen nichts. Sie zitieren ja nur. Aber dass sie einen solchen Satz wortwörtlich zitieren, ist doch auch wieder ein starkes Stück, denn es lässt nur zwei mögliche Erklärungen zu. Entweder, sie wollen auf diese Weise die Bundesjustizministerin in die Pfanne hauen, deren Mangel an logischem Denkvermögen damit vorgeführt wird; oder aber sie finden nichts dabei, wenn eine Person in dieser Stellung einen solchen Un-Satz zu Protokoll gibt.

Der Hintergrund: Guido Westerwelle, noch amtierender FDP-Bundesvorsitzender und Bundesminister des Auswärtigen, gerät auch aus den Reihen der eigenen Partei zunehmend unter Beschuss, weil laut aktuellen Meinungsumfragen nur noch knapp fünf Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme für die Liberalen abgeben würden. Aus den Landesverbänden wird scharf auf den Vorsitzenden geschossen, da fordern führende Bundespolitiker der FDP ein Ende der internen, aber öffentlich geführten Personaldebatte.

In diesem Zusammenhang meldet sich nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu Wort. Sie räumt ein, dass viele Wähler ihrer Partei enttäuscht seien, weil sie sich in der jetzigen Regierungspolitik nicht wiederfänden. Und dann verbricht sie den folgenden Satz: „Das ist unser Problem und nicht, dass wir die Bürgerinnen und Bürger [jetzt] auch noch mit großen Personaldiskussionen öffentlich behelligen.“ (FDP-Chef in Bedrängnis; in: SZ Nr. 292 v. 17. Dezember 2010, S. 1.)

Die Ministerin sagt hier wörtlich, es sei nicht das Problem der FDP, dass sie die Bürgerinnen und Bürger mit Personaldiskussionen behelligt. Aber das meint sie natürlich nicht, und tatsächlich ist ja nahezu das Gegenteil wahr. Es ist doch eben gerade ein Problem für die FDP, dass einige ihrer führenden Mitglieder in den Landesverbänden, wie Wolfgang Kubicki und Herbert Mertin, eine Personaldiskussion angestoßen haben, denn sonst hätte schließlich die Justizministerin zu diesem Thema überhaupt nicht das Wort ergreifen müssen. Richtig hätte sie etwa so formulieren können: ,Das ist unser Problem, um das wir uns kümmern sollten, und wir machen alles nur noch schlimmer, wenn wir nun öffentlich eine große Personaldiskussion führen und die Bürgerinnen und Bürger mit unseren internen Zwistigkeiten behelligen.‘ Es ist doch so einfach, einen Gedanken klar zum Ausdruck zu bringen – wenn man denn einen klaren Gedanken hat.

Aber wozu soll man sich heute als Politiker anstrengen, klar zu denken, gar zu sprechen? Solche Unschärfen gehen ohnehin unbemerkt im allgemeinen Durcheinander unter oder werden vom medialen Grundrauschen neutralisiert. Diese Gleichgültigkeit geht so weit, dass Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sich nicht scheut, das Interview mit dem geistesschwachen Satz, das sie übrigens Thomas Mayerhöfer vom Rundfunksender Bayern 2 gegeben hat, im O-Ton auf ihre Web-Seite zu setzen. (Daher weiß ich, dass die SZ-Redaktion, die übrigens Quellenangaben für Zitate aus anderen Medien selten für nötig hält, ein „jetzt“ im Satz der Ministerin geschlabbert hat, und konnte es der Richtigkeit zuliebe in eckigen Klammern hinzufügen.)

Der allmorgendliche Schenkelklopfer

Friday, 17. December 2010

blase0

Seit ich mein Interview-Vorhaben mit Oskar Lerbs notgedrungen zu Grabe habe tragen müssen, fehlt mir was. Und jetzt, wo mein Gesprächspartner sich aus dem Staub gemacht hat, kann ich ja freimütig gestehen, dass dieses Projekt eigentlich von Anfang an nicht so lief, wie ich ’s mir ursprünglich gedacht hatte. Die Pausen zwischen den Terminen waren viel zu lang, schon deshalb kam unser Dialog nie richtig in Fluss. Und auch die sture Begrenzung auf fünf Fragen – die allerdings Lerbs zur Bedingung gemacht hatte – war nicht eben förderlich.

Um es rundheraus zu sagen: Was mir eigentlich fehlt, ist die alltägliche Rubrik, mit einem festen Bezugspunkt, der mir gleich in den frühen Morgenstunden zuverlässig einen Anlass bietet, federleicht in Schwung zu kommen und dem Rest des Tages mit dem ruhigen Gewissen entgegensehen zu können, immerhin etwas schon geleistet zu haben.

Jetzt hab ich – Heureka! – genau dieses missing link zwischen meinem äffischen Traumgeschehen in meinen dschungelschwarzen Nächten und den sonnengrellen Geistesblitzen meiner besseren Tage gefunden, das mir an den unvermeidlichen schlechten immerhin doch den kleinen Trost gewährt, mein vegetatives Nervensystem mit allen sonst so überflüssigen Vitalfunktionen nicht ganz umsonst am Laufen gehalten zu haben.

Und dieser Einfall birgt sogar noch einen Zusatznutzen! Seit etlichen Wochen quäle ich mich nämlich mit dem Gedanken, ob ich mich nicht angesichts der angespannten Haushaltslage unserer Familie von dem einzigen klassischen Massenmedium, das mich noch über den aktuellen Verfallszustand unserer Welt unterrichtet, verabschieden soll. Das Abonnement der Süddeutschen Zeitung kostet immerhin monatlich 43,90 Euro. Rechnet man die Sonn- und Feiertage heraus, dann wende ich für meine tägliche Zeitungslektüre am Frühstückstisch rund 1,75 Euro auf. Lohnt sich das? Schließlich bekomme ich die allerschlimmsten Dinge ja unweigerlich aus dem Rundfunk mit (GEZ-Gebühr mtl. 5,76 Euro). Und wo mich „Hintergründe“ und „Meinungen“ interessieren, bin ich im Internet besser bedient, weil vielseitiger orientiert, im weiten Spektrum zwischen Weltwoche und jungle world.

Also stellte sich die unabweisliche Frage: Was würde ich am meisten vermissen, wenn ab Januar 2011 neben meinem Frühstücksteller nicht mehr die SZ läge, sondern – nichts? Die Antwort war schnell gefunden und fiel eindeutig aus. Was ich wirklich entbehren würde, das wären jene sprachlichen und gedanklichen Mängel, Versehen, Unschärfen, Verwechslungen und Fehler, ohne die heute keine einzige Seite einer Tageszeitung mehr auszukommen scheint, selbst jener überregionalen Blätter nicht, ob Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Welt, tageszeitung oder eben meine Süddeutsche. Mich über die täglich aktuellen „Fundstücke“ aus deren Redaktionsstuben zu echauffieren, ist zwischen Traum und Tag mein liebstes Mittel, in Fahrt zu kommen. Dabei bin ich nicht wählerisch. Mal ist es eine grammatische Unmöglichkeit, mal ein Schnitzer bei der Wortwahl, was mich auf die Schenkel klopfen lässt, mal stammt der alltägliche Lapsus vom Leitartikler, mal springt mich der satzgewordene Nonsens aus dem wörtlichen Zitat eines Politikers an. Diese Frühstücksfreuden werde ich ab sofort alltäglich hier unter der neuen Überschrift Sprechblasen rubrizieren und dokumentieren. Und mit dem Titelbild mache ich es mir ganz einfach, wie man sehen wird. (Vielleicht gewährt mir ja die SZ-Redaktion, wenn sie souverän genug ist, meine leidenschaftliche Anteilnahme an ihren Schwächen als Liebeskummer zu verstehen, demnächst ein Gratis-Abo, wer weiß?)

Stoßseufzer aus dem Lesesessel (III)

Monday, 15. November 2010

zumtoddeskobay

Die oben erwähnte Schilderung der Beerdigungsfeier für Konrad Bayer, mit anschließendem Jahrmarktsbesuch, aber ohne jedes Eingehen auf die Gründe und Hintergründe dieses tragischen Suizids eines Genies, wie sie sich in den jüngst erschienenen Raddatz-Tagebüchern der Jahre 1982-2001 findet, hat mich veranlasst, die Details nun selbst einmal ans Licht zu holen.

Die Konrad Bayers Tod vorausgehende sog. Sigtuna-Tagung der „Gruppe 47“ im Jahr 1964 ist in einer sehr detailreichen und gründlich recherchierten Monographie dokumentiert. (Fredrik Benzinger: Die Tagung der „Gruppe 47“ in Schweden 1964 und ihre Folgen. Ein Kapitel deutsch-schwedischer Kultur- und Literaturbeziehungen. Stockholm: Universität Stockholm / Germanistisches Institut, 1983.)

Der 31-jährige Bayer aus Wien las am zweiten Tag der Zusammenkunft, dem 11. September. Über seinen Auftritt und die anschließende Diskussion heißt es: „[…] mit Konrad Bayer beschäftigte sich die Gruppe zwanzig Minuten lang. Aber seine fünfzehn Prosapassagen aus Der sechste Sinn, geschrieben in einem ,burlesk-humoristischen und altertümlich-aristokratischen‘ Stil gefielen der Gruppe überhaupt nicht. Der alte Ton Bayers, der im Jahr zuvor Furore gemacht hatte, veranlasste [Walter] Jens jetzt zu der Bemerkung, dass die Stücke ,zu leicht durchschaubar‘ seien. […] Hans Mayer, im selben Verlag (Rowohlt) tätig, der Bayer herausbringen wollte, fand eine Prosa vor, die ,mit dem Geschehen nicht fertig wird‘. Das Ernsteste sei aber, meinte er, dass ,alles von aussen her gesehen‘ werde. Dadurch entstehe ,etwas schrecklich Erkältendes, Inhumanes. Das Geschehen erscheint sinnentleert.‘ […] Was verleitete den grossen Kritiker zu einer solchen unpräzisen Entgleisung? In dem Text verwendete Bayer, der selbst Jude war, eine Reihe jüdischer Namen, ohne dass, laut Mayer, ,der Inhalt das rechtfertigt‘. Diese bewussten Stilelemente waren in Mayers Augen offenbar ein schwerer Bruch gegen eine fast tabuartige Regel, die in der Gruppe streng aufrechterhalten wurde, dass keinerlei Spass über Juden geduldet wurde, eine umgekehrte Diskriminierung also. […] Die stark missbilligenden Worte von Mayer und Jens lenkten zwar die Debatte, empörten aber auch mehrere Teilnehmer. Nicolas Born verstand gar nicht, ,wie jemand aus diesen Textstücken Unmenschlichkeit herauslesen‘ und gar auf Auschwitz hinweisen könne. […] Im grossen ganzen waren aber diese konträren Aussagen weniger schwerwiegend und konnten den Gesamteindruck eines Verrisses nicht ändern. […] Dies war natürlich eine grosse Katastrophe für Bayer, der lange versucht hatte, im Literaturbetrieb Fuss zu fassen.“ (Benzinger, a. a. O., S. 69 f.)

21 Teilnehmer der Sigtuna-Tagung haben per Fragebogen ihre Erinnerungen mitgeteilt; unter ihnen übrigens auch Fritz J. Raddatz. 16 Teilnehmer wurden zusätzlich von Benzinger persönlich interviewt. An das Debakel der Lesung von Konrad Bayer erinnerte sich Christa Reinig: „Er hatte sich mit Gegenkritik gegen die Gruppengepflogenheiten zur Wehr gesetzt und meine Aufmerksamkeit erregt. (…) Er erschien mir als der Prototyp des Schriftstellers, der künftig Erfolg haben wird. Einige Wochen später verbreitete sich die Nachricht, er habe Selbstmord verübt.“ (Ebd., S. 71.) – Erich Fried hatte immerhin das Format, sein tragisches Fehlurteil im Interview einzugestehen: „Im Wiener Nihilismus liegt an sich ungeheuer viel antisemitisches Erbe. Glücklich war ich über diesen Text nicht, aber Bayer war kein Antisemit. Oft habe ich mich geirrt, doch nie so arg. […] Ausserdem war gegen ihn eine gehässige Literaturkampagne am Werk. Er hat am Abend vor seinem Selbstmord diese Kritiken noch gesehen. Der Redakteur, der sie ihm gezeigt hat und darüber sehr unglücklich war, Fritz, hat sich dann auch später umgebracht.“ (Ebd.) – Und auch Lars Gustafsson ist sich sicher, dass zwischen der Lesung und Bayers Selbstmord ein Zusammenhang bestand: „Konrad Bayer wurde so übel zugerichtet, dass es, wie ich glaube, dazu beigetragen hat, dass er sich später im selben Jahr das Leben nahm. Er wurde so verteufelt übel zugerichtet.“ (Ebd., S. 160.)

Fritz J. Raddatz hat zwar den Fragebogen ausgefüllt, aber offenbar keine nennswerten Beiträge liefern können, denn er findet in dem 200-Seiten-Buch nur an zwei Stellen knappste Erwähnung. Hans Mayer hingegen gehörte zu jenen zehn Personen, die die Befragung explizit ablehnten oder erst gar keine Antwort schickten. Angst? Oder gar ein schlechtes Gewissen? Das wird sich wohl nicht mehr klären lassen; es sei denn …

[Titelbild: Konrad Bayer nach einem Foto von Franz Hubman (Wien), hier aus Die Wiener Gruppe. Hrsg. v. Gerhard Rühm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1967, Abb. 4 (Ausschnitt). © Rowohlt Verlag.]

Stoßseufzer aus dem Lesesessel (II)

Sunday, 07. November 2010

resignierendehaende

Jetzt habe ich sie bald „durch“, die dicke Tagebücher-Schwarte von Fritz J. Raddatz. Da ich ein Mensch bin und kein ausgeklügelt Buch, empfind’ ich ’s nicht als Widerspruch, wenn ich nämlich die Lektüre einerseits genossen und den Autor dennoch auf weite Strecken verachtet habe. On verra.

Dass diese Schlüsselfigur der westdeutschen Literaturszene eines Vierteljahrhunderts, nämlich von 1960 bis 1985, sein diaristisches Werk erst drei Jahre vor seinem „Waterloo“ – dem von seinen Feinden dankbar beim Schopf gepackten und emsig aufgebauschten Lapsus namens „Frankfurter Goethebahnhof“ – in Angriff nahm, hat seinen Grund wohl weniger in der schon früher zitierten „jahrzehntelange[n] Scheu, fast Keuschheit gegenüber diesem Voyeurismus“, als vielmehr in der mit Beginn seines sechsten Lebensjahrzehnts allmählich einsetzenden Ermattung, dem schrittweisen Rückzug aus dem Epizentrum des intellektuellen Mittelstands. Wir könnten diese vergleichsweise moderatere Alltagsgestaltung, die überhaupt erst die Mußestunden für solche Notizen freischlägt, allerdings auch auf das ruhigere Fahrwasser zurückführen, in das sich der bekennende Bisexuelle Raddatz seit seiner stabilen Lebenspartnerschaft mit Gerhard Bruns hat münden lassen. Dass er dieses Geschreibsel – gewiss überaus nützlich für die regelmäßige Frustabfuhr nach missglückten Geschäftsessen, enervierenden Telefonaten (mit so verschiedenartigen, so in ihrer jeweiligen „Einzigartigkeit“ petrifizierten Egomanen wie Rolf Hochhuth, Wolf Biermann, Jürgen Becker, Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser, Peter Rühmkorff, Reinhard Lettau, Walter Kempowski, Thomas Brasch, George Tabori, Hans Mayer und Peter Wapnewski) und immer wieder von seinen Gästen traurig gering geschätzten Event-Inszenierungen – in seiner nach eigener Schilderung gewiss traumhaft dekorierten Wohnung nicht nur zu Papier gebracht hat, sondern nun auch noch zu Lebzeiten drucken lässt, kann eigentlich nur zwei mir gleichermaßen unsympathische Gründe haben: Geldhunger und Rachgier.

Übrigens sollte uns emsige Leser das 29-seitige Personenverzeichnis nicht darüber hinwegtäuschen, dass – bei aller umtriebigen Aktivität des Kulturvermittlers Raddatz – der Kreis seiner „guten Bekannten“ doch stets eher überschaubar war, vom engsten Zirkel seiner Intimfreunde ganz abgesehen, zu dem nur zwei zu zählen sind: Günter Grass und Paul Wunderlich. Ich prophezeie, dass der Erstgenannte in hundert Jahren in der rasant kleiner werdenden deutschsprachigen Enklave der Weltliteratur etwa so prominent sein wird wie heute der Nobelpreisträger von vor einem Jahrhundert, Paul Heyse. Und zum wunderlichen Radier-Kitschier von der Waterkant enthalte ich mich jedes Kommentars, außer dem einen: dass ich Raddatzens Erzählung von Wunderlichs Töchterlein Hochzeit unterm Datum vom 28. August 1998 nur noch wahlweise degoutant oder absurd finden kann. Dieses allenfalls durch seine Kostspieligkeit imponierende Event kommt mir vor wie die anämische Variante des Orgien-Mysterien-Theaters von Hermann Nitsch. Merkt unser Tagebuchschreiber nicht, in welche weit unter seinen Verhältnissen zwielichternde Niederungen er sich da hat ziehen lassen? (Wenn Paul Wunderlich rechtens in der Tradition der Surrealisten steht, dann ist Helge Schneider aus Mülheim an der Ruhr ein würdiger Nachfolger von Tristan Tzara.)

Solange Raddatz Aufträge zu vergeben und Kontakte zu vermittel hatte, wurde seine Nähe und Sympathie gesucht, hauptsächlich von Autoren mit ungedruckten Werken in der Schublade und bildungsbeflissenen hanseatischen Kleinbürgern, die ihren Gattinnen imponieren wollten; sodann von etilen Kollegen, die ihn als Projektionsfläche ihrer narzisstischen Selbstdarstellungen missbrauchten. (Einige Glanzlichter des Buches finden sich unter den zahllosen referierten Telefongesprächen.) Raddatz leistet sich stets einen rücksichtslosen Blick auf die eigentlichen Beweggründe der zahllosen Liebediener, Anschleimer, Wichtigtuer, Ränkeschmiede und Selbstdarsteller, für die er nur der Postbote, Huldiger, Kumpane, Zuhörer oder Tränentrockner sein soll – und deren Interesse schlagartig auf den Nullpunkt sinkt, sobald er selbst einmal ein Anliegen hat.

Das bitterste Missgeschick und Fehlurteil unterläuft dem Diaristen übrigens mit einem Vernichtungsurteil kurz vor Toresschluss (S. 852), mit dem er keinen Geringeren als Jean Améry in die „Provinz-Liga“ verweist. Nur vier Seiten weiter vergleicht er seinen interessanten Marbacher Vorlass mit dem nahezu wertlosen Nachlass von Gottfried Benn, den er bei den Vorarbeiten zu seiner Benn-Biographie durchgesehen hat. Hier hält es unser Tagebuchschreiber nun für nötig, nach dieser Gegenüberstellung von zwei Materialsammlungen einem doch völlig abwegigen Tadel des Lesers zuvorzukommen: „(was NICHT heißt, ich vergliche mich mit Benn, ich weiß schon, ,in welcher Liga ich spiele‘).“ Mit der Selbsteinschätzung ist das nun mal so eine Sache. Nachdem ich nun sowohl des Kritikers Erinnerungen von 2003 (Unruhestifter. München: Propyläen Verlag, 2003) als auch seine täglichen Frustabfuhren in den Tagebüchern gelesen habe, maße ich mir das Urteil an: Raddatz spielt nicht in einer Liga, in der er in Gefahr geraten könnte, gegen Jean Améry zum Vergleich antreten zu müssen. (Diese beiden treten ja nicht mal in der gleichen ,Disziplin‘ an.)

[Das Titelbild zeigt die Hände des Tagebuch-Autors FJR. – Ausschnitt aus einem Porträtfoto der in Essen gebürtigen Fotografin © Karin Szekessy, Ehefrau von Paul Wunderlich bis zu dessen Tod am 6. Juni 2010, hier gescannt als Ausschnitt vom Umschlag des besprochenen Buches, dem ich recht viele Leser wünsche.]

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Saturday, 30. October 2010

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Intermezzle (I)

Saturday, 16. October 2010

triefaugeseiwachsam

Ich habe mich jetzt doch durchgerungen, mir gelegentlich über meine Zeitgenossenschaft das Maul zu zerreißen. Bislang biss ich die Zähne zusammen, wann immer mir besonders bittere Enttäuschungen begegneten. Zum Beispiel, wenn ich kopfüber aus einer Verehrung in eine Verachtung fallen musste. Offenbar vertrage ich dergleichen Abstürze nun nicht mehr unwidersprochen. Es tut mir leid, wenn das erste Opfer meiner Mäkelei nun gerade ein Bekannter meines Freundes werden muss. Sei‘s drum!

Meine Tageszeitung brachte heute auf ihrer Literaturseite ganzseitig einen Essay, der in der Fußnote als Bearbeitung eines Vortrags ausgewiesen ist, welchen sein Autor, Georg Klein, beim Kulturfestival fliesstext 10 in Ingolstadt hielt. Abgesehen davon, dass ich nichts von „Kulturfestivals“ halte, die im Fließtext untergehen, und schon erst recht nichts von Essays, die auf Vorträge „zurückgehen“, zwingt mich diese Veröffentlichung zu einem knappen Affront.

Das Artikelchen mit der barbusigen Schönen, die offenbar als Eyecatcher herhalten soll [s. Titelbild], damit überhaupt ein Trottel wie ich seinen Blick auf dem Weg zum Interview in der Wochenendbeilage für das knappe Momentchen anhält, das ausreicht, um sich in die ersten Sätze zu verbeißen – dieses Artikelchen also hebt mit folgenden Worten an: „,Was Wörter sind, das wisst ihr?‘ So sprang es mir vor kurzem aus einem zu Recht berühmten Roman entgegen.“ (Georg Klein: Heimat im Wort; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 240 v. 16./17. Oktober 2010, S. 16.) An dieser Stelle dürfte der durchschnittliche SZ-Leser über seinem samstäglichen Frühstücksei, mittelweich gekocht zur nächsten Seite umblättern, um sich dort durch dick und doof ins Twitterlexikon verlocken zu lassen. Nicht so ich, vermutlich Georg Kleins einziger Leser. Ich frage mich: Woher hat er den Satz? Was für ein Buch ist es denn, von dem er da spricht? Und ich erfahre in der sechsten und letzten Spalte, dass der Mann, der diesen Satz angeblich geschrieben hat, kein geringerer als Arno Schmidt sein soll. Das kommt mir spanisch vor, und so steige ich auf meine wackligen Tage auf meine morsche Bibliotheksleiter, erklimme die oberste Sprosse und hieve Zettels Traum herunter. Und was lese ich da, auf Seite 24 unten und Seite 25 oben?

„Was ‚Worte‘ sind, wißt | Ihr – ?“ (Zum Vergleich: ,Was Wörter sind, das wisst ihr?‘ Ich zähle bei einem Satz mit fünf Wörtern fünf Abweichungen!) Wie billig es ist, gerade diesen Satz zu zitieren! Schon Gunnar Ortlepp schnappte sich vor vierzig Jahren in seinem Spiegel-Artikel anlässlich des Erscheinens von Zettels Traum genau diesen Satz, um flott und flüssig mit dem Wälzer fertig zu werden. Aber Klein hatte nicht vier Tage wie der Spiegel-Redakteur, sondern vierzig Jahre eines vermeintlich sorgfältig reflektierenden Intellektuellen Zeit, das Buch zu lesen, gründlich und genau. Unorigineller geht es nun gar nicht mehr. Vermutlich hat Klein sein vorgebliches Schmidt-Zitat aus dritter oder vierter Hand. Aber wenn man schon nicht originell ist, sollte man doch wenigstens richtig zitieren können, oder? Es ist ein Jammer mit dem Niedergang des Zeitungsfeuilletons in Deutschland.

Ob Schmidts dickes Buch zu Recht berühmt ist, darüber zu urteilen steht jedenfalls Georg Klein nicht zu, solange er sich nicht wenigstens als jemand erwiesen hat, der zu lesen versteht. (Vom Schreiben wollen wir hier noch gar nicht reden.)

Filmkritik-Kritik (I)

Tuesday, 13. April 2010

colinfirthinbank

Vorgestern habe ich mir an der Seite meiner Gefährtin in der Essener Lichtburg den ersten Film des Modedesigners Tom Ford angeschaut. Es waren auffallend viele attraktive junge Männer in Begleitung älterer Herren im Kino. Das ist erfreulich, denn heute kann kein Produzent mehr auf seine Kosten kommen, wenn er ausschließlich ein cineastisch motiviertes Publikum anspricht. Die mimische Leistung des Hauptdarstellers, Colin Firth als George Falconer, hat A Single Man eine Oscar-Nominierung eingebracht. Das internationale Echo auf den Film, nach dem gleichnamigen Roman von Christopher Isherwood von 1964, war durchweg positiv, und auch hierzulande war das Urteil nahezu einhellig. Einen „traumwandlerisch schönen, traurigen Film“ nennt ihn Rainer Ganserma in der SZ. Ein „bravouröses Regiedebüt“ hat Peter Zander von der WELT gesehen und bescheinigt dem Regisseur, Drehbuchautor und Produzenten Ford eine verblüffende Stilsicherheit. Harald Peters von der gleichen Zeitung spricht von einem „eigenwilligen, wundervollen Werk“. Für die Kritikerin der ZEIT, Anke Leweke, ist A Single Man nicht nur ein Film, der „schön anzusehen ist“, „sondern auch ein schöner Film“. Michael Althen schließlich stellt Fords Debüt in der FAZ gar in die Tradition eines Klassikers wie Le feu follet von Louis Malle. Selbst im linken Freitag, von dem man am ehesten angenommen hätte, dass er sich mit dem Sujet und insbesondere mit dem auf Hochglanz polierten Milieu dieses Streifens schwertun würde, findet Matthias Dell nur lobende Worte und die überraschende Einsicht, der Film sei „auf subtile Weise […] politisch.“

Wenn sich alle Welt in einem Urteil dermaßen einig ist, dann kann die Versuchung für einen kämpferischen Geist unwiderstehlich werden, trotzig das gerade Gegenteil zu behaupten. So gab’s auch ein paar Zuschauer, genauer: ein Zuschauerpaar in der Lichtburg, das ein Viertelstündchen vor Schluss des Films das Kino verließ. Während ich mich noch fragte, welche Erwartungen hier enttäuscht worden waren, hatte die Frau an meiner Seite schon eine Erklärung parat: „Die konnten es bestimmt nicht länger aushalten und mussten dringend heim ins Bett!“

Da sind die Gründe, warum Ekkehard Knörer vom Perlentaucher den Filmgenuss wohl auch gern vorzeitig abgebrochen hätte, offenbar ganz anders gelagert. Gleich im ersten Absatz seiner Besprechung nennt er A Single Man unverblümt ein „Machwerk“. Was seinen Kolleginnen und Kollegen gerade als der besondere Vorzug des Films erschien, die Perfektion des Designs bis ins kleinste Detail, das nennt Knörer mit Bezug auf dessen Optik „fortgesetzte platte Redundanzproduktion“, während seine feinen Ohren „von der maximal minimal [sic] pathetisierenden Musik“ gepeinigt wurden, dass er sich fühlte „wie mit nassem Handtuch geprügelt“. Die ästhetische Konzeption nennt er eine der „streng gescheitelten Trauerkloßhaftigkeit“; und unterm Strich muss er feststellen, „dass im Leben eines durch und durch falschen Films eine echte Regung ein Ding der Unmöglichkeit ist.“ Wer dächte da nicht an Adornos bekannte Sentenz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“? Und wenn man deren Kontext kennt, nämlich den 18. Aphorismus unter dem Titel Asyl für Obdachlose in Minima Moralia (Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin u. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1951, S. 55-59), dann trifft diese Assoziation ins Herz der Diskussion über diesen Film, denn hier wie dort geht es nach meinem Dafürhalten ums Wohnen der Unbehausten in einer keinen Schutz mehr bietenden Welt.

Wenn es in A Single Man eine Szene gibt, an die sich jeder erinnert, dann ist es jene Rückblende, in der Literaturprofessor George Falconer (Colin Firth) „am Telefon vom Tod seines Freundes erfährt und ihm beschieden wird, dass die Familie auf seine Anwesenheit bei der Beerdigung keinen Wert lege – wie er versucht, die Fassung zu wahren, wie er seine versagende Stimme zur Disziplin zwingt und wie ihn nach dem Ende des Gesprächs dann die bleierne Gewissheit in den Sessel drückt und seine Augen überlaufen lässt, während es draußen in Strömen regnet, ist so erschütternd, dass es quasi alles beglaubigt, was den Film sonst nur an der Oberfläche zu bewegen scheint.“ So hat es Michael Althen empfunden. Und nun halten wir dagegen, was Ekkehard Knörer gesehen hat und wie er es bewertet: „Die Szene, in der George Falconer am Telefon vom Tod des geliebten Mannes erfährt, wird als schauspielerische Glanzleistung gepriesen. Aber auch und gerade an ihr ist alles ausgestellt. Tom Ford setzt seinen Hauptdarsteller ins perfekt eingerichtete Bild und lässt ihn wie ein gelehriges Tier im Zoo echtes Gefühl performieren. Der tut das, ringt virtuos um Fassung, aber gelangt übers Klischee einer solchen Situation kein Jota hinaus.“ Und darauf folgt besagter Satz vom durch und durch falschen Film. Was hat Knörer denn eigentlich sehen wollen? Einen Dokumentarfilm?

Ich für mein Teil habe den Film genossen. Und jedem, der sich bei diesem Genuss selbst im Wege steht, darf ich mein aufrichtiges Beileid aussprechen.

Hercooles

Thursday, 04. March 2010

wuschel

Ich liebe gute Interviews, ganz gleich in welcher Form: live, im Fernsehen, im Rundfunk, gedruckt in Zeitschriften oder Büchern, auch im Internet als Audio- oder Videopodcast. Leider sind gute Interviews sehr selten; und sehr gute Interviews gibt es beinahe nicht, so rar sind sie. Um dem Leser eine Enttäuschung zu ersparen, gestehe ich zweierlei gleich vornweg, hier im ersten meiner obligatorischen fünf Absätze: Dieser Eintrag handelt nicht von einem wirklich guten Interview. Und schon gar nicht verrate ich, welche sehr guten oder auch nur guten Interviews mir in meinem langen Hörer-Seher-Leser-Leben bisher begegnet sind. Solche Best-of-Listen sind schließlich ein kleines Vermögen wert. Und wenn ich schon hier in meinem Weblog meine Beobachtungsgabe, Fabulierfreude und Spekulationslust, meinen kritischen Verstand und meine emsige Kreativität zum Nulltarif verschleudere, dann geht mein Altruismus doch nicht so weit, auch die Früchte meiner Erfahrung und Sammelwut für lau auf dem Marktplatz des globalen Dorfes unter die Leute zu bringen.

Damit ich ein Interview gut nenne, muss eine ganze Reihe von Forderungen erfüllt sein. Jede einzelne Frage sollte sowohl den Interviewten als auch den Leser insofern überraschen, als sie sich möglichst weit von den immergleichen Standardmotiven entfernt. Wer einen Regisseur nach den nüchternen Fakten seines Films befragt, nach den Tücken der Finanzierung und den Pannen bei den Dreharbeiten, sollte den Beruf wechseln. Das Interview ist eine literarische Technik, die darauf abzielt, mehr über eine Person ans Licht zu bringen, als diese über sich selbst weiß. Insofern haftet dem Interview etwas von einer Geburt, einer Vergewaltigung oder einer Vivisektion an, je nachdem. Im Idealfall ist nach dem strapaziösen Zwiegespräch deutlich geworden, dass auch auf diese ausgefragte Persönlichkeit das weise Selbstbekenntnis zutrifft: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ (Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage. Leipzig: Haessel, 1872, S. 1.) Daraus erhellt, dass ich niemals mit einem Interview zufrieden sein kann, das mir die befragte Person rundweg sympathisch – oder vollkommen unsympathisch erscheinen lässt. Beide Bilder können nur falsch sein. Und ich erwarte nun einmal von einem Interview, dass es mir einen Menschen näherbringt, indem es ihn wahrer zeigt, als er sich aus eigenem Entschluss geben will oder kann.

Dennoch ist ein schlechtes Interview manchmal lesenswert; nämlich dann, wenn die Überzeichnung des Objekts, seine Selbststilisierung in the public eye so gnadenlos danebengeht, dass es schon wieder Spaß macht, dergleichen Wort für Wort und Satz für Satz zu verkosten. Von einem solchen Fall ist hier zu berichten. Ich meine das Interview, das Eva Karcher neulich für die SZ mit Hans Ulrich Obrist geführt hat.

Obrist (*1968) ist Hercooles. In sechs Spalten der Wochenendbeilage führt er eiskalt vor, was er ist und weiß und kann, nämlich nahezu alles. Nun ist die eitle Manie, sein Licht nicht untern Scheffel zu stellen, sondern im Gegenteil das erschreckte Publikum damit zu blenden, gerade bei jenen Semi-Prominenten weit verbreitet, die zwar Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur innehaben, aber qua Funktion notgedrungen eher im Verborgenen werkeln und im Hintergrund stehen müssen. Hierzu zählen, um jedes der drei Ressorts mit einem Beispiel zu illustrieren: Ghostwriter, Großerben und Kuratoren. Hans Ulrich Obrist gilt als einer der wirkmächtigsten Kuratoren der Gegenwart. Die SZ nennt ihn den „populärsten Kunstvermittler der Szene“, meint aber vermutlich: den in der Szene populärsten Kunstvermittler. Um seine Popularität nun auch über diese Szene hinaus zu erweitern, stapelte er seine angeborenen und erworbenen Qualitäten so hoch, dass wir dahinter den Menschen gar nicht mehr sehen können. Als gebürtigem Schweizer ward ihm Englisch, Französisch, Italienisch, Schwyzerdütsch und Deutsch sozusagen in die Wiege gelegt, im Gymnasium lernte er dazu en passant noch Spanisch und Russisch. Jetzt steht Portugiesisch auf seinem Stundenplan, weil er momentan von Brasilien „fasziniert“ ist. (Dieses Ekelwort Faszination wäre bald mal einen eigenen Beitrag wert.) Überhaupt folgt Obrist der Obsession, permanent zu lernen, „aber nicht als Zwang, sondern als Impuls“. Damit er sein tägliches Pensum schafft, hat er sich eine strenge Zeitdiät auferlegt: „Früher hatte ich den ,Da Vinci‘-Rhythmus. Wie Leonardo da Vinci […] war ich drei Stunden wach, dann folgten 15 Minuten Schlaf. So war ich zwar nie müde, aber auf Dauer ist es unmöglich, dabei ein soziales Wesen zu bleiben.“ Dann war er eine Zeitlang Espresso-Junkie. Und wofür das alles? Um immer noch größere Ausstellungen mit immer noch spektakuläreren Exponaten in immer noch außergewöhnlicherem Rahmen zu realisieren. Es verwundert nicht, dass dem Kurator zur Benennung seiner Leistungsshows nur ein Begriff aus der Welt des Sports einfallen kann: Marathon. Seine atemlos hechelnde Ausstellungsmacherei versteht er, ausgerechnet, als „Protest gegen den zunehmenden kollektiven Gedächtnisverlust“. Dass vielleicht gerade das überdrehte Spektakel, für das Obrist den Zulieferer spielt, erst besagte Amnesie verursacht, die er beklagt, das scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen.

Übrigens interviewt der Interviewte auch selbst, neben Künstlern zuletzt Architekten, Musiker, Komponisten und Wissenschaftler. Nun sind Choreographen, Tänzer und Schriftsteller „an der Reihe“. Leider bleibt ihm in der ganzen Hektik keine Zeit, uns zu erklären, warum er diese Kreativen interviewt, zumal er offenbar nicht nur Kaffee soff wie Balzac, sondern auch korrespondierte wie Voltaire: „Ich habe ein riesiges Archiv unzähliger Briefwechsel und 2000 Stunden Interviews.“ Immer ist nur von Quantitäten die Rede, selbst bei einem so noblen Akt wie dem Buchkauf: „Jeden Tag ein Buch kaufen, das ist ein wichtiges [!] Ritual.“ Zu dieser bei Licht besehen ebenso eitlen wie langweiligen Kraftmeierei passt, dass Obrist Auskünfte über sein Privatleben, um die ihn doch niemand gebeten hat, verweigert und sich (von Marco Anelli) für den Zeitungsabdruck dieses außer Peinlichkeiten aber auch wirklich gar nichts offenbarenden Interviews  im Profil ablichten lässt. (Eva Karcher: Hans Ulrich Obrist über Kunst; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 48 v. 27./28. Februar 2010, S. V2/8.)

Kritikremix

Friday, 26. February 2010

omanipadmehum

Als Deef Pirmasens im Blog Gefühlskonserve Anfang des Monats ein kleines Bömbchen hochgehen ließ, indem er die noch gerade minderjährige Debütantin Helene Hegemann überführte, für ihren soeben bei Ullstein erschienenen, in den Feuilletons mehrheitlich hochgelobten Roman Axolotl Roadkill ganze Passagen aus dem Roman Strobo von Airen abgeschrieben zu haben, der vorab in dessen Weblog und 2009 im kleinen Berliner Verlag SuKuLTuR erschienen war, erwog ich für einen kurzen Moment, diesem für den Springer-Konzern einigermaßen peinlichen Vorgang einen kleinen Seitenhieb zu widmen.

Bald darauf sorgte das Skandalon für ein reichlich verspätetes Silvesterfeuerwerk in allen Medien von Twitter bis zur Harald-Schmidt-Show, als feierten die Kulturmultiplikatoren nicht jahreszeitgemäß feuchtfröhlichen Karneval, sondern gierten längst schon in der furztrockenen Sauregurkenzeit des Hochsommers nach Überbrückungshilfe aus den Darkrooms der digitalen Boheme. Auf meiner spitzen Zunge schmeckte diese Brühe bald so fad, dass ich die Lust an der mittlerweile volljährig gewordenen Hegemann und ihrem geklonten Schwanzlurch verlor und mich prickelnderen Zeiterscheinungen zuwandte.

Wieder ein paar Tage später, der kürzeste Monat des Jahres zog sich über Gebühr in die Länge, erstaunten mich dann doch die bunten Blüten, die in diesem sturmumtosten Wasserglas schwammen. Durs Grünbein „„plagiiert““ in der FAZ Gottfried Benn und führt Uwe Wittstock von der WELT wie einen tumben Tanzbären an der Nase herum.

Es wird aus diesem nichtigen Anlass landauf, landab über das Urheberrecht diskutiert, als sollte es erst noch eingeführt werden. Kein Mensch scheint mehr zu wissen, wo es anfängt und aufhört. Und ganz nebenbei wird im Namen Bert Brechts geistiger Diebstahl zur kreativen Handlung umgewidmet, unter der Voraussetzung, dass der Verlag stellvertretend für seine Autorin bekannt macht, wen sie wo beklaut hat – und ganz egal, wann. Mit der Bekanntmachung darf man jedenfalls getrost warten, bis der Fall durch Zufall ruchbar geworden ist, schon erst recht, da in diesem Falle ja die Täterin im Stande kindlicher Unschuld und das professionelle Lektorat chronisch überlastet war.

Hauptsache, das Werk rechtfertigt dank seiner genialischen Originalität diese blindwütigen Regelverstöße. Dies zu behaupten ist nun freilich mit Verweis auf die Lobeshymnen aus der Zeit vor dem Ruchbarwerden des Plagiats eine leichte Übung für die gut geölte Marketingabteilung. Und weil da alle Instrumente der Absatzförderung so geschmeidig ineinandergriffen, ward schließlich doch noch mein Interesse geweckt und ich legte ein Dossier an, um bald einmal, aber doch nicht allzu bald das Büchelchen der scheinfrommen Helene und seine Wirkungsgeschichte zum Thema einer Fassadendemontage zu machen.

[Fortsetzung folgt nicht vor Ende März.]

Hillebille

Monday, 22. February 2010

pinwand

Ich weiß ja, dass ich gegen ein journalistisches Tabu verstoße, wenn ich aus unschuldigen, aber vielsagenden Personennamen Profit für meine polemischen Attacken schlage. Das Argument gegen solch billige Häme lautet, für seinen Namen könne ja keiner was. Prinzipiell halte ich mich auch an dieses Gebot und würde zum Beispiel niemals der Versuchung erliegen, auf Ludwig Hohl das lateinische Sprichwort nomen est omen zu münzen. Aber gelegentlich, sehr selten gestatte ich mir eine solche Namendeutung dann doch einmal und legitimiere mich hierzu mit dem Hinweis, dass die Bezüge zwischen dem Namen und der Person nicht offenkundig waren, sondern erst mit viel Phantasie und noch mehr Spürsinn ans Licht gebracht werden mussten. – „Eine Hillebille,“ so weiß die deutschsprachige Wikipedia, „ist ein Schlagbrett aus Hartholz, welches […] als primitives Signalgerät diente, wahrscheinlich aber auch als Rhythmusinstrument verwendet wurde. Sie wurde freischwebend an einem Lederriemen aufgehängt und man brachte sie durch Schlagen mit einem Klöppel zum Tönen. Auf diese Weise konnten Nachrichten von Ort zu Ort übertragen werden.“ Und ein schlauer Wanderfuchs klärt mich auf: „Bis in das 20. Jahrhundert diente die Hillebille den Holzfällern und Köhlern im Harz als Alarminstrument und zum Übermitteln von Nachrichten.“

Der studierte Politologe, Soziologe, Historiker, Philosoph und Islamwissenschaftler Sven (nicht Jens, wie die Zeitung fälschlich schreibt) Hillenkamp (*1971), ehemaliger ZEIT-Redakteur und jetzt als freier Autor in Berlin und Stockholm lebend, beschreibt in der heutigen SZ die Befindlichkeit des freien Menschen in der freien Welt und in einer Gegenwart der unbegrenzten Möglichkeiten. Seine Pointe liegt auf der Hand, jede andere wäre ja auch langweilig und unverkäuflich: Nie waren wir so unfrei wie heute, unter diesen paradoxerweise doch grenzenlos freizügigen Bedingungen. (Sven Hillenkamp: Müde geworden vor der Zeit; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 43 v. 22. Februar 2009, S. 9.) Beim Lesen dieses Zweispalters auf der ersten Feuilletonseite stellte sich bei mir der typische Feuerwerk-Effekt ein: viele bunte Lichter, mancher laute Knall – und im Hintergrund ein dumpfes Donnergrollen. Mich stört an solchen Einlassungen zum Zeitgeist regelmäßig, dass sie ihren Bezugsrahmen und ihre Adressaten nicht klar benennen. Wo genau sollen wir jenen „freien Menschen“ ausmachen, über den Hillenkamp so viel zu wissen vorgibt und mitteilen zu müssen meint? In den Industrieländern der Ersten Welt? Und dort dann in der tonangebenden upper class? Vielleicht können wir es uns mit der Ortung leichter machen und die Zielgruppe eingrenzen, indem wir sie als die kleine aber feine Minderheit der SZ-Leserschaft hierzulande identifizieren, die kaum ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmacht. (Vielleicht würde der große Rest, erhielte er Kenntnis von Hillenkamps Zeitgeistdiagnosen, müde lächelnd zur tristen Tagesarbeit zurückkehren, so er denn noch eine hat, mit dem lakonischen Kommentar: „Eure Sorgen möchte ich haben.“)

Hillenkamp, der im vergangenen Jahr bereits den Tod der Liebe verkündet hat, und zwar gleich in Buchstärke, knöpft sich also jetzt die Freiheit vor, von der ja aufgewecktere Geister gerade in den letzten Dekaden immer nachdrücklicher behaupten, dass es sie nie gegeben habe. Der vielgebildete Alarmist mit seinem primitiven Signalgerät weiß nichts von diesen Bedenken und kommt mir vor wie der Rufer in der Wüste mit der Botschaft, dass der Wald brenne. Hillenkamp schreibt: „Einst war alles Prestige ans Sein geknüpft: den Adel, die edle Herkunft. Dann ans Haben, den Besitz. Jetzt ist es ans Tun gebunden: die außerordentliche Leistung, das künstlerische Werk sowie – die jüngste Entwicklung – ans Leiden.“ Die jüngste Entwicklung? Gab es da nicht vor gut zwei Jahrtausenden eine Erscheinung, bei der sich das Prestige in besonderem Maße eben ans Leiden knüpfte, an einen qualvollen Tod am Kreuz nämlich? Und die mit ihrem Vorbild durch viele Jahrhunderte eine zahllose Gefolgschaft mobilisierte, Märtyrer für den Glauben, die durch ihr schmerzvolles Opfer ebenfalls Prestige im höchsten Maße erlangten? „Alle Zusammenhänge,“ so Hillenkamp, „in die der Mensch sich begeben kann, drohen permanent mit Kündigung. Aus dem Unternehmen, dem Team, der Kunstgalerie, der Mannschaft, der Liebesbeziehung kann das Individuum jederzeit entlassen werden.“ Auch diese Risiken bestehen schon seit einer guten Weile, nämlich seit der Abschaffung der Sklaverei und der Einführung der bürgerlichen Ehe samt Scheidungsrecht. Dass die Freiheit nur um den Preis geringerer Sicherheit erhältlich ist, das dürfte doch wohl eine angestaubte Binsenwahrheit sein, die zu finden es keiner akademischen Ausbildung bedarf.

Besonders am Herzen liegt dem studierten Kritiker des Zeitalters der unendlichen Freiheit „der junge Mensch“, der in diesem Zwangsvakuum nicht weiß, was er werden soll. Er schämt sich, „in seiner Zukunft nichts zu sein. Seine Angst ist unerträglich. Er lebt auf das Nichts hin, ist bereits das Nichts. Jeden jungen Menschen trifft heute dieser Schock – und er hält ihn fest, bis es keine Zukunft mehr gibt.“ Hier bleibt offen, ob Hillenkamp, traurig genug, die individuelle Zukunft des jungen Menschen meint – oder unser aller Zukunft, gar die Zukunft des Sonnensystems? Zuzutrauen wäre es ihm, schreckt er ja auch sonst nicht vor Absolutsetzungen und Superlativen zurück.

Bevor nun auch meine Angst unerträglich wird, nämlich davor, dass solcherart „Apokalyptik aus dem Kaffeesatz“ Schule macht, wende ich mich lieber ab und danke artig, dass mich diese Kostproben hinreichend gewarnt haben vor des Autors Schmöker über den Tod der Liebe. Da lese ich lieber noch mal Günther Anders’ Notizen zur Geschichte des Fühlens, Lieben gestern. Dieses Büchlein hat nun auch bald schon wieder ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel, dürfte aber selbst beim zweiten Lesen noch auf jeder Seite mehr Erkenntnisgewinn erzeugen als ein ganzes Billyregal voller brandaktueller Zeitseelenausdeutungen via Hillebille.

Protected: Selbstanzeige

Sunday, 23. August 2009

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Unfassbar

Tuesday, 28. April 2009

Zwei Top-Meldungen konkurrieren heute auf der Titelseite der SZ um meine Aufmerksamkeit: Bayern feuern Klinsmann (mit Bild) und Schweinegrippe erreicht Europa (ohne Bild, denn ein paar mit Mundschutz maskierte Mexikaner gab’s schon gestern). Indes taugt auch der arbeitslose Trainer hinterm Steuer seines Autos gut zur Illustration der Pandemiepanik, schaut er doch drein, als hätte er sich diese Seuche bereits eingefangen und mit seiner Entlassung die letzte Chance verpasst, von Dr. Rüdiger Degwert mit einer Anstaltspackung Tamiflu versorgt zu werden.

Wenn mich schon Aufmacher und Eckenbrüller auf Seite eins mit ihrem unfreiwilligen Zusammenspiel – Bananenflanke von Libero auf Linksaußen – in Feiertagslaune versetzen, dann weiß ich aus Erfahrung, dass mich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Seite vier der eine oder andere krause Kommentar beglücken wird, wie gemacht zur Vorführung in meinem apokalyptischen Kasperltheater.

Und richtig! Werner Bartens schafft es, auf Teufel komm raus dem Grippethema 134 Zeilen abzuringen, die dem besorgten Leser beim Frühstück zwar nicht verraten, was etwa zu tun sei, um nicht zu den Abermillionen Toten zu zählen, die demnächst zu beklagen sein könnten, aber ihm doch immerhin die tröstliche Gewissheit geben, dass selbst der kluge Kommentator von der SZ, was das angeht, in keiner komfortableren Lage ist. Und außerdem: „Es kann sein, dass die Schweinegrippe in wenigen Tagen vorbei sein wird, manche Infektionen begrenzen sich aus unbekannten Gründen selbst.” Nun ja, warum auch nicht? Theoretisch denkbar ist ja sogar, dass erfolglose Fußballtrainer freiwillig zurücktreten, wenngleich mir ein konkretes Beispiel für diese Variante gerade nicht einfallen will. Das heißt aber weniger als nichts, denn was Fußball betrifft bin ich ein mindestens so blutiger Laie wie der Herr Bartens in Sachen Epidemiologie. Darum versteigt der sich auch lieber in ein Gebiet, auf dem jeder fidele Selbstdenker ein halbwegs vertrauenerweckendes Texterl hinbekommen kann: das der Wahrnehmungs-Psychologie und Erkenntnis-Philosophie: „Viren kann man nicht sehen, riechen oder schmecken. Sie sind sinnlich kaum zu erfassen, diese Eigenschaften teilen sie mit Strahlen, Genen und dem Klimawandel.” Offenbar sind das lauter Sachen, die Bartens für zugleich unsichtbar und gefährlich hält. Aber schon stutze ich und frage: Was ist an Genen gefährlich? Sind Gene nicht zuallererst einmal ausgesprochen nützlich, brav und liebenswert, geradezu lebensnotwendig? Nun ahne ich zwar, was Bartens im Hinterkopf hatte, als er die Gene hier einreihte. Hat nicht zufällig eben erst eine bayerische Agrarministerin den Anbau einer gentechnisch manipulierten Kartoffel namens Amflora zugelassen? Pfui Deibel, denkt da der Verbraucher, aber ich muss das Zeug ja nicht essen. „Den meisten Menschen”, so Werner Bartens, „fehlen […] Phantasie und naturwissenschaftliche Kenntnisse”, um diese und ähnliche Bedrohungen wahrzunehmen. Gleichzeitig registriert er eine „mediale Pandemie”: „Den Viren gleich verbreiten sich Informationen in Windeseile um den Globus, seriöse Berichte wie gehetzte Panikmache.” Was geschieht, wenn auch und gerade die seriösesten Berichte unweigerlich zu Panik führen, sagt der Kommentator lieber nicht. Und er enthält uns auch eine genauere Schilderung dessen vor, was er sich im Zusammenhang mit der Grippegefahr unter Panik vorstellt. Gesine Schwan, die Präsidentschaftskandidatin, meinte vorige Woche im Redaktionsgespräch beim Münchner Merkur: „Wenn sich dann [in zwei bis drei Monaten] kein Hoffnungsschimmer auftut, dass sich die Lage verbessert, dann kann die Stimmung explosiv werden.” Dafür musste sie landauf, landab und selbst von ihren Sympathisanten kräftige Prügel einstecken, der Art, sie würde soziale Unruhen ja geradezu herbeireden. Wenig später dazu befragt, mit welchen Szenarien sie denn rechne, stellte sie bei FOCUS Online klar, sie rechne nicht mit brennenden Barrikaden. „Wir haben aber in der gegenwärtigen Krise die Verantwortung, weder zu dramatisieren oder gar Ängste zu schüren noch die Realität auszublenden.” Das könnte, wenn das Virus es will, wortwörtlich nun auch bald Ulla Schmidt sagen, unsere Gesundheitsministerin.

Werner Bartens hat in seinem Meinungsallerlei noch einen Wurstzipfel schwimmen, und der schmeckt so: „Die vage Zeitangabe, wann das Super-Virus entstehen könnte, und die Verdrängung des Unsichtbaren führten dazu, dass die meisten Menschen solche Warnungen nicht ernst nahmen. […] Jetzt könnte eine neue und gefährliche Grippe entstanden sein. Doch niemand außer ein paar Experten wollte die permanente Bedrohung vor dem Ernstfall zur Kenntnis nehmen. Sie war wohl zu schleichend und zu abstrakt.” Leider verrät uns der Kommentator nicht, was denn zur Vorbeugung hätte getan werden können, wenn die Warnungen vor der permanenten Bedrohung von den meisten Menschen und nicht nur von ein paar Experten zur Kenntnis und ernst genommen worden wäre. Und dass es einer besonderen Phantasieleistung bedarf, sich die vielleicht bevorstehende Grippe-Pandemie vorzustellen, ist ebenfalls Unsinn. Bartens erwähnt ja selbst den Musterfall, die berühmte „Spanische Grippe” der Jahre 1918 und 1919, die mittlerweile sehr detailreich dokumentiert ist. Vermutlich eine halbe Milliarde Menschen, ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung, erkrankte seinerzeit durch die Infektion mit dem Influenzavirus vom Subtyp A/H1N1, geschätzte 50 Millionen starben weltweit daran. Heute wären es bei gleichen Anteilen 225 Millionen Tote, das entspricht etwa der Bevölkerung Indonesiens.

Was offenbar den Verstand der meisten Zeitgenossen übersteigt und sie zu den unsinnigsten Scheinerklärungen und Spiegelfechtereien verführt, das ist nicht die Tücke des Unsichtbaren, die Unwägbarkeit des Unberechenbaren, die Unfassbarkeit des Unbegreiflichen, wie Werner Bartens sich selbst und uns Lesern weismachen will. Es ist schlicht und einfach die Unfähigkeit, angesichts globaler Bedrohungen einer gewissen Kategorie und Dimension unsere prinzipielle Ohnmacht zu erkennen und einzugestehen.

Worfeln

Wednesday, 01. April 2009

Ein denkwürdiger, bemerkenswerter, wertvoller Tag ist für mich immer schon einer gewesen, an dem ich ein neues Wort lernte. Heute kam ich dazu auf Umwegen, als mir zu einem jüngst getanen Ausspruch von Joachim Kardinal Meisner die schöne Bibelstelle einfiel, wo es – nach der Verdeutschung von Martin Luther – heißt: „Verstehestu die Sache / so vnterrichte deinen Nehest / Wo nicht / so halt dein maul zu.” (Jesus Sirach 5, 12.)

Um die Stelle hier korrekt zitieren zu können, nahm ich meine abgenutzte Jerusalemer Bibel zur Hand – und stolperte unmittelbar vor dem gesuchten Satz über einen anderen, der meine Neugier weckte: „Worfle nicht bei jedem Wind, / und geh nicht auf jedem Pfad!” (Jesus Sirach 5, 9.) Worfeln? Hatte ich nie gehört. Was sollte das denn sein? Jetzt weiß ich’s. Schon vor Urzeiten trennte man so die Spreu vom Weizen, und zwar nicht im übertragenen Sinne. Das gedroschene Stroh wurde aus einem flachen Korb, der Worfel, bei Wind in die Höhe geworfen (s. Titelbild). Dann wurde die leichte Spreu fortgeweht, während das schwerere Korn in den Korb zurückfiel. Entscheidend war für das Gelingen dieser Arbeit, dass der Wind genau die richtige Stärke hatte. War er zu schwach, fiel die Spreu mit dem Korn zurück in den Korb; war er zu stark, wurde auch das Korn davongeweht. So erklärt sich der Ratschlag: „Worfle nicht bei jedem Wind.” Im übertragenen Sinne könnte man vielleicht sagen: Urteile nicht, wenn du zu unbeteiligt bist; aber auch nicht, wenn du zu parteiisch bist.

Meisner sprang jüngst dem Papst bei, nach dessen umstrittener Einlassung zur Haltung der katholischen Kirche über die Art und Weise, wie die Verbreitung von Aids in Afrika bekämpft werden sollte. Benedikt XVI. meinte im Gespräch mit dem französischen TV-Journalisten Philippe Visseyrias, das Problem Aids könne man nicht bloß mit Werbeslogans überwinden. „Wenn die Seele fehlt, wenn die Afrikaner sich nicht selbst helfen, kann diese Geißel nicht mit der Verteilung von Kondomen beseitigt werden. Im Gegenteil, es besteht das Risiko, das Problem zu vergrößern.” Die wie üblich unbesonnenen, ja geradezu hysterischen Reaktionen aus dem Lager der Papstgegner zwischen Merkel und Cohn-Bendit reduzierten Benedikts Statement auf den Satz: „Kondome erhöhen Aids-Gefahr!” Wieder einmal hatte der Papst erreicht, dass man über ihn sprach, dass sich ein großer Teil seiner Gegner dabei blamierte und dass seine Anhänger ihm applaudieren konnten.

Einer der routiniertesten Trittbrettfahrer päpstlicher Verkündungen ist seit Beginn des Ratzinger-Pontifikats sein Landsmann Meisner. Auch in der Kondom-Frage konnte der Kardinal zu Köln wie üblich sein Maul nicht halten: „Dem Papst wurde unterstellt,” so ereiferte sich Meisner in BILD, „er habe alle Welt aufgefordert, keine Kondome zu benutzen. Das hat er aber gar nicht getan. Der Papst hat keinen Mann, der wahllos mit Frauen schläft, aufgefordert, jetzt auch noch auf Kondome zu verzichten. Vielmehr hat er darauf hingewiesen, dass man dafür sorgen muss, dass solche Männer auf ihren unverantwortlichen Umgang mit Sexualität verzichten. Er verlangt eine ,Humanisierung der Sexualität‘, wie der Papst das genannt hat. Dazu muss man, wie das die Kirche tut, die Armut bekämpfen und vor allem die Frauen stark machen.”

Dass sich immer noch zahllose Zeitgenossen wahlweise über die Meinungsäußerungen von Leuten wie Ratzinger oder Meisner empören oder ihnen begeistert zustimmen, hat zwei plumpe Gründe. Erstens: Diese Männer antworten nicht klar und deutlich auf die Fragen, die man ihnen stellt. Zweitens: Sie beherzigen nicht den guten Rat aus Jesus Sirach 5, 12. Insofern sind sie ihren Pendants vom anderen Lager zum Verwechseln ähnlich. Die hören nicht genau hin und lassen sich dazu verführen, missverständliche Statements in ihrem Sinne auszulegen, woraufhin man ihnen berechtigterweise vorwerfen kann, mit haltlosen Unterstellungen zu agitieren. Und was Jesus Sirach betrifft, sind sie auch keinen Deut besser als die geistlichen Würdenträger.

[Wird fortgesetzt.]

Laberfeld

Sunday, 04. January 2009

Bei uns zu Hause stand seit den 1950er-Jahren immer die gute Bärenmarke – „Allgäuer Alpenmilch · ungezuckerte Kondensmilch” – auf dem Frühstückstisch. Bemerkenswert, dass die erste Wortmarke, mit der ich nähere Bekanntschaft schloss, das Wort „Marke” expressis verbis mit sich führte. Die Melodie zum Slogan dieser Büchsenmilch, „Nichts geht über BärenmarkeBärenmarke zum Kaffee”, könnte ich noch immer singen, wenn ich denn singen könnte. Der darin behauptete Alleinstellungsanspruch allerdings war, wie meist in solchen Fällen, reichlich verwegen, denn es gab ja auch noch Glücksklee. 1925 gründete der Kaufmann Otto Lagerfeld (1881-1967) in Hamburg die Glücksklee-Milchgesellschaft zum Vetrieb von Dosenmilch, die rasch expandierte und den Milch-Industriellen zu einem reichen Mann machte, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil das Firmenlogo, ein vierblättriges grünes Kleeblatt auf rot-weißem Grund, sich als Bildmarke mit hohem Wiedererkennungswert erwies und ihm jenseits allen Aberglaubens jenes Glück bescherte, das am Ende nur der Tüchtige hat. Aus dem Glückskleeblatt ließen sich bis in die späten 1970er-Jahre manch zugkräftige Werbesprüche ableiten: „Hauptsache Glücksklee: Milch von glücklichen Kühen” (1961), „Ein Schuß Glück” (1971) und „Jeder braucht ein kleines bißchen Glück” (1978).

Glück hatte auch Ottos Sohn Karl (* 1933), wenngleich zunächst nur dank seiner noblen Abstammung. Außer dem komfortablen Portefeuille scheint Karl aber auch Vater Ottos Instinkt für die Durchschlagskraft von Markenzeichen geerbt zu haben: Fächer, Pferdeschwanz und Sonnenbrille machten den weltberühmten Modeschöpfer und seine Kollektionen für Valentino, Krizia, Chloé, Chanel und Fendi zu einer überaus erfolgreichen, unverwechselbaren Marke. Das ist für einen wie mich, der seinen Kaffee seit vielen Jahren schon schwarz trinkt, kein Grund, neidisch zu werden auf des Schlossherrn 300.000 Bücher und ihn gar zu fragen: „Haben Sie die alle gelesen?” Bärbeißig werde ich aber, wenn ein solcher Schnittmustervirtuose, statt bei Nadel und Faden zu bleiben, zu allem Überfluss und meinem Überdruss den Mund aufmacht und meint, er dürfe ungestraft seine Lebensweisheiten zum Besten geben.

Schon im letzten Stern des vergangenen Jahres hatte die Marke KL bekannt: „Solange wir Fleisch essen, können wir uns nicht über Pelze beschweren.” (Nr. 52 v. 17. Dezember 2008, S. 127; dort wohl aber zit. nach dem Daily Telegraph, der wiederum Radio 4 Today zitierte.) Und gestern stellte der Spiegel diesen markigen Satz des Beinahe-Vegetariers („Ich kann es [Tierfleisch] kaum essen, weil es nicht mehr wie das aussieht, was es war, als es lebte.”) in einen markanten Kontext: „Der deutsche Designer verwies auf die Jäger im Norden, ‚die davon leben und sonst nichts gelernt haben außer der Jagd […] und jene Bestien töten, die uns töten würden, wenn sie es könnten.‘” Solange wir uns mit Strom aus der Steckdose rasieren, können wir uns nicht über Atomkraftwerke beschweren. Solange der überwiegende Teil unserer Wohlstandsbevölkerung an Adipositas krepiert, darf die Anorexie meiner Models kein Thema sein. – Mensch Karlchen, du bist mir mal ‘ne Marke!

Übrigens bereitet dem wohlbestallten Kondensmilcherben auch die Weltwirtschaftskrise keinen sonderlichen Kummer. „Das ganze System sei ,ohnehin verrottet‘ gewesen. Die Rezession sei eine Art Großreinemachen.” Und zudem sei seine Branche, die Luxusindustrie, „von der Finanzkrise wenig betroffen: ,Zum Glück gibt es heute Vermögen auf der Welt, die es bei der Weltwirtschaftskrise von 1929 noch nicht gab – chinesische, indische, arabische, russische. Wenn die Krise vorbei ist, werden Europa und Amerika endgültig die schöne alte Welt sein, und die neue Welt wird repräsentiert von Indien, China und den Golfstaaten‘, so Lagerfeld.” Das ist doch mal ein gänzlich unsentimentaler Businessman im sonst oft so nostalgischen Modegeschäft! Wenn er zurückblickt, dann im Zorn. Warum hat er sein Haus an der Hamburger Elbchaussee verkauft? „Ich hatte das Gefühl, die Elbe schneidet mich ab von meinem eigenen Wesen und versetzt mich zurück an meinen Ausgangspunkt, und das will ich nicht.” Geschichtslosigkeit als Lebensprinzip.

Die Bärenmarke hat kürzlich den Bären, der seinen Nachwuchs in sanften Schlummer wiegt [siehe Titelbild], aus seiner gut eingeführten Bildmarke entfernt. Solche marketing-strategischen Anbiederungen an die aktuelle political correctness und an schmusige Massenhysterien à la „Braunbär Bruno” und „Eisbär Knut” sind mir durchaus suspekt. Aber ein labernder Kondensmilcherbe, der uns seine bestialischen Werbesprüche für seine aktuelle Fendi-Kollektion damit schmackhaft machen will, dass doch schließlich jeder lieber einen toten Pelz trägt, als von seinem lebendigen Inhalt gefressen zu werden – der ist einfach nur degoutant.

Sozialskandal

Wednesday, 26. March 2008

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Wieder mal ist ein Hartz-IV-Skandal ruchbar geworden. Die Süddeutsche Zeitung (Nr. 71, S. 5) berichtet heute von einer Familie mit neun Kindern, die knapp zwei Jahre lang durchschnittlich 3846,38 Euro monatlich von der Bundesagentur für Arbeit erhalten habe, weil der Vater arbeitslos war. BILD hatte das bereits gestern gemeldet und diesen Zustand „unfassbar“ genannt.

Für BILD ist das Thema arbeitsloser Schmarotzer, Parasiten und Sozialbetrüger bekanntlich ein Dauerbrenner. Fotos von fröhlich grinsenden Arbeitsscheuen, die auf Kosten ehrlicher, schwer schuftender Niedriglohnempfänger alle Viere von sich strecken und gar noch Urlaub in der Karibik machen – damit lassen sich schlichte Gemüter in Wallung bringen.

Für mich als Vater von „nur“ fünf Kindern ist zwar nicht gleich „unfassbar“, aber doch immerhin schwer vorstellbar, wie elf Personen eines Haushalts mit knapp 4000 Euro monatlich zwei Jahre lang über die Runden kommen konnten. Aber mit dieser auf Erfahrung gegründeten Einschätzung stehe ich auf verlorenem Posten, machen doch Familien mit mehr als drei Kindern in Deutschland kaum ein Prozent aller Bedarfsgemeinschaften aus.

Zu wünschen wäre ein investigativer Journalist, der sich an Ort und Stelle darüber unterrichtet, wie das Leben dieser bedauernswerten Großfamilie in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich ausgesehen hat und auf Heller und Pfennig vorrechnet, dass der nur auf den ersten Blick beeindruckend hohe Haushaltsetat gerade einmal zum Allernötigsten gereicht haben kann. Aber wen interessiert das schon?

Wenn etwas unfassbar ist, dann der leichtfertige Missbrauch substanzloser, abstrakt bleibender Zahlen durch die Medien, die damit Meinungen nicht bilden helfen, sondern bestehende Vorurteile zementieren.