Archive for the ‘Godzilla’ Category

Protected: Christ-Birne (X)

Friday, 01. July 2011

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Das Jüngste Gericht, gestern

Sunday, 22. May 2011

Das Programm von Family Radio war am Tag Null der abgelaufenen Menschheitsgeschichte kopflos. Die sonore Stimme seines 89-jährigen Gründers, des evangelikalen Propheten Harold Camping, war verstummt. Vom Band lief stattdessen Kirchenmusik, unterbrochen von allerlei Lebensweisheiten und frommen Sprüchen. Die Uhr tickte und das Ende kam näher und näher.

Beginnen sollte es nach der festen Überzeugung von Camping in Asien, wo die Sonne ja wesentlich früher auf- und wieder untergeht als in der Neuen Welt. Als nun aber in Tokio und Peking der 21. Mai 2011 sich dem Ende näherte, ohne dass auch nur die geringste seismische Erschütterung spürbar gewesen wäre, schließlich Mitternacht vorbei war und ein ruhiger 22. Mai 2011 anbrach, da musste wohl der mindestens einige zehntausend Menschen zählenden Anhängerschaft des Apokalyptikers dämmern, dass sie einem Irrtum aufgesessen war. Was mag zum Beispiel Robert Fitzpatrick (60) gedacht haben, der mehr als 140.000 US$ gespendet hatte, damit auf Plakaten in der U-Bahn und an Bushaltestellen vor dem Weltuntergang gewarnt werden konnte?

Gabrielle Saveri von der Agentur Reuters berichtete, dass niemand an die Tür kam, als ein Reporter Campings Haus in Alameda (Kalifornien) aufsuchte, um ihn zu den Ereignissen zu befragen, oder richtiger: zum Ausbleiben der Ereignisse. Sheila Dorn (65), die seit vierzig Jahren im Nachbarhaus der Campings wohnt und nichts Schlechtes über das alte Ehepaar sagen kann, macht sich etwas Sorgen wegen der großen Aufmerksamkeit, die diese Prophezeihung in den vergangenen Wochen im ganzen Land gefunden hat. In dieser verrückten Welt könne man ja nie wissen, zu welchen Dummheiten sich jemand hinreißen lasse, der vielleicht zu sehr auf die Vorhersage vertraut habe und sich nun schadlos halten wolle bei dem falschen Propheten.

Großen Spaß hatten offenbar atheistische Gruppen, die bei Zusammenkünften im ganzen Land das Ausbleiben des Weltuntergangs feierten, so etwa bei einer Versammlung der Freimaurer-Loge von Oakland, wobei die Redner es sich nicht verkneifen konnten, scherzhaft Bezug auf den Judgement Day zu nehmen.

Stuart Bechman von den American Atheists erinnerte aber auch daran, dass es bei dergleichen obskuranten Verkündigungen doch auch einen sehr ernsten Aspekt gebe, den man nicht aus dem Blick verlieren sollte. Eine Vielzahl törichter und unbegründeter Überzeugungen würden von Leuten wie Camping in Umlauf gebracht, die bei leichtgläubigen Menschen durchaus auch großen Schaden anrichten könnten.

Apocalypse Now

Sunday, 22. May 2011

(Wegen Weltuntergang am 21. Mai 2011 geschlossen.)

Das Jüngste Gericht, morgen

Friday, 20. May 2011

Wenn es nach Harold Camping geht, dem Chef des amerikanischen Radioprogramms Familiy Radio, dann ist dies hier leider schon mein letzter Blog-Beitrag, wenigstens in dieser Welt. Der 89-jährige US-Amerikaner hat nämlich den morgigen Samstag zum Judgement Day ausgerufen, also zum Tag des Jüngsten Gerichts. Seine evangelikale Anhängerschaft zieht seit Wochen mit Transparenten durch die Straßen des Landes und ruft zur inneren Einkehr auf, wo nötig auch zur Umkehr. Denn das Ende sei nah.

Camping hat nicht etwa zu tief ins Glas geschaut, sondern vielmehr ganz tief in The Holy Bible. Und dort hat er allerlei äußerst bemerkenswerte Zusammenhänge entdeckt, Zahlen mit magischer Bedeutung, den Schlüssel zu einer bezwingenden Verheißung eben. Heraus kam nach solchen ausgefuchsten numerologischen Kalkulationen just das morgige Datum, May 21, 2011. Also wieder einmal ein Weltuntergang, na schön. Ich bin drauf gefasst.

Merkwürdig finde ich aber doch, dass diese apokalyptischen Prophezeiungen immer unter dem vollmundigen Namen Welt-Untergang laufen. Als ginge mit der Menschheit gleich die Welt unter. Welche Anmaßung! Was nach einer kurzen Regentschaft von vielleicht gerade einmal 10.000 Jahren den Bach runter ginge, wäre doch gerade mal eine durchgeknallte und aus dem Ruder gelaufene Affenart, die sich für den Rest der Schöpfung hauptsächlich als epidemisch sich ausbreitender Schädling bemerkbar machte.

Und zweitens ist sonderbar, dass diese Vorhersagen einer neuen Sintflut sich immer und immer wieder auf einen einzigen Tag kaprizieren. Der Horizont dieser selbsternannten Hiobs und Kassandras ist offenbar nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ausgesprochen beschränkt. Sie nehmen nicht wahr, dass der Untergang nicht der Welt, aber doch der Menschheit seit vielen Jahren längst, und zwar ununterbrochen stattfindet.

Harold Camping beglaubigt seinen festen Glauben an die Richtigkeit seiner Berechnungen damit, dass er für die Zeit nach morgen keine Termine mehr gemacht hat. Ach, der alte Herr aus Colorado tut mir richtig leid. Wie wird er sich fühlen, wenn ihm der liebe Gott den Gefallen nicht tut und der Welt noch einen kleinen Aufschub gewährt? Aber vermutlich gibt es dann für ihn doch noch einen spekulativen Ausweg: Er muss sich irgendwo verrechnet haben!

Protected: Popularität (II)

Sunday, 21. March 2010

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Welt, Zahl und Bild

Sunday, 17. January 2010

fussballgott

Die Empfehlung, man solle keiner Statistik vertrauen, die man nicht selbst gefälscht hat, gilt seit Mitte des vorigen Jahrhunderts als fester Bestandteil des Skeptizismus gegenüber den durch Zahlen scheinbar unbezweifelbar gemachten Tatsachenbehauptungen über unsere unüberschaubar vielfältige und sich dazu noch rasend schnell verändernde Welt. Wer den Satz zuerst gedacht, ausgesprochen oder niedergeschrieben hat, das liegt weiterhin im Dunklen, doch deutet einiges darauf hin, dass er im Duell der Titanen moderner Massenmanipulation geboren wurde: Winston Churchill und Joseph Goebbels hatten im Zweiten Weltkrieg die Aufgabe, die Kampfmoral ihrer jeweiligen Völker durch überzeugende Erfolgszahlen hochzuhalten. Da lag ein solcher Satz zur sardonischen Diskreditierung des Gegners geradezu in der bleihaltigen Luft. Gegenüber statistischen Darstellungen der Wirklichkeit ist jedenfalls ein gesundes Misstrauen grundsätzlich am Platze. Die technischen Möglichkeiten zur Verzerrung der Realität im Interesse einer Beeinflussung des Betrachters sind so vielfältig, wie sie nur sein können, wenn sich der erfindungsreiche Menschengeist vor die Aufgabe gestellt sieht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Aber ebenso wahr ist, dass das trockene Zahlenwerk plötzlich eine entzückende Inspirationskraft entfalten kann, wenn die Statistiker und Infografiker von der Leine interessengeleiterter Auftraggeber gelassen und nur so, zu „Erbauung und Belehrung“, aber mit Esprit und gutem Willen tätig werden dürfen. Zum Jahreswechsel sind gleich zwei handliche Bücher erschienen, die sich, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise, genau dies zur Aufgabe gemacht haben.

Die Welt in Zahlen 2010 von der Wirtschaftszeitschrift brand eins hat ihren Ursprung in einer ständigen Rubrik des seit zehn Jahren monatlich erscheinenden Magazins. Zwei kleine Schönheitsfehler will ich gleich eingangs monieren, um mich sodann den vielen Vorzügen des Buches zuzuwenden. Schon die Rubrik hat sich einen stilistischen Tick zu eigen gemacht, der nun auch im Buch gehäuft auftritt und einem mit der Zeit ganz gehörig auf den Wecker fallen kann: Bandwurmartige Bezeichnungen der nachfolgenden Zahlenwerte werden in voller Länge wiederholt. Ein Beispiel gefällig? „Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 1998, in Minuten pro Tag: 77 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2001, in Minuten pro Tag: 107 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2008, in Minuten pro Tag: 120.“ (brand eins: Die Welt in Zahlen 2010. Statista. Hamburg: brand eins Verlag, 2009, S. 112.) Muss das sein? Die unnötige Verweildauer beim Lesen dieses doch sonst so interessanten Buches hätte sich durch Vermeidung solcher Mätzchen reduzieren lassen. Der zweite Wermutstropfen ist der Preis von 22 Euro für ein Taschenbuch von 250 Seiten.

Dies waren die beiden Wermutstropfen, nun folgt Ambrosia. Ich hätte nicht gedacht, dass Hunde in der Rangfolge der häufigsten Haustiere erst an dritter Stelle kommen, nämlich nach Katzen und Kleintieren. Auch erstaunt mich, welches die beiden mit Abstand häufigsten Farben neu zugelassener Autos im Jahre 2007 waren, nämlich Grau und Schwarz. Dass auf jeden dritten Deutschen eine zugelassene Handfeuerwaffe kommt, jagt mir einen gehörigen Schrecken ein. Seit ich weiß, welches die bei Frauen häufigste aller Operationsarten in deutschen Krankenhäusern ist, nämlich die Rekonstruktion der Geschlechtsorgane nach Dammriss bei der Geburt, frage ich mich, ob die Ausbildung unserer Hebammen reformbedürftig ist. Dass mir kein einziges der zehn umsatzstärksten verschreibungspflichtigen Medikamente wenigstens dem Namen nach bekannt ist, wundert mich ebenso wie der Umstand, dass auf Platz eins dieser Liste mit Risperdal ein Mittel gegen Psychosen steht. Soll es mich mit Mitleid erfüllen, dass 774 Millionen Menschen auf der Welt dieses Buch allen schon deshalb nicht lesen können, weil sie Analphabeten sind? Oder soll ich sie vielmehr beneiden, weil ihnen damit erspart bleibt, die vielen traurigen, erschreckenden und wütend machenden Zahlen in diesem Buch zur Kenntnis nehmen zu müssen? Übrigens hat auch hierzulande jeder fünfte Schüler mittlerweile Probleme mit dem Lösen einfachster Rechenaufgaben. Nach den vier Kapiteln „Was Wirtschaft treibt“, „Was Unternehmern nützt“, „20 Jahre Wiedervereinigung“ und „Was Menschen bewegt“ folgen als besonderes Schmankerl noch einige Seiten mit Prognosen über „Deutschland 2050“. Da werden ein paar Trends des ersten Jahrzehnts in diesem neuen Jahrtausend für die nächsten vierzig Jahre ohne Rücksicht auf Plausibilität extrapoliert. Demnach hätte zum Beispiel die SPD kein einziges Parteimitglied mehr und die Kinopreise lägen bei 9,44 Euro – die allerdings niemand bezahlen würde, denn die Zahl der Kinobesucher betrüge 0,0 Millionen.

Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist heißt das zweite Buch zur Lage von Welt und Nation. Auch in diesem Fall haben die Autoren, Matthias Stolz und Ole Häntzschel, ihre ersten Meriten mit einer Zeitschriftenrubrik erworben, mit der „Deutschlandkarte“ im ZEITmagazin. Und auch dieses Buch hat leider eine kleine Macke, es verzichtet auf Seitenzahlen. So muss man der Verlagsankündigung glauben, die uns 240 Seiten verspricht. Oder nachzählen, um bestätigt zu finden, dass das Versprechen gehalten wird. Es freut mich schon, dass das Buch nur 12,95 Euro kostet, geradezu begeistert bin ich aber, dass es – ein Taschenbuch! – fadengeheftet ist. Aber das sind Äußerlichkeiten. Der Content, wie man in Neusprech sagt, ist tatsächlich hinreißend. Im Vorwort erklären die Autoren knapp und deutlich, was sie mit diesem Buch versucht haben: „Das wahre Schmuddelkind journalistischer Texte ist die Infografik. Sie leidet von allen Zutaten, die zur journalistischen Veröffentlichung gehören, unter dem schlechtesten Ruf. […] Wir dachten, es sei Zeit, sie einmal aus ihrem Schattendasein zu befreien. Wetten, auch die Infografik hat eine humorvolle und unterhaltsame Seite?“ (Matthias Stolz / Ole Häntzschel: Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist. München: Knaur, 2010, S. 6 f.)

Naturgemäß kann ich in spröden Worten die mit den visuellen Möglichkeiten der Infografik virtuos spielende Umsetzung von Statistiken nur sehr unzulänglich beschreiben. Ich muss stattdessen auf eine Leseprobe verweisen, die der Verlag freundlicherweise ins Internet gestellt hat – und auf die Großzügigkeit dieses Verlages vertrauen, der es mir hoffentlich nicht übel nimmt, wenn ich eine besonders schöne Grafik hier als Titelbild verwende. Die zunächst etwas überanstrengt wirkende These, dass der sonntägliche Kirchgang in den letzten Jahrzehnten vom Schlachtenbummel auf den Fußballplatz abgelöst wurde, ist wohl noch nie so überzeugend (und dabei tatsächlich auch humorvoll) veranschaulicht worden. Ich bin bekanntlich weder dem einen noch dem anderen Ritual verfallen. Beten und jubeln sind mir gleichermaßen fremd. Aber ich bin noch längst nicht fertig mit der Frage, warum um Himmels Willen eine so schnelle Trendwende von der Kontemplation in die Exaltation erfolgen konnte.

[Titelbild aus dem zuletzt besprochenen Buch, S. 24/25: „Kirche gegen Bundesliga“. – © Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.]

Odradek

Sunday, 20. December 2009

drake

Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen. Fast schmerzlich nannte er die Vorstellung, dass auch er von Odradek überlebt werden könnte. So kam es dann auch, und was für ein Nachleben das Gebilde hatte.

Ulrich Holbein, der ein Lebensbild des ,Versicherungsangestellten, Unfallschützers, Büromenschen, Albtraumfabeldichters, Hungerkünstlers, Himmelsstürmers und Longsellers‘ achtzehn Jahre später in sein Narratorium aufnahm, hat 1990 die markantesten Zitate aus den zahlreichen Deutungen dieses laut Walter Benjamin „sonderbarsten Bastard[s], den die Vorwelt bei Kafka mit der Schuld gezeugt hat“ dankenswerterweise seiner Studie Samthase, Odradek und Hydra vorangestellt.

Dankenswerterweise deshalb, weil neben den Zitaten der bekannten Kafka-Philologen wie Malcolm Pasley, Heinz Politzer und Wilhelm Emrich auch eins aus Günther Anders’ Kafka Pro und Contra aufscheint, von einem meiner persönlichen Hausväter also. Der sagt (laut Holbein): „Da beschreibt er z. B. ein Objekt ,Od<d>radek‘, dessen Funktion gerade darin zu bestehen scheint, daß es keine Funktion hat.“ – Ich habe mich nun gefragt, warum in diesem Zitat der Name des Numinosen mit einem zweiten – oder, wie der besserwisserische Karl Valentin korrigieren würde: dritten – „d“ geschrieben wird, und zwar mit einem in spitze Klammern gesetzten.

Ich habe den Satz, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, bei Anders selbst nachgelesen, in der Sammlung seiner Schriften zur Kunst und Literatur unter dem Titel Mensch ohne Welt von 1984. Aber dort steht das Wort mit seinen sieben Buchstaben ganz so wie in Franz Kafkas schmaler Prosasammlung Ein Landarzt 1919. Anders’ Kafka-Essay erschien im Original 1951 bei C. H. Beck, vielleicht hat Stern da ja falsch „Oddradek“ geschrieben? Und Holbein hat den Fehler nicht stillschweigend korrigieren wollen, sondern das überzählige „d“ eingeklammert, damit man sieht, dass Anders dieser Fehler unterlaufen ist? Aber das wäre dann kein ganz korrektes Verfahren. Vielmehr hätte Holbein das Wort falsch belassen und ein „[sic]“ oder „[!]“ dahintersetzten müssen. Und übrigens möchte ich darauf aufmerksam machen, dass er nicht die Erstausgabe von Kafka Pro und Contra aus dem Jahr 1951, sondern die vierte Auflage von 1972 zitiert. Aber das heißt nicht viel, denn schon damals leisteten sich selbst so angesehene und seriöse Verlage wie C. H. Beck in München nur noch selten den Luxus, bei Neuauflagen wiederum einen Korrektor dranzusetzen, um solche Fehler nachträglich noch zu korrigieren.

Es mag manchem als krankhafte Pedanterie erscheinen, dass ich die nur vermeintliche oder tatsächliche Falschschreibung eines Namens aus zweiter bzw. dritter Hand zum alleinigen Gegenstand eines Artikels in meinem Weblog mache. Wer sich aber ins Bewusstsein ruft, dass es kein ganz gewöhnliches Wort ist, dem diese Falschschreibung zustößt, und dass der Mann, dem diese unterlief (oder auch nicht), lange im englischsprachigen Raum gelebt hat und ihm insofern das Wort „odd“ und seine Bedeutung vertraut gewesen sein dürfte, der wird vielleicht weniger hart über meine Penetranz in dieser Angelegenheit urteilen.

Opfer

Saturday, 05. December 2009

schlomü

Heute war ich mit Heinrich und Christiane zu Gast an der Westfälischen Wilhelmsuniversität (WWU) in Münster, um mir zwei – im weitesten Sinne – theologische Vorlesungen anzuhören. William J. Hoye (* 1940) las im Schloss [s. Titelbild] über Kreationismus, Neuen Atheismus und die Frage nach der Existenz Gottes. Danach ging’s quer über das Universitätsgelände zu Arnold Angenendt (* 1934) ins Audimax in der Johannisstraße, der in seiner Vorlesungsreihe über Liturgie und Messe einen Vortrag hielt, den er unter dem Titel Opferfanatismus? Martyrium und Selbstmordattentat schon einmal vor einem Jahr in Köln zum Besten gegeben hatte.

Noch vor Jahresfrist wäre mir meine Zeit für ein solches „Wahrnehmungsexperiment“ zu schade gewesen. Einmal habe ich grundsätzliche Vorbehalte gegen akademische Gelehrsamkeit, noch grundsätzlicher: gegen Schule(n) ganz generell. Sodann sträubt sich mir das Fell, wenn ich Frömmigkeit gleich welcher Art nur von Weitem wittere. Und schließlich gilt die Wilhelmsuniversität am Bischofssitz Münster nicht eben als Hort der Aufklärung. Wenn ich diesmal all meine Vorbehalte überwand und mich auf das Abenteuer einließ, dann geschah das wohl hauptsächlich meinem Freund Heinrich zuliebe, der seit vielen Jahren das Angebot „Studium im Alter“ an der WWU nutzt und mir davon viel erzählt hat. Freundschaft bedeutet ja auch, sich jenen Interessen und Neigungen der Freunde gegenüber aufgeschlossen zu zeigen, die nicht von vornherein zu den Schnittflächen oder Berührungspunkten gehören.

Nach Hoyes Referat über den kosmologischen Gottesbeweis, speziell über den von Gottfried Wilhelm Leibniz, tat es mir fast leid, meine Vorurteile bestätigt zu sehen. Der Vortragende war mir schon vorab als „etwas trocken“ angekündigt worden. Wenn es nur das gewesen wäre! Dafür, dass sich Hoye doch mit einem kaum umstrittenen, in alle Richtungen ausgedachten theologischen Standardthema befasste, wirkte er in manchen, zu vielen Details unsicher. Auf die einzige Zwischenfrage aus dem Auditorium, warum man nicht Gott mit dem unendlichen Universum gleichsetzen könne, auf dass alle Eigenschaften Gottes erfüllt seien, kam zunächst eine ausweichende Antwort, dann der Hinweis, dies sei exakt der Gottesbegriff des Marxismus. (Wenn schon, dann doch wohl eher des dialektischen Materialismus, oder?) Sehr aufschlussreich für den Bildungshorizont von Hoye war für mich sein skizzenhaftes Porträt von Bertrand Russell, mit dessen Aufsatzsammlung Warum ich kein Christ bin er sich wohl nur befasst hat, weil sie von modernen Atheisten immer wieder mit Respekt zitiert wird. Russell habe mit Alfred North Whitehead das Grundlagenwerk zur modernen Logik verfasst, die Principia Mathematica, ein, wie Hoye weiß, „unlesbares Buch“. Dass er die Probe aufs Exempel gemacht hat, nähme ich ihm nicht ab, selbst wenn er es behauptete. Merkwürdigerweise fiel ihm noch ein, dass dieser Russell auch gegen den Vietnamkrieg angegangen sei, aber das dämmerte ihm nur noch sehr von ferne und ich konnte mich nicht bezähmen, ihm mit ein paar knappen Informationen zum berühmten Vietnam-Tribunal der Jahre 1966/67 beizuspringen. Ich war damals zehn Jahre alt und müsste nichts über das Tribunal wissen; der Amerikaner Hoye hingegen war in einem Alter, in dem aufgeschlossene Zeitgenossen am wohl umstrittensten Ereignis der Weltpolitik jener Zeit wachen Anteil nahmen. Nicht so offenbar Hoye, der da gerade sein Theologiestudium an der Universität Straßburg aufgenommen hatte, um Gottesbeweise auswendig zu lernen.

Ein Viertelstündchen blieb uns zur Umsiedelung ins Audimax. Ich erwog schon, die Zeit des Vortrags besser zu einem Bummel durch die Antiquariate in Münster zu nutzen und meine Begleiter bei Liturgie und Messe (Folge 7) allein zu lassen. Aber warum sollte ich meine Erfahrung mit Hoye auf Angenendt übertragen? Das wäre nicht fair gewesen. Um es gleich vorwegzuschicken: Meine Geduld mit der Theologie in Münster wurde reich belohnt. Arnold Angenendt erwies sich als herzhafter Rhetoriker, dessen überraschenden, stellenweise auch provozierenden Thesen und Beweisführungen man mühelos folgen konnte; als ein Redner mit Herz und Hirn, Humor und Verve! Was er über die Bedeutung des Opfers in der Menschheitsgeschichte zu erzählen hatte, war mir zwar nicht ganz unbekannt, die konkreten Beispiele hingegen waren es teilweise schon. Ich blieb insofern kritisch auf der Hut, als ich die Drastik dieser blutrünstigen Exempel insgeheim der Effekthascherei verdächtigte. Aber man darf ja getrost einmal die Mittel entschuldigen, wenn sie vom Zweck geheiligt werden, der in diesem Falle zunächst mal nur darin bestand, Zweifel zu säen an vielleicht allzu leichtfertig gewonnenen Urteilen. Angenendt geht es um nicht weniger als um das Verhältnis der monotheistischen Religionen zur Gewalt. Wie ich jetzt weiß, hat er vor zwei Jahren ein Buch mit dem Titel Toleranz und Gewalt erscheinen lassen, das den Weg des Christentums zwischen den Polen Bibel und Schwert nachzeichnet (Münster: Aschendorff, 2007.) Selbst die linke taz kommt nicht umhin, dieser „beeindruckenden Studie“ Anerkennung zu zollen: „Wer über das Verhältnis von eifernder Kreuzzugsmentalität und christlicher Friedensbotschaft, von inquisitorischer Strenge und religiöser Toleranz substanziell mitreden will, kommt künftig um Angenendts Buch nicht herum.“ (Robert Misik: Taufe oder Tod; in: taz v. 5. Januar 2008.)

Ich habe eigentlich nicht mehr für nötig gehalten, Karlheinz Deschners monumentale Kriminalgeschichte des Christentums (1986 ff.) zu lesen. Zu erdrückend erschienen mir schon bei oberflächlicher Betrachtung die Indizien für die Hauptthese, dass das Christentum als größte der Weltreligionen als eine Krankheit zu bewerten ist, vielleicht als eine Kinderkrankheit der Menschheit auf dem Wege zu Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit, viel wahrscheinlicher aber als eine Krankheit zum Tode, die so hartnäckige Schäden verursacht hat, dass eine Umkehr auf dem Weg in den Abgrund selbst bei besserer Einsicht nun unmöglich scheint. Nun aber halte ich es immerhin für nötig, die Faktenlage noch einmal einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Vielleicht kann es tatsächlich sinnvoll sein, Deschner und Angenendt parallel zu studieren.

Rundgang (X)

Saturday, 12. September 2009

Die Kirche der evangelischen Gemeinde Rellinghausen ist uns schon auf einem früheren Rundgang begegnet. Seither habe ich sie aus ganz unterscheidlichen Perspektiven und von verschiedenen Standorten aus betrachtet. So zeigt das Titelbild sie von einem Waldweg aus, den ich bei meinen Spaziergängen mit Lola häufig passiere.

Inzwischen weiß ich, dass das „im Bauhausstil 1934-35 errichtete denkmalgeschützte Gebäude […] der dritte evangelische Kirchenbau Rellinghausens an dieser Stelle [ist]. Der letzte Neubau war notwendig geworden, als infolge des Bergbaus die Kirchengemeinde innerhalb von 40 Jahren von 800 auf 8.000 Mitglieder angewachsen war.“ (Holle, a. a. O., S. 6 f.) Die erste reformierte Kirche wurde 1663 eigeweiht, aber schon zehn Jahre später von durchziehenden französischen Truppen Ludwigs XVI. nahezu zerstört. Ein zweiter Kirchenbau, von dem es auch noch alte Fotos gibt, entstand in den Jahren 1772-75. (Vgl. Ludwig Potthoff: Rellinghausen im Wandel der Zeit. Essen: R. Bacht, 1953, S. 108-112.)

Der gegenwärtige Pfarrer, Andreas Volke-Peine, hat die Geschichte seiner Gemeinde und Kirche in Rellinghausen anlässlich des Jubiläums 1996 „aus evangelischer Sicht“ dargestellt. (Vgl. die Festschrift 1000 Jahre Rellinghausen. Essen: Bacht Verlag, 1995, S. 44-48.) Über die schwierige Zeit der Kirche im Nationalsozialismus und den Kampf zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche am Ort schreibt er: „Die Zeugnisse aus dieser Zeit lassen erkennen, daß auch in der Rellinghauser Gemeinde die Fahne mit dem Hakenkreuz Anhänger hatte und mancher evangelische Christ sich vom Führer verführen ließ. Aber es gab auch stets eine Fraktion, die fest zur Bekennenden Kirche stand und den Mut hatte, offen gegen das nationalsozialistische Gedankengut anzugehen.“ (Ebd., S. 48.)

Betreten habe ich die Kirche immer noch nicht. Ich nähere mich ihr bewusst, langsam, nichts übereilend. Und ich habe nun auch einen gebührenden Anlass gefunden:

Am 26. September, heute in zwei Wochen, gibt der Komponist Gerd Zacher aus Anlass seines 80. Geburtstags ab zwanzig Uhr ein Orgelkonzert in dieser Kirche. Auf dem Programm stehen zwei Ricercari von Johann Sebastian Bach aus dem Musikalischen Opfer und drei Werke von Zacher selbst: Szmaty (1968), Trapez (1993) und Vocalise (1971).

Protected: Du tu dies, du das!

Wednesday, 02. September 2009

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Kastanie aus Feuer

Friday, 21. August 2009

Zusammenstellungen von Zitaten nach gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Kriterien haben mich immer schon angezogen. Sammlungen letzter Worte berühmter Sterbender besitze ich gleich drei und habe hierüber andernorts vor Jahr und Tag auch einmal gebloggt. Als ich neulich den größten Teil meiner Bibliothek auslagern musste, da blieb etwa die beeindruckend reichhaltige Zitatensammlung Geld von Robert W. Kent und Lothar Schmidt von der Zwangsausbürgerung verschont (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1990).

Ein ungleich bescheidener auftretendes, dennoch nicht genug zu lobendes Sammelsurium bitterböser Zitate bietet das Büchlein Dichter beschimpfen Dichter, das ich aus gegebenem, aber zu verschweigendem Anlass heute wieder einmal zur Hand nahm. Wir verdanken es dem jüngst verstorbenen Jörg Drews und seinen ungenannten „Freunden in Berlin und Pisa, in Zürich und in Hille, in Paris und in Scheeßel, in Jerusalem und in Bielefeld, vor allem aber Sabine Kyora”. (Dichter beschimpfen Dichter II. Ein zweites Alphabet harter Urteile. Zusammengeststellt u. m. e. Nachwort beschlossen v. Jörg Drews & Co. Zürich: Haffmans Verlag, 1992, S. 137.)

Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich mit dem Buch, dessen knapp 140 Seiten im Kleinoktav-Format viel zu schnell weggelesen sind, bloß den zweiten Teil einer Folge besitze. Ich finde darin zwar allerlei hässliche Invektiven gegen die großen und kleineren Geister der Weltliteratur, in alphabetischer Reihenfolge von Aeschylos bis Zola. Aber mancher, den ich gerade heute gern beschimpft sähe oder als Schimpfenden hörte – Knut Hamsun, Ludwig Hohl, Harald Wieser – fehlt zu meinem Bedauern. Vielleicht muss ich mir den ersten Band von 1990 doch noch zulegen? Aber da sehe ich, dass Drews 2006 zudem eine „vollst. überarb., ergänzte und erw. Neuausg.” bei Zweitausendeins in die Welt geschickt hat …

Reizvoll wäre es vielleicht, die gegenseitigen Invektiven der Damen und Herren Dichter wie eine lückenlose Perlenkette oder einen chronologischen Staffellauf zu arrangieren, von der jüngsten Rempelei eines Bachmann-Preisträgers gegen seinen renommierten Juror bis zurück zu Homer, der dann schließlich auch noch Opfer einer Beschimpfung wird, nämlich durch Voltaire: „Wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling oft verursacht.” (Dichter beschimpfen Dichter II, a. a. O., S. 57.) Bloß fände Homer vermutlich keinen Ahnen mehr, bei dem er sich für die widerfahrene Schmähung schadlos halten könnte.

Etwas aus der Reihe fällt in Drews negativem Pantheon übrigens Walter Kempowski, dem es als einzigem gestattet wird, sich selbst zu beschimpfen: „Ich bin der Sonnyboy der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein hingeschissenes Fragezeichen.” (Ebd., S. 66.) – Wenn ich so vermessen wäre, dem nachzueifern, dann würde ich vielleicht über mich sagen: „Ich bin ein nervöses Hüsteln, das eilige Passanten aus dem brennenden Dornbusch zu vernehmen meinen.”

Minimixa

Tuesday, 14. April 2009

Papst Benedikt XVI. gibt die Richtung vor und seine Getreuen machen’s nach, wo immer sich eine Gelegenheit bietet. Das festtägliche Ablassen Ärgernis erzeugender Provokationen gehört mittlerweile schon zum postmodernen Ritus der katholischen Kirche. Diesmal war es erneut Bischof Walter Mixa (67), der sich absichtsvoll im Ton vergriff – und prompt sprang die liberale Presse darauf an, und in den Internetforen schäumte der Volkszorn.

Was hat Mixa nun eigentlich gesagt? Die vom Nationalsozialismus und Kommunismus begangenen Massenmorde seien eine unmittelbare Folge des um sich greifenden Atheismus gewesen. Wieder einmal habe ich allen Grund, solch einen offenbar tiefgläubigen Kirchenmann zu beneiden. Wie gemütlich muss er es doch haben, da er sich seine Welt und deren Geschichte mit so schlichten Schwarzweißmalereien zurechtlegen kann.

Leider ist diese neueste Pointierung des klerikalen Standpunkts – nennen wir den Quatsch mal so – kaum zu einer Erwiderung tauglich. Noch wer ihn halbwegs ernst nähme, machte sich so lächerlich wie etwa jene(r) „Tobermory” im Spon-Forum, der/die sich zu dieser Erkenntnis aufschwingt: „Nicht jeder Atheist ist ein potentieller Massenmörder. Umgekehrt ist nicht jeder Katholik ein Widerstandskämpfer.” Wer hätte das gedacht?

In die gleiche unterste Schublade gehört heuer zu Ostern der Protestschrei von Markus Hörwick (52), Sprecher des Fußball-Clubs Bayern München e. V., der etwas gefunden hat. Es war aber kein Osterei, sondern „vielleicht die schlimmste Entgleisung, die es in den deutschen Medien jemals [!] gegeben hat.” Vermutlich kennt Hörwick den Stürmer nicht, sonst müsste ihm die Geschmacklosigkeit seines Superlativs unmittelbar einleuchten.

Mittlerweile sind wir dort angelangt, wo Fußball längst viel mehr als die wichtigste Nebensache und Religion längst viel weniger als die unwichtigste Hauptsache der Welt ist: ganz unten. Schlechte Zeiten für Zeitkritiker.

Todsünde

Thursday, 29. January 2009

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die katholischen Messen in lateinischer Sprache zelebriert. Die Gemeinde plapperte ein unverständliches Kauderwelsch nach, ritualisierte Formeln einer längst ausgestorbenen Sprache, die ihr wie die Zaubersprüche animistischer Religionen vorgekommen sein mögen – und sie vielleicht gerade deshalb beeindruckten. Dann sprang Martin Luthers für seine Zeit revolutionärer Gedanke, dass das gemeine Volk verstehen solle, was es zu glauben genötigt werde, wenngleich mit mehr als vierhundert Jahren Verspätung, von Wittenberg nach Rom über. Das von Papst Johannes XXIII. einberufene Zweite Vatikanische Konzil leitete eine Liturgiereform ein, die unter seinem Nachfolger Paul VI. zum Abschluss kam und die Einführung der Volkssprachen in den katholischen Gottesdienst ausdrücklich billigte.

Gegen diesen Bruch mit altehrwürdigen Traditionen begehrte der französische Erzbischof Marcel Lefebvre (1905-1991) auf, der die Ansicht vertrat, Paul VI. habe mit seinen „katastrophalen Neuerungen” der katholischen Kirche mehr Schaden zugefügt als die Französische Revolution. Er verweigerte dem Stellvertreter Christi auf Erden im Vatikan seinen Gehorsam, wurde von Paul VI. suspendiert und schließlich gar von Johannes Paul II. exkommuniziert, nachdem er gegen die ausdrückliche Weisung des polnischen Papstes am 30. Juni 1988 an vier seiner treuen Jünger – Bernard Tissier de Mallerais, Alfonso de Galarreta, Bernard Fellay und Richard Williamson – die Bischofsweihe vollzogen hatte.

Gut zwanzig Jahre später hat nun die Verständlichmachung der katholischen Glaubensinhalte Früchte getragen, die dem aktuellen Nachfolger auf dem Stuhl Petri, dem jetzt amtierenden Papst Benedikt XVI., vulgo Joseph Alois Ratzinger, nicht gefallen wollen. Ihm laufen in seinem Heimatland Deutschland und auch anderswo die Schäfchen von der Weide, weshalb er vor zwei Jahren zunächst die nach altem Römischen Ritus übliche „Tridentinische Messe” wieder erlaubte – und zudem vor ein paar Tagen die Exkommunikation der vier von Lefebvre geweihten Bischöfe aufhob. Dabei ist ihm allerdings ein kleiner Schönheitsfehler unterlaufen, denn einer dieser Herren, Richard Williamson, erwies sich bei näherer Betrachtung als „persona non grata”, gar als Obergangster vor jedem christlichen und weltlichen Richterstuhl: als Holocaust-Leugner und verbohrter Antisemit. (Was dieser offenbar völlig durchgeknallte Bischof sonst noch von sich gegeben hat, harrt noch der Entdeckung durch die hoffentlich um Aufklärung bemühten laizistischen Medien einer freien Welt. So vertrat Williamson etwa 2001 die Ansicht, dass Mädchen und Frauen nicht an Universitäten studieren sollten, und reihte sich in die paranoide Gemeinschaft jener Verschwörungstheoretiker ein, die ernsthaft glauben, 9/11 sei von der amerikanischen Regierung unter George W. Bush initiiert worden.)

Die Flurschäden, die der jetzt amtierende Papst alle paar Monate anrichtet, sind beträchtlich. Die Aussöhnung der Christen mit dem Judentum, so heißt es allenthalben, sei um hundert Jahre zurückgeworfen, die fleißigen Bemühungen seiner Vorgänger um eine Verständigung zwischen diesen beiden Weltreligionen habe Benedikt XVI. mit seiner unbedachten Rehabilitation eines offenkundig Verrückten zunichte gemacht.

Als hätte die Menschheit nicht andere Sorgen! Noch immer klebt ihr der Dreck am Schuh, in den sie vor Jahrtausenden getreten ist, da sie es noch nicht besser wissen konnte: dass nämlich kein jenseitiger Gott ist und keine ebenso finstere wie heiße Hölle droht als allein die auf Erden, in unserem zeitlich begrenzten Diesseits. – „Der Atheismus beruht auf der Erklärung der Menschenrechte. Die Staaten, die sich seither zu diesem offiziellen [?] Atheismus bekennen, befinden sich in einem Zustand dauernder Todsünde.” Diese Sätze stammen wohlgemerkt nicht von dem aktuell zum Stein des Anstoßes gewordenen Bischof Williamson, wohnhaft im argentinischen La Reja, sondern aus einer der letzten Predigten seines Lehrmeisters, des Erzbischofs Lefebvre, gehalten am 1. November 1990 in Ecône im Schweizer Kanton Wallis. (Ist es bloß ein dummer Zufall, dass Lefebvre die argentinische Militärjunta, wie übrigens auch das faschistische Regime in Chile unter Augusto Pinochet, als vorbildliche Regierung gepriesen hat?) – Ich bekenne mich zu den Menschenrechten – und nehme dafür den „Zustand dauernder Todsünde” gern in Kauf.

[Titelbild: Por una navaja von Francisco de Goya, aus seinen Desastres de la Guerra (1810-1814).]

Non-believers

Friday, 23. January 2009

Da hat nun also der Mann aus Honolulu zu seinem Amtsantritt eine tatsächlich jeden denkenden und zugleich empfindsamen Menschen bewegende Rede gehalten, die man im vollständigen Wortlaut überall auf der Welt nachlesen kann – und die mir vorgestern in deutscher Übersetzung von meiner Tageszeitung zum Frühstück serviert wurde. (Süddeutsche Zeitung Nr. 16 v. 21. Januar 2009, S. 2.)

“We Have Chosen Hope Over Fear”. – „Wir haben die Hoffnung über die Furcht gestellt”. Unter diesem Titel kündigt der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika einen Systemwandel, einen politischen Wetterwechsel, eine Rückkehr zu alten Tugenden, eine moralische Erneuerung der Weltmacht Nr. 1 an, die man nach den schier endlos scheinenden, bitter missglückten acht Amtsjahren seines Vorgängers kaum mehr für möglich gehalten hätte.

Ich bin meiner Tageszeitung noch heute dafür dankbar, dass sie mich früher als alle anderen Medien hierzulande darüber unterrichtete, welch vielversprechenden Kandidaten die Democratic Party da ins Rennen um die Präsidentschafts-Kandidatur geschickt hatte. Das dürfte wohl nun schon fast zwei Jahre her sein. Meinem Arbeitskollegen am gegenüberliegenden Schreibtisch – ich war da noch „in Arbeit” – rief ich damals zu: „Merken Sie sich mal den Namen Barack Obama. Das ist der nächste Präsident der USA.” Und später hoffte und bangte ich monatelang im kräftezehrenden Vorwahlkampf „meines” Kandidaten gegen seine Parteigenossin Hillary Clinton, gegen jene Frau, die ihrem Ehegatten, dem 42. Präsidenten der Weltmacht, den Blowjob mit seiner Praktikantin verziehen hatte, dass Barack Obama trotzdem und obwohl sein Name so fatal an den des Staatsfeinds Nr. 1, Osama bin Laden, erinnerte, schließlich den Sieg davontragen würde. Das ist nun alles Vergangenheit.

Was ich meiner Tageszeitung, der Süddeutschen, allerdings nie verzeihen werde, das ist ein Fauxpas, der außer mir vermutlich keinem ihrer Leser aufgefallen sein dürfte. Im Text der Obama-Rede hebt die SZ einige Passagen rot hervor, um ihre besondere Bedeutung in Marginalien zu kommentieren. Dass Barack Obama sein Land als „eine Nation von Christen und Muslimen, Juden und Hindus – und von Atheisten” bezeichnet, wertet die SZ-Redaktion, wohl zu Recht, als „Novum in einer Inaugurationsrede. Obama zählt auch die Muslime, Juden, Hindus und Atheisten zu den Bürgern, welche die Grundlage der amerikanischen Nation bilden.”

Mal abgesehen davon, dass Obama die fünfte Weltreligion, den Buddhismus, in seine Aufzählung nicht aufnahm und somit auch den Dalai Lama brüskiert haben dürfte, befremdet mich, dass meine Frühstückszeitung die believer in fettem Rot hervorhebt, die non-believer hingegen in tristem Schwarz belässt [s. Titelbild]. Da war offenbar in der Schlussredaktion der SZ ein Praktikant zugange, der sonntäglich den Klingelbeutel durch St. Peter trägt.

Sehr gut?

Tuesday, 06. January 2009

Gestern besuchte mich mein guter alter Freund Heinrich, mit dem sich immer trefflich über Gott, das Wort streiten lässt. „Streiten” heißt hier zwar in der Regel „aneinander vorbeireden”, aber in dieser beiderseitigen Verfehlung liegen meist mehr Erkenntnismöglichkeiten als im nur vermeintlichen gegenseitigen „Verständnis” jener, die sich, gleich auf welcher Seite des Zauns, mit einem freundlich-toleranten Lächeln auf den Lippen zunicken, wie zum Beispiel im Gespräch über Religion und Vernunft, das Professor Jürgen Habermas und Kardinal Joseph Ratzinger 2004 geführt haben.

Heinrich machte mir ein sehr liebenswürdiges Geschenk, den Kleinen Atheismus-Katechismus, den Gerd Haffmans im vorigen Jahr zusammengestellt und herausgegeben hat (Frankfurt am Main: Haffmans bei Zweitausendeins, 2008). Auf gerade einmal 170 Seiten versammelt Haffmans einige der schärfsten literarischen Gewürze, mit denen sich das gelegentlich eher fade schmeckende Eintopfgericht nüchternen Unglaubens abschmecken lässt. Neben den Klassikern wie Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer, Karl Marx und Charles Darwin – dem Jubilar dieses neuen Jahres – sind auch meine speziellen Hausunheiligen Fritz Mauthner, Theodor Lessing und Arno Schmidt mit ihren besten Ketzereien vertreten. Das proper fadengeheftete Bändchen kostet reelle 12,90 €, beschert den mitdenkenden Leser überreich mit bitteren Einsichten, sauren Erkenntnissen und scharfen Witzen und verdirbt ihm womöglich auf Lebenszeit den Geschmack für die süßlichen Versprechungen einer besseren Jenseitigkeit via Gottesglaube, Beichte und Frömmelei.

Besonders erfreut haben mich die Aphorismen zur Gotteswissenschaft (S. 101-109) von Ludger Lütkehaus (* 1943), der mir zuerst durch sein handliches Buch über die Onanie („O Wollust, o Hölle”. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag) und dann erneut mit seinem gewichtigen Buch über das Nichts (Frankfurt am Main: Haffmans bei Zweitausendeins, 2000) angenehm aufgefallen war: als sowohl schamlos Fragender wie geistreich Antwortender.

Zwei Kostproben. „Warum erfreut sich das Recycling so großen Zuspruchs? Weil es die realistischere Form der Unsterblichkeit ist. Sublimation der irdischen Abfallwirtschaft mit hinausgeschobenem Verfalldatum.” (Recycling, S. 103.) – Und dann dies hier: „,Siehe, es war alles sehr gut.‘ Der Schöpfer, der sich am Ende seiner Sechstagewoche selber zu seinem Schöpfungswerk gratuliert, liefert nicht nur ein beklagenswertes Beispiel für den Mangel an Realismus. Er ist auch der bei weitem Eitelste in der Gemeinde der Selbstgefälligen. Den Realismus liefert er zwar mit den Folgen des Sündenfalls nach. Sein Schöpfer-Narzissmus aber bleibt ungetrübt. Er rettet sein Bild aus dem Desaster, indem er die Schuld nie bei sich selber sucht. Unter allen Uneinsichtigen ist er der Unbelehrbarste.” (Sehr gut, S. 108.)

Ein passendes Geschenk zu allen christlichen Feiertagen – sowie zur Taufe, Kommunion und Letzten Ölung!

Narratorium

Sunday, 28. December 2008

Ulrich Holbein (* 1953), der Eremit im Knüllgebirge, hat in den vergangenen zwanzig Jahren gut zwei Dutzend Bücher geschrieben, die allesamt auf ebenso eigenwillige wie eindringliche Weise Zeugnis von seiner exzentrischen Belesenheit ablegen. Nun hat er uns zu Weihnachten mit einem fast zwei Kilo wiegenden Personenlexikon besch(w)ert: Narratorium. Abenteurer · Blödelbarden · Clowns · Diven · Einsiedler · Fischprediger · Gottessöhne · Huren · Ikonen · Joker · Kratzbürsten · Lustmolche · Menschenfischer · Nobody · Oberbonzen · Psychonauten · Querulanten · Rattenfänger · Scharlatane · Theosophinnen · Urmütter · Verlierer · Wortführer · Yogis · Zuchthäusler. (Zürich: Ammann Verlag, 2008.)

Fast jedes dieser „255 Lebensbilder” folgt einem strengen lexikalischen Muster. Auf den Namen des Narren (z. B. Jiddu Krishnamurti) folgen: eine Aufzählung seiner Spezifikationen resp. Qualifikationen resp. Professionen (hier: „Quasimessias, Weisheitsdozent, Weltlehrer, Vortragsdenker, Seelenretter, Guruismuskritiker, Edelguru”), die Lebensdaten (in diesem Falle 1895-1986); eine sehr ausführliche und sehr subjektive Nacherzählung von allem, was im Lebenslauf, in den Taten und Lehren des Porträtierten vom Mittelmaß und gesunden Menschenverstand abweicht; Worte des jeweiligen Narren (hier beispielsweise: „Meiner Ansicht nach haben Glaubensinhalte, Religionen, Dogmen und Überzeugungen nichts mit Leben zu tun und somit auch nichts mit Wahrheit”); Worte des Narren über sich selbst („Ich bin wie die Blume, die ihren Duft der Morgenluft weiht”); und schließlich Worte anderer über ihn: „Die Unbeteiligten spotteten darüber, daß der neue Weltheiland in einem Hotel ersten Ranges wohne, moderne Anzüge trage und Tennis spiele.” Das soll ein Rudolf Olten 1932 gesagt haben, auf genauere Quellenangaben und Zitatnachweise verzichtet das bequemerweise (aus Sicht des Autors und seines Verlages), unbequemerweise (aus Sicht des Lesers) bei allem Fleiß reichlich hemdsärmelig daherkommende Nachschlagewerk leider ganz. So muss man dann schon zufällig wissen und kombinieren können, dass hier wohl Rudolf Olden (1885-1940) gemeint und das Zitat offenbar aus dessen Sammlung Propheten in deutscher Krise (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1932) entnommen ist.

Als ich vor ein paar Wochen auf diese Schwarte aufmerksam gemacht wurde, schwankte ich für kurze Zeit zwischen Hoffen und Bangen, ob sie mein gerade erst gestartetes Projekt „Eccentrics” durch zahlreiche Übereinstimmungen bestätigen oder ihm gar den Rang abgelaufen haben könnte. Mitnichten! Weder Siemsen noch Baggesen, weder der liquidierte Dodo noch der selbsttrepanierte Bart Huges, weder der Essener Pferde- noch der ebendort zwitschernde Leierkastenmann, von Franz Gsellmann, Oskar Panizza, Alexandre „Marius” Jacob oder Helmut Salzinger ganz zu schweigen, kommen bei Holbein vor. Einzig den „Auswanderer, Sonnenanbeter, Gemüseverneiner, Extrem-Vegetarier, Kokosnußprediger, Kokovorist, Welterlöser” August Engelhardt (S. 284 f.) haben wir bislang gemeinsam auf unserer Liste. (Zugegeben: Ich las diesen Artikel mit höchstem Vergnügen!)

Der Grund liegt auf der Hand. Ulrich Holbein erntet hauptsächlich die verzückten Gottgläubigen ab, während ich deren sehr spezielles Spinnertum, Godzillas abstruse Geisteskindschaften, keiner eingehenderen Betrachtung für würdig erachte. Irritiert hat mich allerdings, dass er auch Günther Anders (S. 38 ff.) in seinem chaotischen Heiligenlexikon kanonisiert. Aber da dort auch (S. 151 f.) ein mir bisher gänzlich unbekannter Dieter Bohlen auftaucht, schreibe ich diesen Ausreißer gnädig einer willkürlich waltenden Beliebigkeit zu.

Abschließend sei immerhin, als eine Art Versöhnungsangebot, noch angemerkt, dass das dicke Buch von Ulrich Holbein mit allerlei beeindruckenden Bildcollagen des Autors verziert ist, von denen mir die im Titelbild gezeigte, Theodor Lessing hinter Truthahn und Silbermops, besonders gut gefallen hat.

[Mit Dank an Bernd Berke für den Hinweis auf Holbeins Buch.]

Popularität (I)

Thursday, 13. November 2008

Anfang 1966 erschien in einer Londoner Tageszeitung ein Interview, das der Beatle John Lennon der Reporterin Maureen Cleave, einer guten Freundin, gegeben hatte. Nach seinen Ansichten zum Thema Religion befragt, schwang sich der damals bereits weltberühmte Popstar zum Propheten auf: “Christianity will go. It will vanish and shrink. I needn’t argue about that; I’m right and I will be proved right. We’re more popular than Jesus now; I don’t know which will go first – rock’n’roll or Christianity. Jesus was all right but his disciples were thick and ordinary. It’s them twisting it that ruins it for me.” (Maureen Cleave: How Does a Beatle Live? John Lennon Lives Like This; in: Evening Standard v. 4. März 1966; Hervorhebung von mir.)

Ob Lennons Behauptung, die Beatles seien populärer als Jesus, für das Jahr 1966 zutraf, lässt sich nicht überprüfen, doch seit es Google gibt, kann man immerhin sehr einfach per Suchabfrage ermitteln, wieviele Belegstellen zu „Beatles” und zu „Jesus” im weltweiten Internet heute zu finden sind. Die Band aus Liverpool bringt es dort auf 59,9 Millionen Treffer, der Nazarener auf mehr als das Dreifache (183 Mio.). Ein solcher „Googlefight” ist übrigens auch auf einer kleinen animierten Website gleichen Namens im Internet verfügbar.

Dieser Popularitätstest ist aufschlussreich und je nach Gemütslage erheiternd oder deprimierend. Nachfolgend ein paar Beispiele, wie der Kampf „Hochkultur der Weltgeschichte vs. Trivialmythen der neueren Zeit” ausgeht (alle Zahlen in Mio.):

Sokrates vs. James Bond       3,0 : 37,3
Leonardo da Vinci vs. Ronaldinho     9,7 : 23,1
Shakespeare vs. Madonna         41,3 : 92,9
Philosophen vs. Rapper         3,8 : 21,6
Askese vs. Shoppen        0,5 : 14,0
Karl Marx vs. Karl May        6,4 : 10,1
Hamlet vs. Harry Potter       18,7 : 79,2
Orgel vs. Percussion       5,3 : 25,7
Julius Caesar vs. Barack Obama       3,1 : 94,2
Pyramiden vs. World Trade Center      1,4 : 31,1

Ich überlasse den geneigten Leser für ein paar Tage seinen eigenen Erwägungen und melde mich dann wieder zum gleichen Thema, wenn meine Melancholie verflogen ist und ich fähig bin, diesen Abstimmungsergebnissen der Web-Community mit wieder erstarktem Geist vielleicht ein paar nüchterne Erkenntnisse abzugewinnen.

[Fortsetzung: Popularität (II).]

Panizza

Wednesday, 12. November 2008

Der erste Exzentriker, mit dem ich mich vor nunmehr dreißig Jahren eingehend beschäftigte, war Oskar Panizza (1853-1921): ein glühender Antipapist, der (1895-1896) für sein satirisches, „gotteslästerliches” Drama Das Liebeskonzil ein Jahr Gefängnisstrafe in Amberg abbüßen musste, dann nach Zürich ins Exil ging, wo er ab 1897 seine kuriosen Zürcher Diskußjonen im Selbstverlag herausgab, um nach einer Anzeige wegen Unzucht mit einer minderjährigen Prostituierten mit seiner 10.000 Bände umfassenden Privatbibliothek weiter nach Paris zu fliehen. Halbwegs bekannt geworden war Panizza bei seinen zeitgenössischen Lesern durch seine düsteren Erzählungen in der Tradition von E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, durch seine Dämmerungsstücke (1890) und Visionen (1893).

Was mich damals an Panizza entzückte, das waren sein radikales Einzelgänger- und Außenseitertum, der mutige Trotz, mit dem er allen weltlichen und himmlischen Mächten die Stirn bot, seine bis in die „Ortografie” hinein eigenwillige Schreibweise, die imposante, offenbar autodidaktisch erworbene Vielbelesenheit und schließlich sein sarkastischer Fürwitz. Dass André Breton diesen Meister des schwarzen Humors in seiner Anthologie de l’humour noir (1940, dt. 1971) nicht berücksichtigt hat, scheint mir noch heute unverzeihlich.

Oskar Panizzas nicht ganz schmales literarisches Œuvre – Wilpert-Gühring I verzeichnet immerhin 22 Erstausgaben – galt damals in den Antiquariaten als „selten und gesucht” und war somit für einen arbeitslosen Schulabbrecher wie mich völlig unerschwinglich. Wie groß war daher meine Freude, als ich entdeckte, dass die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf nahezu alle Werke des verehrten Autors im Bestand führte und auch auslieh. Und wie groß war mein Entsetzen, als ich dort in einer halbledergebundenen Kompilation der drei frühen Gedichtbände von Oskar Panizza – Düstre Lieder (1886), Londoner Lieder (1887) und Legendäres und Fabelhaftes (1889) – auf dem Vorsatzblatt den Stempel entdeckte: „Eigentum Reichsleiter Bormann”; und darunter in Bleistift dessen eigenhändige Unterschrift.

Diese Irritation hielt mich aber nicht davon ab, wenig später nach Berlin zu reisen und in der „Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz” weiterhin dem verehrten Exzentriker nachzuforschen. In deren Handschriftenabteilung ließ ich mir Panizzas lange verschollen geglaubten Spätling Imperjalja vorlegen, darin der im Pariser Exil immer tiefer in geistige Umnachtung versinkende Schriftsteller 1903 bis 1904 seinen persönlichen Hass und seine paranoiden Spekulationen gegen Kaiser Wilhelm II. zu Papier gebracht hat. Eine freundliche Bibliothekarin, die vermutlich von dem Feuereifer dieses ganz unakademischen jugendlichen Forschers gerührt war, schickte mir wenig später per Post eine Kopie der Mikroverfilmung dieses Manuskripts. Da ich natürlich nicht über ein Lesegerät für einen solchen Film verfügte, zerschnitt ich ihn in Einzelbilder und klemmte sie in Dia-Rähmchen, um anschließend via Projektor das Spätwerk meines Herrn und Meisters Wort für Wort von der Leinwand herab zu dechiffrieren.

Wie so viele Projekte aus dieser Zeit meines jugendlichen Überschwangs blieb auch dieses in den Anfängen stecken. Jürgen Müller hat zwei Jahrzehnte später diese mühevolle Arbeit, an der ich scheiterte, zu einem sehr erfreulichen Ende gebracht und das „Manuskript Germ. Qu. 1838″ mustergültig transkribiert und editiert. Das letzte Buch von Oskar Panizza, bevor er endgültig verrückt wurde, erschien 1993 im Guido Pressler Verlag in Hürtgenwald in der Reihe „Schriften zu Psychopathologie, Kunst und Literatur” – und wurde vor ein paar Jahren beim Bärendienst Buchversand für nur 14,00 Euro verramscht.

Volksopium

Friday, 26. September 2008

Es gibt eine, vielleicht zwei Handvoll Sätze, die in ihrer durchschlagenden Wirkung auf das Bewusstsein der Menschen folgenreicher gewesen sein mögen als tausend kluge Bücher. Einer dieser Sätze lautet: „Religion ist Opium fürs Volk.” Seine Strahlkraft reicht bis in die Gegenwart und in die Popkultur. So brachte die Düsseldorfer Punkrockband Die Toten Hosen 1996 eine Platte mit dem Titel Opium fürs Volk heraus. Im Booklet zur CD ist u. a. Lenin als Redner vor Arbeitern zu sehen, vermutlich aber nicht, weil er öfter mal als Urheber des Zitats genannt wird, sondern weil auch die kommunistische Propaganda als eine modernere Form von „Opium fürs Volk” bloßgestellt werden soll. Schließlich hatte Campino schon zehn Jahre vorher prophezeit: „Das Ende ist nah, / für Lenin und Marx, / das Ende ist nah.” (Refrain von Disco in Moskau auf Damenwahl).

Die unverbesserlichen Besserwisser weisen dankenswerterweise ein ums andere Mal fröhlich pfeifend darauf hin, dass der Satz erstens nicht von Lenin stammt, sondern von Karl Marx; und dass er zweitens richtig lautet: „Religion ist das Opium des Volkes.” Nichts macht bekanntlich mehr Spaß, als Besserwisser zu belehren, besonders dann, wenn sie ihren Spitzfindigkeiten den Ritterschlag einer tieferen Bedeutung geben wollen. In diesem Falle meinen sie, dass ein entscheidender Unterschied bestehe zwischen „Opium fürs Volk” und „Opium des Volkes”. In der ersten Variante werde der Schwarze Peter den Herrschenden zugeschoben, die das willenlose Volk mit der Droge Religion vergiften, während das Marxsche Originalzitat dem Volk die Schuld gebe, das nach dem Trost spendenden Rausch selbst verlange. Wenn wir im Bilde bleiben, wird die Absurdität dieser Argumentation schnell offenkundig. Wir müssten dann die Junkies in unseren Städten hart bestrafen, statt ihnen Therapieangebote auf Kosten der Allgemeinheit zu machen, während die Dealer straffrei davonkämen.

Auch mit ihrem Nachweis der Urheberschaft des berühmten, viel zitierten Satzes liegen die Besserwisser nur halb richtig. Auf Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, kann man sich durchaus auch berufen. In seinem heute noch lesenswerten Aufsatz Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion schreibt er: „Die Religion ist das Opium des Volkes – dieser Ausspruch von Marx bildet den Eckpfeiler der ganzen Weltanschauung des Marxismus in der Frage der Religion. Der Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und Kirchen, alle religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die die Ausbeutung verteidigen und die Arbeiterklasse verdummen und umnebeln sollen.” (Zuerst ersch. in: Proletary, Paris, Nr. 45 v. 13. Mai 1909.)

Dieser „Ausspruch von Marx” findet sich in der Einleitung zu dessen Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und lautet im Zusammenhang: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. – Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.” (Zuerst ersch. in: Deutsch-Französische Jahrbücher. Paris 1944.) – Übrigens hört man den Satz oft falsch betont. Es muss nicht heißen: „Religion ist das Opium des Volkes.” Denn das würde ja unterstellen, dieses Rauschmittel sei eigentlich eine Droge der herrschenden Klasse gewesen, was weder in Asien noch in Europa je der Fall war. Vielmehr ist der Ausspruch nur mit dieser Betonung plausibel: „Religion ist das Opium des Volkes.”

Einiges spricht dafür, dass Karl Marx sich zu seinem Satz von Heinrich Heine inspirieren ließ, den er 1843 persönlich kennen gelernt hatte. Der Dichter hatte 1840 in seiner Denkschrift Über Ludwig Börne geschrieben: „Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goß, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!”