Archive for the ‘Fernflanerien’ Category

Wintergarten

Saturday, 11. February 2012

Zu Besuch bei Freunden in Düsseldorf. Manche Räume versetzen mich in einen Zustand wohliger Perplexität. (Ich weiß, dass das eigentlich eine unmögliche Begriffskonstruktion ist.) Bin ich drin, fühlt es sich an, als steckte ich in einer besseren Haut. Verlasse ich sie wieder, ist das Gefühl folglich wie eine Häutung. Ich streife ihre Atmosphäre ab und bin wieder der traurige Alte. Ernüchterung! Fast könnte man sagen: Es ist, als würde mir das Fell über die Ohren gezogen und ich stünde nackt und frierend in der grauen Landschaft. Aber das schösse übers Ziel hinaus, denn nur im ersten Augenblick der Verstoßung aus der Zimmeridylle erscheint mir die übrige Welt so. Die geschwinde Rückkehr in die Üblichkeit hindert, dass sich Schwermut festbeißen könnte.

Memogramm der Hollandreise (Tag II)

Friday, 24. June 2011

Erstmals gegen sechs Uhr im Dienstmädchenbett aufgewacht. Dann der verabredeten Frühstückszeit um acht Uhr entgegengeschlummert. Den Sohn hält es länger in den Federn. Die Kinder machen sich auf den Schulweg, gebeutelt von einer Prüfungswoche mit vielen Klassenarbeiten hintereinanderweg, offenbar eine Spezialität des niederländischen Schulsystems. Tom fährt zum Jachthaven in Stavoren, wo seine Leihboote liegen. Zum Wochenende kommen die Boote vom Meer zurück und müssen an neue Mieter übergeben werden.

Annette zeigt uns nun Workum. Der Sohn kennt das Städtchen schon aus Kindertagen, hat er doch hier mit seinen Geschwistern und der Mutter mehrere Ferienaufenthalte erlebt und nach glaubhaftem Bekunden in bester Erinnerung behalten. Ich hingegen betrete Neuland. (Schon damals war mir die seltene Ruhe daheim an meinem Arbeitsplatz wertvoller als der bei den meisten Mitmenschen so beliebte Tapetenwechsel.) Als uns durch eine schmale Gracht ein Segler mit dem Namen Tijdgeest entgegenkommt, verschlägt ’s mir fast die Sprache. Wie das Boot so ruhig dahingleitet, kommt es mir vor wie ein Gleichnis auf die mir oft so unbegreifliche Paniklosigkeit meiner Zeitgenossen.

Nun ist uns doch noch unser Museumsbesuch vergönnt, und was für einer! Das Werk des malenden Lumpensammlers Jopie Huisman beeindruckt durch seine planvolle Entwicklung. Offenbar ist der Mann sehr überlegt an seine selbstgestellte Aufgabe herangegangen und hat seit den frühen 1960ern zunächst maltechnisch allerlei ausprobiert, bevor er schließlich nach Jahren seine persönliche Handschrift und seinen Blick auf die Dinge fand. Diese Dinge waren vor allem die verachlässigten, abgenutzen Gegenstände, die seine Mitbürger fortwarfen und die auf seinem Karren landeten. Viel Fleiß und Sorgfalt steckt in seiner Malerei und Zeichenkunst. (Imposant auch Huismans Kollektion von Gewichtskästen und Waagen, mit der er die lange Geschichte des Betrugs zu dokumentieren trachtete, denn viele Gewichte sind durch unscheinbare „Abnutzungen“ offenbar leichter, als ihr Nennwert vorgibt.)

Anschließend besichtigen wir Toms Arbeitsplatz und seine Boote, deren Namen mit C beginnen und auf A enden, wie Carolina, Caba oder Camilla. So heißt das komfortabelste Schiff dieser Reihe zufällig wie meine Enkelin. Ungeschickt wie ich bin, reiße ich in einem anderen Boot, das wir uns von innen anschauen, die Klinke einer Schlafkojentür aus der Verankerung, was mir für eine unanständig lange Zeit die Stimmung verdirbt. Dabei ist der Schaden, den ich damit angerichtet zu haben fürchte, doch viel geringfügiger und leichter behebbar, als ich mir einrede und man mich im Scherz wohl auch glauben machen will. Ich ahne den Schabernack und mime nun so lange den arglos leidenden Übeltäter, bis Tom mich aus meinem Verdruss erlöst, indem er mir offenbart, wie geringfügig der Aufwand einer Reparatur doch eigentlich sei.

Mein Sohn und ich gönnen uns schließlich einen frischen Kabeljau aus der besten Bratküche von Stavoren. Einen so köstlichen Fisch habe ich lange nicht mehr gegessen. Mein Sohn hatte beschlossen, von hier aus per Fähre übers IJsselmeer nach Enkhuizen und von dort mit der Bahn zurück nach Amsterdam zu fahren. So nehmen wir am Steg Abschied von ihm und winken, bis das Schiff außer Sicht ist. Annette packt in Workum ihre sieben Sachen und wir fahren gemeinsam mit dem Automobil in unser beider Heimatstadt. Unterwegs nutzen wir die Gelegenheit zum Austausch über Themen, die nur uns beide interessieren. Die wenigen Gesprächspausen stopfen wir mit ein paar Liedern von Hindi Zhara. Um fünf Uhr nachmittags bin ich wieder daheim.

Memogramm der Hollandreise (Tag I)

Thursday, 23. June 2011

Wecker 5:25 Uhr. Eine Tasse Kaffee, zwei Brote mit Kochschinken. Fußweg zum Rathaus Rellinghausen bei trockenem Wetter, angenehm kühl, klare Luft, Vogelgezwitscher. Mit dem Nachtexpress-Bus, den ich noch nie genutzt habe, zum Hauptbahnhof Essen, von dort mit einem weiteren Nachtexpress-Bus zum Oberhausener Hauptbahnhof. Von dort mit dem ICE über Duisburg, Arnhem, Utrecht nach Amsterdam. Ankunft pünktlich um halb zehn, wo der älteste Sohn und seine friesische Freundin Gerda mich gut gelaunt erwarten. Zum Harnabschlagen und auf einen Weckkaffee in ein rummeliges Restaurant mit überforderten Kellnern noch im Centraal-Bahnhof.

Per Straßenbahn dann in Gerdas Wohnung in der Marco Polostraat. Nach kurzem Aufenthalt zu dritt großer Spaziergang, unter andrem durch den schönen Vondelpark bis ins Museumsviertel. Nach Abwägung von Kosten und Nutzen werden aber Ausstellungsbesuche, ob im Van Gogh Museum oder im Rijksmuseum, einstimmig verworfen. Einkehr auf Bierbänken vor einer kleinen Gaststätte. (Kann man dann eigentlich von „Einkehr“ sprechen?) Aß eine sehr fruchtige Tomatensuppe mit bestem Appetit, aber glücklicherweise vor Inaugenscheinnahme der sanitären Anlagen, die mir diesen möglicherweise verdorben hätte.

Unterdessen stets angeregte Unterhaltung über disparate Gegenstände, wie sie uns die durchwanderten Stadtkulissen gerade zutrugen. Eindrücklich etwa Gerdas Schilderung vom wilden Leben und tragischen Tod des niederländischen Musikers, Küstlers und Enfant terribles Herman Brood, der sich vom Dach des Amsterdamer Hilton-Hotels herabstürzte, weil ihm seine Drogensucht übern Kopf wuchs. (Dass dieses traurige Ereignis sich zufällig an meinem bevorstehenden Geburtstag zum zehnten Mal jährt, erfahre ich gerade erst beim Nachlesen des Wikipedia-Artikels über Brood.) Auf dem Rückweg Einkauf bei Albert Heijn, einer Ladenkette, bei der die muslimischen Kassiererinnen allesamt schwarze Kopftücher trugen.

Rechtzeitig zurück in Gerdas Wohnung, um den für fünf Uhr nachmittags verabredeten Besuch Annette B.s aus Workum abzuwarten, die uns nach dorthin mit ihrem Automobil abholt. (Leider kann Gerda nicht mitkommen, weil sie am nächsten Tag beruflichen Verpflichtungen nachzukommen hat. Oder waren es Verpflichtungen im Zusammenhang mit der überaus problematischen Wohnungssuche? Es ist nahezu unmöglich, in dieser Stadt eine akzeptablie Mietwohnung zu finden, wenn man sich hierum nicht entweder schon vor vielen Jahren angemeldet hat oder doch mindestens das Einommen eines Chefarztes oder die Beziehungen eines Immobilienmaklers hat.) So gehen wir zu dritt ohne Gerda auf die Suche nach einer italienischen Gaststätte oder einer holländischen Pommesbude und finden kurz vorm Verhungern in der Jan van Galenstraat tatsächlich die kleine Pizzeria Martini mit originellem Ambiente und freundlicher Bedienung durch den Inhaber. Anschließend fahren wir über den fast dreißig Kilometer langen Afsluitdijk durchs IJsselmeer nach Workum.

Tom und die Kinder begrüßen uns. Hausbesichtigung und Tagesausklang. Zu Bett im „Dienstmädchen-Zimmer“. Fülle der Eindrücke hindert mich zunächst am Einschlafen. Lese darum noch in einem beliebig aus dem Bücherregal gegriffenen Suhrkamp-Bändchen aus dem Bestand von Annettes verstorbener Schwester Karin: Edmund Wilsons Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof. Bedrückende Schilderungen des Lebens der arbeitenden Bevölkerung im Manchester des XIX. Jahrhunderts. – Traum von einem gefluteten Keller, in dem quietschend die Ratten ertrinken.