Archive for the ‘Siemsen’ Category

Hilde Stieler (I)

Tuesday, 29. December 2009

liegestuhl

Allzu oft kommt es nicht mehr vor, gut sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dass die komplette Autobiographie eines Zeitzeugen aus der kulturellen Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Manuskript entdeckt wird, aus einem entlegenen Archiv oder Nachlass plötzlich ans Licht kommt. Zudem wird im Einzelfall zu prüfen sein, ob das dort Mitgeteilte verlässlich den sonst bekannten Tatsachen entspricht – und ob es dem gesicherten Wissen dieser Epoche neue, wesentliche Einsichten hinzuzufügen vermag. In der Welt meldete der Literaturwissenschaftler Manfred Flügge vor zweieinhalb Jahren einen solchen Fund: „Im Archiv der Stadt Sanary fand sich vor wenigen Wochen ein nachgelassenes Manuskript von Hilde Stieler. Dieser Lebensroman in französischer Sprache, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umspannt, nennt sich Les confessions d’Annouchka; auf den 320 Seiten sind die Namen nur leicht verschlüsselt. Es geht nicht nur um alle Mitglieder der Familie Klossowski [den Schriftsteller Pierre, dessen Bruder, den Maler Balthasar, gen. Balthus, und deren Vater Erich Klossowski, langjähriger Lebensgefährte der Autorin], auch viele Berühmtheiten kommen vor, Walter Rathenau, Stefan George, Einstein, die Brüder Mann, Renée Sintenis, Bertha Zuckerkandl, die junge Alma Mahler und der junge Franz Werfel […] und immer wieder Rilke. Wir erfahren auch einiges über das Leben der Künstlerszene in Sanary[-sur-Mer an der Côte d’Azur], zu der auch der englische Autor Aldous Huxley gehörte sowie eine junge Deutsche, die später als die englische Autorin Sibylle Bedford berühmt wurde.“ (Manfred Flügge: Balthus’ vergessener Vater; in: Welt online v. 22. August 2007.)

Schon im Rahmen meiner Hans-Siemsen-Recherchen mussten mich diese Memoiren in romanhafter Form interessieren, zumal es sehr wahrscheinlich zu einem Zusammentreffen Siemsens mit Hilde Stieler gekommen sein dürfte, denn „[Erich] Klossowski und [Hilde] Stieler lebten, malten und schrieben im „L’Enclos“, dem Privathaus der Familie Jean Cavet, einem verwunschenen Ort mit Büschen und Bäumen und einem ummauerten Park, damals am östlichen Stadtrand gelegen und mit Ausblick ins Hinterland, heute wie eine Insel im kleinen Häusermeer.“ (Flügge, l. c.) In eben dieser Wohnanlage hatten auch Hans Siemsen und sein Geliebter Walter Dickhaut vorübergehend Unterkunft gefunden, wie ich von Prof. Gernot Lucas (Konstanz), einem regelmäßigen Besucher von Sanary-sur-Mer, erfahren hatte. Mittlerweile ist das Buch in deutscher Übersetzung erschienen – und ein Blick in den Namensindex bringt die Enttäuschung: Siemsen kommt nicht drin vor. (Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. Übers. [a. d. Frz.] u. hrsg. v. Manfred Flügge. Berlin: AvivA Verlag, 2009.)

Immerhin schildert Stieler, wie sie die Herberge bei der Familie Cavet Anfang der 1930er-Jahre für sich und Klossowski anmietete: „Sehr schnell fand ich etwas Passendes: drei Zimmer in der hübschen kleinen Villa de l’Enclos, mitten im Ort und nicht weit vom Meer gelegen. Klossowski hatte dort eine Art Atelier, das heißt ein recht großes Zimmer im ersten Stock, während sich mein ,Reich‘, Schlafzimmer mit Küche, im Erdgeschoss befand. Meist kam Klossowski nur zum Essen herunter und nachts stieg ich manchmal zu ihm hinauf. Dieses Leben war ganz nach unserem Geschmack, denn trotz unserer Liebesfreundschaft brauchten wir beide eine gewisse Unabhängigkeit, vor allem für unsere Arbeit.“ (Ebd., S. 197.) – Und in ihrem Tagebuch vom Sommer 1944 schreibt Stieler unterm Datum vom 24. August: „Der sympathische Besitzer der Villa de l’Enclos [Jean Cavet] wird zum Bürgermeister von Sanary gewählt. Robert [Henri de Witt, Stielers zweiter Ehemann] will ihm unsere Heirat melden und man wird das Aufgebot veröffentlichen. Das Bürgermeisteramt nimmt mich unter seinen Schutz.“ (Ebd., S. 283.)

Etwas interessanter ist, was Manfred Flügge in seinem Nachwort über die Villa de l’Enclos berichtet. Da Erich Klossowski im Gegensatz zu seinen berühmten Söhnen heute nahezu vergessen ist, befragte er die noch lebenden Zeitzeugen vor Ort: „Marcelle und Louis Cavet erinnerten sich daran, dass er ein sehr diskreter Mensch war, meist schwarz gekleidet, mit einem Seidentuch um den Hals. Er lebte in der Villa de l’Enclos wie in einem Märchenhaus, begierig auf Zeitungen, oder er saß in der Küchenecke vor dem Radio und hörte Nachrichten. Das Anwesen ist ein wahrhaft magischer Ort, ein dreieckiger Park hinter Mauern, mit vielen Büschen und Bäumen, die das zweistöckige Landhaus fast verdecken, aber schattige Plätze schaffen, damals am Rande des Ortes, mit Ausblick aufs Hinterland, in dem sofort die Felder begannen. […] Nur wenige hundert Meter entfernt warfen die Alliierten 1944 Bomben ab. Ein ganzes Viertel des Nachbarortes Six-Fours wurde dabei zerstört. Die Bucht war von den Deutschen stark befestigt worden und wurde hart umkämpft. Ein Wunder, dass sich die Zerstörungen in Sanary selbst in Grenzen hielten.“ (Ebd., S. 311.) Da weilte Hans Siemsen längst nicht mehr in Sanary. Er verließ den Ort gemeinsam mit Walter Dickhaut Anfang 1941 und entkam über Marseille und Lissabon nach New York. Es würde sich wohl lohnen, selbst einmal an die Côte d’Azur zu fahren und die auskunftfreudigen Geschwister Cavet zu Siemsen zu befragen. Aber erstens spreche ich kein Französisch, zweitens fehlen mir für eine solche Auslandsreise die Mittel und drittens lehne ich Fahrten in solche Ferne, gleich ob per Auto, Flugzeug oder Bahn, prinzipiell ab, wenn sie nicht absolut unvermeidbar sind.

Da ich Die Edelkomparsin von Sanary nun schon einmal gelesen habe, werde ich eine ausführliche Würdigung des Buches einem zweiten Beitrag unter diesem Titel vorbehalten.

[Das Titelbild ist dem besprochenen Band (S. 196) entnommen. Es zeigt Erich Klossowski vor der Villa de’Enclos. Foto: Hilde Stieler. Privatarchiv Manfred Flügge.]

Siemsens Blick

Sunday, 06. December 2009

banana

Nach langer Pause befasse ich mich wieder einmal mit Hans Siemsen (1891-1961), wenngleich zunächst zwangsweise. Ich hatte Dirk Ruder von der Zeitschrift Gigi versprochen, meinen Siemsen-Artikel vom Frühjahr (in No. 60, S. 36-39) noch in diesem Jahr mit einer zweiten Folge abzuschließen. Von Heft zu Heft musste ich ihn vertrösten, der Umzug hatte mich (und meine Bibliothek, ohne die ich den Text kaum seriös hätte abfassen können) völlig aus der Bahn geworfen. Zuletzt setzte mir Ruder die Pistole auf die Brust: „Langsam wird es schwierig, unseren Lesern (und auch unserem Herausgeber gegenüber) zu erklären, warum der zweite Teil des Siemsen-Textes seit vier Heften auf sich warten lässt, aber ich zähle nach wie vor auf Sie.“ Ich wäre ja ein rechter Schuft, wenn ich solch treue Engelsgeduld nicht mit Fleiß entlohnte.

Hans Siemsens zweite Lebenshälfte, die mit dem 30. Januar 1933 beginnt, ist ja das traurige Kapitel eines Entwurzelten, dessen Schicksal kaum dadurch leichter wird, dass er es mit unzähligen Leidensgefährten teilt. Seine späte Liebesgeschichte mit dem zwanzig Jahre jüngeren Walter Dickhaut erhält dadurch von vornherein einen bitteren Beigeschmack. Die Tragik, dass ihnen zwar im Frühjahr 1941 endlich die gemeinsame Flucht von Lissabon aus über den Atlantik gelingt, sie dann aber doch im Hafen von New York auseinandergerissen werden, ist schon filmreif. Ich stelle mir vor, dass sich Siemsen vor Eifersucht verzehrt hat in der Sommerhitze des Big Apple, während sein junger Freund in Havanne Bananen pflückte.

Bei der Niederschrift fällt mir sogar noch unerwartet eine kleine Pointe ein. Bei der legendären Zusammenkunft des Siemsen-Freundeskreises in seinem Berliner Atelier im März 1933, die Asta Nielsen 1945 in ihrer Autobiographie Den tiende Muse erwähnt und Hans Siemsen in einem seiner allerletzten Zeitungsartikel 1950 ausführlich schildert, war auch Joachim Ringelnatz zugegen. Nachdem der Stummfilmstar vom Besuch im Propagandaministerium berichtet hatte, wo Joseph Goebbels sie erfolglos für seine Filmprojekte zu gewinnen versuchte, meldete sich „Ringel“ zu Wort. Er habe dieser Tage ein Gedicht gemacht, ob er es mal aufsagen solle? Dann zitiert Siemsen dieses Gedicht, von dem er „nur den ersten und den letzten Vers behalten“ habe. (Hans Siemsen: „Ringel, du hast wieder recht“; in: Frankfurter Rundschau v. 28. Januar 1950; erneut in ders.: Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Verlag das Arsenal, 2008, S. 152-154.)

Zwischenzeitlich habe ich mir eine Gesamtausgabe von Ringelnatzens Gedichten zugelegt und heute erstmals die vollständige Fassung des Gedichtes nachgelesen. Es heißt So ist es uns ergangen und hat genau drei Verse. Der mittlere, von Siemsen vergessene lautet so: „Vergiß es nicht! Nur damit du lernst | Zu dem seltsamen Rätsel »Geschick«. – | Warum wird, je weiter du dich entfernst, | Desto größer der Blick?“ (Joachim Ringelnatz: Die Gedichte. Hrsg. v. Fritz & Katinka Eycken m. Jakob Winter. Frankfurt am Main: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, S. 710.) Dass Siemsen tatsächlich aus dem Gedächtnis zitiert, muss man glauben und glaubt es leicht, weil ihm beim Memorieren der anderen beiden Verse ein paar kleine Fehlerchen unterlaufen. – Daraus ließ sich was Hübsches machen …

Bei dieser Gelegenheit muss ich noch nachtragen, dass es einen weiteren Anlass gibt, Dirk Ruder dankbar zu sein. Ende April überraschte er mich mit einer Aufzeichnung von Siemsens Stimme. In der CD-Reihe „stimmen des 20. jahrhunderts“, die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird, befindet sich auf der CD 1945 – Kapitulation und Wiederaufbau als Track 12 ein dreiminütiger Mitschnitt der BBC-Sendung „Stimme Amerikas“. Ein Pfarrer Silesius begrüßt darin die militärische Niederlage des Dritten Reiches und ermutigt seine deutschen Landsleute zum Wiederaufbau. In den „Daten zu Leben und Werk“, die Michael Föster im ersten Band seiner Siemsen-Werkausgabe zusammengestellt hat, heißt es unterm Jahr 1941: „Schreibt für die Voice of America – u. a. Propaganda-Predigten unter dem Pseudonym ,Pfarrer Silesius‘.“ (Hans Siemsen: Schriften I. Verbotene Liebe u. a. Geschichten. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: Torso-Verlag, 1986, S. 257.)

Schrittwechsel

Wednesday, 28. January 2009

Hans Siemsen, der in seinem Reisebericht aus dem Sowjetstaat mit mildem Spott anmerkt, dass der Taylorismus und die Ford’sche Fließbandproduktion, nach dem allbeherrschenden Prinzip „Tempotempo!”, im Kommunismus keineswegs abgeschafft sind, sondern durch die gnadenlosen Vorgaben des ersten Fünf-Jahres-Planes eher noch eine Verschärfung erfahren haben, relativiert diese Diagnose an anderer Stelle durch seine Beobachtung, dass jeder russische Industriearbeiter in einer deutschen Fabrik unweigerlich auffallen würde: „Vor allem durch Langsamkeit.” (Rußland – ja und nein. Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931, S. 164.) Gegen das Phlegma der russischen Volksseele kehrt offenbar selbst Stalins „harter Besen” vergebens.

Und in den klimatisch milderen Regionen, am Asowschen und Schwarzen Meer, registriert er gar mit erkennbarem Wohlbehagen eine „Kultur der Langsamkeit”, die ihn fast an mediterrane Lässigkeit erinnert: „Vom Balkon des Hotels [in Rostow am Don] sehen wir hinunter auf die Straße. Es ist Ende September [1930]. Ein schöner, warmer Abend, wie in Berlin ein Sommerabend. In Moskau hatten wir schon gefroren. In Moskau habe ich nie einen Menschen ,spazieren gehen‘ sehen, alle waren immer so ernsthaft eilig. In Rostow ,flaniert‘ man. Liebespaare flirten langsam die Schaufenster entlang. Es gibt Läden mit Wein und Obst und schrecklichen Nippsachen. Die ganze Straße ist voll von Menschen, die, da es Abend ist, spazieren gehen. – Die ausländischen Journalisten auf dem Balkon sind ganz erstaunt. Sie kommen aus Moskau. Sie haben sowas noch gar nicht gesehen in Rußland. ,Das ist ja wie in Paris!‘, sagt einer zum andern. Der weiß es besser. ,Wie in Marseille!‘ sagt er. Und ein Dritter weiß es am besten: ,Ein Arbeiterviertel in Paris oder Marseille.‘ Aber alle sind sich darin einig, daß Rostow ganz was anderes ist als Moskau, hübscher, leichter, nicht so ernsthaft und streng. Verwegene sprechen von ,Eleganz‘. ,Sehen sie bloß! Da geht einer mit einem weißen Leinenanzug und einer knallbunten Krawatte.‘” (Ebd., S. 190.)

Müsste uns nicht längst schon die traurige Erkenntnis dämmern, dass die drei großen Ideale der Französischen Revolution – „Liberté, égalité, fraternité” – von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, weil sie die naturgegebenen klimatischen Unterschiede zwischen den Weltregionen nicht in Rechnung stellten? Sind nicht alle hehren Versöhnungswünsche, von Christus bis zum jüngsten Shootingstar eines trotzigen Optimismus, Barack Obama, allein schon deshalb ins Leere gesprochen, weil es etwa in Sibirien unerträglich kalt und in weiten Teilen Afrikas unerträglich heiß ist? Die Staatsgrenzen, machen wir uns nichts vor, sind doch bei aller vorgeblichen Globalisierung vor allem Abwehrzäune der klimatisch bessergestellten Bevölkerungen, die ihr natürliches Privileg nicht mit den hungernden, frierenden und dürstenden Artgenossen teilen wollen.

Als komplizierende Faktoren kommen noch hinzu die ungleiche, gänzlich „ungerechte” Verteilung der Bodenschätze, die unabsehbaren Folgen des Klimawandels und das nach wie vor exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung. Schlechte Aussichten für Homo sapiens.

Flanieren wir Happy Few doch ganz gelassen dem Untergang entgegen! Eile ist nicht geboten. Wir kommen schon noch früh genug ans Ziel.

Das war’s

Sunday, 26. October 2008

Nachher fällt mir all das ein, was ich zu sagen vergaß. Nachher ist erwiesen, dass meine größte Sorge unbegründet war und die Zeit und Geduld der Zuhörer gereicht hätte, noch ein, zwei Siemsen-Stückchen mehr zu Gehör zu bringen. Nachher zweifle ich, ob ich allen Gästen deutlich genug gesagt habe, wie sehr ich mich über ihr Kommen freute.

Die Kurzprosa jener Meister der ,Kleinen Form‘ aus den 1920er-Jahren wird ja häufig auch mit der Ortsangabe ,Unterm Strich‘ gekennzeichnet, weil sie in den Tageszeitungen jener Zeit genau dort zu lesen war: unter einem mehr oder weniger dicken Strich, der diese literarischen Preziosen von den aktuell so viel wichtigeren Meldungen aus Politik und Wirtschaft trennte. Unterm Strich darf ich nun sagen, dass ich bei allen Zweifeln mit dem Ergebnis dieser Veranstaltung im Café Central des Essener Grillo-Theaters, meinem ersten öffentlichen Auftritt als Vorleser, zufrieden bin.

Wenigstens gab’s keine größeren Katastrophen, deren gedankliche Vorwegnahme einen phantasievollen Menschen wie mich ante festum das Fürchten lehren kann. Und wenn die freundlichen Zusprüche der Gäste beim Abschied nur zur Hälfte ihrem tatsächlichen Empfinden entsprachen, dann habe ich keinen Grund, auch die kommende Nacht unruhig zu schlafen.

Mit größerer Sorge erfüllt mich eher die Frage: Was wird nun aus Siemsen – und mir, dem vermutlich besten Siemsen-Kenner östlich von Santa Fé? Die Luft ist raus, da die Veranstaltung jetzt über die Bühne gegangen ist, auf die ich in den letzten sieben Monaten mit Fleiß und Liebe hingearbeitet habe.

War’s das? Vielleicht nicht. Hans Siemsen als Filmkritiker der ersten Stunde, der „den Film ernst nahm und ihn als eine neue Kunst, die Kunst dieses Jahrhunderts begrüßte und interpretierte” (Hans Sahl) – dieser Hans Siemsen harrt auch nach den verlegerischen Abenteuern von Michael Föster und Peter Moses-Krause noch immer einer fälligen Wiederentdeckung.

[Titelbild: Beate Scherzer und der Revierflaneur bei der Lesung. Foto: Valentin Heßling.]

Nein, nichts mehr

Friday, 24. October 2008

Hans Siemsen verband nicht viel mehr mit Essen als sein Sterben, das sich allerdings lange 15 Jahre hinzog. Im Otto-Hue-Heim der Arbeiterwohlfahrt in Holsterhausen verbrachte er diese lange Zeit. Er hatte mit dem Interesse am Leben auch das am Schreiben verloren – oder umgekehrt.

Er kannte diese Stadt von Besuchen bei seinem älteren Bruder August, der hier von 1912 an als Oberlehrer am Reformgymnasium in Rüttenscheid tätig war und in der Alfredstraße 23 wohnte.

Den sonntäglichen Blick aus dem Fenster dieser Wohnung, in Richtung des 1913 fertiggestellten Gerichtsgebäudes an der Zweigertstraße, beschreibt Siemsen in einem kleinen, melancholischen Text in seinem zweiten, 1920 bei Kurt Wolff erschienenen Buch Wo hast du dich denn herumgetrieben?

Das ist zum Spucken nah bei dem Haus, in dem ich die ersten 18 Jahre meines Lebens verbrachte, von 1956 bis 1975. Fünf Minuten Fußweg, vielleicht auch sechs.

„Fragte man ihn, ob er nicht Papier haben wolle, damit er etwas schriebe, antwortete er mit großer Geste: ,Nein, nichts mehr.‘” (Michael Föster: Vorwort; in: Hans Siemsen: Schriften I. Verbotene Liebe und andere Geschichten. Essen: TORSO Verlag, 1986, S. 7.) Das ist mir auch zum Spucken nah.

Finish

Thursday, 23. October 2008

Noch drei Tage bis zu meiner Hans-Siemsen-Matinee im Café Central des Essener Grillo-Theaters. Das wird dann also mein erster öffentlicher Auftritt als Vorleser, nachdem ich mich und meine Fähigkeiten in dieser Profession nun schon in über hundert Veranstaltungen meiner Literarischen Soireen seit dem 1. April 1989 erprobt und vermutlich unter Beweis gestellt habe – denn sonst wäre ja schließlich keiner mehr gekommen.

Kein Grund also, die Nerven zu verlieren. Und doch kann ich nicht leugnen, dass mich ein leichtes Lampenfieber beschleicht und mir tausend Fragen die Nackenmuskulatur verspannen. Was nehme ich denn jetzt aus dem überreichen Fundus der Siemsen-Texte ins Programm? Wie ist es möglich, ein ausgewogenes, vollständiges, zutreffendes Bild von diesem Autor zu zeichnen, in nur einer guten Stunde – und wenn die Panflötenspieler an diesem verkaufsoffenen Sonntag auf der Kettwiger verschlafen haben, günstigstenfalls auch in zwei?

Wieviele zwölf Euro Eintrittsgeld zu zahlen willige Gäste werden erscheinen? Nachdem ich mich seit über einem halben Jahr in ungezählten Stunden mit diesem vergessenen, verdrängten und verschollenen Autor beschäftigt, seine Bücher aus Antiquariaten für ein kleines Vermögen beschafft, seinen Lebenslauf aus entlegenen Quellen rekonstruiert habe, muss das Ergebnis dieser Mühen dann doch schließlich auch für den erbrachten Aufwand stehen, oder? Das ist nun freilich eine völlig neue Fragestellung für mich, denn in den vergangenen fast zwanzig Jahren als kostenloser Vorleser interessierte mich dieser materielle Aspekt gar nicht – weil ich es nicht nötig hatte, mich mit einem dermaßen profanen Thema zu befassen.

Jetzt muss ich mich aber fragen: Wenn jemand zwölf Euro Eintrittsgeld zu einer solchen Vorlesestunde auf den Zahlteller legt, welche Erwartung verbindet er dann mit seiner Investition?

Der Leser spürt hoffentlich, dass ich ein reichlich gestörtes Verhältnis habe zu Heller und Groschen, Mark und Pfennig, Euro und Cent – oder wie die Detailwaren in dieser billigen Klimperkiste immer heißen mögen. Ich muss doch sehr bitten! Das ist schließlich nicht mein Thema und wird es auch nie werden. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr.

Auch ich, auch du.

Thursday, 16. October 2008

Als 75. Band der berühmten expressionistischen Buchreihe Der Jüngste Tag erschienen 1919 im Verlag Kurt Wolff in Leipzig Hans Siemsens „Aufzeichnungen eines Irren” unter dem Titel Auch ich, auch du. Heinz Schöffler hat 1970 alle 86 Hefte dieser Reihe, mustergültig kommentiert und im Faksimile gedruckt, in zwei dicken Bänden im Scheffler-Verlag neu herausgegeben; 1981 erschien ein Nachdruck in sieben Bänden im Societäts-Verlag (beide in Frankfurt am Main).

Dass das Erstlingswerk des 28-jährigen Siemsen in dieser „Bücherei einer Epoche” erschien, neben den Büchern so bedeutender Dichter und Schriftsteller wie Gottfried Benn, Karel Čapek, Paul Claudel, Iwan Goll, Franz Kafka, Carl Sternheim, Georg Trakl und Franz Werfel, das dürfte der hoffnungsvolle junge Autor sicher als eine starke Ermutigung empfunden haben, künftig das Schreiben zu seinem Hauptberuf zu machen.

Auf den knapp zwanzig Seiten des Bändchens, in diesen „Phantasien eines am Krieg irre gewordenen Frontsoldaten” (Michael Föster), verarbeitet Hans Siemsen seine Kriegserlebnisse als Soldat an der Westfront 1917, die durch Feldpostbriefe an seine Mutter und seine neun Jahre ältere Schwester Anna dokumentiert sind. Im Schützengraben las er die Pensées von Pascal, die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann, Flauberts November, Eckermanns Gespräche mit Goethe, Kasimir Edschmids Novellensammlung Timur (die er „albern” fand), den Hasenroman von Francis Jammes, Professor Unrat von Heinrich Mann, Das grüne Gesicht von Gustav Meyrink (eine „Enttäuschung” nach dessen Golem) sowie Romane von Fielding und Balzac. – Vor allem aber las er, offenbar hingerissen und überwältigt, den Tristram Shandy und urteilte: „Welch ein Buch! Ich bin so stolz darauf, als ob ich es selbst geschrieben hätte. Es ist mein Bißchen Begabung zur Vollendung erhoben – aber wir sind durchaus von derselben Familie – und es ist verdammt ein glorioses Gefühl, solche Verwandte zu haben!” (Undatierter Brief an die Mutter; zit. nach Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 26.)

Jenes „Bißchen Begabung” und die behauptete Familienzugehörigkeit gab zu den gewagtesten Hoffnungen Anlass, die durch Auch ich, auch du dann allerdings leider nicht eingelöst wurden. Vielmehr schmiegt sich Siemsens Prosa an den 1919 schon wieder modischen Stakkato-Ton der Expressionisten an: „Namenlos bin ich genannt. / Namenlos irr ich von Land zu Land. / Namenlos elend. / Namenlos tot. / Einmal hatte ich einen Namen. Wie lange ist das her? / Weiß Gott! Wie oft bin ich seit dem gestorben!” Der junge Poet beginnt seine schriftstellerische Laufbahn als Epigone.

Aber ein solches Urteil, über fast ein Jahrhundert hinweg, ist doch andererseits auch wieder eine Anmaßung. Aus der warmen Stube, nach mehr als sechzig Jahren Frieden zumindest hierorts, lässt sich leicht die Nase rümpfen. Wir wissen ja gar nicht, wie gut es uns geht. Ich habe noch in keinem Schützengraben gelegen. Ich kenne den Wald nicht, von dem Siemsen schreibt: „Ich will lieber in unsern Sterbewald! Da warten auf mich, daß ich komme, die lieben Brüder. Ich habe sie so lieb gehabt. Ich habe sie so von Herzen lieb.” Ich habe keine Brüder. Und ich kenne den Krieg bisher nur vom Hörensagen.

Siemsens Kopf

Saturday, 11. October 2008

Seit gut einem halben Jahr versuche ich, mich dem Leben und Werk, nicht zuletzt aber auch der Person des nahezu unbekannten Flaneurs Hans Siemsen anzunähern. Bei einer solchen intensiven Beschäftigung ist nur natürlich, wenn man bald einmal wissen will: Wie sah der Mann eigentlich aus, dem du nun schon so viele Lesestunden gewidmet hast? Bildnisse Siemsens, gleich welcher Art, haben sich indes nur sehr wenige erhalten.

Erstens ein Porträtfoto des jungen Hans Siemsen, wohl aus den frühen 1920er-Jahren, das auch auf Dieter Sudhoffs Hans Siemsen Lesebuch (2003) in graphisch entstellter Form zu sehen ist; zweitens ein Gruppenfoto in der Autobiographie Der Lebensanfänger seines Neffen Pieter Siemsen (2000) aus der gleichen Zeit, mit der Mutter und dem Bruder Karl; drittens ebendort ein weiteres Gruppenfoto von 1935 mit dem Bruder August, dessen Ehefrau Christa, geb. Springmann, und der Schwester Paula, verh. Eskuchen; viertens ein Porträtfoto en profil im Fiche de Renseignements von 1940, das auch für die Gedenktafel in Sanary-sur-mer verwendet wurde; und fünftens schließlich eine Karikatur von B. F. Dolbin, ebenfalls im Profil.

Aus den Daten zu Leben und Werk, die Michael Föster im Anhang (S. 251 ff.) zum ersten Band seiner Siemsen-Ausgabe (1986) zusammengestellt hat, wusste ich, dass die Freundin Renée Sintenis 1924 [recte: 1923] eine Büste von Hans Siemsen modelliert hat. Es waren aber schon einige Recherchen vonnöten, immerhin ein Foto dieses Bildnisses zu finden [siehe Titelbild].

Das sechste und gewiss aussagekräftigste Porträt des 33-jährigen [recte: 32-jährigen] Schriftstellers Hans Siemsen ist reproduziert auf Seite 38 der von Hanna Kiel herausgegebenen Bildmonographie Renée Sintenis, erschienen 1935 im Rembrandt-Verlag, Berlin. Ob die Büste selbst den Weltkrieg überstanden hat und in wessen Besitz sie sich in diesem Fall heute befindet, das konnte ich bisher leider noch nicht herausfinden.

Sehr gern würde ich das Original einmal sehen – und betasten. [Siehe hierzu auch die Kommentare.]

Langsam!

Thursday, 25. September 2008

Gestern stellte der Berliner Verleger Peter Moses-Krause (65) in der Stadtbibliothek Essen Hans Siemsen vor, dessen Feuilletons aus den Jahren 1919 bis 1950 er in einem Auswahlband vorgelegt hat. Ins Programm seines seit 1977 ebenso tapfer wie unverdrossen gegen die Übernahme durch die seelenlosen Branchenriesen kämpfenden Verlages Das Arsenal passt Siemsen insofern gut, als dort auch andere Meister der „Kleinen Form” eine Heimat gefunden haben: Victor Auburtin, Béla Balász, Arthur Eloesser und Franz Hessel.

Gleich eingangs stellte Moses-Krause klar, dass erstens sein Auftritt an diesem Ort eigentlich auf einem Missverständnis beruhe. Der Veranstalter hatte Hans Siemsen in seiner Ankündigung als einen „wiederentdeckten Essener Autor” propagiert, der er ja nun keineswegs war. Seine letzten sechzehn Lebensjahre verbrachte Siemsen zwar im Otto-Hue-Haus, einem Altersheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen, wo er schließlich auch am 23. Juni 1969 im Alter von 78 Jahren gestorben ist. Aber in dieser Zeit hat er keine Zeile mehr zu Papier gebracht. Und zweitens, so der Verleger, müsste eigentlich ein anderer, berufenerer Siemsen-Kenner vor uns auf der Bühne sitzen, nämlich Dieter Sudhoff, der Herausgeber der Sammlung, der im vorigen Jahr im Alter von nur 52 Jahren einem Herzinfarkt erlag.

Moses-Krause widerstand dankenswerterweise der Versuchung, seinen Vortrag mit allzu vielen Kostproben aus Siemsens Werk zu überfrachten. Diese ebenso kurzen wie konzentrierten Texte führen, wollte man einen nach dem anderen „weglesen”, recht bald zur Übersättigung und stehlen sich sozusagen dann gegenseitig die Schau. Nur fünf Feuilletons wurden zu Gehör gebracht: Der Floh im Tasso; Baggesen im Wintergarten; Gartenhaus, I. Etage; Zerstörte Schönheit; Döblin. Eine zwar subjektive, aber durchaus stimmige Auswahl.

Da ich nun aber genug Lob gespendet habe, kann ich mir eine kleine Kritik nicht verkneifen: Moses-Krause las zu schnell, sowohl für seine Verhältnisse, denn er verhaspelte sich des Öfteren; als auch und erst recht für Siemsens Ansprüche. „Nein! Langsam! Langsam!” – so steht’s doch ausdrücklich vorn auf dem schönen schmalen Buch (das, nebenbei bemerkt, sogar fadengeheftet ist), über der Zeichnung von George Grosz [Bei Aschinger, siehe Titelbild]. Warum so eilig? Dies der Titel eines anderen Textes in der verdienstvollen Sammlung. Ja, warum nur?

Hauptsächlich aber erzählte der Verleger von dem tragisch scheiternden Menschen Hans Siemsen. Wer er war und was er wollte. Was er konnte und woran er zerbrach. Kenntnisreich und ohne gravierende Fehler. Gern würde Moses-Krause, glaubt man seinem Bekenntnis, einen weiteren Band von diesem vergessenen Autor veröffentlichen; etwa mit Siemsens Schriften zum Film, die unbedingt eine Wiederentdeckung lohnen. Doch dazu bedürfte es der Ermutigung durch das Interesse der Leser, die allerdings in der Essener Stadtbibliothek am gestrigen Abend leider ausblieb: Die zahlenden und kaufenden Zuhörer waren an den Fingern einer Hand abzuzählen.

[Hans Siemsen: Nein! Langsam! Langsam! Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Sudhoff. Berlin: Verlag Das Arsenal, 2008.]

Der Flüsterer

Tuesday, 23. September 2008

Ein Dutzend Buchveröffentlichungen zu Lebzeiten, dazu über 200 Zeitungsartikel zwischen 1913 und 1950 verzeichnet meine Hans-Siemsen-Bibliographie mittlerweile, und es kommen ständig neue Textfunde hinzu. Siemsen, dessen literarischer Leistung man wohl am ehesten gerecht wird, ohne seine Bedeutung überzubewerten, wenn man ihn einen „Kleinmeister der kleinen Form” nennt, wurde nach seinem Tod 1969 im Otto-Hue-Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen-Holsterhausen gleich zweimal wiederentdeckt. In den 1980er-Jahren gab der Essener Verleger Michael Föster-Düppe in seinem Torso-Verlag eine dreibändige Ausgabe von Siemsens Schriften heraus. Und erst jüngst stellte der Literaturwissenschaftler Dieter Sudhoff zwei Sammlungen seiner Feuilletons zusammen. Sowohl Föster-Düppe (1942-1996) als auch Sudhoff (1955-2007) sind leider allzu jung verstorben.

Siemsen hat sich schon in einer Zeit, als dies noch mit großen persönlichen Risiken verbunden war, offen zu seiner Homosexualität bekannt, was ihn posthum, in der Zeit des Coming-out seit den 1970er-Jahren, zu einem Vorkämpfer der Schwulenbewegung gemacht hat. Dabei steht dieses Thema in seinem Werk durchaus nicht im Vordergrund, von den „Jungensgeschichten” in Das Tigerschiff (1923) einmal abgesehen.

Wenn man um seine sexuelle Orientierung weiß, dann erklärt man sich vielleicht die Zartheit seines Tonfalls, seine geschärfte Sensibilität, seinen Blick auf das Unscheinbare damit und findet bei ihm möglicherweise gar den typischen Ausdruck einer „schwulen Ästhetik”. Das kann aber ebenso gut auch reine Einbildung sein und der Leser sollte sich hüten, sich im Zuge einer solchen Interpretation zu neuen Vorurteilen verleiten zu lassen.

Folgende Schwerpunkte in der Themenwahl des Feuilletonisten Hans Siemsen in den Jahren zwischen den Weltkriegen lassen sich ausmachen: Film, Varieté, Kunst, Literatur und Reiseimpressionen. Ein im engeren Sinne politischer Autor war er nicht, wenngleich die Zeitläufte ihn zwangen, Stellung zu beziehen. Mit seinem Reisebuch Russland ja und nein (1931) und seinem Erlebnisbericht Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers (engl. 1940, dt. 1947) hat er zuletzt zwei hochpolitische Werke vorgelegt, deren Tendenz aber nicht ideologisch determiniert ist, sondern – wie zuvor schon Die Geschichte meines Bruders (1923) – einem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden folgt.

Was mich aber hauptsächlich an Hans Siemsens Texten fasziniert, das ist ihr völliger Verzicht auf kraftmeierisches Auftrumpfen. Nirgends sagt er direkt oder auch nur hinter vorgehaltener Hand Sätze wie diese: ,Ich weiß, was wahr und was falsch ist! Ich hatte ein starkes Erlebnis! Was ich jetzt erzähle, haut euch garantiert vom Hocker, denn es ist völlig neu und überraschend!‘ Ganz im Gegenteil ist seine Tonlage die einer leisen Behutsamkeit – und das in den Roaring Twenties, die uns im Rückblick erscheinen mögen wie ein nicht enden wollendes Silvesterfeuerwerk vor den tausendjährigen Jahren der Finsternis.

Sanary-sur-Mer

Thursday, 28. August 2008

siemsensanary

Nachdem Hans Siemsen über die Schweiz Anfang 1934 ins Pariser Exil geflohen war, lernte er dort im Februar 1936 den 21-jährigen Walter Dickhaut kennen und verliebte sich in ihn. Gemeinsam mit Dickhaut schrieb er 1937 Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers, die dessen Erlebnisse in der Jugend- und Nachwuchsorganisation der NSDAP zum Thema hat. Ein deutscher Verleger fand sich für das Buch nicht, was Alfred Döblin im Frühjahr 1939 in einem Artikel in der Exilzeitschrift Das neue Tagebuch (Paris) beklagte. Im Jahr darauf erschien es dann in englischer Übersetzung (Hans Siemsen: Hitler Youth. Translated by Trevor and Phyllis Blewitt. With a foreword by Rennie Smith. London: Lindsay Drummond Ltd., 1940).

Ende 1938 hielt sich Siemsen in Südfrankreich auf. Möglicherweise besuchte er zu dieser Zeit erstmals das malerische Küstenstädtchen Sanary-sur-Mer am Mittelmeer, in der Nähe von Toulon, das sich in diesen Jahren zu einem Treffpunkt vieler deutscher und österreichischer Emigranten entwickelte. Die Liste jener Literaten, die auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hier eine vorübergehende Zufluchtstätte fanden, ist lang. Eine Gedenktafel in Sanary-sur-Mer verzeichnet in alphabetischer Reihenfolge eine Reihe prominenter und (zumindest heute) weniger prominenter Namen von Dichtern und Schriftstellern, Journalisten und Verlegern.

Hans Siemsens Name fehlt auf dieser Tafel. Verbürgt ist, dass er im August 1939 mit seinem Geliebten Walter in Sanary-sur-Mer Urlaub machte und dort Besuch von Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906-1984) erhielt, der im gleichen Jahr die “American Guild for German Cultural Freedom” gründete und sich später von seinem Exil in den USA aus für die Rettung verfolgter Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler aus dem besetzten Europa einsetzte. Nach seiner vorübergehenden Internierung in den Lagern von Colombes bei Paris (Ende 1939) und Chambaran bei Lyon (Mai/Juni 1940) floh der inzwischen ausgebürgerte und somit staatenlose Siemsen mit Walter Dickhaut nach Sanary-sur-Mer ins unbesetzte Frankreich. Seine Pariser Wohnung wurde von der Gestapo ausgehoben, er verlor seinen gesamten Besitz.

Am 22. Januar 1941 berichtete Hans Siemsen aus Sanary in einem Brief an seinen Freund, den Schweizer Maler und Buchkünstler Max Hunziker (1901-1976), von seiner prekären Lage: „Max, wir leben noch, der Walter und ich. Es ist fast ein Wunder – aber wir leben. Seit Anfang August [1940] leben wir sogar zusammen. Nachdem wir elf Monate getrennt gewesen waren. Ich habe ein Visa für U. S. A. Walter wird eins bekommen. Nur – wie wir hingelangen und ob wir noch können, das wissen wir nicht. Alles, aber auch alles, was wir hatten, haben wir verloren. Nicht nur Kleidung und Wäsche, sondern auch Deine lieben Bilder – und alles andere, was wir lieb hatten. Wir führen ein sonderbares Leben. Jeden Tag und jede Nacht kann sich alles zum Guten – aber auch zum Allerschlimmsten ändern. Wir haben aber vorgesorgt und können rechtzeitig Schluß machen. – Ebenso gut aber ist es möglich, daß wir nach U. S. A. kommen. Für mich lohnt es sich kaum. Aber den Walter hätt‘ ich gern drüben und in Sicherheit. Er ist noch so jung. […] Laßt einmal von Euch hören. Charles Walter, Hotel Beauport, Sanary (Var.) – das genügt. Nichts weiter! Euch allen von Herzen alles Gute! Immer! Dein alter Hans.“ (Hans Siemsen: Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 257 f.) Unter dem Pseudonym „Charles Walter“ hatte sich offenbar Walter Dickhaut in Sanary angemeldet, während Hans Siemsen vorsichtshalber namentlich gar nicht in Erscheinung treten wollte. Im Februar 1941 begaben sich die beiden Freunde von Sanary-sur-Mer aus wieder auf die Flucht. Über Marseille und Spanien erreichten sie im März mit Hilfe von Varian Fry Lissabon, von wo aus sie im Juni auf der SS Guinee New York erreichten.

Ganz in Vergessenheit geraten ist Hans Siemsen an seinem Fluchtort Sanary-sur-Mer übrigens nicht. Am dortigen Place Albert Cavet betreiben noch die hochbetagten Geschwister Louis, Marcelle und Paulette Cavet die „Villa de l’Enclos“, fünf Reihenhäuser als Pensionsbetrieb für Feriengäste in einem kleinen Park. Sie erinnern sich noch gut an den Flüchtling aus Deutschland. Eines dieser Häuser bewohnte einst der deutsch-polnische Kunsthistoriker und Maler Erich Klossowski (1875-1949), Vater des Schriftsteller Pierre Klossowski (1905-2001) und des Malers Balthasar Klossowski, gen. Balthus (1908-2001). Und in einem anderen Haus fanden Siemsen und Dickhaut für ein paar Monate Unterschlupf. An dessen Fassade ist die Gedenktafel angebracht, die das Titelbild zeigt, mit einem Foto von Hans Siemsen im Profil, das ich sonst nirgends gefunden habe.

[Für die Informationen im letzten Absatz danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Gernot Lucas (Konstanz), der mir auch freundlicherweise das Foto der Gedenktafel zur Verfügung stellte.]

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Siemsens Neffe

Sunday, 24. August 2008

karlannahans

Wenn man sich längere Zeit gründlich mit dem Lebenswerk eines nahezu vergessenen Autors beschäftigt, dann will man auch alles über sein Leben wissen – und nicht zuletzt, wie er ausgesehen hat. Im Falle von Hans Siemsen (1891-1969) ist die Quellenlage zu beidem allerdings äußerst dürftig. Ein Foto aus den jüngeren Jahren dieses Flaneurs schmückt das von Dieter Sudhoff zusammengestellte Hans Siemsen Lesebuch (Köln: Nyland Stiftung, 2003), doch hat der für die Umschlaggestaltung laut Impressum zuständige Robert Ward es so zurechtgestutzt, dass nur Siemsens linke Gesichtshälfte zu sehen ist. Dieser Buchkünstler hatte den zweifelhaften Einfall, aus zwei Siemsen-Porträts ein Ausrufezeichen zu formen. Den Strich bildet das halbierte Porträtfoto – und den Punkt darunter eine (auch im Buch auf S. 139 reproduzierte) Karikatur des älteren Siemsen von Benedikt Fred Dolbin.

So hoffte ich, in der Biographie der wesentlich bekannteren älteren Schwester des Dichters, Anna Siemsen (1882-1951), fündig zu werden, die der ebenfalls namhafte Bruder Dr. August Siemsen (1884-1958) verfasst hat. Dieses schmale Buch enthält aber, wie sich leider herausstellte, keine Fotos der Geschwister Siemsen, sondern ledigleich vier Bilder auf Tafeln von Anna. Auch zur Lebensgeschichte ihres Bruders Hans gibt es, außer der knappen Schilderung einer gemeinsamen Radtour im Jahre 1910 durch Holland (S. 29), nicht viel her. (August Siemsen: Anna Siemsen. Leben und Werk. Hamburg u. Frankfurt [am Main]: Europäische Verlagsanstalt, [1951].)

So hegte ich wenig Hoffnung, dass ein weiteres Erinnerungsbuch aus der Siemsen-Familie meine Neugier würde stillen können. Der wohl einzige Sohn von August Siemsen, Pieter Siemsen (1914-2004), hat kurz vor seinem Tod auf sein wechselvolles Leben zurückgeblickt und unter dem Titel Der Lebensanfänger seine Memoiren veröffentlicht. Wie groß war meine freudige Überraschung, als ich in diesem Buch kürzlich nicht nur ein ausführliches und aufschlussreiches Kapitel über Pieter Siemsens „Onkel Hans“ fand (S. 18-22), sondern auch gleich zwei Familienfotos, auf denen Hans Siemsen mit abgebildet ist. (Pieter Siemsen: Der Lebensanfänger. Erinnerungen eines anderen Deutschen. Situationen eines politischen Lebens: Weimarer Republik – Nazi-Deutschland – Argentinien – DDR – BRD. Berlin: trafo verlag dr. wolfgang weist, 2000.)

Bisher hatte ich mir Hans Siemsen als eher kleinen, korpulenten Mann vorgestellt. Wie ich mich zu diesem inneren Bild versteigen konnte, vermag ich beim besten Willen nicht zu erklären. Nun erweist sich [s. Titelbild, aus den 1920er-Jahren], dass er vielmehr groß und schlank war, seine Mutter Anna Siemsen, geb. Lürßen (1854-1931), weit überragte und auch deutlich größer war als sein älterer Bruder Karl Siemsen (1887-1968). Und auf dem zweiten Foto sieht man, dass Hans Siemsen, zumindest Mitte der 1930er-Jahre, Zigaretten rauchte.

Zum Verständnis und zur Bewertung von Siemsens Schriften trägt die Kenntnis seiner persönlichen Eigenschaften und Lebensgewohnheiten zwar kaum bei, handelt es sich doch bei solchen Äußerlichkeiten um bloße Akzidenzien der geistigen Erscheinung. Und doch fehlt mir etwas, wenn ich mir kein äußerliches Bild von einem Autor machen kann. (Thomas Pynchon, der sich diesem Bedürfnis seiner Leser konsequent verweigert hat und dennoch nicht verhindern konnte, dass ein Jugendbild von ihm veröffentlicht wurde, steht vor meinem inneren Auge nun bis auf weiteres da als der Mann mit den Hasenzähnen.)

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Thursday, 07. August 2008

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Kölnreise

Wednesday, 16. July 2008

daphne

Sehr selten und immer seltener, kaum aus besonderem Anlass oder triftigem Grund, sondern aus einer aufflackernden Laune juveniler Abenteuerlust heraus, weil mir der Schalk im Nacken sitzt und ich mich zu seinem Gaul machen will, wo ich üblicherweise doch immer im bequemen Herrensattel meine Prinzipien reite, also in einer recht eigentlich masochistisch grundierten Stimmungslage bequeme ich mich zu dem Entschluss, eine Reise anzutreten.

Ist der Tag der Abreise dann plötzlich da wie heute, schimpfe ich mich einen Toren und alten Trottel, der sich diesen Tag verderben musste in einem lange schon zurückliegenden, im Rückblick unerklärlichen Moment der Schwäche. ,Worauf habe ich mich da bloß wieder eingelassen!‘ Der schwarzgallige Verdruss wird allein dadurch erträglich, dass dieser Tag ja zugleich der Tag der Rückkehr ist. Und der tatsächliche Aufbruch ist mir überhaupt nur möglich durch die Aussicht auf die erfreulich nahe Rückkehr. Ohne diese frohe Erwartung müsste ich im letzten Moment noch unweigerlich stornieren.

Wie es in Köln so war? Zauberhaft – auch dank meiner staunenden Begleitung.

Die Reise galt meinem alten Freund Kamillus: dem großen Bibliophilen. Sie galt seiner kleinen, aber in jeder Kleinigkeit so bedachtsam und geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Kalk. Sie galt dem Schrägstand seiner Augenbrauen bei konzentriert gesuchten Formulierungen, die dann in solch bewundernswerter Präzision über seine Lippen kommen, der Rechtschaffenheit seines gründlich erwogenen Urteils – das ich freilich nicht immer teile – und dem im Alter noch immer so präsenten, so vielseitigen Wissen. Sie galt seiner Lebendigkeit, die gerade vor dem Hintergrund einer tiefen, allgemeinen Resignation erst ihre Strahlkaft gewinnt. Sie galt zuletzt auch, fast schäme ich mich, es zu bekennen, seiner erlesenen Bibliothek, von der umgeben zu sein mir stets aufs Neue ein fast körperlich spürbares Gefühl intensiver Lust bereitet.

Der geplante Höhepunkt der Reise war jener Augenblick, als ich Hans Siemsens Tigerschiff in eigenen Händen hielt, seine „Jungensgeschichten“ mit den zehn handsignierten Originalradierungen von Renée Sintenis, einer ihrer bekanntermaßen schönsten Arbeiten für den Buchdruck, erschienen 1923 im Querschnitt-Verlag in Frankfurt, im Impressum zusätzlich von Siemsen und Sintenis signiert, eins von nur 250 nummerierten Exemplaren, als 26. Flechtheim-Druck erschienen. Zauberhaft – aber vorbei. Ich bin wieder daheim.

Verunnoseln

Saturday, 28. June 2008

„Wer suchet, der findet!“ Mit dieser Ermunterung suchte mein Vater mich, den Fünfjährigen, zu beschwichtigen, wenn ich wieder mal mein kleines Papierscherchen nicht finden konnte und jähzornig mit dem Fuß aufstampfte, den Tränen nahe. Die Erfahrung, dass sich handfeste Gegenstände unter der Hand in Luft auflösen können, gehörte zu den frühesten Erschütterungen meines eben erst erwachenden Selbstbewusstseins. Noch heute kann mich zur Weißglut bringen, wenn ich wieder einmal meine Brille oder mein Schlüsselbund nicht finde, die sich doch unzweifelhaft irgendwo versteckt haben müssen, denn ein anderes Sprichwort meines mit Redensarten reich versehenen Vaters lautete: „Das Haus verliert nichts!“ Aber es ersinnt scheinbar immer wieder neue Schlupfwinkel, in denen es das Gesuchte hartnäckig meinen Blicken entzieht.

Der gesunde Menschenverstand sagt mir natürlich, dass es keineswegs die toten und unbeseelten Dinge sind, die mir einen solchen Streich spielen. Auch sind die Wohnräume, die erst durch mich und meine Mitmenschen mit Leben, wahlweise mit Ordnung oder Chaos erfüllt werden, keine Trickdiebe und Zauberkünstler, die uns als böswillige Akteure des Verbergens an der Nase herumführen. Seit Sigmund Freud die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat, dass allen menschlichen Fehlleistungen eine tiefere Bedeutung zukommt und es somit auch keineswegs ein zufälliges Missgeschick ist, wenn sich plötzlich ein dringend benötigter Gegenstand hartnäckig unseren Blicken entzieht; seither wissen wir, dass hinter diesem schwer erklärlichen Verschwinden eine Absicht steckt, eine versteckte, freudianisch gesagt: unbewusste.

Die Sprache, unbestechlich wie immer, entlässt uns ohnehin nicht aus der Verantwortung. Ich bin es, der die Brille verlegt, das Schlüsselbund verbumfiedelt, die Schere verbaselt hat. Heute habe ich für das unfreiwillige und unbeabsichtigte Versteckspiel mit uns selbst ein neues Verb gelernt: verunnoseln. „Wissen Sie, was verunnoseln ist? Eine Sache verunnoseln, heißt eine Sache verlieren. Vielmehr, wie wir in der Schule sagten: ,Du hast meinen Federhalter verloren gemacht!‘ Verloren machen – das ist verunnoseln.“ (Hans Siemsen: Wannsee; in Otto Schoff: Das Wannseebad. Berlin: Verlag Galerie Alfred Flechtheim, 1921; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 108.) Der nahezu völlig verloren gegangene Flaneur Hans Siemsen beschwert sich in diesem Vorwort über den Kunsthändler und Verleger Flechtheim, dass dieser sein erstes Vorwort verlegt habe – und darum nun ein zweites benötige: „Er hat es so sorgfältig weggelegt, daß es nun kein Mensch mehr wiederfinden kann. Er hat es verunnoselt.“

Tempi passati! Heute bedürfen Autoren keiner Verleger mehr, um sich in solche Verlegenheit zu bringen. Sie verunnoseln ihre unveröffentlichten Manuskripte höchstpersönlich, indem sie als Blogger ihre eigenen Verleger sind. So widerfuhr es mir in den vergangenen drei Tagen mit meinen längst fertigen, so hübschen Würfelwürfen für den 25. bis 27. Juni. Spurlos verschwunden. Unauffindbar. Ich werde die zunächst in meiner ordentlichen Handschrift verfertigten Texte vermutlich in ein Buch gelegt haben. Ein besseres Versteck gibt es in diesem Haushalt nicht. Nun ist der vorzeitige Verlust von drei unter mancherlei Qualen geborenen Geisteskindern zwar höchst bedauerlich, aber einen guten, tieferen Grund wird es für diese Verunnoselung, wenn wir dem weisen Doktor aus der Wiener Berggasse 19 glauben dürfen, ganz gewiss gegeben haben.

Und sei es das Erlernen eines neuen Wortes, das nicht einmal Google bisher kannte.

Asta

Wednesday, 25. June 2008

asta

Die „Roaring Twenties“, dieses gewiss später zu sehr verklärte, in der Unklarheit seiner unaufgelösten Widersprüche aber ebenso gewiss explosiv-schöpferische, gärende und temporeiche, fragende und fragwürdige Jahrzehnt, verbrachte Hans Siemsen in Berlin, der Reichshauptstadt und deutschen Metropole der Boheme.

Helmut Kreuzer hat in seiner wegweisenden Monographie über den anarchischen Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft der Bedeutung des Café-Hauses, der Künstlerkneipe und des Kabaretts ein eigenes Kapitel gewidmet. (Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1968, S. 202-216.) Die Anziehungskraft solcher Lokalitäten erklärt er mit einem Polgar-Zitat aus dem ambivalenten Bedürfnis der Einzelgänger, „die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen“.

Siemsen verkehrte „in einem kleinen Lokal in der Passauer Straße“ in Berlin-Tempelhof, in dem sich der Verleger Ernst Rowohlt mit seinen Autoren traf: „Franz Hessel, Joachim Ringelnatz, Hans Siemsen, mitunter war auch Asta Nielsen dabei und hörte, den ausgestreckten Zeigefinger unter dem Kinn, wortlos und unnahbar den Gesprächen zu. Noch ihr Schweigen schien einen dänischen Akzent zu haben. Sie schminkte sich nie, wenn sie ausging, und kleidete sich möglichst unauffällig, beinahe schlampig, teils um nicht erkannt zu werden, teils aus dem bei Schauspielern nicht selten anzutreffenden Wunsch, sich gehenzulassen, wenn man nicht spielte.“ (Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil. München: Luchterhand Literaturverlag, 2008, S. 172.)

In ihrer Autobiographie Die schweigende Muse (1946) schreibt sie zwar über ihren Freund Joachim Ringelnatz; Hans Siemsen kommt darin nicht vor. Dabei hat Siemsen doch ein so bezauberndes Feuilleton über die Stummfilmdiva und zugleich über die ästhetische Sensation des frühen Films geschrieben: „Das Erstaunliche und Bewundernswerte,“ so heißt es da, war dank Asta Nielsens mimischem Genie „nicht mehr die technische Leistung des neuen Wunderapparates, den man ,Kinematograph‘ nannte, sondern ein menschliches Gesicht und die Suggestion, die von ein paar großen Augen und von ein paar schmalen, zuckenden Lippen ausging. Es stellte sich heraus, daß das einfache, alltägliche menschliche Antlitz wunderbarer, seltsamer und phantastischer sein konnte als der phantastische Apparat. Nicht mehr der Apparat, sondern der Mensch war die Hauptsache. Die Kunst hatte über die Technik gesiegt.“ (Hans Siemsen: Asta Nielsen. In: Film und Volk. Berlin. Heft 2, April 1928; hier zit. nach Schriften II. Kritik – Aufsatz – Polemik. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 161.)

Der Stummfilmstar, der am Tonfilm scheiterte, hat sich frühzeitig auf die Ostseeinsel Hiddensee in sein Haus Karusel zurückgezogen, wo Joachim Ringelnatz die Freundin gelegentlich besuchte. Renate Seydel, die dort eine kleine Buchhandlung betreibt, hat ein Buch über Asta Nielsen herausgegeben, das ich noch nicht kenne und in dem Hans Siemsen vermutlich nicht vorkommt. – Was ist das noch gleich für ein Vogel, dessen Gesang unsere menschliche Stimme zum Verstummen bringen möchte? Luscinia luscinia, so hat Linné 1758 den Sprosser genannt. Sein Ruf ist laut, mit einer breiten Varietät von Trillern, Schnalzlauten und Pfiffen.

Eccentrics (IV)

Friday, 20. June 2008

vorprogramm

Na klar doch, auch Alfred Polgar der Große hat ein kleines Prosastück über die Eccentrics geschrieben. (Er schreibt sie, eingedeutscht, „Exzentriks“.) Da steckt mal wieder mehr drin, als hineinpasst. Polgars Miniaturen platzen ja, so gertenschlank sie auch sein mögen, immer aus allen Nähten.

Ganz allgemein sagt Polgar über die aus der Mitte an den Rand Geschleuderten und über unser Verhältnis zu ihnen viel in wenigen Worten, also das Wesentliche: „Exzentriks sind leibhaftige Pamphlete wider Würde, Ernst, Haltung. Dafür dankt ihnen unser Herz, befriedigt wie ein Subalterner, der des Gebots, das ihn sein Lebenlang drückt und beugt, ein Weilchen spotten darf. Exzentriks erlösen vom Übel der Schwerkraft. Sie verhelfen zu einer Vision vom Spielzeughaften der Welt … und so zu Kindheits-Glück. Unter ihren Griffen wackelt die Kausalität wie Baggesens Tellerbau; wenn sie einstürzt, ist das Musik unserem Hirn.“ (Alfred Polgar: Exzentriks. Zuerst erschienen im Berliner Tageblatt, Abendausgabe v. 22. Dezember 1927, S. 2; hier zit. nach Musterung. Kleine Schriften, Band 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004, S. 364 f.)

Sehr speziell nennt und erklärt Polgar ein paar Beispiele, von denen Baggesens Tellerbau vielleicht das eindringlichste ist. Baggesen? Der Name kommt mir doch bekannt vor? Ach ja, richtig: Ich habe doch neulich erst bei Hans Siemsen von diesem „Dichter im Porzellanladen“ gelesen. Siemsen beschreibt einen Auftritt des komischen Jongleurs im Berliner „Wintergarten“, während Polgar ihn in Wien gesehen haben dürfte. Die Details sind die gleichen. Vermutlich war „der alte Baggesen“, wie Siemsen ihn nennt, 1927 auf Europatournee. (Vgl. Hans Siemsen: Baggesen im Wintergarten. Zuerst erschienen im 8-Uhr-Abendblatt, Berlin, v. 19. Februar 1927; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Hrsg. v. Dieter Sudhoff. Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 36.)

Offenbar war Baggesen vor achtzig Jahren ein Publikumsmagnet. Er füllte große Säle und war in aller Munde. Umso erstaunlicher ist, dass man ihn bei Wikipedia nicht findet. Und selbst bei Google musste ich mich bis zur zehnten Seite durchklicken, bis ich endlich einen Hinweis auf ihn fand. Am 30. Juni 1893 berichtete die New York Times in einem kurzen Artikel über einen Auftritt Baggesens im „Madison Square Garden“: Wonderful Contortionist Baggesen. – Carl Baggesen, the contortionist who performs nightly in the roof entertainment at Madison Square Garden, gave a special performance yesterday afternoon for a number of doctors and newspaper men, in the concert hall of the Garden. Baggesen twisted and turned himself into all sorts of positions, turning so far around as to make it appear that his spinal column was in line with the position ordinarily occupied by the breast bone.“

So gelenkig war Baggesen dreißig Jahre später vermutlich nicht mehr, dass er als Schlangenmensch sein Publikum bezaubern konnte. Aber sein Spiel mit dem Tellerstapel und mit einem klebrigen Fliegenpapier muss immerhin noch komisch und atemberaubend genug gewesen sein, um selbst anspruchsvolle Zuschauer wie Siemsen und Polgar in seinen Bann zu ziehen. Jetzt wissen wir immerhin, dass Baggesen mit Vornamen Carl hieß. Und nun entdecke ich, dass auch Kurt Tucholsky diesem Varieté-Künstler einmal großes Lob spendete, als er meinte, dass in „den Tellerkunststücken eines großen Jongleurs mehr Geist und Esprit stecken [könne] als in den furchtbaren und geschmacklosen Radauliedern unserer Humoristen.“ (Peter Panter: Varieté und Kritik. Zuerst erschienen in Die Weltbühne Nr. 30 v. 27. Juli 1922, S. 88; hier zit. nach Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1975, 236.) – Exzentriker sind, so scheint es, für den Augenblick und nicht für die Unsterblichkeit gemacht.

Kazett

Saturday, 14. June 2008

siemsen-ja-und-nein

Ich lese gerade im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem nahezu verschollenen deutschen Schriftsteller Hans Siemsen dessen Buch Russland ja und nein (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931). Im Herbst 1930 hatte Siemsen im Auftrag der Frankfurter Zeitung eine sechswöchige Reportagereise in Stalins Reich unternommen. Obwohl das Buch, der Titel deutet es ja schon an, alles andere als ein Lobgesang auf den Kommunismus sowjetischer Prägung ist, hatte er damit sein Bleiberecht im bald aufziehenden Dritten Reich endgültig verwirkt. Dass die Nazis es erst am 31. Dezember 1938 auf ihre „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ setzten, kann man vielleicht am ehesten mit ihrer Unbildung und Ignoranz erklären. Schon bei den Bücherverbrennungen im Frühjahr 1933 waren ihnen beim Zusammenstellen ihrer Listen ja etliche kuriose Fehler unterlaufen.

Im kurzen Vorwort zu seinem Russland-Buch schreibt der Autor: „Von den Sowjet-Russen können wir viel lernen, von ihren Fehlern und den Fehlern, die sie machen und gemacht haben, ebensogut wie von ihren Vorzügen und Leistungen. […] Ich habe in Rußland viel gelernt. Im Guten wie im Bösen. Vielleicht nützt es ein paar Menschen, wenn ich davon erzähle.“ (A. a. O., S. 5.)

Hier klingt unter der Tarnkappe vornehmer Bescheidenheit bereits jener resignative Ton an, der in den wenigen erhaltenen Briefen Siemsens aus den Jahren des Exils schließlich dominieren wird. Es ist doch alle Hoffnung vergeblich, die große Utopie ist gescheitert – dies ist, zwischen den Zeilen, die verzweifelte Botschaft von Siemsens Reisebericht.

Ob es vor nun 77 Jahren ein paar Menschen „genützt“ hat, dieses Buch zu lesen, ist mehr als fraglich. Heute aber ist die Lektüre, was mich betrifft, durchaus Gewinn bringend, in vielen kleinen Details bedenkenswert und erhellend. So wenn Siemsen über das Schicksal der verwahrlosten, verwaisten, vagabundierenden Kinder in Russland schreibt: „Zur selben Zeit aber wurden im selben Rußland stehlende Kinder einfach niedergeschossen, aus den Zügen, mit denen sie als blinde Passagiere fuhren, herab und unter die Räder geworfen, eingefangen, laufen gelassen und wieder eingefangen, von Razzien zusammengetrieben in Gefängnissen und Konzentrationslagern kaserniert und, wenn keine Lebensmittel, wenn selbst trockenes Brot einfach nicht mehr da war, wieder entlassen, wieder auf die Straße geschickt.“ (Ebd., S. 37.)

Da springt es mich also an, dieses Wort „Konzentrationslager“, das sich wenig später zum Kainsmal eines faschistischen Regimes mausern sollte, welches das Verbrechen des Jahrhunderts längst schon plante. Anfangs kürzten die neuen Herren im Land der Dichter und Denker das Schreckenswort noch, was ja auch nahe liegend ist, mit „KL“ ab. Angeblich waren es dann die SS-Wachmannschaften in den Menschenvernichtungsfabriken, die später der Abkürzung „KZ“ wegen ihres härteren Klanges den Vorzug gaben. In einem Buch aus dem Jahr 1931 steht das Wort da noch in aller Unschuld. Und der Stalinismus fand bald ein eigenes, viel weicher klingendes für die gleiche schmutzige Angelegenheit: Gulag.

Zoff im Bedford

Friday, 30. May 2008

bedford

New York, 30. Mai 1942 – heute vor 66 Jahren. Der 35-jährige Schriftsteller Klaus Mann bekommt Besuch in seinem Appartement im Hotel Bedford, 118 East 40th Street, Manhattan. Seit September 1938 wohnt Mann nun schon hier, zeitweilig unter einem Dach mit anderen namhaften Hitler-Flüchtlingen, Künstlern und Autoren wie Vicki Baum, Curt Riess oder Billy Wilder. Und auch jener Hubertus Prinz zu Löwenstein residiert vorübergehend hier, der vielen Verfolgten mit seiner „American Guild for German Cultural Freedom“ die Flucht ins amerikanische Exil ermöglicht hatte.

Da jedoch die USA keine mutmaßlichen Kommunisten aufnahmen, erfand Löwenstein folgenden Trick. Zunächst besorgte er den Flüchtlingen ein Visum für Mexiko, ein Land, das weniger zimperlich in seinen Einreisebestimmungen war. Der Weg dorthin führte aber über die USA, die immerhin ein Transitvisum auch in „verdächtigen Fällen“ nicht verweigerten. Hatten seine „Rescue Cases“ erst einmal ihren Fuß auf US-amerikanischen Boden gesetzt, dann setzte sich Löwenstein für sie ein, indem er ihnen Affidavits hilfsbereiter „Sponsoren“ verschaffte. Auf einer undatierten Liste solcher „Rescue Cases Attended to the American Guild for German Cultural Freedom“ tauchen unter den laufenden Nummern 26 und 31 auch folgende Personen auf: „Siemsen, Dr. Hans: Withdrawn“ und „Dickhaut, Walter, Both affidavits from Burrichter referred to Dr. Losenfeld“.

Wir wissen nicht, warum der Name Hans Siemsen in dieser Liste mit einem Doktortitel versehen wurde. Mitte Juni 1941 war er auf der SS Guinee von Lissabon kommend in New York eingetoffen, mit dem gleichen Schiff, auf dem auch Hans Sahl und Valeriu Marcu das rettende Ufer erreichten. Wohl aber wissen wir, wer jener Walter Dickhaut war, der schließlich nicht in New York, sondern auf Kuba landete, nämlich eben jener Walter D., der das Vorbild für Siemsens Hitlerjungen Albrecht Goers abgab, sein Geliebter. Ob es mit dem Affidavit für Dickhaut doch nicht geklappt hat? Für Ende 1941 vermerken die „Daten zu Leben und Werk“ im ersten Band der Siemsen-Ausgabe von Michael Föster jedenfalls: „Zunehmende Vereinsamung, wozu der Verlust seines Freundes Walter […] beiträgt. Alkoholismus, ständige Geldnot.“ (Hans Siemsen: Schriften. Verbotene Liebe und andere Geschichten. Essen: TORSO Verlag, 1986, S. 257.)

Am 30. Mai 1942 steht also der 51-jährige Hans Siemsen bei Klaus Mann im Hotel Bedford auf der Matte. Über diesen Besuch berichtet Mann in seinem Tagebuch: „Äußerst unangenehme Szene mit Hans Siemsen, der hereinplatzt – schwitzend und unappetitlich – und sofort in eine dieser lauten, nutzlosen und beschämenden politischen Diskussionen verfällt. Er schreit [Manns Freund] Christopher [Lazare] und mich an, als wir es wagen, seine Theorie in Frage zu stellen, alle Deutschen verabscheuten den Krieg und seien insgesamt ein wunderbares, friedliebendes Volk. Ungehobelt, stumpfsinnig und verrückt, besteht er auf seinem Standpunkt – chauvinistisch und brutal wie ein Nazi, oder eher, wie ein echter Deutscher. Was für eine abscheuliche Rasse! Wie absolut bar jeder Vernunft und jeder Höflichkeit! Es ist diese Mischung aus Roheit und Hysterie, die sie zur Geißel der Zivilisation macht. Wie recht ich habe, konsequent jeden Umgang mit diesem bornierten, lärmenden Pöbel zu vermeiden (mit der Ausnahme von vielleicht fünf oder sechs alten und vertrauten Freunden.)“ (Klaus Mann: Tagebücher 1940 – 1943. Hrsg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Loemmle u. Wilfried F. Schoeller. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995, S. 96.)

Das Bild, das Klaus Mann hier von Siemsen zeichnet, passt nun so gar nicht zu jenem Verfasser zarter Prosastücke, dem intimen Freund von Joachim Ringelnatz und Renée Sintenis, dem schwulen Pastorensohn, einfühlsamen Liebhaber und naturverliebten Flaneur, den wir aus seinen Schriften und Briefen kennen. What happened that this shit happened?

Adolf Goers

Monday, 19. May 2008

goers

Nachdem Hans Siemsen im Januar 1934 die Flucht nach Paris geglückt war, lernte er dort im Februar 1936 den ebenfalls aus Deutschland geflohenen 21-jährigen Walter D. kennen und verliebte sich in ihn. Im Jahr darauf verarbeitete Siemsen dessen Erlebnisse in der Hitlerjugend zu seinem letzten Buch: Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers. Obwohl sich Alfred Döblin für eine Publikation verwendet, erscheint dieser entlarvende Bericht über die Methoden des NS-Staates bis zum Kriegsende lediglich in einer englischen Übersetzung (Hitler Youth, 1940). Als der Düsseldorfer Komet-Verlag 1947 endlich die deutschsprachige Originalausgabe auf den Markt bringt, findet das Buch kaum noch Leser. Die Deutschen haben nach dem verlorenen Krieg andere Sorgen und wollen ihren schrecklichen Irrtum so schnell wie möglich vergessen.

Über die Geschichte der Hitlerjugend gibt es mittlerweile mehrere ausführliche Monographien, die die Organisationsstruktur und die demagogischen Erfolgsrezepte dieser nationalsozialistischen Jugendorganisation in allen wesentlichen Details transparent werden lassen. Siemsens Erfahrungsbericht eines Betroffenen übertrifft jedoch in seiner subjektiven Unmittelbarkeit, in der beklemmenden Schilderung der Gewissensnöte eines Heranwachsenden naturgemäß jede dieser nüchternen, streng sachbezogenen Darstellungen der HJ.

Zudem thematisiert das Buch, für seine Zeit ein zusätzliches Wagnis, die Homosexualität als verdrängte und doch untergründig wirksame Triebkraft solcher männerbündischen Zusammenschlüsse. „Ich komme nun zu einem peinlichen und heiklen Kapitel.“ So leitet Siemsen diese Passagen gegen Ende seines letzten Buches ein. „Ich spreche nicht gern davon. Aber es muß sein. Die Homosexualität spielt in der HJ eine große, eine wichtige, nicht eine nur zufällige Rolle.“ (Dass Klaus Theweleit 1977 in seinen Männerphantasien diese Passagen von Siemsens Buch nicht berücksichtigt hat, kann ich mir nur damit erklären, dass er es schlicht nicht kannte.)

Vielfach musste Siemsen Personennamen fälschen, um niemanden, der noch im „Dritten Reich“ lebte, zu gefährden. Manchmal trog ihn auch sein Gedächtnis, so z. B. als er den jugendlichen Hauptdarsteller im Propagandafilm Hitlerjunge Quex (1933) Jürgen Ried nennt. Das war vielmehr der Titel eines Romans von Erich Ebermayer (1931). Tatsächlich hieß der spätere Geliebte des Reichsjugendführers Baldur von Schirach Jürgen Ohlsen. An vielen überprüfbaren Stellen beweist der Autor hingegen ein gutes Gedächtnis für Namen und Zusammenhänge, so im Falle des ohne sein Wissen der SS einverleibten Turnierreiters Axel Holst. Man kann Siemsen vertrauen, dass seine Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers größtenteils auf Tatsachen beruht.

Im Juni 1941 traf Hans Siemsen, dem zuvor mit knapper Not die Flucht von Paris nach Marseille gelang, in New York ein. Auch sein Freund Walter D. entkam über den Atlantik den Verfolgern, landete aber in Kuba. Die Trennung von seinem Geliebten gab Siemsen vermutlich den Rest. Er verfiel dem Alkohol, kehrte erst Ende der 1940er-Jahre nach Deutschland zurück und starb am 23. Juni 1969 in einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen-Holsterhausen, ohne je wieder eine Zeile veröffentlicht zu haben.

Siemsen über Chaplin

Thursday, 15. May 2008

chaplin

Vorgestern habe ich so allerlei von Hans Siemsen aus Antiquariaten über ZVAB bestellt. Endlich war zum Beispiel die dreibändige Werkausgabe aus dem Essener TORSO-Verlag im Angebot, nicht billig, aber in bester Erhaltung, nahezu wie neu. Eine Stunde später schellte das Telefon. Ein Essener Antiquar war dran und fragte, ob ich das eben georderte Chaplin-Bändchen von Siemsen nicht persönlich bei ihm abholen wolle. Schließlich seien es ja nur zehn Minuten zu Fuß und so würde ich mir doch die Portokosten sparen. Das nenne ich Service.

Gestern dann hielt ich das noch nicht mal 50 Seiten starke Heftchen von 1924 in Händen, die erste Veröffentlichung über Chaplin in deutscher Sprache überhaupt, erschienen im Feuer-Verlag zu Leipzig, mit 18 Bildern nach Film-Ausschnitten, „Der Sammlung Meister zweiundzwanzigster Band“. Der vordere Umschlag war leicht knickspurig, der schmale Rücken etwas lädiert, der Preis aber völlig angemessen.

Ich setzte mich auf eine Parkbank im nahen Stadtgarten und las: „Ich muß von Osnabrück nach Bremen fahren.“ Das ist als erster Satz in einem Büchlein über den berühmtesten Stummfilmstar der Welt einigermaßen ungewöhnlich. Weiter geht ’s: „Und ich habe nicht soviel Geld, daß ich D-Zug fahren kann.“ Aha, da lässt sich ein Zusammenhang immerhin vorstellen. Charlie tritt ja in seinen Slapsticks vorzugsweise als Habenichts auf. Gibt es nicht einen Film, in dem er als Hobo, als „schwarzer Passagier“, auf dem Tender durch die Lande reist?

Nun aber folgen Siemsens dritter und vierter Satz: „Das heißt, vielleicht habe ich soviel Geld. Ich darf es nur nicht für den D-Zug ausgeben.“ Indem ich das lese, sehe ich den Autor an einer klapprigen Schreibmaschine sitzen, an einer ,Gabriele‘ von Triumph oder an einer ,Erika‘ von Seidel & Naumann. Nachdem Siemsen fein säuberlich und tippfehlerfrei seine ersten beiden Sätze zu Papier gebracht hat, fällt ihm ein, dass der zweite Satz eigentlich, „vielleicht“ nicht ganz den Tatsachen entspricht. Und so schreibt der um Wahrheit bemühte Schriftsteller einen dritten und vierten Satz, um die Sache zurechtzurücken.

Und heute? Ich z. B. würde den zweiten Satz im Handumdrehen auf dem Monitor löschen und nun schreiben, wie es sich tatsächlich verhielt. Aber was ginge dabei verloren! Die kleine Flüchtigkeit, deren Korrektur doch gerade den Charme dieses Erzählens ausmacht – sie verschwände auf Nimmerwiedersehen im digitalen Nirwana. Wenn ich Siemsens Prosa lese, dann wird mir bewusst, dass unser heutiger Schreibkomfort neben vielen Vorzügen auch seine Nachteile hat. Diese Umwegigkeit, diese sanften Schlenker, wie er mal rechts, mal links vom Pfad abkommt, um dann über Stock und Stein zurückzufinden – das entspricht doch eigentlich dem Wesen eines Flaneurs weit eher als die Gradlinigkeit, der Zeilengehorsam meiner disziplinierten Schreibweise am „Rechner“. Tempi passati! Wenn die Not nicht mehr herrscht, sind auch die aus ihr geborenen Tugenden unrettbar verloren.

Twardy

Monday, 05. May 2008

Auch Hans Siemsen, wir sprachen bereites mehrfach von ihm, hat gelegentlich für Die Weltbühne geschrieben. Am 20. Januar 1921 erschien dort sein entzückender Aufsatz Bilder von Kindern, anlässlich einer Ausstellung in der Buch- und Kunsthandlung Twardy in Berlin, Potsdamerstraße 13, „deren einziger Raum nicht größer war als ein sehr kleiner Zigarettenladen“. (Zit. nach Hans Siemsen: Schriften II. Kritik – Aufsatz – Polemik. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 128-130.)

Hans Siemsen war gewiss ein großer Melancholiker. Neben den Bildern der Arbeiterkinder hingen auch ein paar Bilder von erwachsenen Arbeitern. Siemsen vergleicht nun diese mit jenen, und es überkommt ihn eine große Traurigkeit. Unter den Kinderzeichnungen entdeckte er „ganz entzückende, ganz unwahrscheinlich schöne Sachen“, die Bilder der Erwachsenen aber waren „nur zu geschickte, aber ganz phantasielose, leere und hohle Kompositionen, oberflächliche Skizzen.“ (Siemsen, a. a. O.)

Was war denn bloß der Grund, so fragt sich Hans Siemsen, dass unterm Erwachsenwerden diese ursprüngliche Kreativität, ja schöpferische Genialität des Kindes auf der Strecke bleiben musste? Für Siemsen ist dies kein Wunder: „Was soll in dieser Erziehungsmühle, in diesem Folterautomaten, in den wir oben als Kinder hineinfallen und unten als ,fertige‘ Menschen herauspurzeln, was soll in dem noch übrigbleiben vom Künstler und Dichter in uns? […] Die Schulen, wie sie heute sind, hindern uns mit List und Gewalt daran, uns die Erkenntnisbäume selbst zu suchen und die Äpfel selbst zu pflücken. Sie servieren uns statt dessen wohlkonfektionierte, eingemachte und immer, aber immer mit Saccharin gesüßte Normalfrüchte. Einige kriegen davon das Kotzen. Die meisten verspeisen sie willig und brav – und haben nun nicht bloß ihre Unschuld verloren, sondern, was viel schlimmer ist, die konfektionierte Normal-Erkenntnis, Normal-Bildung, Normal-Geschicklichkeit dafür im Leibe.“ (Siemsen, ebd.)

Aber was war das nur für ein zigarettenladenkleines Kunstkabinett, dessen Inhaberinnen schon Anfang der 1920er-Jahre auf den Gedanken kamen, Bilder von Kindern auszustellen? Tatsächlich wurde ich im Internet fündig und erfuhr dort, dass Käthe und Emma Twardy am 20. Mai 1919 in Zoppot im Freistaat Danzig eine Buch- und Kunsthandlung gegründet hatten, die im Herbst 1920 nach Berlin expandierte, wo sie in der Potsdamerstraße 12 [?] unter dem Namen „Buch- und Kunstheim K. & E. Twardy“ ein kleines Lokal bezog. Da Herwarth Waldens „Sturm“-Verlag samt Galerie und Privatwohnung vis-à-vis in der Potsdamerstraße 134a beheimatet war, verkehrten bei Twardy bald Künstler wie Kandinsky, Archipenko und Moholy-Nagy.

Nach Hitlers „Machtergreifung“ verlieren sich die Spuren der rührigen Damen Twardy im Dunklen. Nach zwei Umzügen 1933 und 1934 innerhalb von Berlin erlischt die Firma. Im Adressbuch des Deutschen Buchhandels von 1936 ist sie nicht mehr verzeichnet.

Siemsen, die Zweite

Friday, 04. April 2008

Mittlerweile bin ich mit meinen Nachforschungen zu Leben und Werk des vergessenen homosexuellen Schriftstellers Hans Siemsen (1891-1969) ein gutes Stück vorangekommen. Die seltene, dreibändige Werkausgabe im Essener Torso-Verlag fand ich doch tatsächlich in der hiesigen Stadtbibliothek – einsortiert unter Heimatkunde! So ganz abwegig ist das nicht einmal, denn Siemsen hat in Essen nicht nur seine letzten Lebensjahre verbracht; er hat hier offenbar auch viel früher einmal, nämlich in den 1920er-Jahren, in der Alfredstraße 23 eine Zweitwohnung gehabt.

Hans Siemsen beschloss sein Leben als „Pflegefall“ im Essener Otto-Hue-Haus, einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in der Barthel-Bruyn-Straße 46 in Essen-Holsterhausen, in das er im November 1953 eingeliefert wurde. „Dort vegetierte er noch fast sechzehn Jahre dahin, pflegebedürftig, teilnahmslos und geistig isoliert. Wenn man Siemsen fragte, ob er nicht Papier zum Schreiben haben wolle, soll er gesagt haben: ,Nein, nichts mehr.‘ – Sein einziger Kontakt war zuletzt nur noch eine Pflegerin; nicht einmal der Pförtner des Altenheims kannte seinen in der Öffentlichkeit längst vergessenen Namen.“ So Herausgeber Dieter Sudhoff in seinem Nachwort zu der schmalen Sammlung von Siemsens „Erlebnissen“ und Feuilletons, die jüngst im Berliner Verlag Das Arsenal unter dem Titel Nein! Langsam! Langsam! erschienen ist.

Sehr langsam nähere ich mich diesem Vergessenen, zögerlich und behutsam, als könnte ich durch übertriebene Neugier, durch meine zupackende Wissbegier jenen Zauber zerstören, der von den wenigen mir bislang bekannten Siemsen-Texten ausgeht. Eben sah ich dank Google-Bildersuche erstmals Hans Siemsens Gesicht, ein Jugendbild wohl aus den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts. Mit ungläubigem Staunen nehme ich zur Kenntnis, dass einen Autor, der 1924 das erste Buch über das Stummfilm-Genie Charlie Chaplin schrieb, heute in Deutschland kaum jemand mehr kennt. Bereits vier Jahre zuvor hatte Siemsen in der Weltbühne über Chaplins Film A Dog’s Life geschrieben – zu einer Zeit, als noch kein einziger Chaplin-Film in Deutschland gelaufen war. Und 1926 schrieb er die deutschsprachigen Zwischentitel zu Charlies frühem Meisterwerk.

Der dritte Band der Torso-Ausgabe von Siemsens Schriften, der die erhaltenen Bruchstücke seiner Korrespondenz öffentlich machte, überliefert zahlreiche Briefe an ihn von Muschelkalk Ringelnatz, mit bürgerlichem Namen Leonharda Pieper, der Ehefrau von Kuttel Daddeldu. (Siemsens Antworten dürfen wohl endgültig als verloren gelten. Mit jedem von Muschelkalks Briefen bedauert man diesen Verlust mehr.) Der Verleger und Herausgeber dieser Ausgabe, Michael Föster, schrieb in seinem Vorwort zum dritten Band der Schriften: „[…] selbst lange Korrespondenzen sind nur teilweise erhalten […] und in der Regel waren die Briefe des einen oder anderen, selten die Briefe beider Partner aufzufinden. Wir sehen also nur die eine Seite, hören nur das Echo, nicht den Ton, auf den es antwortet. Oder umgekehrt: Wir lesen die Frage, aber nicht die Antwort.“

Nach allem, was ich in so kurzer Zeit von und über Hans Siemsen erfahren habe, bleibt mir vorläufig nur, dem Berliner Verlag Das Arsenal und seinem Verleger Peter Moses-Krause viel Glück und einen langen Atem zu wünschen bei dem verdienstvollen Unternehmen, einen ebenso zarten wie präzisen Schreiber, einen sinnenfrohen Flaneur und liebenswürdigen Menschen aus nahezu völliger Vergessenheit in die hoffentlich aufmerksamere Gegenwart hinüberzuretten.

Hans Siemsen

Friday, 28. March 2008

Gestern sprach mich Beate Scherzer in der Buchhandlung proust an: ob ich den Autor Hans Siemsen kenne? „Hm! Schon mal gehört.“ Der Hintergrund: Im Verlag Das Arsenal (Berlin) erscheint dieser Tage der erste Band einer Werkausgabe von Siemsen. Ursprünglich war mal eine Veranstaltung bei proust mit dem Herausgeber Dieter Sudhoff geplant. Doch der ist, kaum älter als ich, im Juni vorigen Jahres plötzlich verstorben. Ob ich nicht vielleicht Lust hätte, mich mit dem Thema mal zu beschäftigen?

Heute hatte ich Zeit, mich über diesen Hans Siemsen (1891-1969) eingehender zu informieren. Der Mann scheint tatsächlich interessant zu sein. Er entstammt einer protestantischen Pfarrersfamilie aus Hamm. Seine älteren Geschwister Anna und August Siemsen saßen in den 1930er-Jahren als Abgeordnete für die SPD im Reichstag. Nach dem ersten Weltkrieg lebte Hans Siemsen als freier Schriftsteller in Berlin. Er schrieb für verschiedene avantgardistische und linke bis linksliberale Zeitschriften wie Pan, Franz Pfemferts Die Aktion und für die Weltbühne.

Vor fast vierzig Jahren ist Siemsen, nahezu völlig vergessen, in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt in Essen gestorben. Nach der Flucht vor den Nazis nach Frankreich, vorübergehender Internierung, völliger Mittellosigkeit, einem kärglichen Dasein als Rundfunkjournalist in New York war er bei seiner Rückkehr in die Heimat Anfang der 1950er-Jahre ein zerstörter Mann, Alkoholiker – ein Pflegefall. (Schon mit Joseph Roth soll Siemsen im Pariser Exil gesoffen haben.)

Vor zwanzig Jahren brachte Michael Föster in seinem Essener Torso-Verlag eine dreibändige Ausgabe der Schriften von Hans Siemsen heraus. Diese verdienstvolle Edition ist heute selbst auf dem dank Internet so gut erschlossenen Antiquariatsmarkt eine Rarität; eher findet man noch die Erstausgaben seiner Bücher zu Preisen um 30 Euro. Der mittlerweile auch längst verstorbene Föster, der eine Villa gleich bei mir um die Ecke besaß, hat ein Magazin für Homosexuelle namens Torso herausgebracht. Auch Hans Siemsen war ein Schwuler.

Morgen muss ich mal in meinen Bücherkatakomben suchen. Irgendwo in einer tief vergrabenen Kiste müsste sich noch das eine oder andere Heft von Torso finden lassen. Mit viel Glück könnte eins dieser Hefte einen Aufsatz von Föster über Hans Siemsen enthalten. Das war schon immer so: Wenn ich das Gefühl habe, dass sich mir eine fremde Biographie entzieht, weil die Quellenlage dürftig ist; wenn ich ein vergangenes Leben zu meinen Füßen wie ein schmales Rinnsal versickern sehe – dann ist erst recht meine brennende Neugier geweckt.