Archive for the ‘Eccentrics’ Category

Yuppie!

Saturday, 25. February 2012

Am vergangenen Dienstag starb im gesegneten Alter von 89 Jahren Barney Rosset, Gründer der legendären Grove Press in New York, ein unermüdlicher Kämpfer für das freie Wort und gegen die Zensur, Förderer von so bahnbrechenden Autoren wie Henry Miller, Samuel Beckett, William S. Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg. Meist ging es vor Gericht um vermeintliche Pornographie, gelegentlich auch um Politik, wie im Fall der Autobiographie von Malcolm X. In einem Interview mit der Paris Review (No. 145, Winter 1997) hat Rosset erzählt, wie er durch Nancy Kurshan, eine Mitarbeiterin bei seiner Evergreen Review, die Yuppies Jerry Rubin und Abbie Hoffman kennenlernte – und was er von ihnen hielt: “They were the cream, the froth at the top of the wave, but I really never trusted them.” Immerhin publizierte Rosset trotz aller Vorbehalte Hoffmans legendäres Buch Steal This Book, eine Anleitung zum zivilen Ungehorsam und zu einem Leben ohne Geld. Barney Rosset war damals so drauf, dass er solch ein radikales Pamplet gegen den American way of life auf den Buchmarkt brachte, ohne auch nur eine einzige Zeile von dem Zeugs gelesen zu haben. Um das Buch für seine Grove Press anzunehmen reichte ihm als Argument schon, dass Random House es abgelehnt hatte! Allerdings musste er bald feststellen, dass das Buch aus Sicht eines Verlegers einen kleinen Schönheitsfehler hatte. Die Leser nahmen seinen Titel nämlich wortwörtlich. (Das erinnerte mich sofort an das berühmt-berüchtigte Klau mich der Berliner Kommune I, mit Fritz Teufel und Rainer Langhans als Gallionsfiguren, dem ein ähnliches Schicksal beschieden war. Sollten die Berliner Haschrebellen die Idee zu ihrem originellen Titel bei den Gesinnungsgenossen in den USA geklaut haben? Aber in diesem Falle kann der Ideendiebstahl allenfalls in umgekehrter Richtung gelaufen sein, denn Klau mich erschien bereits 1968 in der Edition Voltaire, während Steal This Book bei Pirate Editions erst 1971 herauskam.) Diesen kleinen Nachruf setze ich hierher als Reverenz an einen wahrhaft großherzigen Verleger, aber auch als aktuellen Hinweis auf ein vergessenes Relikt der Frühgeschichte von Widerstandsformen, die heute mindestens in den Industrienationen zum Alltag jeder Subversion gehören.

Common Little Man

Wednesday, 28. December 2011

Kaum jemand dürfte in seinen Jugendjahren einen solch übermäßigen Verschleiß von Vorbildern, Idolen, Vaterfiguren gehabt haben wie ich. Zwischen meinem sechzehnten und meinem neunzehnten Lebensjahr wechselte ich meine Hausgötter wie die Socken, meist trug ich mehrere gleichzeitig nebeneinander oder übereinander, teils in beißender Kombination. Und so innig ich jeden von ihnen liebte und verehrte, wenn ich gerade in frischer Liebe entbrannt war, so abgeschmackt und peinlich fand ich ihn bald darauf, wenn ich seine Schwächen und Begrenzungen erkannt zu haben meinte. Die Halbwertzeiten dieser Idolatrien wurden immer kürzer, meine Ansprüche an die Exzentrik meiner Vordenker immer strenger. – Wenn ich heute an diese Zeit der Unreife zurückdenke, ist Scham das vorherrschende Gefühl. Aber ein paar Namen kann ich heute noch nennen, ohne rot zu werden. Einer von ihnen ist Wilhelm Reich, von dem ich mich so unmittelbar angesprochen und durchschaut fühlte wie von kaum einem seiner Konkurrenten: „Ich sage dir, kleiner Mann: Du hast den Sinn für das Beste in dir verloren. Du hast es erstickt, und du mordest es, wo immer du es in anderen entdeckst, in deinen Kindern, deiner Frau, deinem Mann, deinem Vater und deiner Mutter. Du bist klein und willst klein bleiben, kleiner Mann.“ (Rede an den kleinen Mann. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984, S. 31.) Bei aller Bizarrerie seiner Wolkenkanonen und Orgonakkumulatoren scheint mir Reich noch heute geadelt durch den Hass und die Verfolgungen, dener er seitens seiner Gegner ausgesetzt war. Wozu diese Hartnäckigkeit, dieser Vernichtungszwang gegen einen harmlosen Irren? Und noch heute komme ich nicht darüber weg, wie klar er selbst seinen Untergang prophezeit hat, ohne darüber doch jede Hoffnung aufzugeben: „Was immer nun du mir angetan hast oder noch antun wirst, ob du mich als Genie verklärst oder als Wahnsinnigen einsperrst, ob du mich nun als deinen Retter anbetest oder als Spion hängst oder räderst, früher oder später wirst du aus Not begreifen, daß ich die Gesetze des Lebendigen entdeckte und dir das Handwerkszeug gab, dein Leben mit Willen und Ziel zu lenken, wie du bisher nur Maschinen lenken konntest.“ (Ebd., S. 124.)

Protected: Against Political Correctness

Monday, 25. July 2011

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Schröder erzählt: Funkloch

Friday, 27. May 2011

Heute war ’s endlich mal wieder so weit. Die neue Folge der Schwarzen Serie von Schröder erzählt lag vor der Tür. Wenn das passiert, lasse ich augenblicklich alles stehen und liegen, suche mir ein ruhiges Plätzchen und versinke für eine gute Stunde in den Untiefen dieser endlosen Erzählung von Neid und Stolz, Armen und Reichen, Politik und Business, Verrat und Liebesglück, Heimtücke und Heimathass, Dumpfbackigkeit und Grandezza, Geilheit und Spießertum, Neurosen und Almosen, Protzerei und Pfennigfuchserei, verkannten Genies und verbrannten Talenten, Drogensucht und Hodenkrebs – obwohl, ich weiß nicht, ob ein solches Unterkörperkarzinom überhaupt vorkommt. Mir ist aber so. Ein Sachregister gibt es ja bisher noch nicht, bloß eine Synopsis samt Personenregister der ersten 40 Hefte, erschienen vor nun auch schon wieder einem Dezennium als Treuegabe für unverdrossene Abonnenten wie mich zum Abschluss der Weißen Serie.

Jörg Schröder und Barbara Kalender sind als kreatives Paar, das kann man wohl sagen, eine seltene Ausnahmeerscheinung in der Literaturgeschichte. Es gibt ja durchaus etliche schreibende Paare, die sich gegenseitig angeregt haben mögen, oder durch Konkrrenz angespornt. Jane und Paul Bowles fallen mir ein, Elsa Triolet und Louis Aragon, Ernst Weiss und Rahel Sanzara, Emmy Hennings und Hugo Ball, aus neuerer Zeit Siri Hustvedt und Paul Auster. Aber in allen diesen Fällen bleibt das Schreiben dennoch ein monologisches Medium, führt jede Hälfte des Paares ihren eigenen Stift. Beim Tandem Schröder / Kalender ist das anders.

Ich hatte das Glück, vor vielen Jahren einmal Zeuge einer solchen Erzähl-Session zu werden. Damals setzten mir Jörg Schröder und Barbara Kalender in ihrem Haus in Herbstein-Schlechtenwege am Vogelsberg haarklein auseinander, wie es zu jener einstweiligen Verfügung des Verlags der Autoren als Sachwalter der Rechte am Werk von Rainer Werner Faßbinder gegen den März-Verlag gekommen war, weil Schröder sich erdreistete, bei einer Neuauflage des Romans von Gerhard Zwerenz, Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond, im Anhang erstmals das gleichnamige Drehbuch zu veröffentlichen, das der Autor gemeinsam mit Faßbinder geschrieben hatte. Jörg Schröder umging die EV, indem er kurzerhand einen April-April-Verlag gründete und das fertig gedruckte Buch dort mit neuem Impressum als „Einmalige Notausgabe“ erscheinen ließ. Ich hatte beide Kontrahenten, Schröder für März und Karlheinz Braun für den Verlag der Autoren, zu einer Podiumsdiskussion ins Essener Grillo-Theater eingeladen, dazu noch Gerhard Zwerenz als Moderator und zugleich Hauptbetroffenen – schließlich war es sein Buch, dem der Zugang zum Markt verwehrt worden war. Im letzten Augenblick sagte Braun ab. Ich war sehr enttäuscht – und erhielt zum Trost die Einladung nach Herbstein.

Ich weiß nicht, ob das Tape von dieser Session noch exisitiert. Bisher wurde der ziemlich interessante und in mehrfacher Hinsicht für die politische Kultur in den 1980er-Jahren aufschlussreiche Fall in Schröder erzählt noch nicht aufgearbeitet. Die Arbeitsweise, die ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte, war aber mindestens schon eine reife Vorstufe jener dialogischen Technik, die Barbara Kalender und Jörg Schröder seither zur Vollendung gebracht haben. Auf dem niedrigen Couchtisch lagen ausgebreitet wie die Karten einer Patience Zettel mit stichwortgebenden Notizen. Sie gaben eine Grundstruktur des Erzählgangs vor, ließen aber dabei noch genug Spielraum für Abschweifungen, Umwege, spontane Kurswechsel. Ich durfte Fragen stellen, wenn ich etwas nicht verstand. Und Barbara Kalender korrigierte oder ergänzte laufend, wenn sie Ereignisse anders in Erinnerung hatte oder ihre Bedeutung anders interpretierte. (Was ich naturgemäß nicht mitbekommen habe, sondern nur aus den Erzählungen der beiden kenne, ist der Vorgang der Verschriftlichung, bei dem Barbara Kalender einen sehr entscheidenden Anteil hat.)

Wenn ich heute die aktuelle Folge genieße, die Funkloch heißt, auf dem Titelblatt Friedrich den Großen mit seinem Rappen zeigt und rechts oben auf den Textseiten wie immer mit einer Vignette geschmückt ist, diesmal ein explodierendes Bömbchen im Warndreieck – dann genieße ich jede witzige Wortwahl und stelle mir dabei vor, wie das Paar den Text Satz für Satz durchgesprochen hat, immer unzufrieden, wenn er zu eingängig durch die Köpfe flutscht, nach überraschenden, hintersinnigen, doppeldeutigen Alternativen sucht und sie auch immer wieder findet. Was dabei herauskommt ist ein großes Werk der Inspiration, aber sicher ebensosehr hartnäckige Fleißarbeit. Ich lese mit Spannung, neugierig nicht nur auf die Auflösung von Preußenkönig und Funkloch, sondern auf jeden neuen Abschweif und darauf, wie sie schließlich diesmal die Kurve wieder kriegen. Manchmal stelle ich mir vor: Bekäme ich die tödliche ärztliche Prognose, noch ein halbes Jahr und dann ist Schluss, ich würde wohl das ganze Mammutwerk der (bislang) 56 Hefte noch einmal von Anfang bis Ende lesen. Aber da fällt mir gerade ein: Selbst diese Idee taucht ja irgendwo in Schröder erzählt schon auf. Ein reicher Abonnent gönnt sich auf seinem Sterbelager diesen Genuss, wenn ich mich richtig erinnere. Egal! Ich sterbe vermutlich ohnehin von jetzt auf gleich.

Verhinderter Massenmörderzeuger

Wednesday, 09. February 2011

gesternbeibernhards

Heute wäre er also achtzig geworden; aber das immerhin ist Thomas Bernhard erspart geblieben. Sein Hoffotograf Dreissinger hat fast fünf Dutzend Leute befragt, die ihn kannten, soweit er es zuließ, ihn zu kennen, und ein Buch daraus gemacht. (Was reden die Leute: 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Salzburg: Müry Salzmann, 2011.) Fünf Jahre hat er, heißt es, darauf verwendet. Das ist doch etwas übertrieben, oder?

Bernhard hat mich mal gepackt, als ich sechzehn war. Zu Ostern in Lugano las ich Frost und Verstörung. Danach war mein eigener Schreibstil auf Jahre hinaus versaut. Zwanghaft musste ich diese monotone Leier imitieren, dieses permutative Genörgele. (Da war ich übrigens in guter Gesellschaft. Der auch schon verstorbene Bernd Mattheus etwa hatte den gleichen Sound drauf, in seiner verschollenen Prosaminiatur Gespräche mit K. von 1974.) Und meinen Mitmenschen ging ich mit finsteren Andeutungen bevorstehender Gewalttaten auf den Wecker, dabei offen lassend, ob ich selbst oder der Rest der Menschheit das Opfer sein würde.

Da ich kein Theatergänger bin, habe ich den vielleicht bedeutenden Teil seines Werkes nicht mitbekommen. Aus Gehen las ich, nurmehr wenig engagiert und sozusagen bloß der Vollständigkeit halber, eine längere Passage am 1. Juni 1995 auf meiner LXIX. Soiree Vom Gehen. Endgültig passé war der Grantler für mich nach dem Erscheinen des Buches über seine Preise vor zwei Jahren. Da konnte man beim besten Willen nicht mehr übersehen, dass sein Ruhm doch zu einem guten Teil auf berechneter Selbstinszenierung gründete. Ausgestellter Größenwahn.

Es ist ja sehr verführerisch, den von den eigenen Feinden Gehassten allzu viel durchgehen zu lassen. Das gilt für meine Generation von Mao bis Mühl. Plötzlich wird man wach und erkennt, dass man Massenmörder und Kinderschänder verehrt hat! Thomas Bernhard war ein Misanthrop, deutschlich gesagt: ein Menschenhasser. Seine Bücher kaufen durften die gehassten aber. Und im Theater klatschen durften sie zur Not auch.

Immerhin zitierenswert, vielleicht als letztes Wort an diesem Ort zu Thomas Bernhard, eine kleine Anekdote aus einem älteren Buch über ihn, die anlässlich der Würdigung seines heutigen Geburtstags in der Zeitung zitiert wurde: „Thomas sagte, wenn er die Garantie hätte, einen Massenmörder zu zeugen, würde er es tun. Ich sagte, mit etwas Besserem wäre bei ihm kaum zu rechnen.“ (Karl Ignaz Hennetmair: Aus dem versiegelten Tagebuch. Weitra: publication PNo1 Bibliothek der Provinz, 1992; hier zit. nach Helmut Schödel: Ein Schlag von hinten auf die Schulter; in: SZ Nr. 32 v. 9. Februar 2011, S. 14.)

Conscience Dreaming

Sunday, 09. January 2011

jared

Wieder mal ballert ein entfesselter Egomane um sich, reißt sechs Menschen in den Tod, verletzt weitere schwer – und schweigt vorerst. Immerhin gelang es, den Amokschützen außer Gefecht zu setzen, ohne ihn dabei endgültig zum Schweigen zu bringen. Für die Angehörigen der Opfer solcher Wahnsinnstaten ist es ja oft besonders belastend, wenn die Tatmotive völlig im Dunklen bleiben. Sie wüssten gern, was den Killer geritten hat, und seien es noch so konfuse Phantasmen. Im aktuellen Fall hat der Killer, ein 22-jähriger Sunnyboy [siehe Titelbild], eine nicht ganz uninteressante Spur im Web hinterlassen.

Bei YouTube sind drei „Textfilme“ von ihm hinterlegt, weiße Schrift auf schwarzem Grund, seine „Endgültigen Gedanken“, ein Filmchen über „Mind Controll“ und eine „Einführung“, die er noch am 15. Dezember 2010 online gestellt hat. Die Zusammenfassungen dieser Texte, die unsere Zeitungs- und Magazin-Redaktionen am Wochenende auf ihren Internet-Seiten publiziert haben, sind mal wieder erbarmungswürdig hingehudelte Machwerke. So schreibt SPON: „Es ist nicht möglich, aus den drei Videobotschaften L.s so etwas wie ein geschlossenes Weltbild zu rekonstruieren. Die von bedrohlicher Musik unterlegten Texte kreisen immer um dieselben Motive: Gedankenkontrolle, Gehirnwäsche, Grammatik, Analphabetismus, Bürgerrechte und die US-Verfassung. Das alles hält weniger einen Leitgedanken als vielmehr ein diffuses Verschwörungsgefühl zusammen.“ Und die WELT weiß zu berichten: „Der College-Abbrecher verfasste wirre Anti-Regierungs-Propaganda und nannte Schulen einen Verfassungsbruch. Die Mehrheit der Bürger im Wahlkreis 8 (dem Distrikt von Giffords) seien ,Analphabeten – lächerlich‘. Am 30. Dezember notierte der spätere Amokläufer: ,Mit jeder weiteren Beschwerde wird mein Schuss nun sein Ziel finden. Die Jagd ist mein beherrschender Gedanke.‘“

Bevor nach dem Facebook-Eintrag von Jared Lee Loughner auch seine YouTube-„Testamente“ gelöscht werden, dokumentiere ich hier vorsichtshalber mal die vollständigen Texte:

Jarred Lee Loughner My Final Thoughts

Loughner hat überdies eine Liste seiner Lieblingsbücher veröffentlicht. Immerhin mal ein belesener Amokschütze! Aber aus unseren Medien erfährt man bloß, dass Hitlers Mein Kampf und das Kommunistische Manifest auf dieser Liste stehen. Hier der Rest der Liste für alle, die noch immer der antiquierten Auffassung anhängen, dass zu einer qualifizierten Meinungsbildung eine halbwegs vollständige Materialgrundlage gehört:

George Orwell: Die Farm der Tiere; Aldous Huxley: Schöne neue Welt; Lyman Frank Baum: Der Zauberer von Oz; Äsop: Die Fabeln; Homer: Die Odyssee; Lewis Carroll: Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln; Ray Bradbury: Fahrenheit 451; James Matthew Barrie: Peter Pan; Harper Lee: Wer die Nachtigall stört; Ayn Rand: Vom Leben unbesiegt; Norton Juster: Weckerhund, Wedermann und Schlafittchen; Ken Kesey: Einer flog über das Kuckucksnest; Charles Bukowski: Ausgeträumt; Karl Marx / Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest; Hermann Hesse: Siddhartha; Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer; Jonathan Swift: Gullivers Reisen; Adolf Hitler: Mein Kampf; Platon: Der Staat und Menon. [Nachsatz vom 10. Janaur 2011: Heute schreibt SPON über Loughner: „[…] er scheint überhaupt keine klaren politischen Überzeugungen zu haben. Zu seinen Lieblingsbüchern zählte er das Kommunistische Manifest, Hitlers Mein Kampf und Peter Pan, ein wirres Sammelsurium.“ Als ob man aus einer Liste von 21 Lieblingsbüchern auf die politischen Überzeugungen des Lesers schließen könnte! Und wie der anonyme Verfasser dieses Schnellschuss-Artikels darauf kommt, es handele sich bei der Zusammenstellung um ein „wirres Sammelsurium“, das bleibt sein Geheimnis. Vielmehr ist sehr wohl ein gemeinsamer Nenner zu erkennen – aber nur für jemanden, der den größten Teil der genannten Bücher kennt.]

Philip K. Dick (I)

Friday, 07. January 2011

einkleinesloechlein

Auf dieses Leseabenteuer habe ich mich lange gefreut und mich deshalb so gründlich darauf vorbereitet wie lange auf keines mehr. Nahezu alles, was von Philip K. Dick seit Anfang der 1960er-Jahre in deutscher Übersetzung erschienen ist, alle Erzählungen und alle Romane und noch manches an autobiographischem Kleinkram steht nun geriffbereit neben meiner Chaiselongue in einem freistehenden Bücherbord aus poliertem Shishamholz mit Elfenbeinintarsien.

Am Neujahrstag habe ich mit der Lektüre der Erzählungen begonnen, wie sie in der zehnbändigen Gesamtausgabe vorliegen, die der Haffmans-Verlag verdienstvollerweise in den Jahren 1993 bis 2001 herausgebracht hat. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mir täglich nur eine dieser 118 Geschichten zu gönnen, aber auch hier hat wieder einmal mein Suchtcharakter das Regiment an sich gerissen und alle meine guten Vorsätze überrannt, sodass ich innerhalb von nur sechs Tagen die ersten 44 Storys mit Haut und Haar verschlang.

Mein erster Eindruck übertrifft meine eigentlich schon kühnen Erwartungen noch um ein Mehrfaches!

Nicht allein, dass Dick es versteht, den Leser mit den ersten vier oder fünf Sätzen vom Fleck weg am Schlafittchen zu packen und bis zur letzten Zeile nicht mehr loszulassen, macht sein Genie aus. Und auch sein offenbar unerschöpflicher Ideenreichtum ist nicht sein wertvollstes Vermögen, obzwar es ihm immerhin erlaubt, manch grandiosen Einfall in einem Stückchen Kurzprosa zu verschleudern, aus dem andere Schriftsteller ganze Romanzyklen zimmern würden. Noch von manch weiteren Begabungen wird hier ausführlich zu reden sein – wie von seinen atemberaubenden prophetischen Talenten, seiner schlafwandlerischen Intuition bei der Verfertigung glaubwürdiger Dialoge, der klugen Ökonomie beim Einsatz seiner narrativen Mittel –, die aber doch alle nicht die Krone sind, die ihn zu einem einsamen König außer Konkurrenz macht.

Was ich wahrhaft vielbelesener Bücherfresser noch bei keinem Autor gleich welcher Zeit und Sprache so gefunden habe, das ist die chamäleonhafte Fähigkeit, sich völlig verschiedene epische Witterungen, ach was: Klimata anzuverwandeln. Philip K. Dick bringt es fertig, im Abstand weniger Tage solch eine abgrundtief hoffnungslose apokalyptische Vision wie Breakfast at Twilight zu schreiben und gleich darauf eine Geschichte wie A Present for Pat, bei der ich seit langem wieder einmal Tränen gelacht habe. Es fällt mir schwer zu glauben, dass all diese so unterschiedlichen Erzählungen aus der Feder eines einzigen Menschen stammen. Wenn ich nicht schon aus der großartigen Dick-Biographie von Lawrence Sutin wüsste, dass dieser Autor ein Acidhead und Speedy Gonzales vor dem Herrn war, ich wäre auch so drauf gekommen, denn für die Entwicklung solch einer multiplen Schriftsteller-Persönlichkeit gibt es keine andere Erklärung. Es sei denn …

Protected: Förderpreis für Éclaireure

Saturday, 11. December 2010

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Einmal sterben reicht

Saturday, 10. April 2010

manfeyn

In den letzten Tagen habe ich vor dem Einschlafen ein äußerst unterhaltsames, vergnügliches, aufmunterndes Buch gelesen – das ich allerdings als Betthupferl nicht weiterempfehlen kann, denn es treibt einem die Müdigkeit aus. Sollte man zudem wie ich die Schlafstatt noch mit einer Bettgenossin teilen, so macht man sich durch gelegentliche unbezwingbare Lachanfälle unbeliebt. Die Rede ist von einer Sammlung autobiographischer Geschichten aus der Feder des US-amerikanischen Physikers Richard P. Feynman (1918-1988), die deutsch unter dem bezeichnenden Titel „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!“ erschienen ist. (A. d. Am. v. Hans-Joachim Metzger. München: Piper, 1987.)

Dabei hat Feynmans Erzählweise etwas an sich, was mich sonst auf die Palme bringen kann. Sie laufen nämlich in aller Regel darauf hinaus, dass uns Lesern keine andere Wahl bleibt, als Feynman unbedingt für den blitzgescheitesten, hinterlistigsten, witzigsten, unbeugsamsten und mutigsten Kerl aller Länder und Zeiten zu halten – kurzum für eins jener einsamen Genies, denen nur einer das Wasser reichen kann, nämlich ebenderselbe, und deren es in der besseren Gesellschaft des 20. Jahrhunderts mehr gibt als Einzelsocken in der Großwäscherei.

Tatsächlich war ich ungefähr bei Seite 80 nahe daran, das Buch wegen dieser nur notdürftig mit etwas Understatement gemilderten Posiererei aus der Hand zu legen. Doch dann beschloss ich, an Feynmans offenkundige Freude an der Selbstdarstellung für die restlichen 380 Seiten einfach keinen Anstoß mehr zu nehmen und mich ganz auf das zu konzentrieren, was er sonst noch, nämlich über den Rest der Welt zu sagen hat. Diesen Entschluss habe ich nicht bereut, denn er hat, was das betrifft, eine ganze Menge zu sagen. (Gegen Ende des Buches scheinen ihm übrigens selbst Gewissensbisse wegen seiner Protzerei gekommen zu sein, denn da treibt er das Understatement auf die Spitze, indem er zum Beispiel steif und fest behautet, dass der 1965 an ihn verliehene Nobelpreis für Physik ihm nur Ärger und Verdruss gebracht habe.)

Wenn ich die geistige Grundhaltung von Feynman auf einen einzigen Begriff bringen sollte, so würde ich sagen, er ist wo er geht und steht unorthodox. Wenn etwas stets und zu allen Zeiten auf diese Weise gemacht worden ist, und sei es mit den allerschönsten Erfolgen, so ist es für Feynman eine unabweisbare Herausforderung, es gerade auf eine völlig andere, womöglich entgegengesetzte Weise zu tun. Im schlimmsten Fall stellt sich heraus, dass es so nicht klappt, aber dann hat Feynman doch immer noch eine wertvolle Erfahrung gemacht. Wenn alle Welt behauptet, dass sich ein Tresor, der mit einer sechsstelligen Zahlenkombination verschlossen ist, nie und nimmer in einer halben Stunde öffnen lässt, dann führt Feynman einem staunenden Publikum ein ums andere Mal vor, dass er solche Tresore im Handumdrehen öffnet. (Wohlgemerkt handelte es sich dabei nicht um Geldschränke in irgendwelchen Banken, gefüllt mit schnödem Gold oder Geld, sondern um die Tresore in Los Alamos, die die Pläne für die ersten Atombomben enthielten, an deren Bau er mitwirkte.) Wenn er den Psychiatern der Musterungskommission Rede und Antwort stehen muss, um seine Tauglichkeit für die US-Army zu prüfen, antwortet er wahrheitsgemäß auf jede einzelne Frage, mit dem Ergebnis, dass er als „unnormal“ ausgesondert wird, und rekonstruiert dieses „Verhör“ zu unserer großen Freude Wort für Wort, damit wir nie vergessen, welch fragwürdige Größe die „psychische Normalität“ nach den Kategorien der Psychiatrie ist. Wenn er zu einem Kongress nach Japan eingeladen wird, verlässt er sofort die ausgetretenen Pfade des Wissenschaftstourismus und logiert gegen alle Widerstände nicht im Tagungshotel, sondern in einem Hotel im japanischen Stil, wo er nebenbei herausfindet, warum er bis dahin keinen Fisch gemocht hat und ihn nun ganz köstlich findet. Wenn alle Stammgäste einer Bar mit Oben-ohne-Tänzerinnen sich weigern, für den in Bedrängnis geratenen Besitzer einzutreten, weil sie um ihren guten Leumund fürchten oder sich einfach schämen, springt Feynman in die Bresche und kann nichts dabei finden, Nackttänzerinnen zu bewundern. Wenn Feynman in ein Gremium berufen wird, das die Freigabe neuer Mathematiklehrbücher zu verantworten hat, dann liest Feynman im Unterschied zu seinen Kollegen alle ihm vorgelegten Bücher gründlich von der ersten bis zur letzten Seite, findet sie überaus verbesserungsbedürftig und sorgt damit für einen Eklat. Und damit habe ich noch nichts über den Bongo-Trommler, den Aktzeichner, den Halluzinationsforscher, den Entzifferer eines Maya-Buches und über eine ganze Reihe weiterer Erscheinungsformen von Richard P. Feynman gesagt.

Da hat offenbar jemand in vollen Zügen ein sehr vielseitiges und unterhaltsames Leben gelebt. Und dazu passt auch, was Feynman kurz vor seinem Tod zum Besten gab: “I’d hate to die twice. It’s so boring.”

Protected: Monte Verità

Thursday, 08. April 2010

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Ich werde immer daran denken

Wednesday, 31. March 2010

timmulrichs

Gestern noch, bei einem weiteren Besuch im Folkwang-Museum, fiel mein Blick vom neuen Eingangsportal über die Alfredstraße auf die zehn paarweise angeordneten Säulen in der kleinen Grünanlage neben dem Glückaufaus, deren Profile im schrägen Anschnitt gleich viele Buchstaben erkennen lassen: vier U, vier M, ein R, ein A. Diese unscheinbare Skulptur steht hier, fast versteckt oder immerhin doch gut getarnt, seit bald zwanzig Jahren. Hätte ich nicht aus verschiedenen Gründen ein besonderes Verhältnis zu ihr und ihrem Schöpfer, dann hätte ich sie auch gestern kaum wahrgenommen. Und selbst mir fiel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal auf, dass die Buchstabenflächen auf den sechs kleineren Säulen heller sind als die auf den hohen. Aus der Distanz von mehr als hundert Metern glaubte ich zunächst, dass dieser Eindruck bloß durch einen zufälligen Schattenfall hervorgerufen worden sei. Oder ist dieser farbliche Unterschied vielmehr auf Witterungseinflüsse zurückzuführen?

Gerade lese ich zufällig in der Zeitung, dass Timm Ulrichs, von dem diese Umraum betitelte Skulptur stammt, heute seinen 70. Geburtstag feiert. Meine erste persönliche Begegnung mit diesem Künstler hätte um ein Haar am Nikolaustag 1972 stattgefunden, denn da trat Ulrichs im großen Saal des Folkwang-Museums auf, im Rahmen der legendären Veranstaltungsreihe Selbstdarstellung, die der damalige Geschäftsführer des Kunstrings Folkwang ins Leben gerufen hatte. Mich hatte wohl wieder einmal ein Migräneanfall aus der Bahn geworfen – und so entging mir dieses Ereignis, von dem mir aber Freunde berichteten. Was ich verpasst hatte, wurde mir spätestens klar, als ich im Jahr darauf den Sammelband mit den Protokollen dieser Reihe in Händen hielt. (Selbstdarstellung. Künstler über sich. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath. Düsseldorf, Droste, 1973; über Timm Ulrichs S. 199-222.)

An Timm Ulrichs bewunderte ich von Anfang an, bewundere ich bis heute dreierlei: erstens seinen Ideenreichtum; zweitens seine Sorgfalt und Konsequenz bei der Verwirklichung; und drittens seinen speziellen, in seinen besten Kunststücken geradezu ontologischen Humor.

Dass er zudem ein überaus kämpferischer, für seine Überzeugungen mit allen Kräften eintretender Haudegen sein kann, das erfuhr ich anlässlich einer Jurysitzung, die ich als Zaungast verfolgen durfte. Beinahe wäre es zu dieser persönlichen Begegnung, 27 Jahre nach der ersten verpassten Gelegenheit, auch wieder nicht gekommen, denn diesmal war Ulrichs krank, lief mit tropfender Nase die präsentierten Bewerbermappen ab und schnäuzte sich alle paar Minuten – nein, nicht in Taschentücher, sondern in Klopapier, das er von einer aus den Toiletten des Hauses stiebitzten Rolle abriss.

Bei der großen Veranstaltung aus Anlass von Werner Ruhnaus 85. Geburtstag im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier traf ich Timm Ulrichs dann am 14. April 2007 wieder, dort entstand auch das Titelfoto. Mit Ruhnau hat Ulrichs ja eins gemeinsam: Beide wollen in der Künstler-Nekropole Kassel beigesetzt werden. Für Timm Ulrichs war jede humane Lebensäußerung, vom Haarwuchs bis zur Sonnenbräune, Inspirationsquelle seiner künstlerischen Tätigkeit, warum sollte also sein Tod da eine Ausnahme machen? Ich frage mich allerdings, ob der Gedenkstein, den er bereits 1969 für seine Grabstelle angefertigt hat, durch die neueren Bestattungspläne seine „Gültigkeit“ verliert? Er trägt die Aufschrift: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“ Das Spiel mit Paradoxien war schon immer eins der Grundmotive der vergänglichen Kunst von Timm Ulrichs. Und ich werde darum gern immer daran denken, ihn zu vergessen. Aber noch lebt er ja, und hoffentlich lange, denn ich habe zurzeit verdammt viel anderes, das ich mit aller Gewalt vergessen muss.

Protected: „Gesundheit!“

Wednesday, 03. March 2010

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Schweiger & Schwätzer

Tuesday, 16. February 2010

rothbristol

Neben der sechsbändigen Joseph-Roth-Werkausgabe, der Ausgabe seiner Briefe von Hermann Kesten, den Roth-Biographien von David Bronsen und Wilhelm von Sternberg und dem prachtvollen Bildband von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos (Joseph Roth. Leben und Wek in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994), den ich immer wieder von vorn bis hinten durchblättern muss, allein schon deshalb, weil ein Namenregister fehlt, müssen in diesen Tagen einer neu erwachten Roth-Begeisterung auch die Erinnerungen seines Freundes Soma Morgenstern (1890-1976) stets zur Hand sein, die mich wie schon bei der ersten Lektüre vor neun Jahren auch jetzt wieder mit mancher überaus prägnanten Anekdote beglücken (Joseph Roths Flucht und Ende. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1998).

Soeben stolpere ich dort über die Porträts zweier sehr gegensätzlicher Männer der Feder, die nebeneinander zu halten gerade deshalb reizvoll sein könnte. Mit dem ersten macht uns Morgenstern in der Redaktion der Frankfurter Zeitung bekannt, wo er 1927 als Nachfolger von Heinrich Hauser einen festen Bureau-Posten bezogen hatte. Seine Nachbarn waren dort der berühmte Siegfried Kracauer – und eben unser erster Charakterkopf, der heute vergessene Rudolf Geck (1868-1936), welcher intern nur „der alte Geck“ genannt wurde und von 1907 bis 1924 das Amt des Feuilletonchefs bekleidete. In seiner Einarbeitungszeit spürt Morgenstern, dass ihm Geck, der das Geschäft wie im Schlaf beherrscht, bei der Erledigung der täglichen Post einiges an Routine voraus hat. Während sich der Neuling noch mit der Lektüre herumplagt, steht „der alte Geck“ auf ein Pläuschchen vor seinem Schreibtisch und lenkt ihn von der Arbeit ab. Morgenstern leidet still, denn es steht ihm nicht zu, seinen Chef aus dem Büro zu weisen. Der ergreift schließlich das Wort zu folgender Grundsatzerklärung: „Lieber Herr Dr. Morgenstern, ich sehe mit Freuden, wie sie von Woche zu Woche schneller mit dem Posteinlauf fertig werden, obwohl ich ihren noch schnelleren Fortschritt, so gut ich es zuwege bringen konnte, verhindert habe. Aber ich bin, wie sie vielleicht schon gemerkt haben, ein unentwegter Schwätzer. Das war ich schon in meinen jüngsten Jahren. Ich habe auch dem Umstand, der stadtbekannt ist, schon Rechnung getragen. Als alter Schwätzer habe ich dafür gesorgt, daß alle Welt das erfahre. Ich habe eine Grabinschrift für mich entworfen und in sauberer Handschrift aufgeschrieben: Hier ruht Geck, | Ein Dichter. | Geh weg, | Sonst spricht er.“ (Morgenstern, a. a. O., S. 90 f.)

Während Joseph Roth den „alten Geck“ früher kennengelernt hatte als sein Freund, machte er die Bekanntschaft eines geradezu gegensätzlichen Unikums jener Zeit, aber eines ebenfalls heute nahezu Verschollenen, erst durch Morgensterns Vermittlung: die des hebräischen Lyrikers Abraham Sonne (1883-1950). In seinen Erinnerungen spannt Soma Morgenstern den Leser auf die Folter, wenn er den Namen zunächst gesprächsweise im Herbst 1937 in Wien aufscheinen lässt. Im dortigen Hotel Bristol [Titelbild] erörtert er mit Joseph Roth und Stefan Zweig die Appeasement-Politik von Arthur Neville Chamberlain. Morgenstern beruft sich auf einen Freund in Wien, der ein paar Jahre als Sekretär von Dr. Chaim Weizmann in London gelebt habe und viel von der Großpolitik Englands verstehe. Dieser Dr. Sonne habe gesagt, Chamberlain werde Europa Stück um Stück an Hitler ausliefern (ebd., S. 144). Bei einer späteren Gelegenheit streiten Zweig, Roth und Morgenstern über die Frage, ob England stillhalten werde, sollte Hitler den Anschluss Österreichs wagen. Dr. Sonne, der mittlerweile am Jüdischen Pädagogischen Institut lehre, habe dies verneint, so Morgenstern. „,Wer ist dieser Sonne, von dem ihr schon wieder redet?‘ fragte Roth. – ,Er war einmal ein hebräischer Dichter, hat aber das Dichten schon im Weltkrieg aufgegeben. Er stammt aus Przemyśl, Galizien.‘“ (Ebd., S. 162.) Auch Morgensterns Buch verzichtet auf ein Namenregister, weshalb man etwas stöbern, blättern und suchen muss, bis man endlich mit Dr. Abraham Sonne persönliche Bekanntschaft schließen darf. Dort erzählt er seinen Besuchern, dem nun schon gut eingeführten Trio, eine Geschichte zu der Frage, ob es außer Stefan Zweig auf der Welt noch einen zweiten Menschen gebe, der seinen Pazifismus so weit treibe, sich zu weigern ein Gewehr auch nur zu berühren. Man lese diese Geschichte selbst bei Morgenstern nach auf S. 182 f., sie hat mit dem eigentlichen Gegenstand dieses Beitrags nichts zu tun.

Dieser „eigentliche Gegenstand“ könnte als das Verhältnis von extremer Gesprächigkeit und extremer Verschwiegenheit identifiziert werden. Vielleicht sind dies ja nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Irre ich mich, oder erwirbt man nicht den Ruf eines Weisen auf sowohl kürzerem als auch bequemerem Wege, wenn man möglichst wenig von sich gibt? Und zieht man sich nicht als Vielreder und Vielschreiber sehr leicht den Vorwurf zu, ein Großmaul, eine Plaudertasche, ein Quatschkopf zu sein? Dies schien mir immer schon eine große Ungerechtigkeit und zudem ein albernes Missverständnis, wie übrigens auch das vielleicht blödeste aller Sprichworte: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich bin im Übrigen ebenso weit davon entfernt, mich mit Sonne vergleichen zu wollen, wie mit der Schwatzhaftigkeit eines Geck konkurrieren zu können. Wenn ich etwas mit ihnen teile, dann das Schicksal, nur ganz kurz und blass aus meinem Inkognito aufzutauchen – um schon wieder so gut wie weg zu sein.

Dr. Abraham Sonne, den man bei Wikipedia unter seinem hebräischen Namen Avraham Ben Yitzhak findet, ist einem größeren Leserkreis durch jenes Sonne überschriebene Kapitel im dritten Band von Elias Canettis großer Autobiographie, Das Augenspiel, bekannt geworden. (Elias Canetti: Das autobiographische Werk. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, o. J. [2001], S. 801-818.) Die wenigen Gedichte aus den Jahren 1903 bis 1910, die von Sonne auf uns gekommen sind, hat Wayne Myers aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt. Er nennt Avraham Ben Yitzhak “the great poet of silence”. Und Naomi Dison Kaplan kann in ihrem Essay The Silence of Avraham Ben Yitzhak sein literarisches Gesamtwerk der Nachkriegszeit in einem einzigen Satz abhandeln: “From about the First World War he maintained a self-imposed literary silence and published nothing except a few anonymous articles in the Viennese Jewish press, and an essay on the Yiddish writer, Mendele Mocher Sefarim, which appeared in Der Jude.

Roth im Revier (II)

Sunday, 14. February 2010

kaiserhof

In der bahnbrechenden Roth-Biographie des Amerikaners David Bronsen heißt es über die erste Revier-Stippvisite von Joseph Roth: „Im Frühjahr 1926, auf der Rückreise von einer Redaktionskonferenz in Frankfurt, machte Roth einen Abstecher nach dem Ruhrgebiet, ehe er seine Reise nach Paris fortsetzte. Die Reportagen, die daraus entstanden, stehen in krassem Gegensatz zu denen über Südfrankreich, dessen heilsamer Einfluß ihn nicht losließ. […] Das Temperament des Berichterstatters nahm vieles mit Unwillen auf. ,Dunst, Rauch, Staub‘ stoßen ihn ab. Nachdem er den organisch gewachsenen französischen Midi gepriesen hat, klagt er über die ,Enge‘ und ,die Kälte‘ des Ruhrgebietes, die ihm zur Qual werden. Er reibt sich an der Grobheit des Arbeiterlebens und der primitiven Anspruchslosigkeit der sozialen und kulturellen Einrichtungen. […] In Frankreich feierte er den Sieg der Natur. Hier schildert er den trostlosen Sieg über die Natur.“ (David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1974, S. 277 f.) In der Frankfurter Zeitung, bei der Roth damals unter Vertrag stand, erscheinen die Artikel Tübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet und Der Rauch verbindet Städte (am 9. und 18. März 1926; in: Werke 2, S. 544-549) sowie, mit etwas Verzögerung, weshalb man es in der streng chronologisch geordneten Werkausgabe leicht übersieht, ein so luzides wie zynisches Resümee seines Aufenthaltes an der Ruhr unter dem Titel Privatleben des Arbeiters (am 10. April 1926; ebd., S. 552-556). Diesem trostlosen Fazit hat die Zeitung eine „redaktionelle Bemerkung“ vorangestellt, die Bronsen zitiert: „Wir bringen diese Eindrücke von einer Reise durch das Ruhrgebiet, Eindrücke aus dem Alltag des Arbeiters, die uns um so wertvoller erscheinen, als sie unabhängig von jeder programmatischen Forderung entstanden sind. Es versteht sich von selber, daß mit den folgenden Betrachtungen prinzipielle Fragen nur aufgeworfen, aber nicht grundsätzlich beantwortet sein sollen. Es sind Impressionen, gesehen durch ein Temperament.“ (Bronsen, a. a. O., S. 278.)

Bei seinem Aufenthalt in Essen logierte Joseph Roth im Hotel Kaiserhof [Titelbild], wie wir dem Absendevermerk eines auf den 11. Februar 1926 datierten Briefes an Bernhard von Brentano entnehmen können. Darin klagt Roth: „Ich reise jetzt einige Wochen herum. Aber ohne Geld. Es ist furchtbar, so zu fahren, ich bin verzweifelt, kann meine kostspieligen Bedürfnisse nicht aufgeben und die Zeitung spart und spart erbärmlich. Es macht mir keine Freude mehr, man hat mir nicht einmal einen Vorschuß für März gegeben, ich habe keinen Vertrag, ich bin ganz trostlos.“ (Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Hrsg. u. eingel. v. Hermann Kesten. Köln / Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1970, S. 78.) Das Verhältnis zu seinem langjährigen Auftraggeber, der Frankfurter Zeitung, ist schon seit einer Weile gespannt und wird es bleiben. Im Sommer 1930 löst Roth das Verhältnis und schließt einen Vertrag mit den Münchner Neuesten Nachrichten. Auch in anderen Zeitungen erscheinen nun vermehrt seine Feuilletons.

Ab Anfang Mai 1931 bringt die Kölnische Zeitung eine längere Folge von Reiseimpressionen, aus Magdeburg, Leipzig und schließlich erneut aus dem Ruhrgebiet, beginnend in Duisburg mit Der Hafen von Ruhrort, In andern Kneipen und Gustav (24. Mai und 7. Juni; in: Werke 3, S. 320-329). Darauf folgen die Ankunft in Essen, Abend in Essen, Die Bar erster und zweiter Klasse, Die andere Bar, Der Morgen aber, Ein Ingenieur mit Namen K. und Ein Arbeiter mit Namen M. (7., 14. u. 21. Juni 1926; ebd., S. 330-346).

Wilhelm von Sternburg hat in seiner jüngst erschienen Biographie Zweifel angemeldet, ob Joseph Roth in der ersten Jahreshälfte 1931 tatsächlich eine zweite Reise ins Ruhrgebiet gemacht hat: „Am 3. Mai 1931 erscheint in der Kölnischen Zeitung der erste von 15 Artikeln, in denen er von einer Reise berichtet, die ihn nach Magdeburg, Leipzig und in das Ruhrgebiet geführt haben soll, und in denen er feuilletonistisch über Gustav den Kneipenwirt oder einen Ausflug am Sonntag plaudert. Die Daten der überlieferten Briefe geben keinerlei Ansatzpunkte, dass Roth diese Reise gemacht hat. Vielleicht schrieb er sie alle im Pariser Hotelzimmer.“ (Wilhelm von Sternberg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 393.) Ich habe eine andere Vermutung. Am 7. April 1926 hatte der Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, Benno Reifenberg (1892-1970), an Joseph Roth in Paris geschrieben: „Ich habe Ihnen für vielerlei zu danken […], für Ihre weitere Arbeit aus dem Ruhrgebiet Persönliches Leben des Arbeiters [sic] und jetzt für Ihren Bericht von den Schlachtfeldern […].“ (Gemeint ist Roths Bericht St. Quentin, Perronne, die Maisonette, erschienen in der Frankfurter Zeitung v. 2. Mai 1926.) Nach diesen einleitenden Komplimenten kommt Reifenberg bald zum eigentlichen Anlass seines Briefes: „Lieber Herr Roth, ich muß wohl nicht sagen, daß Ihr Ausscheiden aus unserer Zeitung für mich den schwersten Schlag bedeutet, den ich in diesen Anfangsjahren erleben könnte. Ich habe einfach auf Sie gerechnet. Ich brauche die Mitarbeit von Menschen meiner Generation, mit denen ich mich ohne weiteres verstehe, mit denen ich Ideen teile, die uns ohne weiteres selbstverständlich sind. Es wäre nach meiner Überzeugung eine verlorene Schlacht, wenn Ihr Name plötzlich in Berliner Blättern auftauchen müßte. Ich habe das deutlich dem Verlag mitgeteilt und nun bitte ich mir zu glauben, daß der Verlag nicht sehr viel anders als ich denkt und daß ihm sehr darum zu tun ist, mit Ihnen ein gutes Einvernehmen zu pflegen.“ (Briefe 1911-1939, a. a. O., S. 83 f.) Dank dieser Intervention konnte ein vollkommener Bruch mit der Frankfurter Zeitung vorläufig noch verhindert werden. Es kann aber gut sein, dass durch diese vorübergehende Verstimmung die Veröffentlichung weiterer, bereits vorbereiteter oder gar ausformulierter Ruhrgebiets-Artikel ins Stocken geriet und dann ganz unterblieb. Schließlich hatte ja ihr Verfasser nicht einmal einen Vertrag, wie er im oben zitierten Brief aus dem Essener Kaiserhof beklagte. Fünf Jahre später kam der viel beschäftigte Journalist dann auf die Idee, diese liegengebliebenen Blätter der Kölnischen Zeitung als brandneu zu verkaufen. Tatsächlich enthalten alle zehn Artikel keinen einzigen Hinweis, der eine eindeutige Datierung zuließe. Klang nicht übrigens auch die oben zitierte „redaktionelle Vorbemerkung“ von 1926 eher nach der Ankündigung einer längeren Folge von Artikeln? Dass daraufhin nur drei Texte erschienen, musste die Erwartungen enttäuschen, die durch die Ankündigung geweckt worden waren.

Ich vermute, dass die insgesamt 13 Revier-Feuilletons von Joseph Roth zusammengehören, nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich. Sollten gründlichere Recherchen zu diesem Gegenstand und in diese Richtung meine Annahme bestätigen, dann wäre es vorstellbar und wünschenswert, diese Kleine Reise ins Revier von Joseph Roth aus dem Frühjahr 1926 als kommentierten Separatdruck neu herauszubringen.

Roth im Revier (I)

Thursday, 11. February 2010

burgplatzessen

Gerade erweist sich wieder einmal, dass das Ruhrgebiet bei aller blühenden Pracht diverser bildender und darstellender Künste literarisch nahezu nichts zu bieten hat. Im über 200 Seiten starken Programmheft für das erste Halbjahr der Kulturhauptstadt Europas entfallen auf die Sparte „Sprache erfahren“ gerade einmal sechs, dazu noch mühsam gefüllte Seiten (vgl. Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Buch zwei. Essen: RUHR.2010 GmbH, 2010, S. 116-121). Dieses unfreiwillige Selbstbekenntnis zum sekundären Analphabetismus einer Fünfmillionen-Metropole werde ich vielleicht gelegentlich, wenn ich in soliderer Stimmung bin, genauer unter die Lupe nehmen.

Hätte man ehrlich sein wollen, dann wäre noch am ehesten ein Programmschwerpunkt mit jenen schreibenden Revierflüchtlingen zu bestreiten gewesen, die bis auf ihre Abstammung und damit immerhin ihre früheste Prägung kaum etwas mit der Region verbindet, also mit Nachkriegsautoren wie Helmut Salzinger, Nicolas Born, Brigitte Kronauer oder Ralf Rothmann. Aber mit welchen Inhalten hätte man eine solche Revue der Fortgegangenen füllen können? Mit der Ausnahme von Rothmanns Frühwerk hat diese Herkunft, mit der man nirgends Eindruck schinden kann, kaum einen Niederschlag bei ihnen gefunden. Und auch über die Gründe ihres Weggehens haben sie, soweit ich weiß, nichts Nennenswertes zu Papier gebracht, vermutlich einfach deshalb, weil es jedem Außenstehenden unmittelbar verständlich ist und keiner besonderen Erklärung bedarf, wenn man als kulturell interessierter, weltoffener, sensibler und erfahrungshungriger junger Schriftsteller aus dieser Gegend nur fliehen kann. Und den Zurückgebliebenen muss man es nicht erklären, weil die es gar nicht merken, nicht wissen wollen und nicht verstehen würden. Niemand hat ja die Fortgegangenen je vermisst.

Wenn man sich die wenigen Sammlungen literarischer Zeugnisse aus dem bzw. über das Ruhrgebiet anschaut, dann fällt auf, dass es sich ganz überwiegend um nüchterne Berichte von eilig Durchreisenden handelt, so etwa in einer Textsammlung über meine Heimatstadt, Essen in alten und neuen Reisebeschreibungen (ausgew. v. Klaus Rosing. Düsseldorf: Droste, 1989). Indirekt spiegelt sich dies auch im Titel der von Dirk Hallenberger liebevoll zusammengetragenen Reportagesammlung über das Ruhrgebiet wider: Heimspiele und Stippvisiten. Schaut man sich die Auswahl genauer an, dann bestätigt sich schnell die Vermutung, dass die „Stippvisiten“ deutlich in der Überzahl sind, während mit „Heimspiele“ wohl bloß der lokalen Affinität zum Fußball eine kleine Reverenz erwiesen werden soll. Gerade aus dieser Beobachtung hätte ja ein in Sachen Literatur etwas ambitionierteres Team im Kulturhauptstadt-Büro den ispirierenden Funken schlagen können. Schließlich sind die touristischen Heerscharen, die das Großevent Kulturhauptstadt an die Ruhr locken soll, ebenfalls nur auf Stippvisite.

Und was hatten sie so zu berichtet, die großen Durchreisenden der 1920er-Jahre? – Alfred Kerr: „Die Einwohner sind nicht von überflüssiger Heiterkeit. Machen Wege nicht zum Spaß – sondern anscheinend immer zu irgendeinem sachlichen Ziel. (So sieht es für den hereinschneienden Gast aus.)“ (Es sei wie es wolle, es war doch so schön! Berlin: S. Fischer, 1928; hier zit. nach Rosing, a. a. O., S. 126.) – Egon Erwin Kisch: „Bei Tag sieht man Menschen, die von der Macht des Gußstahls zertrümmert und vom Atem der Kohle vergiftet sind.“ (Der rasende Reporter. Berlin: E. Reiß, 1925; hier zit. nach Hallenberger, a. a. O., S. 21.) – Und deutlicher als alle anderen Joseph Roth: „Es ist […] nicht anzunehmen, daß schon viele Vergnügungsreisende den Essener Bahnhof verlassen haben, um ihre Laune zu heben oder ihre Ferien zu würzen.“ (Ankunft in Essen; in: Kölnische Zeitung v. 7. Juni 1931; hier zit. nach Werke 3: Das journalistische Werk 1929-1939. Hrsg. u. m. e. Nachw. v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1991, S. 330.)

Und damit komme ich zur Klimax meiner heutigen Reviermelancholie – und zum mich selbst überraschenden Umschlag aus der Tristesse in die Euphorie. So viele Jahre habe ich nach einem Epiker gesucht, der dieser nichtigen Landschaft, dieser ungestalten Stadtwüste, dieser profillosen Gemeinschaft und dieser unkultivierten Ödnis des Ruhrgebiets, wie es im vorigen Jahrhundert war, sprachlich gerecht geworden wäre. Noch vor ein paar Tagen hätte ich im Brustton der Überzeugung behauptet, dass es diesen Schreiber nicht gab. Jetzt bin ich eines Besseren belehrt. Joseph Roth hat, wenn ich es richtig übersehe, das Revier zweimal besucht, Anfang 1926 und fünf Jahre später, im Frühling 1931. Seine Eindrücke von den beiden „Stippvisiten“ hat er in zehn Feuilleton-Artikeln für die Frankfurter Zeitung bzw. die Kölnische Zeitung festgehalten (vgl. Joseph Roth: Werke 2, S. 544-549 u. Werke 3, S. 320-346). Und diese auf den ersten Blick unscheinbaren und weitgehend unbekannten „Reiseimpressionen“ – welch harmloses Wort! – sind nun wahrlich auf den zweiten das Kraftvollste und Ätzendste, das Bohrendste und Bitterste, das Hell- und Weitsichtigste, was ich je über meine Heimat gelesen habe. Von diesem freudigen Schreck muss ich mich erst einmal erholen. Ich hätte eine szenische Lesung aus diesen Texten arrangieren können, die an allen 365 Tagen des Kulturhauptstadtjahres an einem anderen Revierort zur Aufführung hätte kommen können. Das wäre was gewesen. Aber, ach! Zu spät …

Hilde Stieler (I)

Tuesday, 29. December 2009

liegestuhl

Allzu oft kommt es nicht mehr vor, gut sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dass die komplette Autobiographie eines Zeitzeugen aus der kulturellen Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Manuskript entdeckt wird, aus einem entlegenen Archiv oder Nachlass plötzlich ans Licht kommt. Zudem wird im Einzelfall zu prüfen sein, ob das dort Mitgeteilte verlässlich den sonst bekannten Tatsachen entspricht – und ob es dem gesicherten Wissen dieser Epoche neue, wesentliche Einsichten hinzuzufügen vermag. In der Welt meldete der Literaturwissenschaftler Manfred Flügge vor zweieinhalb Jahren einen solchen Fund: „Im Archiv der Stadt Sanary fand sich vor wenigen Wochen ein nachgelassenes Manuskript von Hilde Stieler. Dieser Lebensroman in französischer Sprache, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umspannt, nennt sich Les confessions d’Annouchka; auf den 320 Seiten sind die Namen nur leicht verschlüsselt. Es geht nicht nur um alle Mitglieder der Familie Klossowski [den Schriftsteller Pierre, dessen Bruder, den Maler Balthasar, gen. Balthus, und deren Vater Erich Klossowski, langjähriger Lebensgefährte der Autorin], auch viele Berühmtheiten kommen vor, Walter Rathenau, Stefan George, Einstein, die Brüder Mann, Renée Sintenis, Bertha Zuckerkandl, die junge Alma Mahler und der junge Franz Werfel […] und immer wieder Rilke. Wir erfahren auch einiges über das Leben der Künstlerszene in Sanary[-sur-Mer an der Côte d’Azur], zu der auch der englische Autor Aldous Huxley gehörte sowie eine junge Deutsche, die später als die englische Autorin Sibylle Bedford berühmt wurde.“ (Manfred Flügge: Balthus’ vergessener Vater; in: Welt online v. 22. August 2007.)

Schon im Rahmen meiner Hans-Siemsen-Recherchen mussten mich diese Memoiren in romanhafter Form interessieren, zumal es sehr wahrscheinlich zu einem Zusammentreffen Siemsens mit Hilde Stieler gekommen sein dürfte, denn „[Erich] Klossowski und [Hilde] Stieler lebten, malten und schrieben im „L’Enclos“, dem Privathaus der Familie Jean Cavet, einem verwunschenen Ort mit Büschen und Bäumen und einem ummauerten Park, damals am östlichen Stadtrand gelegen und mit Ausblick ins Hinterland, heute wie eine Insel im kleinen Häusermeer.“ (Flügge, l. c.) In eben dieser Wohnanlage hatten auch Hans Siemsen und sein Geliebter Walter Dickhaut vorübergehend Unterkunft gefunden, wie ich von Prof. Gernot Lucas (Konstanz), einem regelmäßigen Besucher von Sanary-sur-Mer, erfahren hatte. Mittlerweile ist das Buch in deutscher Übersetzung erschienen – und ein Blick in den Namensindex bringt die Enttäuschung: Siemsen kommt nicht drin vor. (Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. Übers. [a. d. Frz.] u. hrsg. v. Manfred Flügge. Berlin: AvivA Verlag, 2009.)

Immerhin schildert Stieler, wie sie die Herberge bei der Familie Cavet Anfang der 1930er-Jahre für sich und Klossowski anmietete: „Sehr schnell fand ich etwas Passendes: drei Zimmer in der hübschen kleinen Villa de l’Enclos, mitten im Ort und nicht weit vom Meer gelegen. Klossowski hatte dort eine Art Atelier, das heißt ein recht großes Zimmer im ersten Stock, während sich mein ,Reich‘, Schlafzimmer mit Küche, im Erdgeschoss befand. Meist kam Klossowski nur zum Essen herunter und nachts stieg ich manchmal zu ihm hinauf. Dieses Leben war ganz nach unserem Geschmack, denn trotz unserer Liebesfreundschaft brauchten wir beide eine gewisse Unabhängigkeit, vor allem für unsere Arbeit.“ (Ebd., S. 197.) – Und in ihrem Tagebuch vom Sommer 1944 schreibt Stieler unterm Datum vom 24. August: „Der sympathische Besitzer der Villa de l’Enclos [Jean Cavet] wird zum Bürgermeister von Sanary gewählt. Robert [Henri de Witt, Stielers zweiter Ehemann] will ihm unsere Heirat melden und man wird das Aufgebot veröffentlichen. Das Bürgermeisteramt nimmt mich unter seinen Schutz.“ (Ebd., S. 283.)

Etwas interessanter ist, was Manfred Flügge in seinem Nachwort über die Villa de l’Enclos berichtet. Da Erich Klossowski im Gegensatz zu seinen berühmten Söhnen heute nahezu vergessen ist, befragte er die noch lebenden Zeitzeugen vor Ort: „Marcelle und Louis Cavet erinnerten sich daran, dass er ein sehr diskreter Mensch war, meist schwarz gekleidet, mit einem Seidentuch um den Hals. Er lebte in der Villa de l’Enclos wie in einem Märchenhaus, begierig auf Zeitungen, oder er saß in der Küchenecke vor dem Radio und hörte Nachrichten. Das Anwesen ist ein wahrhaft magischer Ort, ein dreieckiger Park hinter Mauern, mit vielen Büschen und Bäumen, die das zweistöckige Landhaus fast verdecken, aber schattige Plätze schaffen, damals am Rande des Ortes, mit Ausblick aufs Hinterland, in dem sofort die Felder begannen. […] Nur wenige hundert Meter entfernt warfen die Alliierten 1944 Bomben ab. Ein ganzes Viertel des Nachbarortes Six-Fours wurde dabei zerstört. Die Bucht war von den Deutschen stark befestigt worden und wurde hart umkämpft. Ein Wunder, dass sich die Zerstörungen in Sanary selbst in Grenzen hielten.“ (Ebd., S. 311.) Da weilte Hans Siemsen längst nicht mehr in Sanary. Er verließ den Ort gemeinsam mit Walter Dickhaut Anfang 1941 und entkam über Marseille und Lissabon nach New York. Es würde sich wohl lohnen, selbst einmal an die Côte d’Azur zu fahren und die auskunftfreudigen Geschwister Cavet zu Siemsen zu befragen. Aber erstens spreche ich kein Französisch, zweitens fehlen mir für eine solche Auslandsreise die Mittel und drittens lehne ich Fahrten in solche Ferne, gleich ob per Auto, Flugzeug oder Bahn, prinzipiell ab, wenn sie nicht absolut unvermeidbar sind.

Da ich Die Edelkomparsin von Sanary nun schon einmal gelesen habe, werde ich eine ausführliche Würdigung des Buches einem zweiten Beitrag unter diesem Titel vorbehalten.

[Das Titelbild ist dem besprochenen Band (S. 196) entnommen. Es zeigt Erich Klossowski vor der Villa de’Enclos. Foto: Hilde Stieler. Privatarchiv Manfred Flügge.]

Siemsens Blick

Sunday, 06. December 2009

banana

Nach langer Pause befasse ich mich wieder einmal mit Hans Siemsen (1891-1961), wenngleich zunächst zwangsweise. Ich hatte Dirk Ruder von der Zeitschrift Gigi versprochen, meinen Siemsen-Artikel vom Frühjahr (in No. 60, S. 36-39) noch in diesem Jahr mit einer zweiten Folge abzuschließen. Von Heft zu Heft musste ich ihn vertrösten, der Umzug hatte mich (und meine Bibliothek, ohne die ich den Text kaum seriös hätte abfassen können) völlig aus der Bahn geworfen. Zuletzt setzte mir Ruder die Pistole auf die Brust: „Langsam wird es schwierig, unseren Lesern (und auch unserem Herausgeber gegenüber) zu erklären, warum der zweite Teil des Siemsen-Textes seit vier Heften auf sich warten lässt, aber ich zähle nach wie vor auf Sie.“ Ich wäre ja ein rechter Schuft, wenn ich solch treue Engelsgeduld nicht mit Fleiß entlohnte.

Hans Siemsens zweite Lebenshälfte, die mit dem 30. Januar 1933 beginnt, ist ja das traurige Kapitel eines Entwurzelten, dessen Schicksal kaum dadurch leichter wird, dass er es mit unzähligen Leidensgefährten teilt. Seine späte Liebesgeschichte mit dem zwanzig Jahre jüngeren Walter Dickhaut erhält dadurch von vornherein einen bitteren Beigeschmack. Die Tragik, dass ihnen zwar im Frühjahr 1941 endlich die gemeinsame Flucht von Lissabon aus über den Atlantik gelingt, sie dann aber doch im Hafen von New York auseinandergerissen werden, ist schon filmreif. Ich stelle mir vor, dass sich Siemsen vor Eifersucht verzehrt hat in der Sommerhitze des Big Apple, während sein junger Freund in Havanne Bananen pflückte.

Bei der Niederschrift fällt mir sogar noch unerwartet eine kleine Pointe ein. Bei der legendären Zusammenkunft des Siemsen-Freundeskreises in seinem Berliner Atelier im März 1933, die Asta Nielsen 1945 in ihrer Autobiographie Den tiende Muse erwähnt und Hans Siemsen in einem seiner allerletzten Zeitungsartikel 1950 ausführlich schildert, war auch Joachim Ringelnatz zugegen. Nachdem der Stummfilmstar vom Besuch im Propagandaministerium berichtet hatte, wo Joseph Goebbels sie erfolglos für seine Filmprojekte zu gewinnen versuchte, meldete sich „Ringel“ zu Wort. Er habe dieser Tage ein Gedicht gemacht, ob er es mal aufsagen solle? Dann zitiert Siemsen dieses Gedicht, von dem er „nur den ersten und den letzten Vers behalten“ habe. (Hans Siemsen: „Ringel, du hast wieder recht“; in: Frankfurter Rundschau v. 28. Januar 1950; erneut in ders.: Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Verlag das Arsenal, 2008, S. 152-154.)

Zwischenzeitlich habe ich mir eine Gesamtausgabe von Ringelnatzens Gedichten zugelegt und heute erstmals die vollständige Fassung des Gedichtes nachgelesen. Es heißt So ist es uns ergangen und hat genau drei Verse. Der mittlere, von Siemsen vergessene lautet so: „Vergiß es nicht! Nur damit du lernst | Zu dem seltsamen Rätsel »Geschick«. – | Warum wird, je weiter du dich entfernst, | Desto größer der Blick?“ (Joachim Ringelnatz: Die Gedichte. Hrsg. v. Fritz & Katinka Eycken m. Jakob Winter. Frankfurt am Main: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, S. 710.) Dass Siemsen tatsächlich aus dem Gedächtnis zitiert, muss man glauben und glaubt es leicht, weil ihm beim Memorieren der anderen beiden Verse ein paar kleine Fehlerchen unterlaufen. – Daraus ließ sich was Hübsches machen …

Bei dieser Gelegenheit muss ich noch nachtragen, dass es einen weiteren Anlass gibt, Dirk Ruder dankbar zu sein. Ende April überraschte er mich mit einer Aufzeichnung von Siemsens Stimme. In der CD-Reihe „stimmen des 20. jahrhunderts“, die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird, befindet sich auf der CD 1945 – Kapitulation und Wiederaufbau als Track 12 ein dreiminütiger Mitschnitt der BBC-Sendung „Stimme Amerikas“. Ein Pfarrer Silesius begrüßt darin die militärische Niederlage des Dritten Reiches und ermutigt seine deutschen Landsleute zum Wiederaufbau. In den „Daten zu Leben und Werk“, die Michael Föster im ersten Band seiner Siemsen-Werkausgabe zusammengestellt hat, heißt es unterm Jahr 1941: „Schreibt für die Voice of America – u. a. Propaganda-Predigten unter dem Pseudonym ,Pfarrer Silesius‘.“ (Hans Siemsen: Schriften I. Verbotene Liebe u. a. Geschichten. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: Torso-Verlag, 1986, S. 257.)

Protected: So kompliziert

Tuesday, 08. September 2009

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Anders

Tuesday, 18. August 2009

Gestern kam ich in Hamsuns Mysterien an die Stelle, wo die Pfarrerstochter Dagny Kielland sich nach einem langen Gespräch mit dem mysteriösen Fremden Johan Nilsen Nagel für den schönen Abend bedankt: „Jetzt kann ich auch meinem Verlobten etwas erzählen, wenn ich schreibe. Ich werde sagen, daß Sie ein Mann sind, der mit allen wegen allem uneinig ist.” (Knut Hamsun: Mysterien; in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Deutsche Originalausgabe besorgt u. hrsg. v. J[ulius] Sandmeier. Erster Band. München: Albert Langen, 1921, S. 307.)

Zufällig fällt mir nahezu gleichzeitig beim Auspacken meiner Bücherkartons Hohls schmales Bändchen Daß fast alles anders ist in die Hände, ich vermute hier einen Bezug und lese erstmalig den titelgebenden Essay. Tatsächlich finde ich darin Sätze, die immerhin Berührungspunkte zu der Charakterisierung Nagels haben, und sei es ex negativo: „Die Leute, die sagen, daß sie eben ,festen Boden unter den Füßen haben‘, sind bodenlose Leute (an nichts teilnehmend, nicht im geringsten verfügend, quallig).” (Ludwig Hohl: Daß fast alles anders ist. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1984, S. 122.)

Hohl nennt viele Beispiele und zitiert wenige Gewährsleute – Kafka, Schopenhauer, Musil, Kraus und natürlich Lichtenberg – für seine grundstürzende Ansicht, dass fast alles anders sei, „anders als fast alle Menschen, fast immer, es sich vorstellen”. (Ebd., S. 121.) Grundfalsch sei zum Beispiel auch die Vorstellung, die die Menschen vom Schreiben haben, das (nach einem Wort von Musil) keine Tätigkeit, sondern ein Zustand sei. Und nicht ausdrücklich, aber aus einigen Andeutungen wird klar, dass dies keineswegs ein angenehmer Zustand ist.

Noch etwas, das leidlich hierzu passt. In der letzten Sonntagszeitung las ich eine wegen ihrer Prägnanz zitierenswerte Einlassung des Sozialpsychologen Harald Welzer zu der Frage, warum der gegenwärtige Wahlkampf in Deutschland so fade sei. Welzer erkennt ganz richtig, dass die Vorstellungswelt der Politiker „an die Wohlstandsgesellschaft und ihre Basiskonzepte Wachstum, Fortschritt und Wettbewerb gebunden ist, Wenn all das in Frage steht, bricht ratloses Schweigen aus. Unsere Parteien können Zukunft ausschließlich als verbesserte Gegenwart denken. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn Staatsverschuldung, Klimawandel, Artensterben plötzlich klarmachen, dass die Gegenwart besser ist, als die Zukunft je sein wird. Der Fortschritt schreitet nicht mehr fort, und was wächst, sind lediglich die Probleme von morgen. Daher diese radikale Phantasielosigkeit.” (Lichtgestalt; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 33 v. 16. August 2009, S. 19.)

Noch einmal Ludwig Hohl: „Die Welt ist anders … Und jene mächtigsten Männer, die sie lenken (welche gar nicht so mächtig sind und gar nicht so sehr Lenkende, sondern viel mehr Getriebene), sie können uns nichts bringen – wenn nicht das allgemeine Bewußtsein vorerst geändert worden ist -, sie können zu nichts anderem hinführen als zum Ende der menschlichen Welt.” (Hohl, a. a. O., S. 130.)

Protected: Mysterien

Monday, 17. August 2009

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Protected: Lothar Baier

Thursday, 07. May 2009

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Korbes et al.

Friday, 17. April 2009

Morgen lese ich vor angemeldetem Publikum in einer Oberhausener Psychotherapie-Praxis.

Die Einladung dorthin verdanke ich Ullas Freundschaft zu Eva, einer der beiden Therapeutinnen, die seit vorigem Jahr mit ihrer Freundin und Geschäftspartnerin Eva zu Gast bei meinen Literarischen Soireen ist.

Ungewohnt an dieser Situation ist, dass ich vor mehrheitlich Fremden lese. (Selbst bei der Siemsen-Matinee im Grillo-Theater am 26. Oktober vorigen Jahres setzte sich etwa die Hälfte meines Publikums aus meinen langjährigen „Fans” zusammen.)

Deshalb ging ich bei der Komposition des Programms auf Nummer sicher und wählte sieben nicht allzu lange Texte aus, die hoffentlich erheitern werden, ohne mit ihrem teils etwas makabren Hautgout allzu sehr zu brüskieren. Von den dreißig Plätzen in dem hellen, freundlichen Gruppenraum der Praxis sind nach Auskunft der beiden Evas zwei Drittel durch Voranmeldungen besetzt. Ob alle angemeldeten Personen tatsächlich erscheinen werden, bleibt zudem abzuwarten. Immerhin hat sich das frühlingshafte Osterwetter gestern verabschiedet. Ein spontaner Biergartenbesuch dürfte also kaum als Konkurrenz zu meiner Soiree gefährlich werden.

Wie üblich spiegelt sich in meiner Textauswahl einerseits mein aktuelles literarisches Interesse wieder, insofern ich Kostproben von Alfred Polgar und Victor Auburtin aufgenommen habe; andererseits habe ich auf einige meiner erprobten und bewährten „Evergreens” zurückgegriffen, die zum Thema – Klitzekleine Katastrophen – passen, so etwa die schröckliche Geschichte des verschluckten Auges von Hermann Harry Schmitz [siehe Titelbild] und Herr Korbes von den Gebrüdern Grimm. Besondere Mühe habe ich mir mit den Programmzetteln gegeben, die ich als limitierte, nummerierte und signierte Einblattdrucke auslegen werde.

Schrittwechsel

Wednesday, 28. January 2009

Hans Siemsen, der in seinem Reisebericht aus dem Sowjetstaat mit mildem Spott anmerkt, dass der Taylorismus und die Ford’sche Fließbandproduktion, nach dem allbeherrschenden Prinzip „Tempotempo!”, im Kommunismus keineswegs abgeschafft sind, sondern durch die gnadenlosen Vorgaben des ersten Fünf-Jahres-Planes eher noch eine Verschärfung erfahren haben, relativiert diese Diagnose an anderer Stelle durch seine Beobachtung, dass jeder russische Industriearbeiter in einer deutschen Fabrik unweigerlich auffallen würde: „Vor allem durch Langsamkeit.” (Rußland – ja und nein. Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931, S. 164.) Gegen das Phlegma der russischen Volksseele kehrt offenbar selbst Stalins „harter Besen” vergebens.

Und in den klimatisch milderen Regionen, am Asowschen und Schwarzen Meer, registriert er gar mit erkennbarem Wohlbehagen eine „Kultur der Langsamkeit”, die ihn fast an mediterrane Lässigkeit erinnert: „Vom Balkon des Hotels [in Rostow am Don] sehen wir hinunter auf die Straße. Es ist Ende September [1930]. Ein schöner, warmer Abend, wie in Berlin ein Sommerabend. In Moskau hatten wir schon gefroren. In Moskau habe ich nie einen Menschen ,spazieren gehen‘ sehen, alle waren immer so ernsthaft eilig. In Rostow ,flaniert‘ man. Liebespaare flirten langsam die Schaufenster entlang. Es gibt Läden mit Wein und Obst und schrecklichen Nippsachen. Die ganze Straße ist voll von Menschen, die, da es Abend ist, spazieren gehen. – Die ausländischen Journalisten auf dem Balkon sind ganz erstaunt. Sie kommen aus Moskau. Sie haben sowas noch gar nicht gesehen in Rußland. ,Das ist ja wie in Paris!‘, sagt einer zum andern. Der weiß es besser. ,Wie in Marseille!‘ sagt er. Und ein Dritter weiß es am besten: ,Ein Arbeiterviertel in Paris oder Marseille.‘ Aber alle sind sich darin einig, daß Rostow ganz was anderes ist als Moskau, hübscher, leichter, nicht so ernsthaft und streng. Verwegene sprechen von ,Eleganz‘. ,Sehen sie bloß! Da geht einer mit einem weißen Leinenanzug und einer knallbunten Krawatte.‘” (Ebd., S. 190.)

Müsste uns nicht längst schon die traurige Erkenntnis dämmern, dass die drei großen Ideale der Französischen Revolution – „Liberté, égalité, fraternité” – von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, weil sie die naturgegebenen klimatischen Unterschiede zwischen den Weltregionen nicht in Rechnung stellten? Sind nicht alle hehren Versöhnungswünsche, von Christus bis zum jüngsten Shootingstar eines trotzigen Optimismus, Barack Obama, allein schon deshalb ins Leere gesprochen, weil es etwa in Sibirien unerträglich kalt und in weiten Teilen Afrikas unerträglich heiß ist? Die Staatsgrenzen, machen wir uns nichts vor, sind doch bei aller vorgeblichen Globalisierung vor allem Abwehrzäune der klimatisch bessergestellten Bevölkerungen, die ihr natürliches Privileg nicht mit den hungernden, frierenden und dürstenden Artgenossen teilen wollen.

Als komplizierende Faktoren kommen noch hinzu die ungleiche, gänzlich „ungerechte” Verteilung der Bodenschätze, die unabsehbaren Folgen des Klimawandels und das nach wie vor exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung. Schlechte Aussichten für Homo sapiens.

Flanieren wir Happy Few doch ganz gelassen dem Untergang entgegen! Eile ist nicht geboten. Wir kommen schon noch früh genug ans Ziel.

Wintergarten

Tuesday, 27. January 2009

Die große Zeit des Varietés wird Ende dieses Monats wohl endgültig zu Grabe getragen, wenn im „neuen” Wintergarten in der Potsdamer Straße in Berlin der letzte Vorhang fällt. Schaut man zurück, so war die Renaissance der Varieté-Theater seit den 1980er-Jahren wohl nicht viel mehr als das letzte Aufflackern eines in der ersten Jahrhunderthälfte so überaus erfolgreichen Unterhaltungsangebots in den Großstädten der westlichen Welt. Nostalgie und das atemberaubende Erlebnis unmittelbarer Erfahrung artistischer Glanzleistungen allein erweisen sich spätestens angesichts der aktuellen Weltfinanzkrise für das zahlende Publikum der bürgerlichen Mittelschicht als zu schwache Motive, sich für einen Abend im Varieté aus dem Fernsehsessel hochzuschwingen.

Um 1900 gab es in der Reichshauptstadt Berlin nahezu 80 Varieté-Theater, unter denen der Wintergarten am Bahnhof Friedrichstraße seit 1889, neben dem benachbarten Apollo-Theater, als „erste Adresse” galt. Solche Vergnügungsstätten eröffneten zunächst den Zirkuskünstlern – Clowns, Jongleuren, Zauberern, Pantomimen, Dresseuren und Trapezartisten – die willkommene Gelegenheit, in der kalten Jahreszeit zu überwintern. Bald bot sich diesen Reisenden in Sachen Amüsement hier aber zudem die Chance, sich vor einem anspruchsvolleren Publikum als die jeweils Besten ihres Genres bekannt zu machen und damit den Sprung aus dem Sägemehl der Zeltarena aufs noblere, blitzblank polierte Parkett einer weltstädtischen Bühne zu schaffen. So gelten die Clowns Charlie Rivel und Grock, der Wunderjongleur Enrico Rastelli [s. Titelbild] und der Entfesselungskünstler Harry Houdini, die alle auch im Wintergarten auftraten, selbst heute noch als bekannte Meister ihres Fachs, während ungezählte weniger virtuose Zirkuskünstler jener Zeit längst vergessen sind.

Es ist wohl eine tragische Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet im Berliner Wintergarten am 1. November 1895 eine brandneue Volksbelustigung ihre Premiere feierte, die diesem und allen ähnlichen Etablissements, rückblickend betrachtet,  den Todesstoß versetzen sollte. An jenem denkwürdigen Tag führten die Brüder Max und Emil Skladanowsky dort als „Schlussnummer” zum konventionellen Varieté-Programm mit ihrem „Bioscop”, erstmals in Deutschland und mit großem Erfolg, acht Kurzfilme vor. Die Berliner Filmpioniere blieben in der Konkurrenz zu den Pariser Gebrüdern Lumière und deren „Cinématographe” schon bald auf der Strecke, wohl auch deshalb, weil sich im Deutschen Reich kein gut betuchter Förderer für ihre zukunftsweisende Erfindung fand.

Und jetzt haben wir den Salat. Nachdem im „alten” Wintergarten am 21. Juni 1944 – Stauffenberg, der neue Kinoheld unserer Tage, bereitete gerade sein gescheitertes Attentat vor – das letzte Varieté-Programm über die Bühne gegangen war und bald darauf „Bomber Harris” diesen Kulturtempel in Schutt und Asche gelegt hatte, war es eine Großtat ambitionierter Freunde der Kleinkunst wie André Heller und Bernhard Paul, dass der Wintergarten 1992 an neuer Stelle seine Wiederauferstehung erleben durfte.

Damit ist nun in wenigen Tagen auch wieder Schluss. Achtundsechzig feste Arbeitsplätze bleiben auf der Strecke, von der Platzanweiserin bis zum Impresario. Ein großer Name, der Wintergarten, geht damit wohl endgültig unter. Und Baggesen, der in diesem Etablissement seine größten Triumphe feierte, ein langsamer Leisetreter unter den blitzschnellen Jongleuren seiner Zunft? Der ist ohnehin schon längst vergessen.

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Tuesday, 20. January 2009

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Wednesday, 07. January 2009

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Protected: Raymond Martin (I)

Saturday, 03. January 2009

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Totenträume

Tuesday, 30. December 2008

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden ungezählte Deutsche, die sich leichtsinnigerweise Anfang August noch in Frankreich aufhielten, unter dem Vorwand der feindlichen Spionage verhaftet. Ich vermute, dass mit den Franzosen im Deutschen Reich nicht viel anders verfahren wurde. Krieg folgt ja im Großen und Ganzen, aber auch in allen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten der alttestamentarischen Regel: „Auge um Auge, Zahn um Zahn” (Ex 21, 24) – und bedeutet somit den sündhaften Verstoß gegen die radikale Forderung des Mannes aus Nazareth (Mt 5, 39), stattdessen die andere Wange hinzuhalten.

Einer dieser harmlosen Zivilisten, die es zu Kriegsbeginn eiskalt erwischt, ist der begnadete Feuilletonist Victor Auburtin (1870-1928), der als Auslandskorrespondent des Berliner Tageblatts von September 1911 bis Ende Juli 1914 in Paris weilt. Dem genussfreudigen Bonvivant wird zum Verhängnis, dass er sich bei der Flucht in die Schweiz auf der Zwischenstation in Dijon von einer herrlichen Aalpastete, einem prachtvollen Rehrücken und zwei Flaschen moussierenden Burgunderweines zum Bleiben verführen lässt – „denn so unvernünftig die Welt auch geworden sein mag, bleibe ich doch besonnen genug, um mich zu erinnern, daß man in Dijon gut ißt.” (Zit. nach Victor Auburtin: Was ich in Frankreich erlebte und die Literarischen Korrespondenzen aus Paris 1911-1914. Werkausgabe, Bd. 3. Berlin: Verlag Das Arsenal, 1995, S. 369.)

Zwei Tage später sitzt der allzu optimistische Gourmet als politischer Häftling in Zelle 11 des Gefängnisses von Besançon, das er erst am 21. Januar 1915 wieder verlassen wird – aber nur, um für die kommenden zwei Jahre, sieben Monate und 18 Tage mit hunderten deutscher Leidensgefährten in einem Internierungslager auf Korsika „verwahrt” zu werden. Über die nutzlos verschwendeten Jahre seiner Gefangenschaft hat Auburtin in seinem bereits Anfang 1918 in Genf erschienenen Carnet d’un boche en France berichtet, das noch im gleichen Jahr in der deutschsprachigen Originalfassung unter dem Titel Was ich in Frankreich erlebte im Verlag Mosse in Berlin erschien und in der erwähnten Werkausgabe (S. 355-441) erfreulicherweise wieder – oder soll man schon sagen und warnen: „noch”? – greifbar ist.

Über die Traumwelt des Gefangenen schreibt der Traumtänzer Auburtin: „Ich bedenke die Träume, die man als Gefangener hat. Sie sind bedeutend und eindringlich und ganz anders als die Träume der Menschen in der Freiheit. Oft träume ich – und meine Mitgefangenen ebenso – von den toten Freunden und Verwandten, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht habe; sie erscheinen mir freundlich, sehen mich gütig an, und ich wohne mit ihnen in engen, traulich erhellten Zimmern. Seitdem mein Vater während meiner Gefangenschaft gestorben ist, träume ich stets von ihm, und sein besorgter Geist kommt zu mir durch die öde Sturmnacht des entlegenen Meeres. Neben diesen düsteren Totenträumen sind Phantasmen von leuchtender Helligkeit: weiße Pferde, sattellose, galoppieren marmorgepflasterte Straßen entlang; ein unermeßlich breiter Strom fließt spiegelnd; ich sitze im strahlend hellen Theater in der Tiefe einer Loge und sehe ein Gewühl wunderbarer Frauen, die schwere Perlenketten um die Schultern tragen.” (S. 444 f.)

Wenn das wache Leben zum öden Albtraum wird, treibt die Traumwelt umso farbigere Blüten.

[Titelbild: Ausschnitt aus Le rêve von Henri Rousseau, 1910.]


Das Leben

Friday, 19. December 2008

„Es lebte ein Mann, der war ein sehr tätiger Mann und konnte es nicht übers Herz bringen, eine Minute seines wichtigen Lebens ungenützt verstreichen zu lassen.

Wenn er in der Stadt war, so plante er, in welchen Badeort er reisen werde. War er im Badeort, so beschloß er einen Ausflug nach Marienruh, wo man die berühmte Aussicht hat. Saß er dann auf Marienruh, so nahm er den Fahrplan her, um nachzusehen, wie man am schnellsten wieder zurückfahren könnte.

Wenn er im Gasthof einen Hammelbraten verzehrte, studierte er während des Essens die Karte, was man nachher nehmen könne. Und während er den langsamen Wein des Gottes Dionysos hastig hinuntergoß, dachte er, daß bei dieser Hitze ein Glas Bier wohl besser gewesen wäre.

So hat er niemals etwas getan, sondern immer nur ein nächstes vorbereitet. Er war nie einer ganzen und gesunden Minute Herr, und das war gewiß ein merkwürdiger Mann, wie du, lieber Leser, nie einen gesehen hast.

Und als er auf dem Sterbebette lag, wunderte er sich sehr, wie leer und zwecklos doch eigentlich dieses Leben gewissermaßen gewesen sei.”

[Ausnahmsweise in hektischen Zeiten mal „nur” ein Zitat. Das Feuilleton Das Leben von Victor Auburtin (1870-1928) erschien 1911 in der Sammlung Die Onyxschale im Verlag von Albert Langen in München. – In neuerer Zeit hat sich der Berliner Verleger Peter Moses-Krause um die Wiederentdeckung dieses vergessenen Meisters der Kleinen Form verdient gemacht. In seinem Verlag Das Arsenal erscheint seit 1994 eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe Auburtins, mustergültig ediert und in herzerfrischend schöner Ausstattung. Deren zweitem Band, Die Onyxschale und Die goldene Kette sowie andere Kleine Prosa aus dem Simplicissimus bis 1911, entnehme ich (von Seite 149) frecherweise diesen wundersamen Text und auch das Titelbild, in der Hoffnung, den einen oder anderen kennerischen Leser so auf ein verkanntes Genie der Kurzprosa aufmerksam machen zu können.]

Schreibzwang (I)

Thursday, 20. November 2008

Das Phänomen ist bekannt und wird hie und da in Weblogs beschrieben: Nach einem hoffnungsvollen Start mit befriedigenden Ergebnissen stellt sich plötzlich völlige Leere ein. Der Blogger schaut ratlos aufs leere weiße „Blatt” auf seinem Monitor und sucht krampfhaft nach einem Thema. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wo ist nur die Inspiration geblieben, die in den vergangenen Wochen und Monaten in zuverlässiger Regelmäßigkeit für die konkreten Anlässe zum Schreiben sorgte?  Soll ich tatsächlich heute über die Nominierung von Johannes Bultmann als Kaufmann-Nachfolger in der Intendantur der Essener Philharmonie schreiben?  Und wo bleibt der notwendige Drive, daraus einen lesbaren Text zu zaubern?

Die meisten Kolleginnen und Kollegen überwinden diese Schrecksekunde sehr bald und fahren achselzuckend ihren Rechner runter. Ganz cool bleiben! Ein paar Tage später fällt ihnen dann wieder was ein, worüber sie schreiben können. Sie haben den heldenhaften Mut zur Lücke, schließlich zwingt sie kein Mensch, täglich ihre Geistesprodukte im Internet abzuliefern. Oft lässt sich in der Folge eines solchen ersten Zugeständnisses an den inneren Schweinehund beobachten, dass die Lücken immer größer werden, bis der Elan der frühen Tage völlig versiegt ist. Ich habe schon Weblogs entdeckt, deren jüngstes Posting bereits ein paar Jährchen auf dem Buckel hat.

Die diszipliniertere Minorität scheut die Unterbrechung wie der Teufel das Weihwasser und wringt sich an schwachen Tagen lieber irgendeinen unausgegorenen Stuss aus dem ermatteten Hirn, notfalls eine Meditation über die Schreibblockade selbst. Für diese zum täglichen Schreiben verdammten Blogger ist das ursprünglich so unschuldige Vergnügen zur Sucht geworden, sie leiden unter Schreibzwang. Ein Tag ohne Blogbeitrag ist für sie ein verlorener Tag. Ich gehöre offenbar zu dieser zweiten Sorte.

Aber machen wir uns nichts vor: Diese Symptome und Syndrome sind ja nicht erst im Webspace entstanden. (Allenfalls sind sie hier unmittelbarer zu diagnostizieren.) Die bekanntesten Beispiele für eine akute, dann chronisch werdende Schreibhemmung aus der neueren deutschen Literaturgeschichte, Wolfgang Koeppen und Uwe Johnson, will ich nicht aufwärmen, von Hölderlin und Nietzsche ganz zu schweigen. Stattdessen serviere ich ein Zitat von einem unverdientermaßen nahezu vergessenen Zwangsschreiber, dem gebürtigen Essener und ungebärdigen Kiffer Helmut Salzinger [Titelbild, mit Fernglas im Kreis seiner Freunde, 1986]:

„Ein Joint. Zeitweise habe ich einen fürchterlichen Produktionsdruck, aber nichts zu produzieren. Es fällt mir einfach nichts ein und rein, das ich sagen wollte, raus. Also muß ein Joint her, ders lockert. – Es ist die Zwanghaftigkeit, was mich daran stört. Nicht bloß am Joint. Auch am Produzieren. […] Das gewonnene Terrain ist längst wieder verloren. Daß ich in meinem Geschriebenen alles, mich ganz, geben müsse, diese Anstrengung übersteigt alles. Daneben bleibt nichts. Ich kann nicht mehr im Garten arbeiten, keine Wanderungen machen, wenn ich darüber schreiben will, auch das krieg ich nicht mehr hin. – Als es nicht ums schreiben ging, da konnte ich machen, was mir einfiel, und sei es schreiben, und konnte es tun. – Jetzt ist mir da wieder ein regelrechter Leistungszwang angewachsen.” (Helmut Salzinger: Nackter Wahnsinn. Die Wirklichkeit und die Suche nach ihr zwischen Konsens und Nonsens. Hamburg: Verlag Michael Kellner, 1984, S. 154.) Das Schreiben ist, wenn es mit Ernst betrieben wird, ein lebensgefährlicher Beruf.

Panizza

Wednesday, 12. November 2008

Der erste Exzentriker, mit dem ich mich vor nunmehr dreißig Jahren eingehend beschäftigte, war Oskar Panizza (1853-1921): ein glühender Antipapist, der (1895-1896) für sein satirisches, „gotteslästerliches” Drama Das Liebeskonzil ein Jahr Gefängnisstrafe in Amberg abbüßen musste, dann nach Zürich ins Exil ging, wo er ab 1897 seine kuriosen Zürcher Diskußjonen im Selbstverlag herausgab, um nach einer Anzeige wegen Unzucht mit einer minderjährigen Prostituierten mit seiner 10.000 Bände umfassenden Privatbibliothek weiter nach Paris zu fliehen. Halbwegs bekannt geworden war Panizza bei seinen zeitgenössischen Lesern durch seine düsteren Erzählungen in der Tradition von E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, durch seine Dämmerungsstücke (1890) und Visionen (1893).

Was mich damals an Panizza entzückte, das waren sein radikales Einzelgänger- und Außenseitertum, der mutige Trotz, mit dem er allen weltlichen und himmlischen Mächten die Stirn bot, seine bis in die „Ortografie” hinein eigenwillige Schreibweise, die imposante, offenbar autodidaktisch erworbene Vielbelesenheit und schließlich sein sarkastischer Fürwitz. Dass André Breton diesen Meister des schwarzen Humors in seiner Anthologie de l’humour noir (1940, dt. 1971) nicht berücksichtigt hat, scheint mir noch heute unverzeihlich.

Oskar Panizzas nicht ganz schmales literarisches Œuvre – Wilpert-Gühring I verzeichnet immerhin 22 Erstausgaben – galt damals in den Antiquariaten als „selten und gesucht” und war somit für einen arbeitslosen Schulabbrecher wie mich völlig unerschwinglich. Wie groß war daher meine Freude, als ich entdeckte, dass die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf nahezu alle Werke des verehrten Autors im Bestand führte und auch auslieh. Und wie groß war mein Entsetzen, als ich dort in einer halbledergebundenen Kompilation der drei frühen Gedichtbände von Oskar Panizza – Düstre Lieder (1886), Londoner Lieder (1887) und Legendäres und Fabelhaftes (1889) – auf dem Vorsatzblatt den Stempel entdeckte: „Eigentum Reichsleiter Bormann”; und darunter in Bleistift dessen eigenhändige Unterschrift.

Diese Irritation hielt mich aber nicht davon ab, wenig später nach Berlin zu reisen und in der „Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz” weiterhin dem verehrten Exzentriker nachzuforschen. In deren Handschriftenabteilung ließ ich mir Panizzas lange verschollen geglaubten Spätling Imperjalja vorlegen, darin der im Pariser Exil immer tiefer in geistige Umnachtung versinkende Schriftsteller 1903 bis 1904 seinen persönlichen Hass und seine paranoiden Spekulationen gegen Kaiser Wilhelm II. zu Papier gebracht hat. Eine freundliche Bibliothekarin, die vermutlich von dem Feuereifer dieses ganz unakademischen jugendlichen Forschers gerührt war, schickte mir wenig später per Post eine Kopie der Mikroverfilmung dieses Manuskripts. Da ich natürlich nicht über ein Lesegerät für einen solchen Film verfügte, zerschnitt ich ihn in Einzelbilder und klemmte sie in Dia-Rähmchen, um anschließend via Projektor das Spätwerk meines Herrn und Meisters Wort für Wort von der Leinwand herab zu dechiffrieren.

Wie so viele Projekte aus dieser Zeit meines jugendlichen Überschwangs blieb auch dieses in den Anfängen stecken. Jürgen Müller hat zwei Jahrzehnte später diese mühevolle Arbeit, an der ich scheiterte, zu einem sehr erfreulichen Ende gebracht und das „Manuskript Germ. Qu. 1838″ mustergültig transkribiert und editiert. Das letzte Buch von Oskar Panizza, bevor er endgültig verrückt wurde, erschien 1993 im Guido Pressler Verlag in Hürtgenwald in der Reihe „Schriften zu Psychopathologie, Kunst und Literatur” – und wurde vor ein paar Jahren beim Bärendienst Buchversand für nur 14,00 Euro verramscht.

Jacob

Monday, 27. October 2008

In gewissen Kreisen des individualistischen Anarchismus wird er in seinem Heimatland Frankreich noch heute als Held verehrt, hierzulande ist er hingegen nahezu unbekannt: Alexandre „Marius” Jacob (1879-1954), der „anarchistische Meisterdieb”, der angeblich Maurice Leblanc als Vorbild für seinen berühmten Gentleman-Einbrecher Arsène Lupin gedient haben soll.

Als der 17-jährige Alexandre Jacob, an einem rätselhaften Virus erkrankt, seine erste Berufstätigkeit als Matrose aufgeben muss, hat er schon viel von der Welt gesehen. Im zarten Alter von elf Jahren hatte er als Schiffsjunge angeheuert, überquerte mehrmals den Atlantik, lernte die Südsee kennen – und die rauen Sitten an Bord, wo er sich den sexuellen Nachstellungen älterer Seefahrer ausgesetzt sah und schließlich auf einem Piratenschiff landete. Angewidert von den Metzeleien auf den gekaperten Handelsschiffen, an denen sich zu beteiligen er gezwungen wurde, desertierte er und wurde bei seiner Rückkehr in Frankreich wegen dieses Vergehens vor Gericht gestellt, allerdings freigesprochen. Seine Bilanz dieser frühen Jahre als Abenteurer auf den Weltmeeren offenbart seine Ernüchterung und sollte sein weiteres Leben bestimmen: „Ich habe die Welt gesehen, sie war nicht schön. Überall eine Handvoll Verbrecher, die Millionen Unglückliche ausbeuten.”

Durch einen zufälligen Bekannten wird er in die Gedankenwelt des Anarchismus eingeführt, liest die theoretischen Schriften von Michail Bakunin, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin – und nimmt sich besonders den berühmten Satz von Pierre Joseph Proudhon zu Herzen: « La propriété c’est le vol! » – Eigentum ist Diebstahl!

Nun beginnt eine große Karriere als illegalistischer Streiter für soziale Gerechtigkeit, als Robin Hood der Moderne, bei der Jacob bemerkenswertes handwerkliches Geschick, Organisationstalent, Kaltblütigkeit und eine geradezu geniale Erfindungsgabe an den Tag legt. Er umgibt sich mit einer Bande hochspezialisierter „Fachleute” und betreibt das Einbruchsgeschäft in die Villen der Reichen in schon fast „industriell” zu nennendem Maßstab. Bis zu tausend Diebeszüge werden allein für die Zeit von 1901 bis 1903 auf das Konto dieser politisch motivierten „Expropriateure der Expropriateure” gerechnet, wobei ein fester Anteil der Beute stets der anarchistischen Bewegung und den Armen zufließt.

Doch hat dieses Handwerk, bei aller Perfektion, nur vorübergehend goldenen Boden, und bald bewahrheitet sich die andere Redensart, dass sich Verbrechen am Ende nicht lohne. Jacob wird mit seinen Komplizen verhaftet, vor Gericht gestellt und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in der „Hölle von Guyana” verurteilt. Die Jahre von 1905 bis 1925 verbringt Jacob auf der berüchtigten Sträflingsinsel Île Saint-Joseph – und unternimmt in dieser Zeit 17 Fluchtversuche, die allesamt scheitern. Auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich muss er noch zwei Jahre Zuchthaus absitzen, erst am 30. Dezember 1928 wird er endlich in die Freiheit entlassen. Ohne seine anarchistischen Überzeugungen aufzugeben, tritt „Marius”, wie er sich nun nennt, doch etwas kürzer. Zwar versucht er zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs (1936-39) noch, die anarchistischen Truppen von Buenaventura Durruti mit Maschinengewehren zu beliefern, doch als dies scheitert, zieht er sich endgültig aufs Altenteil zurück. Er fährt als fliegender Händler in Konfektionswaren mit einem Wohnwagen über Land und setzt sich schließlich in einem kleinen Häuschen in Reuilly (Indre) zur Ruhe. Nachdem seine körperlichen Gebrechen, Folgen der langen Haftzeit, ihm das Leben zur Qual machen, beendet er sein Dasein durch eine Überdosis Morphium, nachdem er zuvor eine Reihe von Abschiedsbriefen an seine zahlreichen Freunde zur Post gebracht hat. Bevor ihm die Sinne schwinden, kritzelt er noch auf einen Zettel: „Wäsche gewaschen, gespült, getrocknet, aber nicht gebügelt. War zu faul. Tut mir leid. Ihr findet zwei Liter Rosé neben dem Brotschrank. Auf euer Wohl!”

[Viele Informationen zu diesem Beitrag verdanke ich der kleinen Broschüre von Michael Halfbrodt: Alexandré Marius Jacob – Die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes. Moers: Syndikat-A Medienvertrieb, 1994 – und deren schwierige Beschaffung meiner Freundin Michaela.]

Das war’s

Sunday, 26. October 2008

Nachher fällt mir all das ein, was ich zu sagen vergaß. Nachher ist erwiesen, dass meine größte Sorge unbegründet war und die Zeit und Geduld der Zuhörer gereicht hätte, noch ein, zwei Siemsen-Stückchen mehr zu Gehör zu bringen. Nachher zweifle ich, ob ich allen Gästen deutlich genug gesagt habe, wie sehr ich mich über ihr Kommen freute.

Die Kurzprosa jener Meister der ,Kleinen Form‘ aus den 1920er-Jahren wird ja häufig auch mit der Ortsangabe ,Unterm Strich‘ gekennzeichnet, weil sie in den Tageszeitungen jener Zeit genau dort zu lesen war: unter einem mehr oder weniger dicken Strich, der diese literarischen Preziosen von den aktuell so viel wichtigeren Meldungen aus Politik und Wirtschaft trennte. Unterm Strich darf ich nun sagen, dass ich bei allen Zweifeln mit dem Ergebnis dieser Veranstaltung im Café Central des Essener Grillo-Theaters, meinem ersten öffentlichen Auftritt als Vorleser, zufrieden bin.

Wenigstens gab’s keine größeren Katastrophen, deren gedankliche Vorwegnahme einen phantasievollen Menschen wie mich ante festum das Fürchten lehren kann. Und wenn die freundlichen Zusprüche der Gäste beim Abschied nur zur Hälfte ihrem tatsächlichen Empfinden entsprachen, dann habe ich keinen Grund, auch die kommende Nacht unruhig zu schlafen.

Mit größerer Sorge erfüllt mich eher die Frage: Was wird nun aus Siemsen – und mir, dem vermutlich besten Siemsen-Kenner östlich von Santa Fé? Die Luft ist raus, da die Veranstaltung jetzt über die Bühne gegangen ist, auf die ich in den letzten sieben Monaten mit Fleiß und Liebe hingearbeitet habe.

War’s das? Vielleicht nicht. Hans Siemsen als Filmkritiker der ersten Stunde, der „den Film ernst nahm und ihn als eine neue Kunst, die Kunst dieses Jahrhunderts begrüßte und interpretierte” (Hans Sahl) – dieser Hans Siemsen harrt auch nach den verlegerischen Abenteuern von Michael Föster und Peter Moses-Krause noch immer einer fälligen Wiederentdeckung.

[Titelbild: Beate Scherzer und der Revierflaneur bei der Lesung. Foto: Valentin Heßling.]

Nein, nichts mehr

Friday, 24. October 2008

Hans Siemsen verband nicht viel mehr mit Essen als sein Sterben, das sich allerdings lange 15 Jahre hinzog. Im Otto-Hue-Heim der Arbeiterwohlfahrt in Holsterhausen verbrachte er diese lange Zeit. Er hatte mit dem Interesse am Leben auch das am Schreiben verloren – oder umgekehrt.

Er kannte diese Stadt von Besuchen bei seinem älteren Bruder August, der hier von 1912 an als Oberlehrer am Reformgymnasium in Rüttenscheid tätig war und in der Alfredstraße 23 wohnte.

Den sonntäglichen Blick aus dem Fenster dieser Wohnung, in Richtung des 1913 fertiggestellten Gerichtsgebäudes an der Zweigertstraße, beschreibt Siemsen in einem kleinen, melancholischen Text in seinem zweiten, 1920 bei Kurt Wolff erschienenen Buch Wo hast du dich denn herumgetrieben?

Das ist zum Spucken nah bei dem Haus, in dem ich die ersten 18 Jahre meines Lebens verbrachte, von 1956 bis 1975. Fünf Minuten Fußweg, vielleicht auch sechs.

„Fragte man ihn, ob er nicht Papier haben wolle, damit er etwas schriebe, antwortete er mit großer Geste: ,Nein, nichts mehr.‘” (Michael Föster: Vorwort; in: Hans Siemsen: Schriften I. Verbotene Liebe und andere Geschichten. Essen: TORSO Verlag, 1986, S. 7.) Das ist mir auch zum Spucken nah.

Finish

Thursday, 23. October 2008

Noch drei Tage bis zu meiner Hans-Siemsen-Matinee im Café Central des Essener Grillo-Theaters. Das wird dann also mein erster öffentlicher Auftritt als Vorleser, nachdem ich mich und meine Fähigkeiten in dieser Profession nun schon in über hundert Veranstaltungen meiner Literarischen Soireen seit dem 1. April 1989 erprobt und vermutlich unter Beweis gestellt habe – denn sonst wäre ja schließlich keiner mehr gekommen.

Kein Grund also, die Nerven zu verlieren. Und doch kann ich nicht leugnen, dass mich ein leichtes Lampenfieber beschleicht und mir tausend Fragen die Nackenmuskulatur verspannen. Was nehme ich denn jetzt aus dem überreichen Fundus der Siemsen-Texte ins Programm? Wie ist es möglich, ein ausgewogenes, vollständiges, zutreffendes Bild von diesem Autor zu zeichnen, in nur einer guten Stunde – und wenn die Panflötenspieler an diesem verkaufsoffenen Sonntag auf der Kettwiger verschlafen haben, günstigstenfalls auch in zwei?

Wieviele zwölf Euro Eintrittsgeld zu zahlen willige Gäste werden erscheinen? Nachdem ich mich seit über einem halben Jahr in ungezählten Stunden mit diesem vergessenen, verdrängten und verschollenen Autor beschäftigt, seine Bücher aus Antiquariaten für ein kleines Vermögen beschafft, seinen Lebenslauf aus entlegenen Quellen rekonstruiert habe, muss das Ergebnis dieser Mühen dann doch schließlich auch für den erbrachten Aufwand stehen, oder? Das ist nun freilich eine völlig neue Fragestellung für mich, denn in den vergangenen fast zwanzig Jahren als kostenloser Vorleser interessierte mich dieser materielle Aspekt gar nicht – weil ich es nicht nötig hatte, mich mit einem dermaßen profanen Thema zu befassen.

Jetzt muss ich mich aber fragen: Wenn jemand zwölf Euro Eintrittsgeld zu einer solchen Vorlesestunde auf den Zahlteller legt, welche Erwartung verbindet er dann mit seiner Investition?

Der Leser spürt hoffentlich, dass ich ein reichlich gestörtes Verhältnis habe zu Heller und Groschen, Mark und Pfennig, Euro und Cent – oder wie die Detailwaren in dieser billigen Klimperkiste immer heißen mögen. Ich muss doch sehr bitten! Das ist schließlich nicht mein Thema und wird es auch nie werden. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr.

Eccentrics (VIII)

Friday, 17. October 2008

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Neben dem „Pferdenarren” war viele Jahre lang der „zwitschernde Leierkastenmann” in Essen ein stadtbekanntes Original. Das kleine Männlein saß mit Zylinder und im schwarzen Ledermantel sommers wie winters an der Kettwiger Straße, der ältesten Fußgängerzone Deutschlands. Sein Stammplatz in der kalten Jahreszeit war zwischen zwei Schaufenstern an der Ostseite des Eick-Hauses, im Schutze des Vordaches von Peek & Cloppenburg (heute Ansons). Bei schönem Wetter fand man ihn auch an anderen Stellen der „Kettwiger”, vor Lederwaren Langhardt am Baedeker-Haus etwa oder am Glockenspiel von Uhren Deiter.

Sein treuer Begleiter war ein frecher kleiner Yorkshire-Terrier. Die Musik aus seiner Drehorgel begleitete er mit Gezwitscher, das er durch Vogl-Pfeiferl erzeugte, jene halbmondförmigen Plättchen, die zwischen Zunge und Gaumen gelegt und durch geschickte Atemtechnik in Vibration versetzt werden.

Böse Stimmen behaupteten, jener Herbert Oberländer – so hieß der Mann – sei durch seine Orgelei und Zwitscherei mittlerweile längst zum Millionär geworden. Man wollte beobachtet haben, wie er nach getaner Arbeit, also nach Ladenschluss um halb sieben, sein Musikinstrument in einen Mercedes Kombi einlud, den er im nahe gelegenen Bankenviertel parke, um anschließend mit quietschenden Reifen davonzupreschen.

Irgendwann Ende der 1990er-Jahre war er dann plötzlich verschwunden. Jetzt habe ich ihn wiederentdeckt [siehe Titelbild], nämlich in einem jüngst erschienenen opulenten Bildband zur Geschichte meiner Heimatstadt. (Herbert Westphalen: Essener Bilderbogen 1880-2007. Die Stadt Essen und ihre Geschichte in mehr als 1.200 Ansichtskarten und Fotos. Essen: Klartext Verlag, 2008, S. 118.) Dort erfährt man auch, dass Oberländer 1998 im Alter von 82 Jahren verstorben ist.

Bei dieser Gelegenheit kann ich mir ein paar kritische Bemerkungen zu diesem Buch nicht verkneifen. Erstens ist es leider, was die Bildunterschriften betrifft, sehr schlampig lektoriert; noch deutlicher: Es strotzt vor sprachlichen Fehlern aller Art. Zweitens folgt die Anordnung des Bildmaterials keinem wirklich einleuchtenden Prinzip. Drittens vermisse ich umso mehr ein Register, das wenigstens so die Orientierung in diesem Durcheinander erleichtern würde. Aber alle diese Mängel werden mehr als wettgemacht durch die sensationelle Vielfalt und Originalität der hier überwiegend erstmals, und dazu in tadelloser Druckqualität, veröffentlichten Bilder. Man kann, was das betrifft, durchaus auf mein fachmännisches Urteil vertrauen, denn ich habe zur Bildgeschichte dieser Stadt so ziemlich alles gesammelt, was in den vergangenen Jahrzehnten im Buchhandel erschienen ist. Speziell was das Baedeker-Haus und das Hansa-Haus betrifft, dachte ich eigentlich, alle verfügbaren historischen Bildquellen zu kennen – und wurde durch Westphalens Buch erfreulicherweise eines Besseren belehrt. Wenngleich nicht unbedingt ein ungetrübtes Lesevergnügen, so bietet es somit doch immerhin einen wahren Augenschmaus für jeden am Gestaltwandel dieser Großstadt interessierten Essener.

Auch ich, auch du.

Thursday, 16. October 2008

Als 75. Band der berühmten expressionistischen Buchreihe Der Jüngste Tag erschienen 1919 im Verlag Kurt Wolff in Leipzig Hans Siemsens „Aufzeichnungen eines Irren” unter dem Titel Auch ich, auch du. Heinz Schöffler hat 1970 alle 86 Hefte dieser Reihe, mustergültig kommentiert und im Faksimile gedruckt, in zwei dicken Bänden im Scheffler-Verlag neu herausgegeben; 1981 erschien ein Nachdruck in sieben Bänden im Societäts-Verlag (beide in Frankfurt am Main).

Dass das Erstlingswerk des 28-jährigen Siemsen in dieser „Bücherei einer Epoche” erschien, neben den Büchern so bedeutender Dichter und Schriftsteller wie Gottfried Benn, Karel Čapek, Paul Claudel, Iwan Goll, Franz Kafka, Carl Sternheim, Georg Trakl und Franz Werfel, das dürfte der hoffnungsvolle junge Autor sicher als eine starke Ermutigung empfunden haben, künftig das Schreiben zu seinem Hauptberuf zu machen.

Auf den knapp zwanzig Seiten des Bändchens, in diesen „Phantasien eines am Krieg irre gewordenen Frontsoldaten” (Michael Föster), verarbeitet Hans Siemsen seine Kriegserlebnisse als Soldat an der Westfront 1917, die durch Feldpostbriefe an seine Mutter und seine neun Jahre ältere Schwester Anna dokumentiert sind. Im Schützengraben las er die Pensées von Pascal, die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann, Flauberts November, Eckermanns Gespräche mit Goethe, Kasimir Edschmids Novellensammlung Timur (die er „albern” fand), den Hasenroman von Francis Jammes, Professor Unrat von Heinrich Mann, Das grüne Gesicht von Gustav Meyrink (eine „Enttäuschung” nach dessen Golem) sowie Romane von Fielding und Balzac. – Vor allem aber las er, offenbar hingerissen und überwältigt, den Tristram Shandy und urteilte: „Welch ein Buch! Ich bin so stolz darauf, als ob ich es selbst geschrieben hätte. Es ist mein Bißchen Begabung zur Vollendung erhoben – aber wir sind durchaus von derselben Familie – und es ist verdammt ein glorioses Gefühl, solche Verwandte zu haben!” (Undatierter Brief an die Mutter; zit. nach Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 26.)

Jenes „Bißchen Begabung” und die behauptete Familienzugehörigkeit gab zu den gewagtesten Hoffnungen Anlass, die durch Auch ich, auch du dann allerdings leider nicht eingelöst wurden. Vielmehr schmiegt sich Siemsens Prosa an den 1919 schon wieder modischen Stakkato-Ton der Expressionisten an: „Namenlos bin ich genannt. / Namenlos irr ich von Land zu Land. / Namenlos elend. / Namenlos tot. / Einmal hatte ich einen Namen. Wie lange ist das her? / Weiß Gott! Wie oft bin ich seit dem gestorben!” Der junge Poet beginnt seine schriftstellerische Laufbahn als Epigone.

Aber ein solches Urteil, über fast ein Jahrhundert hinweg, ist doch andererseits auch wieder eine Anmaßung. Aus der warmen Stube, nach mehr als sechzig Jahren Frieden zumindest hierorts, lässt sich leicht die Nase rümpfen. Wir wissen ja gar nicht, wie gut es uns geht. Ich habe noch in keinem Schützengraben gelegen. Ich kenne den Wald nicht, von dem Siemsen schreibt: „Ich will lieber in unsern Sterbewald! Da warten auf mich, daß ich komme, die lieben Brüder. Ich habe sie so lieb gehabt. Ich habe sie so von Herzen lieb.” Ich habe keine Brüder. Und ich kenne den Krieg bisher nur vom Hörensagen.

Siemsens Kopf

Saturday, 11. October 2008

Seit gut einem halben Jahr versuche ich, mich dem Leben und Werk, nicht zuletzt aber auch der Person des nahezu unbekannten Flaneurs Hans Siemsen anzunähern. Bei einer solchen intensiven Beschäftigung ist nur natürlich, wenn man bald einmal wissen will: Wie sah der Mann eigentlich aus, dem du nun schon so viele Lesestunden gewidmet hast? Bildnisse Siemsens, gleich welcher Art, haben sich indes nur sehr wenige erhalten.

Erstens ein Porträtfoto des jungen Hans Siemsen, wohl aus den frühen 1920er-Jahren, das auch auf Dieter Sudhoffs Hans Siemsen Lesebuch (2003) in graphisch entstellter Form zu sehen ist; zweitens ein Gruppenfoto in der Autobiographie Der Lebensanfänger seines Neffen Pieter Siemsen (2000) aus der gleichen Zeit, mit der Mutter und dem Bruder Karl; drittens ebendort ein weiteres Gruppenfoto von 1935 mit dem Bruder August, dessen Ehefrau Christa, geb. Springmann, und der Schwester Paula, verh. Eskuchen; viertens ein Porträtfoto en profil im Fiche de Renseignements von 1940, das auch für die Gedenktafel in Sanary-sur-mer verwendet wurde; und fünftens schließlich eine Karikatur von B. F. Dolbin, ebenfalls im Profil.

Aus den Daten zu Leben und Werk, die Michael Föster im Anhang (S. 251 ff.) zum ersten Band seiner Siemsen-Ausgabe (1986) zusammengestellt hat, wusste ich, dass die Freundin Renée Sintenis 1924 [recte: 1923] eine Büste von Hans Siemsen modelliert hat. Es waren aber schon einige Recherchen vonnöten, immerhin ein Foto dieses Bildnisses zu finden [siehe Titelbild].

Das sechste und gewiss aussagekräftigste Porträt des 33-jährigen [recte: 32-jährigen] Schriftstellers Hans Siemsen ist reproduziert auf Seite 38 der von Hanna Kiel herausgegebenen Bildmonographie Renée Sintenis, erschienen 1935 im Rembrandt-Verlag, Berlin. Ob die Büste selbst den Weltkrieg überstanden hat und in wessen Besitz sie sich in diesem Fall heute befindet, das konnte ich bisher leider noch nicht herausfinden.

Sehr gern würde ich das Original einmal sehen – und betasten. [Siehe hierzu auch die Kommentare.]

Langsam!

Thursday, 25. September 2008

Gestern stellte der Berliner Verleger Peter Moses-Krause (65) in der Stadtbibliothek Essen Hans Siemsen vor, dessen Feuilletons aus den Jahren 1919 bis 1950 er in einem Auswahlband vorgelegt hat. Ins Programm seines seit 1977 ebenso tapfer wie unverdrossen gegen die Übernahme durch die seelenlosen Branchenriesen kämpfenden Verlages Das Arsenal passt Siemsen insofern gut, als dort auch andere Meister der „Kleinen Form” eine Heimat gefunden haben: Victor Auburtin, Béla Balász, Arthur Eloesser und Franz Hessel.

Gleich eingangs stellte Moses-Krause klar, dass erstens sein Auftritt an diesem Ort eigentlich auf einem Missverständnis beruhe. Der Veranstalter hatte Hans Siemsen in seiner Ankündigung als einen „wiederentdeckten Essener Autor” propagiert, der er ja nun keineswegs war. Seine letzten sechzehn Lebensjahre verbrachte Siemsen zwar im Otto-Hue-Haus, einem Altersheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen, wo er schließlich auch am 23. Juni 1969 im Alter von 78 Jahren gestorben ist. Aber in dieser Zeit hat er keine Zeile mehr zu Papier gebracht. Und zweitens, so der Verleger, müsste eigentlich ein anderer, berufenerer Siemsen-Kenner vor uns auf der Bühne sitzen, nämlich Dieter Sudhoff, der Herausgeber der Sammlung, der im vorigen Jahr im Alter von nur 52 Jahren einem Herzinfarkt erlag.

Moses-Krause widerstand dankenswerterweise der Versuchung, seinen Vortrag mit allzu vielen Kostproben aus Siemsens Werk zu überfrachten. Diese ebenso kurzen wie konzentrierten Texte führen, wollte man einen nach dem anderen „weglesen”, recht bald zur Übersättigung und stehlen sich sozusagen dann gegenseitig die Schau. Nur fünf Feuilletons wurden zu Gehör gebracht: Der Floh im Tasso; Baggesen im Wintergarten; Gartenhaus, I. Etage; Zerstörte Schönheit; Döblin. Eine zwar subjektive, aber durchaus stimmige Auswahl.

Da ich nun aber genug Lob gespendet habe, kann ich mir eine kleine Kritik nicht verkneifen: Moses-Krause las zu schnell, sowohl für seine Verhältnisse, denn er verhaspelte sich des Öfteren; als auch und erst recht für Siemsens Ansprüche. „Nein! Langsam! Langsam!” – so steht’s doch ausdrücklich vorn auf dem schönen schmalen Buch (das, nebenbei bemerkt, sogar fadengeheftet ist), über der Zeichnung von George Grosz [Bei Aschinger, siehe Titelbild]. Warum so eilig? Dies der Titel eines anderen Textes in der verdienstvollen Sammlung. Ja, warum nur?

Hauptsächlich aber erzählte der Verleger von dem tragisch scheiternden Menschen Hans Siemsen. Wer er war und was er wollte. Was er konnte und woran er zerbrach. Kenntnisreich und ohne gravierende Fehler. Gern würde Moses-Krause, glaubt man seinem Bekenntnis, einen weiteren Band von diesem vergessenen Autor veröffentlichen; etwa mit Siemsens Schriften zum Film, die unbedingt eine Wiederentdeckung lohnen. Doch dazu bedürfte es der Ermutigung durch das Interesse der Leser, die allerdings in der Essener Stadtbibliothek am gestrigen Abend leider ausblieb: Die zahlenden und kaufenden Zuhörer waren an den Fingern einer Hand abzuzählen.

[Hans Siemsen: Nein! Langsam! Langsam! Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Sudhoff. Berlin: Verlag Das Arsenal, 2008.]

Der Flüsterer

Tuesday, 23. September 2008

Ein Dutzend Buchveröffentlichungen zu Lebzeiten, dazu über 200 Zeitungsartikel zwischen 1913 und 1950 verzeichnet meine Hans-Siemsen-Bibliographie mittlerweile, und es kommen ständig neue Textfunde hinzu. Siemsen, dessen literarischer Leistung man wohl am ehesten gerecht wird, ohne seine Bedeutung überzubewerten, wenn man ihn einen „Kleinmeister der kleinen Form” nennt, wurde nach seinem Tod 1969 im Otto-Hue-Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen-Holsterhausen gleich zweimal wiederentdeckt. In den 1980er-Jahren gab der Essener Verleger Michael Föster-Düppe in seinem Torso-Verlag eine dreibändige Ausgabe von Siemsens Schriften heraus. Und erst jüngst stellte der Literaturwissenschaftler Dieter Sudhoff zwei Sammlungen seiner Feuilletons zusammen. Sowohl Föster-Düppe (1942-1996) als auch Sudhoff (1955-2007) sind leider allzu jung verstorben.

Siemsen hat sich schon in einer Zeit, als dies noch mit großen persönlichen Risiken verbunden war, offen zu seiner Homosexualität bekannt, was ihn posthum, in der Zeit des Coming-out seit den 1970er-Jahren, zu einem Vorkämpfer der Schwulenbewegung gemacht hat. Dabei steht dieses Thema in seinem Werk durchaus nicht im Vordergrund, von den „Jungensgeschichten” in Das Tigerschiff (1923) einmal abgesehen.

Wenn man um seine sexuelle Orientierung weiß, dann erklärt man sich vielleicht die Zartheit seines Tonfalls, seine geschärfte Sensibilität, seinen Blick auf das Unscheinbare damit und findet bei ihm möglicherweise gar den typischen Ausdruck einer „schwulen Ästhetik”. Das kann aber ebenso gut auch reine Einbildung sein und der Leser sollte sich hüten, sich im Zuge einer solchen Interpretation zu neuen Vorurteilen verleiten zu lassen.

Folgende Schwerpunkte in der Themenwahl des Feuilletonisten Hans Siemsen in den Jahren zwischen den Weltkriegen lassen sich ausmachen: Film, Varieté, Kunst, Literatur und Reiseimpressionen. Ein im engeren Sinne politischer Autor war er nicht, wenngleich die Zeitläufte ihn zwangen, Stellung zu beziehen. Mit seinem Reisebuch Russland ja und nein (1931) und seinem Erlebnisbericht Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers (engl. 1940, dt. 1947) hat er zuletzt zwei hochpolitische Werke vorgelegt, deren Tendenz aber nicht ideologisch determiniert ist, sondern – wie zuvor schon Die Geschichte meines Bruders (1923) – einem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden folgt.

Was mich aber hauptsächlich an Hans Siemsens Texten fasziniert, das ist ihr völliger Verzicht auf kraftmeierisches Auftrumpfen. Nirgends sagt er direkt oder auch nur hinter vorgehaltener Hand Sätze wie diese: ,Ich weiß, was wahr und was falsch ist! Ich hatte ein starkes Erlebnis! Was ich jetzt erzähle, haut euch garantiert vom Hocker, denn es ist völlig neu und überraschend!‘ Ganz im Gegenteil ist seine Tonlage die einer leisen Behutsamkeit – und das in den Roaring Twenties, die uns im Rückblick erscheinen mögen wie ein nicht enden wollendes Silvesterfeuerwerk vor den tausendjährigen Jahren der Finsternis.

Sanary-sur-Mer

Thursday, 28. August 2008

siemsensanary

Nachdem Hans Siemsen über die Schweiz Anfang 1934 ins Pariser Exil geflohen war, lernte er dort im Februar 1936 den 21-jährigen Walter Dickhaut kennen und verliebte sich in ihn. Gemeinsam mit Dickhaut schrieb er 1937 Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers, die dessen Erlebnisse in der Jugend- und Nachwuchsorganisation der NSDAP zum Thema hat. Ein deutscher Verleger fand sich für das Buch nicht, was Alfred Döblin im Frühjahr 1939 in einem Artikel in der Exilzeitschrift Das neue Tagebuch (Paris) beklagte. Im Jahr darauf erschien es dann in englischer Übersetzung (Hans Siemsen: Hitler Youth. Translated by Trevor and Phyllis Blewitt. With a foreword by Rennie Smith. London: Lindsay Drummond Ltd., 1940).

Ende 1938 hielt sich Siemsen in Südfrankreich auf. Möglicherweise besuchte er zu dieser Zeit erstmals das malerische Küstenstädtchen Sanary-sur-Mer am Mittelmeer, in der Nähe von Toulon, das sich in diesen Jahren zu einem Treffpunkt vieler deutscher und österreichischer Emigranten entwickelte. Die Liste jener Literaten, die auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hier eine vorübergehende Zufluchtstätte fanden, ist lang. Eine Gedenktafel in Sanary-sur-Mer verzeichnet in alphabetischer Reihenfolge eine Reihe prominenter und (zumindest heute) weniger prominenter Namen von Dichtern und Schriftstellern, Journalisten und Verlegern.

Hans Siemsens Name fehlt auf dieser Tafel. Verbürgt ist, dass er im August 1939 mit seinem Geliebten Walter in Sanary-sur-Mer Urlaub machte und dort Besuch von Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906-1984) erhielt, der im gleichen Jahr die “American Guild for German Cultural Freedom” gründete und sich später von seinem Exil in den USA aus für die Rettung verfolgter Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler aus dem besetzten Europa einsetzte. Nach seiner vorübergehenden Internierung in den Lagern von Colombes bei Paris (Ende 1939) und Chambaran bei Lyon (Mai/Juni 1940) floh der inzwischen ausgebürgerte und somit staatenlose Siemsen mit Walter Dickhaut nach Sanary-sur-Mer ins unbesetzte Frankreich. Seine Pariser Wohnung wurde von der Gestapo ausgehoben, er verlor seinen gesamten Besitz.

Am 22. Januar 1941 berichtete Hans Siemsen aus Sanary in einem Brief an seinen Freund, den Schweizer Maler und Buchkünstler Max Hunziker (1901-1976), von seiner prekären Lage: „Max, wir leben noch, der Walter und ich. Es ist fast ein Wunder – aber wir leben. Seit Anfang August [1940] leben wir sogar zusammen. Nachdem wir elf Monate getrennt gewesen waren. Ich habe ein Visa für U. S. A. Walter wird eins bekommen. Nur – wie wir hingelangen und ob wir noch können, das wissen wir nicht. Alles, aber auch alles, was wir hatten, haben wir verloren. Nicht nur Kleidung und Wäsche, sondern auch Deine lieben Bilder – und alles andere, was wir lieb hatten. Wir führen ein sonderbares Leben. Jeden Tag und jede Nacht kann sich alles zum Guten – aber auch zum Allerschlimmsten ändern. Wir haben aber vorgesorgt und können rechtzeitig Schluß machen. – Ebenso gut aber ist es möglich, daß wir nach U. S. A. kommen. Für mich lohnt es sich kaum. Aber den Walter hätt‘ ich gern drüben und in Sicherheit. Er ist noch so jung. […] Laßt einmal von Euch hören. Charles Walter, Hotel Beauport, Sanary (Var.) – das genügt. Nichts weiter! Euch allen von Herzen alles Gute! Immer! Dein alter Hans.“ (Hans Siemsen: Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 257 f.) Unter dem Pseudonym „Charles Walter“ hatte sich offenbar Walter Dickhaut in Sanary angemeldet, während Hans Siemsen vorsichtshalber namentlich gar nicht in Erscheinung treten wollte. Im Februar 1941 begaben sich die beiden Freunde von Sanary-sur-Mer aus wieder auf die Flucht. Über Marseille und Spanien erreichten sie im März mit Hilfe von Varian Fry Lissabon, von wo aus sie im Juni auf der SS Guinee New York erreichten.

Ganz in Vergessenheit geraten ist Hans Siemsen an seinem Fluchtort Sanary-sur-Mer übrigens nicht. Am dortigen Place Albert Cavet betreiben noch die hochbetagten Geschwister Louis, Marcelle und Paulette Cavet die „Villa de l’Enclos“, fünf Reihenhäuser als Pensionsbetrieb für Feriengäste in einem kleinen Park. Sie erinnern sich noch gut an den Flüchtling aus Deutschland. Eines dieser Häuser bewohnte einst der deutsch-polnische Kunsthistoriker und Maler Erich Klossowski (1875-1949), Vater des Schriftsteller Pierre Klossowski (1905-2001) und des Malers Balthasar Klossowski, gen. Balthus (1908-2001). Und in einem anderen Haus fanden Siemsen und Dickhaut für ein paar Monate Unterschlupf. An dessen Fassade ist die Gedenktafel angebracht, die das Titelbild zeigt, mit einem Foto von Hans Siemsen im Profil, das ich sonst nirgends gefunden habe.

[Für die Informationen im letzten Absatz danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Gernot Lucas (Konstanz), der mir auch freundlicherweise das Foto der Gedenktafel zur Verfügung stellte.]

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Siemsens Neffe

Sunday, 24. August 2008

karlannahans

Wenn man sich längere Zeit gründlich mit dem Lebenswerk eines nahezu vergessenen Autors beschäftigt, dann will man auch alles über sein Leben wissen – und nicht zuletzt, wie er ausgesehen hat. Im Falle von Hans Siemsen (1891-1969) ist die Quellenlage zu beidem allerdings äußerst dürftig. Ein Foto aus den jüngeren Jahren dieses Flaneurs schmückt das von Dieter Sudhoff zusammengestellte Hans Siemsen Lesebuch (Köln: Nyland Stiftung, 2003), doch hat der für die Umschlaggestaltung laut Impressum zuständige Robert Ward es so zurechtgestutzt, dass nur Siemsens linke Gesichtshälfte zu sehen ist. Dieser Buchkünstler hatte den zweifelhaften Einfall, aus zwei Siemsen-Porträts ein Ausrufezeichen zu formen. Den Strich bildet das halbierte Porträtfoto – und den Punkt darunter eine (auch im Buch auf S. 139 reproduzierte) Karikatur des älteren Siemsen von Benedikt Fred Dolbin.

So hoffte ich, in der Biographie der wesentlich bekannteren älteren Schwester des Dichters, Anna Siemsen (1882-1951), fündig zu werden, die der ebenfalls namhafte Bruder Dr. August Siemsen (1884-1958) verfasst hat. Dieses schmale Buch enthält aber, wie sich leider herausstellte, keine Fotos der Geschwister Siemsen, sondern ledigleich vier Bilder auf Tafeln von Anna. Auch zur Lebensgeschichte ihres Bruders Hans gibt es, außer der knappen Schilderung einer gemeinsamen Radtour im Jahre 1910 durch Holland (S. 29), nicht viel her. (August Siemsen: Anna Siemsen. Leben und Werk. Hamburg u. Frankfurt [am Main]: Europäische Verlagsanstalt, [1951].)

So hegte ich wenig Hoffnung, dass ein weiteres Erinnerungsbuch aus der Siemsen-Familie meine Neugier würde stillen können. Der wohl einzige Sohn von August Siemsen, Pieter Siemsen (1914-2004), hat kurz vor seinem Tod auf sein wechselvolles Leben zurückgeblickt und unter dem Titel Der Lebensanfänger seine Memoiren veröffentlicht. Wie groß war meine freudige Überraschung, als ich in diesem Buch kürzlich nicht nur ein ausführliches und aufschlussreiches Kapitel über Pieter Siemsens „Onkel Hans“ fand (S. 18-22), sondern auch gleich zwei Familienfotos, auf denen Hans Siemsen mit abgebildet ist. (Pieter Siemsen: Der Lebensanfänger. Erinnerungen eines anderen Deutschen. Situationen eines politischen Lebens: Weimarer Republik – Nazi-Deutschland – Argentinien – DDR – BRD. Berlin: trafo verlag dr. wolfgang weist, 2000.)

Bisher hatte ich mir Hans Siemsen als eher kleinen, korpulenten Mann vorgestellt. Wie ich mich zu diesem inneren Bild versteigen konnte, vermag ich beim besten Willen nicht zu erklären. Nun erweist sich [s. Titelbild, aus den 1920er-Jahren], dass er vielmehr groß und schlank war, seine Mutter Anna Siemsen, geb. Lürßen (1854-1931), weit überragte und auch deutlich größer war als sein älterer Bruder Karl Siemsen (1887-1968). Und auf dem zweiten Foto sieht man, dass Hans Siemsen, zumindest Mitte der 1930er-Jahre, Zigaretten rauchte.

Zum Verständnis und zur Bewertung von Siemsens Schriften trägt die Kenntnis seiner persönlichen Eigenschaften und Lebensgewohnheiten zwar kaum bei, handelt es sich doch bei solchen Äußerlichkeiten um bloße Akzidenzien der geistigen Erscheinung. Und doch fehlt mir etwas, wenn ich mir kein äußerliches Bild von einem Autor machen kann. (Thomas Pynchon, der sich diesem Bedürfnis seiner Leser konsequent verweigert hat und dennoch nicht verhindern konnte, dass ein Jugendbild von ihm veröffentlicht wurde, steht vor meinem inneren Auge nun bis auf weiteres da als der Mann mit den Hasenzähnen.)

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Thursday, 07. August 2008

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Kölnreise

Wednesday, 16. July 2008

daphne

Sehr selten und immer seltener, kaum aus besonderem Anlass oder triftigem Grund, sondern aus einer aufflackernden Laune juveniler Abenteuerlust heraus, weil mir der Schalk im Nacken sitzt und ich mich zu seinem Gaul machen will, wo ich üblicherweise doch immer im bequemen Herrensattel meine Prinzipien reite, also in einer recht eigentlich masochistisch grundierten Stimmungslage bequeme ich mich zu dem Entschluss, eine Reise anzutreten.

Ist der Tag der Abreise dann plötzlich da wie heute, schimpfe ich mich einen Toren und alten Trottel, der sich diesen Tag verderben musste in einem lange schon zurückliegenden, im Rückblick unerklärlichen Moment der Schwäche. ,Worauf habe ich mich da bloß wieder eingelassen!‘ Der schwarzgallige Verdruss wird allein dadurch erträglich, dass dieser Tag ja zugleich der Tag der Rückkehr ist. Und der tatsächliche Aufbruch ist mir überhaupt nur möglich durch die Aussicht auf die erfreulich nahe Rückkehr. Ohne diese frohe Erwartung müsste ich im letzten Moment noch unweigerlich stornieren.

Wie es in Köln so war? Zauberhaft – auch dank meiner staunenden Begleitung.

Die Reise galt meinem alten Freund Kamillus: dem großen Bibliophilen. Sie galt seiner kleinen, aber in jeder Kleinigkeit so bedachtsam und geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Kalk. Sie galt dem Schrägstand seiner Augenbrauen bei konzentriert gesuchten Formulierungen, die dann in solch bewundernswerter Präzision über seine Lippen kommen, der Rechtschaffenheit seines gründlich erwogenen Urteils – das ich freilich nicht immer teile – und dem im Alter noch immer so präsenten, so vielseitigen Wissen. Sie galt seiner Lebendigkeit, die gerade vor dem Hintergrund einer tiefen, allgemeinen Resignation erst ihre Strahlkaft gewinnt. Sie galt zuletzt auch, fast schäme ich mich, es zu bekennen, seiner erlesenen Bibliothek, von der umgeben zu sein mir stets aufs Neue ein fast körperlich spürbares Gefühl intensiver Lust bereitet.

Der geplante Höhepunkt der Reise war jener Augenblick, als ich Hans Siemsens Tigerschiff in eigenen Händen hielt, seine „Jungensgeschichten“ mit den zehn handsignierten Originalradierungen von Renée Sintenis, einer ihrer bekanntermaßen schönsten Arbeiten für den Buchdruck, erschienen 1923 im Querschnitt-Verlag in Frankfurt, im Impressum zusätzlich von Siemsen und Sintenis signiert, eins von nur 250 nummerierten Exemplaren, als 26. Flechtheim-Druck erschienen. Zauberhaft – aber vorbei. Ich bin wieder daheim.

Verunnoseln

Saturday, 28. June 2008

„Wer suchet, der findet!“ Mit dieser Ermunterung suchte mein Vater mich, den Fünfjährigen, zu beschwichtigen, wenn ich wieder mal mein kleines Papierscherchen nicht finden konnte und jähzornig mit dem Fuß aufstampfte, den Tränen nahe. Die Erfahrung, dass sich handfeste Gegenstände unter der Hand in Luft auflösen können, gehörte zu den frühesten Erschütterungen meines eben erst erwachenden Selbstbewusstseins. Noch heute kann mich zur Weißglut bringen, wenn ich wieder einmal meine Brille oder mein Schlüsselbund nicht finde, die sich doch unzweifelhaft irgendwo versteckt haben müssen, denn ein anderes Sprichwort meines mit Redensarten reich versehenen Vaters lautete: „Das Haus verliert nichts!“ Aber es ersinnt scheinbar immer wieder neue Schlupfwinkel, in denen es das Gesuchte hartnäckig meinen Blicken entzieht.

Der gesunde Menschenverstand sagt mir natürlich, dass es keineswegs die toten und unbeseelten Dinge sind, die mir einen solchen Streich spielen. Auch sind die Wohnräume, die erst durch mich und meine Mitmenschen mit Leben, wahlweise mit Ordnung oder Chaos erfüllt werden, keine Trickdiebe und Zauberkünstler, die uns als böswillige Akteure des Verbergens an der Nase herumführen. Seit Sigmund Freud die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat, dass allen menschlichen Fehlleistungen eine tiefere Bedeutung zukommt und es somit auch keineswegs ein zufälliges Missgeschick ist, wenn sich plötzlich ein dringend benötigter Gegenstand hartnäckig unseren Blicken entzieht; seither wissen wir, dass hinter diesem schwer erklärlichen Verschwinden eine Absicht steckt, eine versteckte, freudianisch gesagt: unbewusste.

Die Sprache, unbestechlich wie immer, entlässt uns ohnehin nicht aus der Verantwortung. Ich bin es, der die Brille verlegt, das Schlüsselbund verbumfiedelt, die Schere verbaselt hat. Heute habe ich für das unfreiwillige und unbeabsichtigte Versteckspiel mit uns selbst ein neues Verb gelernt: verunnoseln. „Wissen Sie, was verunnoseln ist? Eine Sache verunnoseln, heißt eine Sache verlieren. Vielmehr, wie wir in der Schule sagten: ,Du hast meinen Federhalter verloren gemacht!‘ Verloren machen – das ist verunnoseln.“ (Hans Siemsen: Wannsee; in Otto Schoff: Das Wannseebad. Berlin: Verlag Galerie Alfred Flechtheim, 1921; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 108.) Der nahezu völlig verloren gegangene Flaneur Hans Siemsen beschwert sich in diesem Vorwort über den Kunsthändler und Verleger Flechtheim, dass dieser sein erstes Vorwort verlegt habe – und darum nun ein zweites benötige: „Er hat es so sorgfältig weggelegt, daß es nun kein Mensch mehr wiederfinden kann. Er hat es verunnoselt.“

Tempi passati! Heute bedürfen Autoren keiner Verleger mehr, um sich in solche Verlegenheit zu bringen. Sie verunnoseln ihre unveröffentlichten Manuskripte höchstpersönlich, indem sie als Blogger ihre eigenen Verleger sind. So widerfuhr es mir in den vergangenen drei Tagen mit meinen längst fertigen, so hübschen Würfelwürfen für den 25. bis 27. Juni. Spurlos verschwunden. Unauffindbar. Ich werde die zunächst in meiner ordentlichen Handschrift verfertigten Texte vermutlich in ein Buch gelegt haben. Ein besseres Versteck gibt es in diesem Haushalt nicht. Nun ist der vorzeitige Verlust von drei unter mancherlei Qualen geborenen Geisteskindern zwar höchst bedauerlich, aber einen guten, tieferen Grund wird es für diese Verunnoselung, wenn wir dem weisen Doktor aus der Wiener Berggasse 19 glauben dürfen, ganz gewiss gegeben haben.

Und sei es das Erlernen eines neuen Wortes, das nicht einmal Google bisher kannte.

Asta

Wednesday, 25. June 2008

asta

Die „Roaring Twenties“, dieses gewiss später zu sehr verklärte, in der Unklarheit seiner unaufgelösten Widersprüche aber ebenso gewiss explosiv-schöpferische, gärende und temporeiche, fragende und fragwürdige Jahrzehnt, verbrachte Hans Siemsen in Berlin, der Reichshauptstadt und deutschen Metropole der Boheme.

Helmut Kreuzer hat in seiner wegweisenden Monographie über den anarchischen Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft der Bedeutung des Café-Hauses, der Künstlerkneipe und des Kabaretts ein eigenes Kapitel gewidmet. (Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1968, S. 202-216.) Die Anziehungskraft solcher Lokalitäten erklärt er mit einem Polgar-Zitat aus dem ambivalenten Bedürfnis der Einzelgänger, „die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen“.

Siemsen verkehrte „in einem kleinen Lokal in der Passauer Straße“ in Berlin-Tempelhof, in dem sich der Verleger Ernst Rowohlt mit seinen Autoren traf: „Franz Hessel, Joachim Ringelnatz, Hans Siemsen, mitunter war auch Asta Nielsen dabei und hörte, den ausgestreckten Zeigefinger unter dem Kinn, wortlos und unnahbar den Gesprächen zu. Noch ihr Schweigen schien einen dänischen Akzent zu haben. Sie schminkte sich nie, wenn sie ausging, und kleidete sich möglichst unauffällig, beinahe schlampig, teils um nicht erkannt zu werden, teils aus dem bei Schauspielern nicht selten anzutreffenden Wunsch, sich gehenzulassen, wenn man nicht spielte.“ (Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil. München: Luchterhand Literaturverlag, 2008, S. 172.)

In ihrer Autobiographie Die schweigende Muse (1946) schreibt sie zwar über ihren Freund Joachim Ringelnatz; Hans Siemsen kommt darin nicht vor. Dabei hat Siemsen doch ein so bezauberndes Feuilleton über die Stummfilmdiva und zugleich über die ästhetische Sensation des frühen Films geschrieben: „Das Erstaunliche und Bewundernswerte,“ so heißt es da, war dank Asta Nielsens mimischem Genie „nicht mehr die technische Leistung des neuen Wunderapparates, den man ,Kinematograph‘ nannte, sondern ein menschliches Gesicht und die Suggestion, die von ein paar großen Augen und von ein paar schmalen, zuckenden Lippen ausging. Es stellte sich heraus, daß das einfache, alltägliche menschliche Antlitz wunderbarer, seltsamer und phantastischer sein konnte als der phantastische Apparat. Nicht mehr der Apparat, sondern der Mensch war die Hauptsache. Die Kunst hatte über die Technik gesiegt.“ (Hans Siemsen: Asta Nielsen. In: Film und Volk. Berlin. Heft 2, April 1928; hier zit. nach Schriften II. Kritik – Aufsatz – Polemik. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 161.)

Der Stummfilmstar, der am Tonfilm scheiterte, hat sich frühzeitig auf die Ostseeinsel Hiddensee in sein Haus Karusel zurückgezogen, wo Joachim Ringelnatz die Freundin gelegentlich besuchte. Renate Seydel, die dort eine kleine Buchhandlung betreibt, hat ein Buch über Asta Nielsen herausgegeben, das ich noch nicht kenne und in dem Hans Siemsen vermutlich nicht vorkommt. – Was ist das noch gleich für ein Vogel, dessen Gesang unsere menschliche Stimme zum Verstummen bringen möchte? Luscinia luscinia, so hat Linné 1758 den Sprosser genannt. Sein Ruf ist laut, mit einer breiten Varietät von Trillern, Schnalzlauten und Pfiffen.

Eccentrics (VII)

Monday, 23. June 2008

pferd

Etwa bis Mitte der 1970er-Jahre gab es in meiner Heimatstadt Essen ein ortsbekanntes Original, einen großen, dünnen Mann in schäbiger Kleidung, der schnellen Schrittes durch die Straßen lief und mit lauter Stimme den immer gleichen Satz deklamierte: „Deutschland hat keine Pferde mehr!“

Nie habe ich aus seinem Munde andere als diese fünf Worte gehört. Auf Vorhaltungen – „Schreien Sie doch nicht so!“ – und Fragen – „Ja, und?“ – reagierte er grundsätzlich nicht. Er wirkte völlig entrückt, wie ein fanatischer Missionar, der nur das eine Ziel hatte, öffentlich den Verlust des Pferdes zu beklagen.

Da von dem Exklamator selbst keine Auskünfte über seine Beweggründe erlangt werden konnten, waren hierüber unter den Bürgern der Stadt zahllose Theorien im Umlauf. Manche meinten, er habe in seiner Kindheit von einem Droschkengaul einen Hufschlag vor den Kopf erhalten. Andere waren überzeugt, dass er in seiner Jugend Stallbursche bei Krupp auf Villa Hügel gewesen sei und nach dem Krieg seinen Arbeitsplatz verloren habe. Ich gehörte eher zu jener Fraktion seiner Interpreten, die aus dem Satz einen allgemeinen Protest gegen die zunehmende Automobilisierung der Stadt herausdeuten wollten.

Immer spiegelte sich in den Reaktionen der teils erschreckten, teils belustigten, teils empörten Passanten auf den stereotypen Satz die ganze Vielfalt ihrer Meinungen und Haltungen wider, von freundlichem Mitleid über verstörtes Unverständnis bis hin zu aggressiver Intoleranz. Wer den „Pferdenarren“, wie er auch genannt wurde, schon kannte und von fern heraneilen sah, achtete nicht mehr auf ihn, sondern auf die Nichtsahnenden ringsum und ihr so unterschiedliches Verhalten, wenn er plötzlich losplärrte: „Deutschland hat keine Pferde mehr!“

Irgendwann verschwand er auf Nimmerwiedersehen. So wenig man über seine Herkunft, sein Leben und den Grund seines exzentrischen Auftretens gewusst hatte, so wenig erfuhr man nun über seinen Verbleib. Ob er gestorben war, um die weite Reise in den Pferdehimmel anzutreten? Immer wieder hatte ich von entrüsteten Zeitgenossen den Satz gehört: „Dass man so was noch nicht weggeschlossen hat!“ Vielleicht hatte man also den harmlosen Mann endlich für den Rest seiner Tage weggeschlossen, wer weiß? Damit es irgendwann zur Beruhigung der Normalen hierzulande heißen kann: „Deutschland hat keine Exzentriker mehr!“

Eccentrics (VI)

Sunday, 22. June 2008

loch

Zum ersten Mal erfuhr ich von der Methode im Sommer 1975, als ich in Jochens Teestube Jaap begegnete, der gerade aus Amsterdam kam und nach Tanger wollte. Er erzählte mir von einem Holländer namens Bart Huges, der sich zehn Jahre zuvor ein Loch in den Schädel gebohrt habe, um sich „vom lästigen Druck des Erwachsenseins zu befreien“. – „Und?“, fragte ich. „Ist es ihm gelungen?“ – Jaap sah mir tief in die Augen und lächelte: „Dieser Mann ist der freieste und glücklichste Mensch, dem ich je begegnet bin.“

Anfänglich hielt ich Jaaps Story noch für eines jener Ammenmärchen, die später als moderne Großstadtlegenden in Anthologien wie Die Spinne in der Yucca-Palme versammelt wurden. Als hartnäckiger Skeptiker, der ich nun mal bin, glaube ich grundsätzlich nur, was ich schwarz auf weiß gedruckt in der Hand halte – und auch davon höchstens die Hälfte. Im November 1976 begegnete mir dann aber der erste schriftliche Beweis für die Existenz jenes Bart Huges. Auf dem Flohmarkt erstand ich das Buch Rauschgiftesser erzählen (Hrsg. v. Edward Reavis. Frankfurt am Main: Bärmeier & Nikel, 1967). Und darin entdeckte ich (S. 307-318) ein Interview, das Joe Mellen 1966 für The Transatlantic Review mit dem Selbsttrepanator geführt hatte, unter dem Titel: Das Loch zum Glück.

In aller Kürze meinte Bart Huges, Folgendes erkannt zu haben. Im Zuge der Evolution von Homo sapiens erectus, sozusagen als Schönheitsfehler des aufrechten Gangs, wird das menschliche Gehirn nach dem endgültigen Verschluss der Fontanellen mit zu wenig Blut versorgt. Um dieses Defizit auszugleichen und für ein größeres Gehirnblutvolumen zu sorgen, reicht ein pfenniggroßes Loch in der Schädeldecke, das gleichzeitig zu einer Verringerung der Rückenmarksflüssigkeit im Schädel sorgt. Das natürliche Gleichgewicht wird so wiederhergestellt. Das Ergebnis ist, so Huges, der Homo sapiens correctus. Die Verirrungen des vorgeblich erwachsenen, in Wahrheit aber behinderten Zweibeiners, wie Kriege, Zerstörung der Natur und alle Arten von Autoaggression, gehören endgültig der Vergangenheit an.

Bislang hat seine Methode, die übrigens zur Behandlung von Geisteskrankheiten als „Steinschneiden“ in früheren Jahrhunderten weit verbreitet war, begreiflicherweise nur sehr wenige Nachahmer gefunden. Wer bringt schon den Mut auf, sich eigenhändig einen Elektrobohrer an den Kopf zu setzen, auf die Gefahr hin, mit dem so eröffneten „Dritten Auge“ nicht die ersehnte Erleuchtung zu erfahren, sondern unversehens in ewige Finsternis abzutauchen? Chirurgen, die bereit wären, mit professionellen Mitteln diese ungewöhnliche Operation durchzuführen, scheint es auch nicht zu geben.

So sind wir von Bart Huges’ Vision, der 2004 glücklich gestorben ist, noch weit entfernt: „Ich plädiere für die Möglichkeit, daß jeder Erwachsene, der es wünscht, sich trepanieren lassen kann. […] Es gibt keinen einzigen Grund, warum auch nur ein einziger Erwachsener darauf verzichten sollte, wenn er von der lästigen Behinderung durch die Erdenschwere befreit werden will. […] Der Feind heißt: zu großer Ernst. Der Erwachsene ist sein Opfer – die Gesellschaft seine Krankheit. Mein Problem ist es jetzt, wie ich den Erwachsenen, die zu wenig Blut im Gehirn haben, um das zu verstehen, erkläre, daß sie zu wenig Blut im Gehirn haben, um zu verstehen. […] Ich glaube, daß keine Organisationsform der Erwachsenen optimal funktionieren kann, wenn nicht jeder Erwachsene innerhalb dieser Organisation trepaniert ist.“ (Reavis, a. a. O., S. 314.)

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Sunday, 22. June 2008

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Eccentrics (IV)

Friday, 20. June 2008

vorprogramm

Na klar doch, auch Alfred Polgar der Große hat ein kleines Prosastück über die Eccentrics geschrieben. (Er schreibt sie, eingedeutscht, „Exzentriks“.) Da steckt mal wieder mehr drin, als hineinpasst. Polgars Miniaturen platzen ja, so gertenschlank sie auch sein mögen, immer aus allen Nähten.

Ganz allgemein sagt Polgar über die aus der Mitte an den Rand Geschleuderten und über unser Verhältnis zu ihnen viel in wenigen Worten, also das Wesentliche: „Exzentriks sind leibhaftige Pamphlete wider Würde, Ernst, Haltung. Dafür dankt ihnen unser Herz, befriedigt wie ein Subalterner, der des Gebots, das ihn sein Lebenlang drückt und beugt, ein Weilchen spotten darf. Exzentriks erlösen vom Übel der Schwerkraft. Sie verhelfen zu einer Vision vom Spielzeughaften der Welt … und so zu Kindheits-Glück. Unter ihren Griffen wackelt die Kausalität wie Baggesens Tellerbau; wenn sie einstürzt, ist das Musik unserem Hirn.“ (Alfred Polgar: Exzentriks. Zuerst erschienen im Berliner Tageblatt, Abendausgabe v. 22. Dezember 1927, S. 2; hier zit. nach Musterung. Kleine Schriften, Band 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004, S. 364 f.)

Sehr speziell nennt und erklärt Polgar ein paar Beispiele, von denen Baggesens Tellerbau vielleicht das eindringlichste ist. Baggesen? Der Name kommt mir doch bekannt vor? Ach ja, richtig: Ich habe doch neulich erst bei Hans Siemsen von diesem „Dichter im Porzellanladen“ gelesen. Siemsen beschreibt einen Auftritt des komischen Jongleurs im Berliner „Wintergarten“, während Polgar ihn in Wien gesehen haben dürfte. Die Details sind die gleichen. Vermutlich war „der alte Baggesen“, wie Siemsen ihn nennt, 1927 auf Europatournee. (Vgl. Hans Siemsen: Baggesen im Wintergarten. Zuerst erschienen im 8-Uhr-Abendblatt, Berlin, v. 19. Februar 1927; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Hrsg. v. Dieter Sudhoff. Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 36.)

Offenbar war Baggesen vor achtzig Jahren ein Publikumsmagnet. Er füllte große Säle und war in aller Munde. Umso erstaunlicher ist, dass man ihn bei Wikipedia nicht findet. Und selbst bei Google musste ich mich bis zur zehnten Seite durchklicken, bis ich endlich einen Hinweis auf ihn fand. Am 30. Juni 1893 berichtete die New York Times in einem kurzen Artikel über einen Auftritt Baggesens im „Madison Square Garden“: Wonderful Contortionist Baggesen. – Carl Baggesen, the contortionist who performs nightly in the roof entertainment at Madison Square Garden, gave a special performance yesterday afternoon for a number of doctors and newspaper men, in the concert hall of the Garden. Baggesen twisted and turned himself into all sorts of positions, turning so far around as to make it appear that his spinal column was in line with the position ordinarily occupied by the breast bone.“

So gelenkig war Baggesen dreißig Jahre später vermutlich nicht mehr, dass er als Schlangenmensch sein Publikum bezaubern konnte. Aber sein Spiel mit dem Tellerstapel und mit einem klebrigen Fliegenpapier muss immerhin noch komisch und atemberaubend genug gewesen sein, um selbst anspruchsvolle Zuschauer wie Siemsen und Polgar in seinen Bann zu ziehen. Jetzt wissen wir immerhin, dass Baggesen mit Vornamen Carl hieß. Und nun entdecke ich, dass auch Kurt Tucholsky diesem Varieté-Künstler einmal großes Lob spendete, als er meinte, dass in „den Tellerkunststücken eines großen Jongleurs mehr Geist und Esprit stecken [könne] als in den furchtbaren und geschmacklosen Radauliedern unserer Humoristen.“ (Peter Panter: Varieté und Kritik. Zuerst erschienen in Die Weltbühne Nr. 30 v. 27. Juli 1922, S. 88; hier zit. nach Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1975, 236.) – Exzentriker sind, so scheint es, für den Augenblick und nicht für die Unsterblichkeit gemacht.

Kazett

Saturday, 14. June 2008

siemsen-ja-und-nein

Ich lese gerade im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem nahezu verschollenen deutschen Schriftsteller Hans Siemsen dessen Buch Russland ja und nein (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931). Im Herbst 1930 hatte Siemsen im Auftrag der Frankfurter Zeitung eine sechswöchige Reportagereise in Stalins Reich unternommen. Obwohl das Buch, der Titel deutet es ja schon an, alles andere als ein Lobgesang auf den Kommunismus sowjetischer Prägung ist, hatte er damit sein Bleiberecht im bald aufziehenden Dritten Reich endgültig verwirkt. Dass die Nazis es erst am 31. Dezember 1938 auf ihre „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ setzten, kann man vielleicht am ehesten mit ihrer Unbildung und Ignoranz erklären. Schon bei den Bücherverbrennungen im Frühjahr 1933 waren ihnen beim Zusammenstellen ihrer Listen ja etliche kuriose Fehler unterlaufen.

Im kurzen Vorwort zu seinem Russland-Buch schreibt der Autor: „Von den Sowjet-Russen können wir viel lernen, von ihren Fehlern und den Fehlern, die sie machen und gemacht haben, ebensogut wie von ihren Vorzügen und Leistungen. […] Ich habe in Rußland viel gelernt. Im Guten wie im Bösen. Vielleicht nützt es ein paar Menschen, wenn ich davon erzähle.“ (A. a. O., S. 5.)

Hier klingt unter der Tarnkappe vornehmer Bescheidenheit bereits jener resignative Ton an, der in den wenigen erhaltenen Briefen Siemsens aus den Jahren des Exils schließlich dominieren wird. Es ist doch alle Hoffnung vergeblich, die große Utopie ist gescheitert – dies ist, zwischen den Zeilen, die verzweifelte Botschaft von Siemsens Reisebericht.

Ob es vor nun 77 Jahren ein paar Menschen „genützt“ hat, dieses Buch zu lesen, ist mehr als fraglich. Heute aber ist die Lektüre, was mich betrifft, durchaus Gewinn bringend, in vielen kleinen Details bedenkenswert und erhellend. So wenn Siemsen über das Schicksal der verwahrlosten, verwaisten, vagabundierenden Kinder in Russland schreibt: „Zur selben Zeit aber wurden im selben Rußland stehlende Kinder einfach niedergeschossen, aus den Zügen, mit denen sie als blinde Passagiere fuhren, herab und unter die Räder geworfen, eingefangen, laufen gelassen und wieder eingefangen, von Razzien zusammengetrieben in Gefängnissen und Konzentrationslagern kaserniert und, wenn keine Lebensmittel, wenn selbst trockenes Brot einfach nicht mehr da war, wieder entlassen, wieder auf die Straße geschickt.“ (Ebd., S. 37.)

Da springt es mich also an, dieses Wort „Konzentrationslager“, das sich wenig später zum Kainsmal eines faschistischen Regimes mausern sollte, welches das Verbrechen des Jahrhunderts längst schon plante. Anfangs kürzten die neuen Herren im Land der Dichter und Denker das Schreckenswort noch, was ja auch nahe liegend ist, mit „KL“ ab. Angeblich waren es dann die SS-Wachmannschaften in den Menschenvernichtungsfabriken, die später der Abkürzung „KZ“ wegen ihres härteren Klanges den Vorzug gaben. In einem Buch aus dem Jahr 1931 steht das Wort da noch in aller Unschuld. Und der Stalinismus fand bald ein eigenes, viel weicher klingendes für die gleiche schmutzige Angelegenheit: Gulag.

Eccentrics (III)

Monday, 09. June 2008

links-engelhardt

Was die rechte Lebensweise angeht, im besonderen Falle die Frage der richtigen Ernährung, verhält es sich so. Im Mittelpunkt der Normalität formulieren die Diätetiker das Ideal größtmöglicher Ausgewogenheit, „nichts zu viel und nichts zu wenig“. Sie berechnen pro Kilogramm Körpergewicht den idealen Tagesbedarf an Fett, Kohlenhydraten, Proteinen, Vitaminen, Spurenelementen und Ballaststoffen und bereiten uns dann, den Kochlöffel in der Rechten und die Nährstofftabelle in der Linken, unsere täglichen Mahlzeiten.

An den Rändern der Exzentrizität hingegen plädieren messianische Gesundheitsapostel für mehr oder weniger radikale Verzichtserklärungen, für Rohkost, Instinctotherapie, Vegetarismus, Veganismus und eine unüberschaubare Vielzahl von speziellen Diäten, von der Hayschen Trennkost bis zum Heilfasten nach Franz Xaver Mayr. Während letztere sich in aller Regel aber als zeitlich befristete Übergangsphasen zur Gewichtsabnahme, Entgiftung und „Entschlackung“ empfehlen, gehen manche Küchenexzentriker noch einen Schritt weiter und fordern die maßlose Reduktion des Speiseplans gleich lebenslänglich – wie lange auch immer ein solches Leben in der bewussten Beschränkung währen mag.

Ich kannte zum Beispiel mal eine junge Frau, nennen wir sie Liane, die sich etliche Jahre alltäglich ausschließlich von sehr vielen Bananen, wenigen Zitrusfrüchten und mehreren Litern Früchtetee ernährte. Liane war außergewöhnlich schlank, aber durchaus muskulös und geistig auf der Höhe, verfügte, etwa beim Radfahren, über große Ausdauer und litt unter keinerlei chronischen oder akuten Krankheiten. So hatte sie z. B. schon seit Jahren keine Erkältung mehr gehabt. Auf die Frage, ob sie die Eintönigkeit beim Essen nicht als sehr langweilig empfinde, gab Liane sinngemäß zur Antwort: „Essen dient doch nicht der Unterhaltung! Nach Abwechslung verlangt nicht mein Verdauungstrakt, sondern mein Gehirn.“ Ihre eigenwillige Dauerdiät war sehr billig und sparte zudem viel Zeit, die üblicherweise für Einkäufe und Zubereitung draufgeht. Leider kann ich nicht berichten, ob dieser wagemutige Selbstversuch auch langfristig zu keinen Mangelerscheinungen geführt hat, denn ich verlor Liane bald aus den Augen.

Ich musste kürzlich wieder an sie denken, als ich einen Wikipedia-Artikel über den „Aussteiger“ August Engelhardt (1875 – 1919) las. Was für Liane die Bananen, das waren für diesen Exzentriker die Kokosnüsse. Der Nürnberger Sektengründer, der im Alter von 32 Jahren in die Südsee ausgewandert war und das zu Neuguinea gehörige Eiland Kabakon erworben hatte, nannte seine Beschränkung auf ein einziges Nahrungsmittel „Kokovorismus“ und predigte: „Nackter Kokovorismus ist Gottes Wille. Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott.“ (Hier zit. nach Johannes W. Grüntzig u. Heinz Mehldorf: Expeditionen ins Reich der Seuchen. München: Elsevier, 2005, S. 233.)

Schon nach wenigen Jahren praktiziertem Kokovorismus musste Engelhardt allerdings ins Hospital von Herbertshöhe auf Papua-Neuguinea eingeliefert werden. Er „wog bei einer Körpergröße von 1,66 Metern nur noch 39 Kilo, litt am gesamten Körper an Krätze, hatte zahlreiche Hautgeschwüre und konnte vor Entkräftung nicht mehr gehen.“ Aber ein überzeugter Heilsbringer lässt sich von solchen Rückschlägen nicht entmutigen. Nach seiner Wiederherstellung fühlte er sich dem erstrebten ätherischen Zustand nur umso näher und setzte seine Kokosnussdiät fort. August Engelhardt starb im Alter von 49 Jahren auf Kabakon, seine Todesursache ist ebenso unbekannt wie seine Grabstätte.

Eccentrics (II)

Friday, 06. June 2008

bah

Der Großmeister des Interviews, André Müller, hat einmal als selbst Interviewter bekannt, dass er sich in Gespräche zwischen Irren besser hineinfinden könne als in die meisten Unterhaltungen der vorgeblich geistig Gesunden: „Im Irrenhaus würde ich mich wahrscheinlich wohlfühlen. […] Nicht unbedingt in der Art, wie man dort eingesperrt ist; nicht die Ärzte. Aber ich hab, wenn ich so manchmal Filme über Irre sehe, die miteinander sprechen, das stimmt ja völlig, die reden ja keinen … das schaut immer so wie Unsinn aus, aber im Grunde ist das ein irrsinnig stimmiger Dialog, und in den würde ich mich immer sehr gerne einklinken. Also, da könnte ich ganz gut mitreden. So muss ich halt immer schaun, dass man immer … also meine Lebensleistung ist, ein normales Bild nach außen abzugeben. Das ist meine größte Schwierigkeit.“

Eine sehr ähnliche Aussage fand ich kürzlich bei Philip K. Dick: „Die grundlegende Voraussetzung, die all meine Kurzgeschichten beherrscht, ist, daß ich, würde ich je eine extraterrestrische Lebensform (besser bekannt unter der Bezeichnung ,kleine grüne Männchen‘) kennenlernen, feststellen müßte, daß ich mit ihr mehr zu reden wüßte als mit meinem Nachbarn. Was die Leute in meiner Straße tun, ist, ihre Zeitungen und ihre Post hereinzuholen und mit ihren Autos wegzufahren. Im Freien gehen sie keiner anderen Beschäftigung nach, als ihren Rasen zu mähen. Einmal ging ich nach nebenan, um zu sehen, womit sie sich im Haus beschäftigten. Sie sahen fern.“ (Philip K. Dick: Afterthought by the Author; hier zit. nach ders.: Black Box. Frankfurt am Main: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, 2008, S. 625.)

Auch André Müllers Schwierigkeit ist Dick vertraut: „Ich hatte eine Heidenangst, das Universum könnte entdecken, wie anders ich eigentlich war. Ich hatte den Verdacht, daß es irgendwann die Wahrheit über mich herausfinden und vollkommen normal darauf reagieren würde: Es würde mich kriegen. Ich hatte nicht das Gefühl, es sei bösartig, nein, bloß scharfsichtig. Und es gibt nichts Schlimmeres als ein scharfsichtiges Universum, wenn man ein bißchen sonderbar ist.“ (Dick, a. a. O., S. 633.)

Solche Vorstellungen und Ängste sind mir nur zu vertraut. Manchmal denke ich, dass ich sofort weggesperrt würde, wenn man meine Gedanken lesen könnte.

Aber die Gedanken sind frei. Und so scharfsichtig ist das Universum noch nicht, dass es sie erraten könnte.

Eccentrics (I)

Thursday, 05. June 2008

engelhardt-und-makelli

In der Mitte drängen sich auf engstem Raum die normkonformen Durchschnittsmenschen und erfreuen sich ihrer Verwechselbarkeit. Otto Normalverbraucher und Erika Mustermann definieren den gesunden Menschenverstand und meiden die kleinste Abweichung von ihresgleichen wie die Pest. Der Prototyp idealer Anpassung macht allenfalls ein Prozent der Gesamtpopulation aus. Sehr interessant, diese Leute.

Im weiten Feld rings um dieses Zentrum leben fast alle anderen Menschlein, die sich durch mehr oder weniger seltene Hobbys, mehr oder weniger heimliche Laster und mehr oder weniger ungewöhnliche Meinungen einen letzten Rest von Individualität zu bewahren trachten. Sehr uninteressant, diese Leute.

Und ganz weit draußen schließlich, am äußersten Rand, schwirren jene lebensuntüchtigen Außenseiter umher, die auf diese oder jene Weise dazu beitragen, die Möglichkeiten des Menschseins um eine radikale Perspektive zu bereichern: die Freaks, Religionsstifter, Schizophrenen, Philosophen, Verbrecher, Künstler, Anarchisten, Erfinder, Entdecker und Visionäre. Diese Leute, die das restliche Prozent ausmachen, sind wieder sehr interessant.

Um die 98 Prozent, die Bewohner des Mittelfelds, muss ich mich nicht kümmern. Das besorgen ja schließlich die mittelmäßigen Massenmedien alltäglich mit stupider Gründlichkeit. Wenn ich an die Masse denke und ihre überwältigende Macht, dann muss ich unwillkürlich gähnen. Diese Vorstellung ersetzt mir abends im Bett mit zuverlässiger Wirkung das Schäfchenzählen.

Was mich anregt und belebt, das ist einerseits das Ideal des normierten Menschen, jener Avatar der Zukunft, der es nicht mehr nötig haben wird, zwischen McDonald’s und Burger King zu wählen oder zwischen SDP und CDU; und andererseits das Ideal des Exzentrikers, der es ebenfalls nicht mehr nötig hat, unter vorgegebenen Angeboten zu wählen, sondern sich seine eigene Welt ständig neu erschafft.

Zoff im Bedford

Friday, 30. May 2008

bedford

New York, 30. Mai 1942 – heute vor 66 Jahren. Der 35-jährige Schriftsteller Klaus Mann bekommt Besuch in seinem Appartement im Hotel Bedford, 118 East 40th Street, Manhattan. Seit September 1938 wohnt Mann nun schon hier, zeitweilig unter einem Dach mit anderen namhaften Hitler-Flüchtlingen, Künstlern und Autoren wie Vicki Baum, Curt Riess oder Billy Wilder. Und auch jener Hubertus Prinz zu Löwenstein residiert vorübergehend hier, der vielen Verfolgten mit seiner „American Guild for German Cultural Freedom“ die Flucht ins amerikanische Exil ermöglicht hatte.

Da jedoch die USA keine mutmaßlichen Kommunisten aufnahmen, erfand Löwenstein folgenden Trick. Zunächst besorgte er den Flüchtlingen ein Visum für Mexiko, ein Land, das weniger zimperlich in seinen Einreisebestimmungen war. Der Weg dorthin führte aber über die USA, die immerhin ein Transitvisum auch in „verdächtigen Fällen“ nicht verweigerten. Hatten seine „Rescue Cases“ erst einmal ihren Fuß auf US-amerikanischen Boden gesetzt, dann setzte sich Löwenstein für sie ein, indem er ihnen Affidavits hilfsbereiter „Sponsoren“ verschaffte. Auf einer undatierten Liste solcher „Rescue Cases Attended to the American Guild for German Cultural Freedom“ tauchen unter den laufenden Nummern 26 und 31 auch folgende Personen auf: „Siemsen, Dr. Hans: Withdrawn“ und „Dickhaut, Walter, Both affidavits from Burrichter referred to Dr. Losenfeld“.

Wir wissen nicht, warum der Name Hans Siemsen in dieser Liste mit einem Doktortitel versehen wurde. Mitte Juni 1941 war er auf der SS Guinee von Lissabon kommend in New York eingetoffen, mit dem gleichen Schiff, auf dem auch Hans Sahl und Valeriu Marcu das rettende Ufer erreichten. Wohl aber wissen wir, wer jener Walter Dickhaut war, der schließlich nicht in New York, sondern auf Kuba landete, nämlich eben jener Walter D., der das Vorbild für Siemsens Hitlerjungen Albrecht Goers abgab, sein Geliebter. Ob es mit dem Affidavit für Dickhaut doch nicht geklappt hat? Für Ende 1941 vermerken die „Daten zu Leben und Werk“ im ersten Band der Siemsen-Ausgabe von Michael Föster jedenfalls: „Zunehmende Vereinsamung, wozu der Verlust seines Freundes Walter […] beiträgt. Alkoholismus, ständige Geldnot.“ (Hans Siemsen: Schriften. Verbotene Liebe und andere Geschichten. Essen: TORSO Verlag, 1986, S. 257.)

Am 30. Mai 1942 steht also der 51-jährige Hans Siemsen bei Klaus Mann im Hotel Bedford auf der Matte. Über diesen Besuch berichtet Mann in seinem Tagebuch: „Äußerst unangenehme Szene mit Hans Siemsen, der hereinplatzt – schwitzend und unappetitlich – und sofort in eine dieser lauten, nutzlosen und beschämenden politischen Diskussionen verfällt. Er schreit [Manns Freund] Christopher [Lazare] und mich an, als wir es wagen, seine Theorie in Frage zu stellen, alle Deutschen verabscheuten den Krieg und seien insgesamt ein wunderbares, friedliebendes Volk. Ungehobelt, stumpfsinnig und verrückt, besteht er auf seinem Standpunkt – chauvinistisch und brutal wie ein Nazi, oder eher, wie ein echter Deutscher. Was für eine abscheuliche Rasse! Wie absolut bar jeder Vernunft und jeder Höflichkeit! Es ist diese Mischung aus Roheit und Hysterie, die sie zur Geißel der Zivilisation macht. Wie recht ich habe, konsequent jeden Umgang mit diesem bornierten, lärmenden Pöbel zu vermeiden (mit der Ausnahme von vielleicht fünf oder sechs alten und vertrauten Freunden.)“ (Klaus Mann: Tagebücher 1940 – 1943. Hrsg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Loemmle u. Wilfried F. Schoeller. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995, S. 96.)

Das Bild, das Klaus Mann hier von Siemsen zeichnet, passt nun so gar nicht zu jenem Verfasser zarter Prosastücke, dem intimen Freund von Joachim Ringelnatz und Renée Sintenis, dem schwulen Pastorensohn, einfühlsamen Liebhaber und naturverliebten Flaneur, den wir aus seinen Schriften und Briefen kennen. What happened that this shit happened?

Adolf Goers

Monday, 19. May 2008

goers

Nachdem Hans Siemsen im Januar 1934 die Flucht nach Paris geglückt war, lernte er dort im Februar 1936 den ebenfalls aus Deutschland geflohenen 21-jährigen Walter D. kennen und verliebte sich in ihn. Im Jahr darauf verarbeitete Siemsen dessen Erlebnisse in der Hitlerjugend zu seinem letzten Buch: Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers. Obwohl sich Alfred Döblin für eine Publikation verwendet, erscheint dieser entlarvende Bericht über die Methoden des NS-Staates bis zum Kriegsende lediglich in einer englischen Übersetzung (Hitler Youth, 1940). Als der Düsseldorfer Komet-Verlag 1947 endlich die deutschsprachige Originalausgabe auf den Markt bringt, findet das Buch kaum noch Leser. Die Deutschen haben nach dem verlorenen Krieg andere Sorgen und wollen ihren schrecklichen Irrtum so schnell wie möglich vergessen.

Über die Geschichte der Hitlerjugend gibt es mittlerweile mehrere ausführliche Monographien, die die Organisationsstruktur und die demagogischen Erfolgsrezepte dieser nationalsozialistischen Jugendorganisation in allen wesentlichen Details transparent werden lassen. Siemsens Erfahrungsbericht eines Betroffenen übertrifft jedoch in seiner subjektiven Unmittelbarkeit, in der beklemmenden Schilderung der Gewissensnöte eines Heranwachsenden naturgemäß jede dieser nüchternen, streng sachbezogenen Darstellungen der HJ.

Zudem thematisiert das Buch, für seine Zeit ein zusätzliches Wagnis, die Homosexualität als verdrängte und doch untergründig wirksame Triebkraft solcher männerbündischen Zusammenschlüsse. „Ich komme nun zu einem peinlichen und heiklen Kapitel.“ So leitet Siemsen diese Passagen gegen Ende seines letzten Buches ein. „Ich spreche nicht gern davon. Aber es muß sein. Die Homosexualität spielt in der HJ eine große, eine wichtige, nicht eine nur zufällige Rolle.“ (Dass Klaus Theweleit 1977 in seinen Männerphantasien diese Passagen von Siemsens Buch nicht berücksichtigt hat, kann ich mir nur damit erklären, dass er es schlicht nicht kannte.)

Vielfach musste Siemsen Personennamen fälschen, um niemanden, der noch im „Dritten Reich“ lebte, zu gefährden. Manchmal trog ihn auch sein Gedächtnis, so z. B. als er den jugendlichen Hauptdarsteller im Propagandafilm Hitlerjunge Quex (1933) Jürgen Ried nennt. Das war vielmehr der Titel eines Romans von Erich Ebermayer (1931). Tatsächlich hieß der spätere Geliebte des Reichsjugendführers Baldur von Schirach Jürgen Ohlsen. An vielen überprüfbaren Stellen beweist der Autor hingegen ein gutes Gedächtnis für Namen und Zusammenhänge, so im Falle des ohne sein Wissen der SS einverleibten Turnierreiters Axel Holst. Man kann Siemsen vertrauen, dass seine Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers größtenteils auf Tatsachen beruht.

Im Juni 1941 traf Hans Siemsen, dem zuvor mit knapper Not die Flucht von Paris nach Marseille gelang, in New York ein. Auch sein Freund Walter D. entkam über den Atlantik den Verfolgern, landete aber in Kuba. Die Trennung von seinem Geliebten gab Siemsen vermutlich den Rest. Er verfiel dem Alkohol, kehrte erst Ende der 1940er-Jahre nach Deutschland zurück und starb am 23. Juni 1969 in einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen-Holsterhausen, ohne je wieder eine Zeile veröffentlicht zu haben.

Siemsen über Chaplin

Thursday, 15. May 2008

chaplin

Vorgestern habe ich so allerlei von Hans Siemsen aus Antiquariaten über ZVAB bestellt. Endlich war zum Beispiel die dreibändige Werkausgabe aus dem Essener TORSO-Verlag im Angebot, nicht billig, aber in bester Erhaltung, nahezu wie neu. Eine Stunde später schellte das Telefon. Ein Essener Antiquar war dran und fragte, ob ich das eben georderte Chaplin-Bändchen von Siemsen nicht persönlich bei ihm abholen wolle. Schließlich seien es ja nur zehn Minuten zu Fuß und so würde ich mir doch die Portokosten sparen. Das nenne ich Service.

Gestern dann hielt ich das noch nicht mal 50 Seiten starke Heftchen von 1924 in Händen, die erste Veröffentlichung über Chaplin in deutscher Sprache überhaupt, erschienen im Feuer-Verlag zu Leipzig, mit 18 Bildern nach Film-Ausschnitten, „Der Sammlung Meister zweiundzwanzigster Band“. Der vordere Umschlag war leicht knickspurig, der schmale Rücken etwas lädiert, der Preis aber völlig angemessen.

Ich setzte mich auf eine Parkbank im nahen Stadtgarten und las: „Ich muß von Osnabrück nach Bremen fahren.“ Das ist als erster Satz in einem Büchlein über den berühmtesten Stummfilmstar der Welt einigermaßen ungewöhnlich. Weiter geht ’s: „Und ich habe nicht soviel Geld, daß ich D-Zug fahren kann.“ Aha, da lässt sich ein Zusammenhang immerhin vorstellen. Charlie tritt ja in seinen Slapsticks vorzugsweise als Habenichts auf. Gibt es nicht einen Film, in dem er als Hobo, als „schwarzer Passagier“, auf dem Tender durch die Lande reist?

Nun aber folgen Siemsens dritter und vierter Satz: „Das heißt, vielleicht habe ich soviel Geld. Ich darf es nur nicht für den D-Zug ausgeben.“ Indem ich das lese, sehe ich den Autor an einer klapprigen Schreibmaschine sitzen, an einer ,Gabriele‘ von Triumph oder an einer ,Erika‘ von Seidel & Naumann. Nachdem Siemsen fein säuberlich und tippfehlerfrei seine ersten beiden Sätze zu Papier gebracht hat, fällt ihm ein, dass der zweite Satz eigentlich, „vielleicht“ nicht ganz den Tatsachen entspricht. Und so schreibt der um Wahrheit bemühte Schriftsteller einen dritten und vierten Satz, um die Sache zurechtzurücken.

Und heute? Ich z. B. würde den zweiten Satz im Handumdrehen auf dem Monitor löschen und nun schreiben, wie es sich tatsächlich verhielt. Aber was ginge dabei verloren! Die kleine Flüchtigkeit, deren Korrektur doch gerade den Charme dieses Erzählens ausmacht – sie verschwände auf Nimmerwiedersehen im digitalen Nirwana. Wenn ich Siemsens Prosa lese, dann wird mir bewusst, dass unser heutiger Schreibkomfort neben vielen Vorzügen auch seine Nachteile hat. Diese Umwegigkeit, diese sanften Schlenker, wie er mal rechts, mal links vom Pfad abkommt, um dann über Stock und Stein zurückzufinden – das entspricht doch eigentlich dem Wesen eines Flaneurs weit eher als die Gradlinigkeit, der Zeilengehorsam meiner disziplinierten Schreibweise am „Rechner“. Tempi passati! Wenn die Not nicht mehr herrscht, sind auch die aus ihr geborenen Tugenden unrettbar verloren.

Twardy

Monday, 05. May 2008

Auch Hans Siemsen, wir sprachen bereites mehrfach von ihm, hat gelegentlich für Die Weltbühne geschrieben. Am 20. Januar 1921 erschien dort sein entzückender Aufsatz Bilder von Kindern, anlässlich einer Ausstellung in der Buch- und Kunsthandlung Twardy in Berlin, Potsdamerstraße 13, „deren einziger Raum nicht größer war als ein sehr kleiner Zigarettenladen“. (Zit. nach Hans Siemsen: Schriften II. Kritik – Aufsatz – Polemik. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 128-130.)

Hans Siemsen war gewiss ein großer Melancholiker. Neben den Bildern der Arbeiterkinder hingen auch ein paar Bilder von erwachsenen Arbeitern. Siemsen vergleicht nun diese mit jenen, und es überkommt ihn eine große Traurigkeit. Unter den Kinderzeichnungen entdeckte er „ganz entzückende, ganz unwahrscheinlich schöne Sachen“, die Bilder der Erwachsenen aber waren „nur zu geschickte, aber ganz phantasielose, leere und hohle Kompositionen, oberflächliche Skizzen.“ (Siemsen, a. a. O.)

Was war denn bloß der Grund, so fragt sich Hans Siemsen, dass unterm Erwachsenwerden diese ursprüngliche Kreativität, ja schöpferische Genialität des Kindes auf der Strecke bleiben musste? Für Siemsen ist dies kein Wunder: „Was soll in dieser Erziehungsmühle, in diesem Folterautomaten, in den wir oben als Kinder hineinfallen und unten als ,fertige‘ Menschen herauspurzeln, was soll in dem noch übrigbleiben vom Künstler und Dichter in uns? […] Die Schulen, wie sie heute sind, hindern uns mit List und Gewalt daran, uns die Erkenntnisbäume selbst zu suchen und die Äpfel selbst zu pflücken. Sie servieren uns statt dessen wohlkonfektionierte, eingemachte und immer, aber immer mit Saccharin gesüßte Normalfrüchte. Einige kriegen davon das Kotzen. Die meisten verspeisen sie willig und brav – und haben nun nicht bloß ihre Unschuld verloren, sondern, was viel schlimmer ist, die konfektionierte Normal-Erkenntnis, Normal-Bildung, Normal-Geschicklichkeit dafür im Leibe.“ (Siemsen, ebd.)

Aber was war das nur für ein zigarettenladenkleines Kunstkabinett, dessen Inhaberinnen schon Anfang der 1920er-Jahre auf den Gedanken kamen, Bilder von Kindern auszustellen? Tatsächlich wurde ich im Internet fündig und erfuhr dort, dass Käthe und Emma Twardy am 20. Mai 1919 in Zoppot im Freistaat Danzig eine Buch- und Kunsthandlung gegründet hatten, die im Herbst 1920 nach Berlin expandierte, wo sie in der Potsdamerstraße 12 [?] unter dem Namen „Buch- und Kunstheim K. & E. Twardy“ ein kleines Lokal bezog. Da Herwarth Waldens „Sturm“-Verlag samt Galerie und Privatwohnung vis-à-vis in der Potsdamerstraße 134a beheimatet war, verkehrten bei Twardy bald Künstler wie Kandinsky, Archipenko und Moholy-Nagy.

Nach Hitlers „Machtergreifung“ verlieren sich die Spuren der rührigen Damen Twardy im Dunklen. Nach zwei Umzügen 1933 und 1934 innerhalb von Berlin erlischt die Firma. Im Adressbuch des Deutschen Buchhandels von 1936 ist sie nicht mehr verzeichnet.

Ecce Dodo

Wednesday, 23. April 2008

dodo

Die verstoßenen Außenseiter waren mir schon immer sympathischer als die erfolgreichen Durchschnittsmenschen, die hungrigen Bohemiens standen mir jederzeit näher als die satten Spießer, die eingesperrten Verrückten schienen mir jedenfalls lebendiger als die frei herumlaufenden Geistgesunden, der exaltierte Veitstanz weckte weit eher meine Zuneigung als die ruhige Abfahrt auf dem Mainstream.

Lieber wollte ich ein seltener Vogel sein, als ein häufiger Biedermann, der seinen im Käfig ratlos hin und her hüpfenden Wellensittich füttert.

Eher als der großartige Geheimrat Goethe war mir sein mickriger Adlatus Eckermann eine merkwürdige, bemerkenswerte Erscheinung: ein Vogelnarr erster Güte. Durch dessen sehr verschiedene, von der Nachwelt verkannte Augen war sein saturierter Herr und Meister vielleicht nur ein Vogel neben anderen, ein schräger unbedingt, wenngleich mit weiten Schwingen versehen, ein überaus gesprächiges Federvieh zwar.

Was sich in dieser verkommenen Menschenwelt zu Lebzeiten als Genie aufplustert und posthum zum Klassiker mausert, kann ja bloß minderen Wertes sein sub specie aeternitatis.

Vielleicht hat das edelste Wesen, das je auf dieser Erde gelebt hat, die wahre Krönung der Schöpfung, längst schon das Zeitliche gesegnet. Vielleicht leben wir, diese durch nichts als ihre massenhafte Verbreitung ausgezeichnete Art, bloß noch für ein knappes Weilchen als epidemische Seuche in der Nach-Dodo-Ära. Dann möchte ich in diesem endzeitlichen Geflügelschwarm jedenfalls lieber eine übersehene Dronte sein als ein erhabener Wappenadler.


Siemsen, die Zweite

Friday, 04. April 2008

Mittlerweile bin ich mit meinen Nachforschungen zu Leben und Werk des vergessenen homosexuellen Schriftstellers Hans Siemsen (1891-1969) ein gutes Stück vorangekommen. Die seltene, dreibändige Werkausgabe im Essener Torso-Verlag fand ich doch tatsächlich in der hiesigen Stadtbibliothek – einsortiert unter Heimatkunde! So ganz abwegig ist das nicht einmal, denn Siemsen hat in Essen nicht nur seine letzten Lebensjahre verbracht; er hat hier offenbar auch viel früher einmal, nämlich in den 1920er-Jahren, in der Alfredstraße 23 eine Zweitwohnung gehabt.

Hans Siemsen beschloss sein Leben als „Pflegefall“ im Essener Otto-Hue-Haus, einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in der Barthel-Bruyn-Straße 46 in Essen-Holsterhausen, in das er im November 1953 eingeliefert wurde. „Dort vegetierte er noch fast sechzehn Jahre dahin, pflegebedürftig, teilnahmslos und geistig isoliert. Wenn man Siemsen fragte, ob er nicht Papier zum Schreiben haben wolle, soll er gesagt haben: ,Nein, nichts mehr.‘ – Sein einziger Kontakt war zuletzt nur noch eine Pflegerin; nicht einmal der Pförtner des Altenheims kannte seinen in der Öffentlichkeit längst vergessenen Namen.“ So Herausgeber Dieter Sudhoff in seinem Nachwort zu der schmalen Sammlung von Siemsens „Erlebnissen“ und Feuilletons, die jüngst im Berliner Verlag Das Arsenal unter dem Titel Nein! Langsam! Langsam! erschienen ist.

Sehr langsam nähere ich mich diesem Vergessenen, zögerlich und behutsam, als könnte ich durch übertriebene Neugier, durch meine zupackende Wissbegier jenen Zauber zerstören, der von den wenigen mir bislang bekannten Siemsen-Texten ausgeht. Eben sah ich dank Google-Bildersuche erstmals Hans Siemsens Gesicht, ein Jugendbild wohl aus den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts. Mit ungläubigem Staunen nehme ich zur Kenntnis, dass einen Autor, der 1924 das erste Buch über das Stummfilm-Genie Charlie Chaplin schrieb, heute in Deutschland kaum jemand mehr kennt. Bereits vier Jahre zuvor hatte Siemsen in der Weltbühne über Chaplins Film A Dog’s Life geschrieben – zu einer Zeit, als noch kein einziger Chaplin-Film in Deutschland gelaufen war. Und 1926 schrieb er die deutschsprachigen Zwischentitel zu Charlies frühem Meisterwerk.

Der dritte Band der Torso-Ausgabe von Siemsens Schriften, der die erhaltenen Bruchstücke seiner Korrespondenz öffentlich machte, überliefert zahlreiche Briefe an ihn von Muschelkalk Ringelnatz, mit bürgerlichem Namen Leonharda Pieper, der Ehefrau von Kuttel Daddeldu. (Siemsens Antworten dürfen wohl endgültig als verloren gelten. Mit jedem von Muschelkalks Briefen bedauert man diesen Verlust mehr.) Der Verleger und Herausgeber dieser Ausgabe, Michael Föster, schrieb in seinem Vorwort zum dritten Band der Schriften: „[…] selbst lange Korrespondenzen sind nur teilweise erhalten […] und in der Regel waren die Briefe des einen oder anderen, selten die Briefe beider Partner aufzufinden. Wir sehen also nur die eine Seite, hören nur das Echo, nicht den Ton, auf den es antwortet. Oder umgekehrt: Wir lesen die Frage, aber nicht die Antwort.“

Nach allem, was ich in so kurzer Zeit von und über Hans Siemsen erfahren habe, bleibt mir vorläufig nur, dem Berliner Verlag Das Arsenal und seinem Verleger Peter Moses-Krause viel Glück und einen langen Atem zu wünschen bei dem verdienstvollen Unternehmen, einen ebenso zarten wie präzisen Schreiber, einen sinnenfrohen Flaneur und liebenswürdigen Menschen aus nahezu völliger Vergessenheit in die hoffentlich aufmerksamere Gegenwart hinüberzuretten.

Hans Siemsen

Friday, 28. March 2008

Gestern sprach mich Beate Scherzer in der Buchhandlung proust an: ob ich den Autor Hans Siemsen kenne? „Hm! Schon mal gehört.“ Der Hintergrund: Im Verlag Das Arsenal (Berlin) erscheint dieser Tage der erste Band einer Werkausgabe von Siemsen. Ursprünglich war mal eine Veranstaltung bei proust mit dem Herausgeber Dieter Sudhoff geplant. Doch der ist, kaum älter als ich, im Juni vorigen Jahres plötzlich verstorben. Ob ich nicht vielleicht Lust hätte, mich mit dem Thema mal zu beschäftigen?

Heute hatte ich Zeit, mich über diesen Hans Siemsen (1891-1969) eingehender zu informieren. Der Mann scheint tatsächlich interessant zu sein. Er entstammt einer protestantischen Pfarrersfamilie aus Hamm. Seine älteren Geschwister Anna und August Siemsen saßen in den 1930er-Jahren als Abgeordnete für die SPD im Reichstag. Nach dem ersten Weltkrieg lebte Hans Siemsen als freier Schriftsteller in Berlin. Er schrieb für verschiedene avantgardistische und linke bis linksliberale Zeitschriften wie Pan, Franz Pfemferts Die Aktion und für die Weltbühne.

Vor fast vierzig Jahren ist Siemsen, nahezu völlig vergessen, in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt in Essen gestorben. Nach der Flucht vor den Nazis nach Frankreich, vorübergehender Internierung, völliger Mittellosigkeit, einem kärglichen Dasein als Rundfunkjournalist in New York war er bei seiner Rückkehr in die Heimat Anfang der 1950er-Jahre ein zerstörter Mann, Alkoholiker – ein Pflegefall. (Schon mit Joseph Roth soll Siemsen im Pariser Exil gesoffen haben.)

Vor zwanzig Jahren brachte Michael Föster in seinem Essener Torso-Verlag eine dreibändige Ausgabe der Schriften von Hans Siemsen heraus. Diese verdienstvolle Edition ist heute selbst auf dem dank Internet so gut erschlossenen Antiquariatsmarkt eine Rarität; eher findet man noch die Erstausgaben seiner Bücher zu Preisen um 30 Euro. Der mittlerweile auch längst verstorbene Föster, der eine Villa gleich bei mir um die Ecke besaß, hat ein Magazin für Homosexuelle namens Torso herausgebracht. Auch Hans Siemsen war ein Schwuler.

Morgen muss ich mal in meinen Bücherkatakomben suchen. Irgendwo in einer tief vergrabenen Kiste müsste sich noch das eine oder andere Heft von Torso finden lassen. Mit viel Glück könnte eins dieser Hefte einen Aufsatz von Föster über Hans Siemsen enthalten. Das war schon immer so: Wenn ich das Gefühl habe, dass sich mir eine fremde Biographie entzieht, weil die Quellenlage dürftig ist; wenn ich ein vergangenes Leben zu meinen Füßen wie ein schmales Rinnsal versickern sehe – dann ist erst recht meine brennende Neugier geweckt.