Archive for the ‘Dingwelt’ Category

Deutschland umsonst (II)

Friday, 22. July 2011

Nun habe ich Michael Holzachs letztes Buch ausgelesen. Es hielt zugleich weniger und mehr, als ich mir von ihm versprochen hatte. Ich will mit den Defiziten beginnen.

Für einen Fußmarsch von fast einem halben Jahr fällt die Ausbeute an Erlebnissen, Beobachtungen, Gedanken und Gefühlen eher mager aus, und dies erst recht, wenn man noch die reinen Phantasiebilder abzieht, die der Autor gelegentlich einstreut, und außerdem jene Passagen, in denen er Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend mitteilt, aufgerührt durch den Besuch von Ortschaften, in denen er früher einmal gelebt hat. Es entsteht der Eindruck, dass Holzach eigentlich verschiedene Bücher hat schreiben wollen. Der Versuch, gleich mehrere Konzepte zwischen nur zwei Deckel zu pressen, ist gründlich missraten. Die Verarbeitung einer teils als traumatisch erlebten Vergangenheit, die Erkundung sozialer Missstände in einem Wohlfahrtsstaat der 1980er-Jahre, das Abenteuer eines Gewaltmarsches unter Verzicht auf Geld und Beförderungsmittel, die Erkundung der eigenen psychischen und physischen Grenzen – daraus hätte man gut vier Bücher machen können; und vermutlich vier bessere Bücher als dieses, das von allem etwas bringt, aber von allem zu wenig.

Wenn dennoch mache Episoden haften bleiben, als Momentaufnahmen ohne Ansehen ihrer Bedeutung im Gesamtzusammenhang der Geschichte, dann spricht dies für die gelegentlich scharfe, fast mikroskopische Beobachtungsgabe und Darstellungssorgfalt des Autors. Als vielleicht besonders treffendes Beispiel für diese Qualität fällt mir die Einlösung einer „Durchreisebeihilfe“ in Form eines „Lebensmittelgutscheins“ ein, bei der es darum geht, die großzügig gewährten acht Mark („in Worten, acht, Spirituosen- und Tabakwaren ausgenommen“) möglichst auf den Pfennig genau auszuschöpfen. (Holzach, a.a.O., S. 88 f.) Auch sind die meisten der zahllosen knappen Porträts von Weggefährten, Obdach- und Arbeitgebern und Obrigkeitsvertretern markant, glaubwürdig und einprägsam. Dass der Autor Humor hat, zeigt sich am deutlichsten an diesen Karikaturen.

Ein lustiges Buch ist dies aber nicht. Dafür sorgt von der ersten bis zur letzten Seite ein melancholischer Grundton. Die Tristesse der Unbehaustheit ist stellenweise so bedrückend, dass man versucht ist, Deutschland umsonst vorzeitig aus der Hand zu legen. Alkoholismus wird vielfach als eine Hauptursache für Obdachlosigkeit angeführt. Wenn man dieses Buch gelesen hat, begreift man, dass andersrum auch ein Schuh draus wird: Obdachlosigkeit ist nämlich ohne Alkohol auf längere Sicht kaum zu ertragen.

Bleibt die Frage, um die es ja in dieser Serie über Trendbücher vordergründig geht: Was hat Michael Holzachs Reisebeschreibung durch ein Wohlstandsland für mehr als zwei Jahrzehnte zu einem solchen Dauerbrenner gemacht? Einmal steht das Buch in enger Verwandtschaft zum Werk von Günter Wallraff, der ja mit seinen „unerwünschten Reportagen“ seit 1969 vorgemacht hat, wie man durch das Ausprobieren von riskanten Lebensumständen zu aufschlussreichen Erfahrungen kommt und mit den abenteuerlichen Berichten darüber viele Leser findet. Zweitens macht der genial-knappe Titel neugierig auf eine Erfahrung, die niemand freiwillig machen möchte, die jeden mindetens theoretisch bedroht und auf die man sich darum gern einmal in der Phantasie einlässt – in der Erwartung schauriger Details, aber vielleicht auch in der Hoffnung auf praktische Ratschläge, die einem notfalls nützlich sein könnten: Man weiß ja nie! Und drittens hat vermutlich das tragische Ende des Autors dazu beigetragen, dass er nun von einer Aureole der Lauterkeit umgeben ist: Der Mensch, der sein Leben für einen Hund opferte. (Die Verfilmung als vierteilige TV-Serie unter dem Titel Zu Fuß und ohne Geld aus dem Jahre 1995 setzte vermutlich einen weiteren Kaufimpuls, indem viele vorherige Leser sie damit kommentierten, das Buch sei aber besser.)

Deutschland umsonst (I)

Monday, 04. July 2011

Dieses Buch werde ich wohl damals stapelweise verkauft haben, im Jahr 1982, als es erschien. Die gebundene Ausgabe im Verlag Hoffmann und Campe in Hamburg ging drei Jahre lang weg wie geschnitten Brot, zehn Auflagen und fast hunderttausend Exemplare wurden zum Stückpreis von 28 Mark abgesetzt, und dann noch einmal so viel als Ullstein-Taschenbuch für 7,80 Mark. Üblicherweise ist ein Bestseller dann vom Tisch. Aber bei Michael Holzachs Reisebericht Deutschland umsonst wagte HoCa 1993 gar noch einen weiteren Aufguss, diesmal als Paperback für 18 Mark; und auch der war immerhin noch so erfolgreich, dass er es bis 2006 auf solze 13 Auflagen brachte! Was ist bloß dran an diesem Buch? Ich wollte es wissen und lese es gerade.

Den Anstoß zu meiner Erinnerung an den Bericht eines jungen Mannes, der „zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland“ wandert – so die bündige Zusammenfassung des Themas im Untertitel –, gab mir indirekt dessen ehemaliger Weggefährte, der Essener Fotograf Timm Rautert, der regelmäßig bei proust ausstellt und auftritt. Als ich mich in der Wikipedia über Rautert informierte, las ich über ihn, er habe seit 1974 für das ZEITmagazin „in enger Kooperation mit dem Journalisten Michael Holzach überwiegend sozialkritische Themen“ fotografiert. Ein Klick auf Michael Holzach und es machte Klick! Ich erinnerte mich augenblicklich wieder an dessen Dauerbrenner von vor nahezu dreißig Jahren. Dass der Autor 1983 auf so tragische Weise ums Leben gekommen war, wusste ich nicht – oder hatte es jedenfalls längst vergessen.

Die Erstausgabe von Deutschland umsonst bekam ich antiquarisch über ZVAB zum Preis von 10,40 €, zwar leicht schiefgelesen und, dem Geruch nach zu urteilen, aus einem Raucherhaushalt, aber ansonsten sauber und mit tadellosem Schutzumschlag – an den ich mich prompt erinnerte, als ich das Buch in Händen hielt. Das Titelfoto stammt von Rautert und zeigt den Autor mit seinem Hund Feldmann, einem Boxermischling aus dem Hamburger Tierasyl, der ihn auf seiner Wanderschaft begleitete und schließlich Holzachs Tod verursachte.

Wie es dazu kam, dass Holzach sich 1980 für ein halbes Jahr ohne einen Pfennig Geld auf den Weg machte und die Bundesrepublik von Nord nach Süd und wieder zurück durchwanderte, das beschreibt er ziemlich genau in der Mitte seines Buches, unmittelbar bevor er sich mit Timm Rautert an der Kanalbrücke in Altenessen trifft. Er empfand damals sein Leben als „sozial engagierter Journalist“ auf die Dauer als pure Heuchelei. Die ging ihm schließlich so sehr an die Nieren, dass er seinen guten Job bei der ZEIT an den Nagel hängte. Für ein Jahr lebte er bei der deutschstämmigen Wiedertäufersekte der Hutterer in Kanada, die einen urchristlichen Kommunismus praktiziert. (Auch über dieses Abenteuer schrieb er ein Buch, Das vergessene Volk.) Und dann, so Holzach, „grub ich meinen alten Plan wieder aus, eine autobiographische Wanderung durch Deutschland zu machen“ – autobiographisch insofern, als er all jene Orte aufsuchte, die in seinem Leben irgendwann eine besondere Rolle gespielt hatten, wie Holzminden, Heppenheim oder Bergisch-Gladbach.

Was Holzach unterwegs erlebt, lässt sich keineswegs auf einen einfachen Nenner bringen, obwohl das Buch sich damals vielleicht mittels solcher Vereinfachungen vermarkten ließ: ,Mitten im Wohlstandsland BRD herrscht das bitterste Elend und hält jene grausam umklammert, die einmal schuldlos aus der bürgerlichen Ordnung gefallen sind.‘ Das ist aber keineswegs die Botschaft, die das Buch vermittelt. Eher geht es um die Selbsterfahrung des Autors, der wissen möchte, was mit ihm geschieht, wenn er sich ohne Geld durchschlagen muss. Aber erklärt die Neugier am Verlauf eines solchen Experiments allein schon den sensationellen Verkaufserfolg dieses Buches? Das kann ich nicht recht glauben.

[Fortsetzung folgt. – Titelbild © Timm Rautert & Verlag Hoffmann und Campe.]

Plan einer Trendbuch-Analyse (1955-2005)

Wednesday, 29. June 2011

Vor drei Jahren wurde ich von meiner Ansprechpartnerin bei Westropolis mal gebeten, einen „Beitrag über die Literatur der 1980er Jahre“ zu schreiben. Auf meine Nachfrage, was genau damit denn gemeint sei, stellte sich heraus, dass es um die in Deutschland damals erfolgreichsten Bücher gehen sollte, und unter diesen dann möglichst um solche, die den „Geist des Jahrzehnts“ besonders gut zum Ausdruck brächten. Das dürften Romane so gut wie Sachbücher sein! Die anderen freien Autoren des Kulturblogs der WAZ-Mediengruppe sollten parallel dazu die Musik, die Kunst, den Film und die Mode der 80er in Erinnerung bringen.

Wenn ich mich nicht sehr irre, war ich dann schließlich der einzige Gastautor, der den Auftrag ernst nahm und sein Soll erfüllte; kein Wunder, denn es stellte sich bald heraus, dass die Aufgabe mit einigem Aufwand verbunden war. Dabei hatte ich noch einen berufsbedingten Startvorteil, war ich doch im fraglichen Jahrzehnt ohne Unterbrechung als Buchhändler mit allen damals aktuellen literarischen Trends hautnah in Berührung gekommen. Und dennoch erswies sich ein erstes Brainstorming noch nicht als sehr ergiebig, zumal ich bei jedem zweiten Titel, der mir spontan einfiel, nicht hundertprozentig sicher war, ob er denn nun wirklich in diesem Jahrzehnt das Licht der Welt erblickt hatte. Ich hatte also einiges zu recherchieren und musste zudem die Spiegel-Bestsellerlisten der Jahre 1981 bis 1990 durchsehen, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

Was dabei herauskam, waren zwei Folgen Literatur der Achtziger, eine über Sachbücher und eine über die Belletristik dieses Dezenniums. In diesem Falle glaube ich nicht, dass es sich lohnt, meine alten Texte für Ostropolis zu überarbeiten. Sehr wohl aber scheint mir ihr Thema noch immer reizvoll, wenngleich nicht mit der willkürlichen Limitierung auf ein Jahrzehnt. Dass jedoch der Erfolg von Büchern etwas aussagt über das Denken und Empfinden der Menschen in der Zeit, in der diese Bücher – zur Freude ihrer Verleger und der Buchhändler – jene als Leser in großer Zahl für sich gewinnen, das erscheint mir immer noch evident und einer eingehenderen Betrachtung würdig.

Wenn von Erfolgsbüchern die Rede ist, dann meint man damit entweder Bestseller oder Kultbücher. Beide Begriffe möchte ich mit jeweils guten Gründen für mein Projekt vermeiden. Die reine Auflagen- bzw. Absatzzahl erscheint mir als Maßstab für die Wirkung eines Buches fragwürdig, sagt sie doch noch nichts darüber aus, ob der reißend verkaufte Schmöker auch gelesen wurde. Bestes Beispiel ist für mich hier immer Das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco, das sich als Nachfolger seines populären Meisterwerks Der Name der Rose verkaufte wie geschnittenes Brot, aber die meisten Leser maßlos enttäuschte. (Ich persönlich kenne nur zwei Menschen, die von dem 750 Seiten starken Buch mehr gelesen haben als die ersten fünfzig.) Viele Erfolgsautoren sind da ja zugleich anspruchsloser und geschickter als Eco. Wenn sie einmal ein literarisches Erfolgsrezept gefunden haben, dann kochen sie daraus Jahr für Jahr ihr immergleiches Süppchen und haben ausgesorgt. Auch diese Art Serien-Bestseller von Leuten wie Johannes Mario Simmel, Heinz G. Konsalik, Donna Leon oder Georges Simenon sagen mindestens eins über ihre Leser aus: dass sie die Wiederholung des Immergleichen, längst Vertrauten lieben. Hohe Verkaufszahlen täuschen also starke Wirkung oft nur vor. Und das imposante Wort vom Kultbuch scheint mir ebenfalls für meine Absichten ungeeignet, da irreführend. So werden nach meiner Beobachtung nicht selten Bücher genannt, deren Titel jeder kennt, bei deren Nennung auch jeder ein mehr oder weniger deutliches Bild vor Augen hat – und die doch kaum jemand wirklich gelesen hat. Der Name sagt es ja schon deutlich: Kultobjekte werden aus der Distanz verehrt, vor allzu unmittelbarer Begegnung schützt sie ein stillschweigendes Berührungsverbot. Auch eilt ihnen meist der Ruf voraus, dass sie schwer zugänglich sind. Die Wirkungsgeschichte von Kultbüchern gibt indirekt zwar auch Auskunft über den Zeitgeist, doch soll dieser Aspekt hier nicht mein Thema sein.

Mir geht es vielmehr ganz banal um gesellschaftliche Trends, die sich im meist kurzlebigen Erfolg einzelner Bücher spiegeln. Die Frage, die sich mir in jedem einzelnen Fall stellen wird, lautet deshalb zunächst: Woher rührt das Interesse für gerade dieses spezielle Thema, das im vorliegenden Buch erstmals, oder doch erstmals auf diese Weise, abgehandelt wird? Und anschließend denke ich darüber nach, welchen der bekannten Grundrichtungen langfristiger sozialer Entwicklung dieses Interesse entspringt. Vielleicht komme ich aber auch zu dem Ergebnis, dass Bücher gerade deshalb erfolgreich sind, weil sie sich den vorherrschenden Trends verweigern und einen völlig neuen Ton anschlagen, der Neugier weckt. Insofern will ich das Ergebnis meiner Untersuchung offen halten. Ich beschränke mich bei meiner Studie auf die Zeit von 1955 bis 2005 und auf Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum.

Ostware in Kommission

Saturday, 29. January 2011

hochiminh

Gestern habe ich einen kleinen, ausgewählten Buchbestand in Kommission für mein Versandantiquariat übernommen, aus der Bibliothek eines DDR-Autors und seiner Ehefrau, die im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung in den Westen übersiedelten. Es sind insgesamt 120 Titel, darunter einige mehrbändige Werke, nach Büchern gezählt 135 Stück, größtenteils aus den volkseigenen Verlagen des gescheiterten und vergangenen sozialistischen Staats- und Wirtschaftsexperiments. (Sie werden bei mir die Artikel-Nummern 1901 bis 2020 bekommen.)

Heute habe ich mir diese Ware mehrfach durch die Finger gleiten lassen, um ein Gefühl für sie zu entwickeln. Zwar kenne ich Bücher aus dem alten deutschen Osten ja schon längst und habe sie immer mal wieder, meist auf Flohmärkten, vereinzelt erworben, so etwa die schätzenswerten Klassiker-Bändchen aus der Sammlung Dieterich. Aber hier habe ich es nun mit einer geballten Ladung zu tun, fast drei Regalmeter, lauter Bücher, denen man den verwalteten Mangel vermutlich schon ansah, als sie noch nagelneu waren. Jetzt aber ist das schlechte Papier nachgedunkelt, oft gar noch unregelmäßig, weil verschiedene Qualitäten in einer Auflage vermischt wurden. Die Umschläge sind viel empfindlicher als die lackierten Hochglanzhüllen auf schwerem, solidem Papier, die wir im Westen längst gewohnt sind, und entsprechend rissig, fleckig und abgegriffen. Wenn gar Klebebindung die sonst erfreulich lange vorherrschende Fadenheftung ablöst, ist sie noch weniger haltbar als unser Lumbeck.

Das kann man bei den Paperbacks der so liebevoll gestalteten Reihe Lyrik international bei Volk und Welt studieren, die schon drei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen aus dem Leim gehen. Fürsorglich wurden die empfindlichen weißen Kartonbände zum Schutz in hauchdünne Pergamentpapierhüllen eingeschlagen. Aber die sehen vielleicht aus! Es ist ein Trauerspiel, wie lumpig die vielfach inhaltlich und formal doch so ambitionierten Editionen rein äußerlich in die Welt geschickt wurden; besser: geschickt werden mussten, weil es auch hier wenn nicht an allem, so doch an den geeigneten Produktionsmitteln und -techniken haperte. (Faiererweise will ich aber nicht verschweigen, dass auch das kapitalistische Verlagswesen, dem diese durchaus zur Verfügung stehen, grauenhaft schlecht gemachte Bücher auf den Massenmarkt wirft. Man denke nur an anglo-amerikanische Pocketbooks! Und auch die französischen Livres de poche sind selten besser.)

In den kommenden Tagen wird also meine Hauptbeschäftigung die Erfassung dieser Bücher für mein Antiquariatsangebot bei ZVAB sein. Dann werde ich beim zweiten, intimeren Blick nicht nur auf, sondern auch in diese Bücher gewiss manche Anregung empfangen. Und vielleicht, wer weiß, wird ja sogar der eine oder andere unerwartete Artikel für dieses Weblog aus der Begegnung?

Einstweilen ein Vierzeiler von Ho chi Minh: „Im Schlaf ist jedes Angesicht ehrlich und rein. | Das Wachsein teilt uns erst in Gut und Böse ein. | Ach, gut und böse – keinem angeboren. Nur: | Schuld ist vor allem die Erziehung – nicht Natur.“ (Gefängnistagebuch. Aus dem Chines. übertr. von Erhard u. Helga Scherner. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1976, S. 92. – Das Titelbild entnahm ich dem Einband dieser Broschur, entworfen v. Horst Hussel u. Lothar Reher.)

Protected: Christine Lavant: Aufzeichnungen

Tuesday, 30. November 2010

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Reck-Malleczewen: Tagebuch

Monday, 29. November 2010

reckportraet

Reck-Malleczewen, Friedrich Percyval [d. i. Friedrich (Fritz) Reck]: Tagebuch eines Verzweifelten. [Hrsg., m. e. Vorw. u. e. Nachw. v. Curt Thesing.] Lorch (Württemberg) / Stuttgart: Bürger-Verlag, 1947. – 202 & 2 S. & 1 Taf. mit dem Porträt d. Verf. v. Franz Herda im Frontispiz [s. Titelbild], 21,0 x 13,8 cm, OPb., Fadenheftung. – Rücken fehlt, Einband zum Gelenk hin mit Schadstellen, innen gut. – Erstausgabe, 1.-5. Tsd.

Nico Rost berichtet in seinem Tagebuch aus dem Konzentrationslager Dachau unterm Datum vom 15. April 1945 von der Begegnung mit einem völlig erschöpften und abgemagerten, etwa sechzigjährigen Mithäftling, der wie er selbst in der Krankenbaracke liegt, nun aber zurück in Block 25 verlegt werden soll, wo Flecktyphus herrscht. Inständig bittet ihn der Mann, sich für ihn einzusetzen, denn er fürchte, im Falle seiner Verlegung nicht mehr lange zu leben. Als Rost nach seinem Namen fragt, stellt er sich als Friedrich Reck-Malleczewen vor. Nun ist aber verbürgt, dass der Schriftsteller dieses Namens bereits zwei Monate zuvor, im Februar 1945 in Dachau zu Tode kam; lediglich das genaue Tagesdatum ist umstritten. Vermutlich bediente sich der Unbekannte nur des damals prominenten Namens, um seine Chance auf Rosts Unterstützung zu verbessern, der ein belesener Mann war. „Kennen Sie meine Bücher?“, hatte ihn der Fremde gefragt. Und Rost musste nicht lange überlegen: „Einige wohl, unter anderem einen historischen Roman über Jan Bockelson [den Münsteraner Wiedertäufer], ein sehr gut geschriebenes, technisch vortreffliches Buch, äußerst spannend, jedoch ohne Tiefe, ferner eine Studie über Charlotte Corday, auch Frau Übersee und, natürlich, Bomben auf Monte Carlo.“ Rost erinnerte sich aber auch daran, was er seinem Gegenüber freilich taktvoll verschwieg: dass Reck-Malleczewens Studie über die Mörderin Jean Paul Marats ein absolut konterrevolutionäres Buch war und bei ihrem Erscheinen 1937 der Reaktion in die Hand spielte. (Vgl. Nico Rost: Goethe in Dachau. Berlin: Verlag Volk & Welt, 1999, S. 279 ff.)

Antifaschistische Bekenntnisbücher, geheime Tagebücher und unter höchster Geheimhaltung verfasste Briefwechsel aus dem linken Lager – von Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten aller Schattierung, selbst von Anarchisten – gibt es ohne Zahl. Hingegen haben solche Dokumente wie das vorliegende, aus der Feder konservativer Feinde des Nazi-Regimes, eher Seltenheitswert. Das Tagebuch eines Verzweifelten ist eines von diesen raren Büchern. (Die Tagebücher Theodor Haeckers, der bei Reck sogar vorkommt, sind ein weiteres Beispiel.) Beeindruckend an ihnen ist die nahezu vollkommene Isolation ihrer Verfasser. Die Linken konnten doch meist noch auf ein verborgenes Netzwerk vertrauen, hatten geheime Verbindungen zu abgetauchten oder unerkannt in perfekter Tarnung lebenden Genossen, mit denen sie sich austauschen konnten und die ihnen in der Not vielleicht zu Hilfe kamen. Männer wie Reck oder Haecker hingegen scheinen auf verlorenem Posten, in großer Einsamkeit gekämpft zu haben. So klagt auch Reck in seinem Tagebuch einmal, „daß das bitterste Herzeleid in diesen Jahren uns Heimgebliebenen aus der wachsenden Vereinsamung, aus dem Fehlen der Kameraden, aus dem Absterben der Gegner sowohl wie der Gesinnungsgenossen entspringt.“ (Reck-Malleczewen , a. a. O., S. 78.)

Desto imposanter der unglaubliche Furor, mit dem der Gutsbesitzer und Arzt Friedrich Percyval Reck-Malleczewen seine Flüche gegen die braune Brut aufs Papier speit. Eine Kostprobe: „Mein Leben in diesem Pfuhl geht nun bald ins fünfte Jahr. Seit mehr als zweiundvierzig Monaten denke ich Haß, lege mit Haß mich nieder, träume ich Haß, um mit Haß zu erwachen: Ich ersticke in der Erkenntnis, der Gefangene einer Horde böser Affen zu sein und zermartere mir das Hirn über das ewige Rätsel, daß dieses nämliche Volk, das vor ein paar Jahren noch so eifersüchtig über seinen Rechten wachte, über Nacht versunken ist in diese Lethargie, in der es diese Herrschaft der Eckensteher von gestern nicht nur duldet, sondern auch, Gipfel der Schande, gar nicht mehr imstande ist, die eigene Schmach als Schmach zu empfinden …“ (Ebd., S. 22.) Man liest diese Tiraden mit einigem zwar teils grausligem Genuss, zumal der Verfasser einen unerschütterlichen Humor hat, der sich hier freilich im Gewand des Sarkasmus zeigt. Und sehr richtig betont er immer wieder, dass es ganz besonders die völlige Humorlosigkeit der Nazis ist, die ihre Entmenschlichung bedingt und befördert. (Adolf Hitler hat sein persönliches Verhältnis zum Humor und zum Lachen vielleicht am deutlichsten, obgleich unfreiwillig offenbart, als er anlässlich der Eröffnung des Winterhilfswerks im Berliner Sportpalast am 30. September 1942 sagte: „Die Juden haben einst auch in Deutschland gelacht. Ich weiß nicht, ob sie auch heute noch lachen oder ob ihnen nicht das Lachen bereits vergangen ist. Ich kann aber auch jetzt nur versichern: Es wird ihnen das Lachen überall vergehen.“)

Man zuckt freilich beim Lesen in diesem Tagebuch eines Verzweifelten immer wieder zusammen, wenn die merkwürdige Vokabel „Verniggerung“ vorkommt, die Reck bedonders gern verwendet, so wie er die stumpfsinnigen Parteigenossen, die grölend durch die Straßen ziehen, „weiß gebliebene Nigger“ nennt. Über solche aus heutiger Sicht unmöglichen Entgleisungen muss man gnädig hinwegsehen, um sich an den zivilisationskritischen Lichtblicken dieses sturköpfigen Anachronisten erfreuen zu können. So ist für ihn evident, „daß das Benzin, als Urquell alles motorisierten Glücksgefühles, zur tiefen Verkommenheit der Menschheit mehr beigetragen hat als der vielgeschmähte Alkohol.“ (Ebd., S. 47.) Eine wahrhaft hellsichtige Erkenntnis aus dem Jahre 1937, deren Wahrheit selbst sieben Jahrzehnte später noch den Wenigsten dämmert!

Protected: Carl Bulcke et al.: Schönes Rheinland

Friday, 26. November 2010

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Manchmal (I)

Monday, 08. March 2010

adler

Manchmal zweifle ich, ob dieses Projekt, mein Weblog, nicht etwa bloß eine Ablenkung von etwas anderem ist, ein Platzfüller, ein Mittel, den Tag zu bestreiten. Manchmal frage ich mich, ob das Schreiben daran, seit nun bald zwei Jahren und nahezu täglich, auch nur wieder eine Sucht ist, oder mindestens eine Gewohnheit, jedenfalls eine zwanghafte Widerholung ohne Aussicht auf ein natürliches Ende, also ziellos wie das Rauchen von Zigaretten oder das Überfliegen der Tageszeitung. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, diese liebe Gewohnheit von heute auf morgen aufzugeben, wie ich schon so viele Gewohnheiten, liebe und weniger liebe, im Laufe meines unfassbar langen Lebens aufgegeben habe, um die Zeit, die dadurch frei wurde oder besser leer, mit etwas anderem zu füllen, das vielleicht weniger ziellos sein und ein natürliches Ende immerhin in Aussicht stellen könnte.

Manchmal denke ich an die weit, weit zurückliegende, lange, lange vergangene Zeit zurück, als ich noch auf einer mechanischen Schreibmaschine der Firma Adler tippte [s. Titelbild], deren einziger besonderer Service darin bestand, gelegentlich durch Umschaltung des Farbbandes ein Wort in roter Schrift schreiben zu können, ein Luxus, der sich aber bald erstens als entbehrlich und zweitens als unökonomisch herausstellte, weshalb ich nach der nahezu restlosen Abnutzung der schwarzen und der nahezu spurlosen Schonung der roten Hälfte des Farbbandes nun ein konventionell rein schwarzes Band kaufte, ohne rote Halbspur, denn das konnte man umdrehen, wenn die obere Hälfte abgenutzt war, es hielt also doppelt so lange vor und war zudem auch in der Anschaffung etwas billiger.

Manchmal erinnere ich mich in diesem Zusammenhang auch an die verschiedenen Techniken, die gegen das unvermeidliche Übel des Vertippens seitens der Schreibwaren- und -maschinenhersteller in Anschlag gebracht wurden, nachdem ja zunächst das Durchixen das Mittel der Wahl gewesen und lange geblieben war; aber diese urtümlichen Verhältnisse liegen ja geradezu im Paläolithikum der mechanisierten Schreibtechnik, und so bin ich jetzt gerade tatsächlich gerührt, dass im aktuellsten Rechtschreibduden das Verb durchixen noch vorkommt, als „ugs. für auf der Schreibmaschine mit dem Buchstaben x ungültig machen“. (Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim ∙ Leipzig ∙ Wien ∙ Zürich: Dudenverlag, 2006, S. 341. – Genau zwölf Seiten vorher steht übrigens der „Doppelklick“.) Manchmal denke ich, dass die enormen technischen Erleichterungen des Korrekturvorgangs beim Schreiben – vom Tipp-Ex-Streifen über Tipp-Ex flüssig über das Korrekturband und die Speicherschreibmaschine mit Zeilendisplay – paradoxerweise der Sorgfalt der Schreibenden und damit der Qualität ihrer Ergebnisse eher abträglich waren. Manchmal bin ich insofern ganz froh, diese mühselige Schule der Berichtigung mit meist nicht ganz sauberem Ergebnis durchgemacht zu haben und hoffe, dass sie mich zu einer Schreibdisziplin erzogen hat, die zuletzt mein Geschriebenes veredelt – und zuallerletzt dem Leser das Lesen erleichtert.

Manchmal trauere ich aber gar jener Zeit nach, als die Fehler auf dem Papier noch untilgbare Spuren hinterließen. Dann hieß es eben einfach: Auf ein Neues! Und manchmal, um endlich zu einem vorlufigen Schluss zu kommen, hoffe ich, dass die Spuren, die ich auf der Oberfläche (des Papiers, der Monitore) hinterlasse, zwar oberflächlich nahezu fehlerfrei sein mögen, sich aber irgengendwann, genauer betrachtet, als ein einziger großer Fehler erweisen, allerdings mit keinem noch so deckfähigen Liquid Paper zu tilgen.

Ständige Begleiter

Thursday, 14. January 2010

viersachen

Ich habe es immer schon reizvoll gefunden, den Kram, den ich überall mit mir herumtrage, möglichst überschaubar zu halten. Ich meine damit das Zeug, das ich außer meiner Kleidung noch ablege, wenn ich zum Beispiel in die Badewanne steige oder mich zu Bett begebe. Zu diesen wenigen Dingen, so schlicht sie einem anderen auch erscheinen mögen, habe ich eine schon nahezu erotische Beziehung, wenn ich ausnahmsweise die mit Erotik im engeren Verständnis eigentlich gemeinte sinnlich-geistige Anziehung zu einem Menschen einmal auch auf tote Gegenstände übertragen darf. Seit ich keinen Ehering mehr trage, sind dies genau vier Dinge, die ich insofern als meine ständigen Begleiter bezeichnen kann und die ich heute in extenso vorstellen will.

Da wäre zunächst mein Schlüsselbund, bestehend aus einem einfachen Schlüsselring, einem Briefkastenschlüssel und sechs Sicherheitsschlüsseln, die sich zu drei Paaren ordnen lassen. Zwei Schlüssel gehören zu Haus- und Wohnungstür meiner Wohnung, zwei zum Lagerraum meines Versandantiquariats und zwei schließlich zu den Räumlichkeiten, in denen ich seit einiger Zeit einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehe. Die vier Schlüssel mit runder Grifffläche – sagt man so? – habe ich zur besseren Unterscheidung mit farbigen Markierungsringen versehen, die beiden anderen erkenne ich an den aufgeprägten Herstellernamen. Früher trug ich meine Schlüssel zeitweise auch in Lederetuis bei mir, aber die Praxis hat mich gelehrt, dass die nun für den Rest meiner Tage gefundene Lösung die praktikabelste ist, weil die Handhabung der Schlüssel beim Aufschließen der Türen den geringsten Zeitaufwand kostet und auch mit einer Hand immer problemlos möglich ist, wenn die andere anderweitig benötigt wird. Mein Schlüsselbund trage ich stets in der rechten Hosentasche bei mir. Da es immerhin 95 Gramm wiegt, spüre ich beim Verlassen der Räume sofort, wenn es sich dort nicht befindet und ich somit Gefahr laufe, mich auszuschließen.

Zweitens meine Armbanduhr. Es handelt sich um eine Quartzuhr des auf Werbeuhren spezialisierten Herstellers WTC aus der Schweiz vom Typ excellence No. 8811. Vermutlich habe ich sie einmal als Dreingabe zu einem Zeitungsabonnement erhalten, was aber schon sehr lange her sein muss, denn ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Die Uhr hat drei Zeiger für Sekunden, Minuten und Stunden, die beiden letzten sind Leuchtzeiger, ob mit Tritium oder Superluminova als Leuchtmasse versehen kann ich nicht sagen. Ab Werk war die Uhr mit einem schwarzen Lederarmband ausgestattet, das ich aber durch ein Metallarmband ersetzt habe. Lederarmbänder werden nach ein, zwei Jahren unansehnlich und brüchig, färben oft in den Sommermonaten durch den Körperschweiß ab, fallen schließlich ganz auseinander, kurz: sind verschleißanfällig, während sich mein Metallarmband als geradezu unverwüstlich erwiesen hat. Das Zifferblatt ist erfreulicherweise schlicht weiß, ohne Stunden- und Minutenstriche, ohne Zahlen, ohne Firmennamen. Lediglich auf dem Gehäuserand sind die Zahlen von 5 bis 60 für die Sekunden in Fünferschritten eingraviert und entsprechen somit auch den Stundenschritten. Eine Datumsanzeige gibt es nicht, was mich ebenfalls für diese Uhr einnimmt, denn ich möchte mein Gehirn nicht von der Aufgabe entbinden, täglich das korrekte Datum und den Wochentag abrufbar zu halten. Mit solchen tückischen Bequemlichkeiten fängt sie ja an, die allmähliche Verabschiedung unserer Geisteskräfte, die schließlich in Demenz mündet. Die Uhr geht zuverlässig genau und muss nicht aufgezogen werden, da sie batteriebetrieben ist. Gerade vor ein paar Tagen war die Batterie wieder einmal leer und musste erneuert werden, was einiges Geschick erfordert. Diese spezielle Knopfzelle kostet zurzeit sechs Euro beim Uhrmacher und hält die Uhr wohl mehrere Jahre am Laufen. Meine Uhr bringt mit Armband 65 Gramm auf die Waage.

Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr bin ich kurzsichtig und auf eine Brille angewiesen. Somit ist dies der dritte Gegenstand, den ich ständig am Leib trage. Zum Lesen nahm ich meine Brille bis vor ein paar Jahren immer ab, dann ließ ich mich dazu überreden, es einmal mit den neuen Gleitsichtgläsern zu probieren. Ich gewöhnte mich schnell daran, musste aber nach einiger Zeit feststellen, dass die Augen sich wohl etwas verschlechtert hatten. Jedenfalls klappte es mit dem Lesen durch die Brille nicht mehr so richtig und ich setzte sie dazu ab oder schob sie auf die Nasenspitze, was auf Dauer doch etwas lästig wurde. Also beschloss ich eine Neuanschaffung, obwohl das alte Gestell so alt noch gar nicht war. Der Zufall wollte es, dass mir gleichzeitig ein paar alte Fotos in die Hände fielen, auf denen ich als Achtzehnjähriger mit meiner damaligen kreisrunden Nickelbrille zu sehen war. ,So eine hätte ich gern wieder‘, dachte ich in einer nostalgischen Anwandlung, musste aber bald feststellen, dass die gegenwärtige Brillenmode ganz andere Modelle favorisiert: schmal und rechteckig! Im Sommer vorigen Jahres war ich für ein paar Tage in Berlin und entdeckte bei einer Kreuzberger Brillenwerkstatt tatsächlich eine kreisrunde Brille nach meinem Geschmack. Allerdings sollte sie ein kleines Vermögen kosten und ich konnte mich zu dieser Investition nicht so bald durchringen. Wenig später sah ich bei einem Optiker in meiner Heimatstadt ein nahezu rundes Modell im Fenster liegen, das nur ein Drittel kostete und noch schlichter war. Es ist aus Titan, heißt Key West 1 und wiegt mit Gläsern genau zwanzig Gramm.

Zuletzt zu meinem größten, schwersten und in gewisser Weise auch wertvollsten Begleiter, meiner Geldbörse. Dieses Modell habe ich vor ein paar Jahren an einem Stand des hiesigen Weihnachtsmarktes entdeckt. Das schwarze Lederportemonnaie ist mit seinen Fächern und Taschen ideal für meine Bedürfnisse geeignet, passt bequem in dir rechte Gesäßtasche meiner Hosen und ist so strapazierfähig, dass ich es nur alle zwei, drei Jahre durch ein neues Exemplar ersetzen muss. Die Fächer für die Kreditkarten reichen aus für meine beiden EC-Karten, meine Krankenkassenkarte, den Ausweis der Stadtbibliothek, den Organspenderausweis und die Abo-Servicecard der Süddeutschen Zeitung. Weitere, ausklappbare Hüllen mit Klarsichtfenstern enthalten meinen Personal- und meinen Schwerbehindertenausweis mit dem Beiblatt des Versorgungsamtes, welch letztere Dokumente ich immer bei mir tragen muss, um die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen zu dürfen. Sodann gibt es natürlich ein Fach für Münzgeld, das sogar mit einem kleinen Extra-Täschchen für den Einkaufswagen-Chip versehen ist, sowie zwei Fächer für Banknoten, von denen ich nur das vordere für Geldscheine nutze, während ich im hinteren Kassenbons und Quittungen sammle. Auch ein paar meiner Visitenkarten finden hinter meinem Personalausweis noch Platz. Je nach Füllung wiegt mein Geldbeutel um 200 Gramm. – Das wär’s an persönlichen Habseligkeiten, was man an mir fände, wenn ich irgendwo unterwegs das Zeitliche segnete.

Quasselknochen

Wednesday, 02. September 2009

Endlich komme ich wieder dazu, alte Freundschaften zu erneuern, wenngleich vorläufig nur fernmündlich. Nachdem unsere Rufnummer infolge eines Wechsels des Anbieters geändert werden musste, liefen die Bemühungen einiger mir nahestehender Menschen, mit mir in Verbindung zu treten, wiederholt ins Leere, vorzugsweise natürlich jener, die den Austausch per E-Mail nicht zu ihren geläufigen Kommunikationstechniken zählen. Weil mir selbst dieser Informationsweg ganz selbstverständlich geworden ist, konnte es mir geschehen, dass ich diese „Anachronisten“ für ein Weilchen gar nicht mehr auf der Rechnung hatte. An alle Adressen in unserem Outlook-Sammelverteiler hatte ich eine knappe E-Mail mit unserer neuen Anschrift und Telefonnummer geschickt und irrigerweise angenommen, damit meine Pflicht getan zu haben. Daran sieht man, wie folgenreich es ist, wenn man an einer neuen Kommunikationstechnik, aus welchen Gründen auch immer, nicht teilnimmt. In letzter Konsequenz führt es wohl zur sozialen Isolation.

Ich selbst suche einen für mich maßgeschneiderten Mittelweg und entscheide nach gründlicher Prüfung von Fall zu Fall, welche „Werkzeuge“ ich für den Austausch von Informationen mit meinen Mitmenschen nutzen will und auf welche ich bewusst verzichte. Dabei bemühe ich mich, wo eben möglich auf zeitraubendes und nervtötendes Hightech-Spielzeug zu verzichten. Dass der Gebrauch der meisten dieser Gerätschaften stark suchtbildend ist – sonst wären sie ja nicht so erfolgreich –, das weiß ich zur Genüge und bin deshalb auf der Hut, bevor ich mich mit ihnen einlasse.

Sehr zum Erstaunen vieler besitze ich zum Beispiel noch immer kein Mobiltelefon. Während des Umzugs, als wir zeitweise weder in der „alten“ noch in der „neuen“ Wohnung einen Festnetzanschluss hatten und dauernd getrennt unterwegs waren, teils zwischen den beiden Wohnungen, teils auf dem Weg zu Baumärkten, Möbelgeschäften usw., da erwies es sich vorübergehend als ausgesprochen bequem und vor allem zeitsparend, dass mir meine Gefährtin ihr Zweithandy zur Verfügung gestellt hatte. Ich begann, mich an diesen vermeintlichen Luxus zu gewöhnen und erwog für eine kurze Zeit, mir selbst einen solchen Quasselknochen zuzulegen.

Dann machte ich mir aber doch rechtzeitig die Nachteile dieser Optionen bewusst: ständig auch unterwegs erreichbar zu sein und von überall her mit jedem Fernsprechteilnehmer in Verbindung treten zu können. Wollte ich das? Wenn ich entspannt und frohen Sinnes durch den Wald spazierte, dann riss mich urplötzlich dieses zunächst anonyme Klingeln aus meinem Wohlbehagen, das sich dann in einer Stimme personifizierte, die mich bat, einem meiner Söhne etwas auszurichten oder ein persönliches Treffen mit mir vereinbaren wollte oder mich fragte, ob ich vielleicht die Handynummer von diesem oder jener wüsste oder sich am Ende gar – tatsächlich? angeblich? – verwählt hatte. Selbst wenn das Telefonat selbst nur eine Minute gedauert hatte, brauchte ich anschließend eine Viertelstunde, bis ich diese Störung mental und emotional restlos verdaut und vergessen hatte.

Ich kenne den Einwand, dass man den Signalton eines Handys ja mit einem Tastendruck jederzeit abstellen kann. Aber tut man das? Es gelingt vielen Zeitgenossen ja nicht einmal, daran zu denken, wenn sie sich in ein Symphoniekonzert oder eine Kirche begeben. Schließlich läuft dieses „Auflautlosstellen“ des Apparates ja auch seinem Prinzip und seinem eigentlichen Anspruch ständiger Empfangsbereitschaft zuwider. Sicher, es gibt diese Momente, wo ich vorm Supermarktregal stehe und mich frage, ob ich meiner Gefährtin Johannisbeer- oder Brombeermarmelade mitbringen sollte. Jetzt wäre es doch so einfach, diese Frage mit einem kurzen Handytelefonat zu klären. Aber dagegen stehen etliche andere Momente, in denen ich unterwegs von Anrufern gestört würde. Und die Zeit, in der ich unterwegs bin, empfinde ich auch deshalb als eine angenehme, weil ich dabei eben gerade vor Störungen dieser Art sicher bin. Es reicht doch schon, wenn daheim jederzeit das Telefon klingeln kann, oder? – Immerhin, dort leiste ich mir schon seit Urzeiten einen schnurlosen Quasselknochen (s. Titelbild).

Zuckerpott putt

Monday, 20. April 2009

Es sei, so schrieb ich hier unterm 18. September vorigen Jahres, „ein kleines Wunder, dass er unterdessen nicht irgendwann einmal in Scherben gegangen ist, denn das Porzellan ist für seine Größe verhältnismäßig dünn und an unserem Frühstückstisch herrschte, als unsere Kinder noch klein waren, oft ein rechtes Tohuwabohu. Klopf auf Holz: toi, toi, toi!”

Die Rede war von unserem Zuckerpott. Nun ist er perdu, oder putt, wie es in der Kindersprache heißt. Nachdem mir Ende März ausgerechnet eine triviale Maggiflasche – wie peinlich! – auf den Zuckerpott gefallen war und er seither einen feinen Riss in seiner dünnen Haut hatte, ging er am Ostersonntag endgültig in die Brüche. Indirekt trug ich auch daran die Schuld, weil ich den Zuckerpott auf eine wacklige Gartenbank gestellt und dann dort vergessen hatte. Milan wackelte daran und – pardauz!

Dreizehn Scherben!

Nun sind wir auf der Suche nach einem angemessenen Ersatz, was sich als gar nicht so einfach zu erweisen scheint. Wir suchen ja wieder ein ähnlich bauchiges Gefäß, mit einem Fassungsvermögen, das ausreichend groß ist und uns bei unseren zahlreichen süßen Gästen nicht zwingt, alle nasenlang Zucker nachzufüllen. Ein Deckel muss nicht sein, der würde nur stören und ohnehin ganz weit hinten im Küchenschrank verschwinden.

Es soll nach Möglichkeit auch kein langweiliges Massenprodukt sein. Neulich entdeckten wir eine Blumenvase aus Porzellan, die von der Form und Größe her wenigstens in etwa mit unserem altgedienten Pott Ähnlichkeit hatte. Aber die Öffnung war etwas arg eng, wie Ulla fand. Und zudem schien die schneeweiße, schmucklose Vase uns beiden dann doch zu langweilig-beliebig. Vermutlich werden wir am ehesten noch auf einem Flohmarkt fündig, die Freiluftsaison hat ja gerade begonnen. Oder sollte ich das Ereignis zum Anlass nehmen, mir den Zucker ganz abzugewöhnen?

Ike a? Na!

Wednesday, 04. March 2009

Im vergangenen Monat erschien mal wieder eins jener „humorvollen und zugleich informativen” Taschenbücher, die sich so wunderbar als Mitbringsel zur Geburtstagsparty einer nicht ganz so nahen Bekannten eignen, über deren speziellere Neigungen, literarische Vorlieben oder Freizeitinteressen man noch nicht viel herausgefunden hat und der man dennoch kein völlig nichtssagendes Allerweltsgeschenkbuch à la Wortstoffhof von Axel Hacke überreichen will. Vielleicht hat sie ja gar keinen Humor, wer weiß?

Immerhin kann man sich auf eins verlassen: Einerlei, ob sie nun sportlich ist oder Figurprobleme hat oder beides, ob sie ihre Brötchen als Kassiererin bei Hennes & Mauritz oder als Lektorin bei Kiepenheuer & Witsch verdient, ob sie sechzehn oder sechsundsechzig Jahre alt ist, in Essen lebt oder in Funabashi, ob sie jeden sauer verdienten Cent dreimal umdreht, bevor sie ihn ausgibt, oder vielmehr gerade die Erbschaft dreier fleißiger Generationen zum Fester rauswirft – ganz sicher war sie irgendwann schon mal bei Ikea und hat in dem „unmöglichen Möbelhaus aus Schweden” den einen oder anderen nützlichen oder unnützen oder zunächst nützlich scheinenden und sich später als unnütz erweisenden Gegenstand gekauft. „Weltweit schleppen Menschen Möbel in flachen Kartons zu ihren Autos, drehen zu Hause mit einem Inbusschlüssel [s. Titelbild] Schrauben in Pressspan und richten sich mit Möbeln ein, die auch in französischen, amerikanischen, britischen, deutschen, italienischen, finnischen, japanischen oder russischen Wohnungen und in den Häusern Dutzender anderer Nationalitäten stehen.” (Sebastian Herrmann: Wir Ikeaner. Unsere verhängnisvolle Affäre mit einem kleinen schwedischen Möbelhaus. München: Knaur Taschenbuch Verlag, 2009, S. 16.)

Man muss kein samstäglicher Ikea-Dauerkunde sein wie der SZ-Redakteur Sebastian Herrmann (*1974), der gewiss schon längst nicht mehr wohnt, sondern lebt, um die meisten seiner Witzchen über das globale Einrichtungsimperium zu verstehen und seine zahllosen Ikea-Anekdoten, allesamt von hohem Wiedererkennungswert, mit Schmunzeln quittieren zu können. (Die Einbandoberfläche des Taschenbuchs fühlt sich übrigens an wie eine jener blauen Einkaufstüten, die man beim Verlassen des Ikea-Markts kaufen kann, wenn man sich auf dem Weg durch das Einkaufslabyrinth – gegen den Uhrzeigersinn! – in die gelbe Einkaufstüte verliebt hat, die einem nur leihweise überlassen wurde. Haptische Effekte sind als originelle Dreingaben zu Taschenbüchern gerade der letze Schrei.)

Der Inhalt dieser Buchtüte aus der Droemerschen Verlagsanstalt ist leider weniger profiliert als der Umschlag. Hätte sich der Autor damit begnügt, aus seinem Thema einen gepfefferten Artikel für seinen Arbeitgeber zu machen, etwa für den Wochenend-Teil der Süddeutschen, es wäre zweifellos ein journalistisches Bravourstück daraus geworden. Bestimmt hätte das Material zum Thema Ikea auch zu einer etwas ausführlicheren Darstellung gereicht, etwa in NZZ Folio, da gab es ja tatsächlich mal ein Themen-Heft Shopping. Aber die 238 Seiten, die gefüllt werden mussten, um mir ruhigen Gewissens 8,95 Euro abknöpfen zu können, hat erkennbar schon Sebastian Herrmann als Zumutung empfunden. Wie sollte es da einem vielbeschäftigten Leser anders gehen?

Hinzu kommt, dass das Buch nicht weiß, wohin mit sich. Will es mit bitterböser Miene unseren kompensatorischen Konsumismus als Zwangsneurose entlarven? Will es die Produkte des Handelsunternehmens als ökologisch verwerflich anprangern? Oder die subtilen Manipulationstechniken des Konzerns brandmarken? Vielleicht will es ja auch bloß den typischen Ikea-Kunden charakterisieren, der mit etwas Glück zugleich der typische Ikea-Buch-Leser sein könnte und mit noch etwas Glück Gefallen daran findet, sich selbst in seiner albernen Konformität bloßgestellt zu sehen, womit das Buch es allein in Deutschland auf eine Millionenauflage bringen könnte. Eins sollten sich aber leidende Ikeaner ebenso wie meidende Non-Ikeaner von vornherein abschminken: dass dieses Büchlein etwa Ingvar Kamprads Einrichtungsimperium auch nur im Mindesten schaden könnte. Ikea ist nämlich – auch Herrmann hat dies erkannt – gegen Kritik jeder Art perfekt imprägniert, ganz gleich von wo sie kommt und wohin sie zielt. Ja, mehr noch: Ikea verwandelt jeden Vorwurf, den man Ikea machen kann, postwendend in ein Argument für Ikea. Nur Stehen ist billiger!

Dingwelt (VIII)

Saturday, 24. January 2009

„Unkaputtbar” – mit diesem Neologismus bewarb Coca-Cola in Deutschland 1990 die Einführung der PET-Pfandflaschen. Zwar hat es das neue Adjektiv noch nicht in den Duden geschafft, aber im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich‘s längst durchgesetzt, was über hunderttausend Belegstellen bei Google bezeugen. Ein Konsum- bzw. Gebrauchsartikel, der angeblich nicht kaputtgehen kann, scheint also damit in neuerer Zeit wieder einen hohen Kaufanreiz zu bieten. Das ist nur zu verständlich, denn bis dahin hatten sich in der kapitalistischen Warenproduktion dem ganz entgegengesetzte „Werte” durchgesetzt, die nun zunehmend in Verruf gerieten. Es herrschte zuvor eine Ex-und-hopp-Mentalität. Wenngleich möglichst billige, jedoch entsprechend kurzlebige Erzeugnisse fanden reißenden Absatz. Die Ergebnisse soliden Handwerks fristeten neben den Wegwerfprodukten der Massenproduktion nur noch ein Nischendasein für Besserverdienende.

Als wir vor vier Jahren wieder mal umzogen, leisteten wir uns einen neuen Staubsauger. In unserer aktuellen Mietwohnung liegt, noch vom Vormieter, eine dunkelblaue „Auslegeware”, Loriot lässt grüßen. Unsere Hündin Lola ist blond. Mindestens zweimal pro Jahr kommt sie in die Mauser, das sieht man auf dem blauen Teppich dann sehr. Folglich entschieden wir uns für einen Sauger, dem wir zutrauen, diesem wiederkehrenden Problem mit speziellen Düsen begegnen zu können. Unsere Wahl fiel auf den AEG Electrolux Twinclean, einen Bodenstaubsauger, der ohne die unsäglichen Tüten auskommt, also auf ein Stiefkind der genialen Erfindung von Sir James Dyson. Diesen Staub- und Haarfresser ließen wir uns damals rund 350 Euro kosten. Was tut man nicht alles für seinen Hund!

Bis vor ein paar Tagen leistete uns der Sauger gute Dienste, wenngleich er immer mal wieder kurzfristig streikte. Eine rote Warnleuchte blinkte dann auf, Twinclean war außer Atem gekommen und bat um eine Verschnaufpause. Auch die rotierenden Bürsten blockierten gelegentlich, wenn sich allzu viele blonde Hundehaare in ihnen verfangen hatten. Aber mit solchen Arbeitsunterbrechungen lernt man als geprüfter Hausmann zu leben. Zwischenzeitlich las ich dann in Peter Moslers Die vielen Dinge machen arm.

Als wirklich praktisch erwies sich auch, dass wir unser staubsaugendes „Haustier” an der langen Leine führen konnten. Dafür sorgte ein Kabelaufroller. Nach dem Druck auf eine besondere Taste schnurrte die viele Meter lange Schnur zurück in seinen dicken Bauch. Bis vor ein paar Tagen. Dann versagte dieser devote Service plötzlich und ohne erkennbaren Grund seine satt schnackende Gefälligkeit. – Ulla schraubte das dienstbare Gerät auf und kämpfte sich tapfer bis zum Auslöser seiner hoffentlich nur vorübergehenden Betriebsstörung vor. Der zauberhafte Rückwickelmechanismus wurde von einer gespannten Metallfeder [s. Titelbild] bewirkt, die sich – warum auch immer – verheddert hatte. Der tief im Plastikbauch unseres Saugers versteckte Aufroller erwies sich beim besten Willen als absolut irreparabel. Reklamationsfristen sind nach vier Jahren selbstverständlich längst abgelaufen. Wenn ich nun an dieser Stelle von einer böswillig beabsichtigten „Sollbruchstelle” des Herstellers sprechen würde, zöge er mich vielleicht vor den Kadi, wegen geschäftsschädigender übler Nachrede.

Nun tröste ich mich erstens mit dem kreativen Einfall, dass vielleicht der defekte Kabelrückspul-Mechanismus des Saugers durch einen externen Kabelaufwickler ersetzt werden kann. Zweitens rede ich mir ein, dass dieser ganz außergewöhnliche Unglücksfall keinerlei Rückschlüsse auf die Fertigungsqualität moderner Industrieprodukte zulässt: Honi soit qui mal y pense! Drittens unterstelle ich meiner Frau, dass sie durch unsachgemäße Handhabung unseres sonst doch bisher so treuen Staubsaugers dessen Versagen selbst ausgelöst hat. Und viertens frage ich mich, warum denn bloß der brave Staub, Niederschlag einer unbekümmerten Endzeitlichkeit, sub specie aeternitatis in dermaßen schlechtem Ansehen steht.

Dingwelt (VII)

Tuesday, 23. December 2008

Seit frühester Kindheit litt ich unter zwei körperlichen Beeinträchtigungen: unter Migräneanfällen und deformierten Füßen. Ich war sozusagen von Kopf bis Fuß auf Leiden eingestellt. Seit meinem virilen Klimakterium haben sich die Kopfschmerzattacken verabschiedet, die Füße hingegen belästigen mich nach wie vor auf Schritt und Tritt. Weil die Orthopädie in den 1960er-Jahren gegen Hohlfüße kein anderes Mittel als das Messer des Chirurgen kannte, wurde ich im Essener Klinikum zwei wenig erfolgreichen Operationen unterzogen. Seither trage ich orthopädische Maßschuhe, in denen ich mich leidlich schmerzfrei durch die hart gepflasterte Stadtlandschaft meiner Heimat bewegen kann.

Am 20. Februar des nun zu Ende gehenden Jahres erkühnte ich mich, das Foto eines meiner nackten Füße als stummes Merkmal über einen Beitrag zu stellen, den ich damals noch im Kulturblog der WAZ-Mediengruppe, bei Westropolis, veröffentlichte. Shocking! Die empörten Kommentare zu diesem Tabubruch in einer geleckten und geschniegelten Öffentlichkeit, in der die traurige Wahrheit kranker Füße keine Chance hat gegen den falschen Schein adretter Hutmoden – diese Kommentare lassen noch heute mein Herz hüpfen und machen mich stolz, hier offenbar eine Grenze überschritten zu haben.

„Schuster, bleib bei deinen Leisten!” – Im Internet gibt es einen Streit darüber, ob es nun „deinen” oder „deinem” heißen muss. So kann nur fragen, wer nicht weiß, was ein Leisten eigentlich ist. Schusterleisten sind Formstücke aus Holz, Kunststoff oder Metall, die zum Bau eines Schuhpaars verwendet werden, mithin möglichst originalgetreue Nachbildungen der beiden Füße, für die und um die die zwei Schuhe gebaut werden sollen. Da aber gewöhnliche Menschen üblicherweise zwei Füße haben und somit zwei Schuhe benötigen, kann nur der Plural richtig sein. Ich habe meinem orthopädischen Schuhmacher seit nun mehr als fünfunddreißig Jahren die Treue gehalten, weil er „meine” Leisten, die Abbilder meiner verkrüppelten Füße, in seinem Leistenlager aufbewahrt.

Was es für einen Fußkranken wie mich jeweils bedeutet, aus den ausgelatschten Schuhen der vergangenen Jahre, links im Bild, in die neu gebauten zu wechseln, rechts im Bild – diesen überaus schmerzvollen Vorgang kann vermutlich nur ein Leidensgefährte nachvollziehen, so es denn einen solchen hier überhaupt gibt. Und was diese körperliche Beeinträchtigung im Laufe einer jugendlichen Biographie bedeutet, wenn man beim Hundertmeterlauf regelmäßig als Letzter auf der Strecke bleibt, das steht ohnehin in den Sternen. Aber ich will mich ja nicht beklagen.

Meine vermeintlichen Defizite sind schon immer meine tatsächlichen Vorzüge gewesen.

Dingwelt (VI)

Tuesday, 28. October 2008

Dies sind die beiden Gegenstände, die als allererste in meinen Besitz gelangten und noch immer zu meinem Eigentum an beweglichen Sachen gehören: Der Löffel und die Gabel aus Silber mit meinem eingravierten Vornamen waren ein Geschenk meiner Großeltern väterlicherseits zu meiner Geburt.

Messer, Gabel, Schere, Licht /sind für kleine Kinder nicht! Dieser „Zuchtreim” unbekannter Herkunft, der für den Beginn des 20. Jahrhunderts nachgewiesen, aber vermutlich bedeutend älter ist und noch ganz in der Tradition der „Schwarzen Pädagogik” (Katharina Rutschky 1977) steht; dieser Spruch, der auch gut in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1844) stehen könnte, fällt mir ein, wenn ich die Gabel betrachte. Ihre stumpfen Zinken lassen den Warnhinweis in diesem Punkt obsolet erscheinen, nachdem schon das Wort „Licht” als Synonym für „offenes Feuer, Flamme” längst antiquiert und kaum einem Kind mehr verständlich war. (Erstaunlich übrigens, dass der altertümliche Reim 1965 durch den gleichnamigen Schlager von Vicky Leandros, ihren allerersten Hit, eine Wiederauferstehung erleben durfte – als Metapher für die Gefahren vorehelichen Geschlechtsverkehrs.)

Nicht mehr in meinem Besitz befindet sich eine kleine Kinderschere, an die ich mich noch sehr gut erinnere, weil sie eins meiner Lieblingsspielzeuge war. Auch sie hatte abgerundete Spitzen, was mich allerdings nicht hinderte, eines Sonntagmorgens – meine Eltern schliefen noch – mit dem Scherchen mein blond gelocktes Kopfhaar, meine Augenbrauen und sogar meine Wimpern zurechtzustutzen.

Das silberne Löffelchen wäre mir vor etlichen Jahren um ein Haar abhandengekommen. Bei einer nächtlichen Fete in meiner Wohnung hatte sich eine Besucherin, die ich nur flüchtig kannte, so sehr in diesen Löffel verliebt, dass sie mir allerlei verlockende Angebote machte, wollte ich ihn ihr überlassen. Der Ausgang dieses Kampfes mit meinem inneren Schweinehund ist offenkundig [siehe Titelbild], das Schicksal der erfolglosen Sirene hingegen war wohl unausweichlich. Sie starb bald darauf am „Goldenen Schuss”.

Das silberne Gäbelchen hingegen ist auf seine alten Tage neuerdings wieder in Gebrauch und findet eine vergleichsweise ganz unschuldige Verwendung. Wenn mein Enkel, gut ein Jahr alt, gelegentlich über Nacht bei uns zu Gast ist, dann jauchzt er wie ein Schneekönig, sich mittels solch noblen Bestecks an seinem Gemüsebrei delektieren zu dürfen.

Dingwelt (V)

Monday, 13. October 2008

Seit ein paar Jahren bin ich Hypertoniker. Wann genau sich bei mir der erhöhte arterielle Blutdruck eingestellt hat, kann ich nicht sagen, denn als er von meinem damaligen Hausarzt festgestellt wurde, waren mein systolischer und mein diastolischer Gefäßdruck seit vielen Jahren nicht mehr gemessen worden.

Die Therapie der Wahl gegen dieses chronische Volksleiden war in meinem Fall eine medikamentöse Kombinationstherapie aus einem ACE-Hemmer (Ramipril) und einem Betablocker (Metoprolol). Das eine Präparat nehme ich morgens zum Frühstück, das andere abends vorm Zubettgehen.

Bald wurde mir diese Tagesroutine so selbstverständlich, dass ich gelegentlich im Zweifel war, ob ich nun meine Pille schon geschluckt hatte oder noch nicht. Sicherheitshalber eine zweite Tablette zu nehmen empfiehlt sich nicht, denn Überdosierungen können zu einem gefährlichen Blutdruck-Abfall führen. Eine Tagesdosis ganz auszulassen ist aber ebenfalls riskant.

Also entschloss ich mich, in der Apotheke eine dieser praktischen Vorratsdosen zu erwerben, die es erlauben, den Medikamentenbedarf einer Woche vorzuhalten, übersichtlich sortiert nach Tagen und Tageszeiten der vom Arzt verordneten Einnahme (siehe Titelbild). Bei dieser Anschaffung hatte ich zum ersten Mal das unabweisliche Gefühl: Jetzt kommt das Alter.

Die sieben „Schubladen” des Kästchens wandern in ihrem Gehäuse Woche für Woche von hinten nach vorn. Wenn ein Tag vorbei ist, wird das leere Kästchen nach hinten gesteckt, wenn die Woche endet, befülle ich das Magazin mit weiteren 14 Pillen: ein Kreislauf – der allerdings irgendwann an sein Ende kommen wird. Die Botschaft lautet: Deine Tage sind gezählt – wenngleich die Zahl dank der täglichen Pilleneinnahme größer ist als ohne.

Dingwelt (IV)

Monday, 29. September 2008

Diese aparte Skulptur, gefeilt, geschliffen und poliert aus Speckstein (Steatit), acht Zentimeter lang und fünf Zentimeter breit, 72 Gramm schwer, ist keine Plastik von Henry Moore, sondern Ergebnis häuslicher Handarbeit meiner Freundin Sabine P., ein Geschenk zu meinem 40. Geburtstag.

In seiner zweckfreien Existenz, nutzlos wie ein Kropf, hätte sie ein utilitaristischer Zeitgenosse als Staubfänger denunziert und, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, in den Abfall befördert. Nicht so ich.

Zwar hat das Figürchen, das mich in seiner spiraligen Form je nach Perspektive manchmal an den Oberkörper einer lockenden Marketenderin, manchmal an eine aus trüben Untiefen auftauchende Qualle erinnert, in den vergangenen zwölf Jahren leicht gelitten. Vom Kopf der bleichen Mutter Courage, bzw. von einem Tentakel der Meduse, ist ein kleines Stückchen abgesprungen, wie ich gerade erst feststellen musste. Und über dem unteren Teil – aber wer will sagen, wo hier unten und oben ist? – hat sich ein feiner Riss gebildet. Darum könnte ich diesen Handschmeichler dennoch niemals wegschmeißen.

Meine Ehrfurcht vor dem namenlosen Gegenstand hat übrigens nichts mit meiner Freundschaft zu Sabine P. zu tun. Es ist vielmehr gerade seine reine Bedeutungs- und Zusammenhanglosigkeit, die mich verpflichtet, ihm meine Treue zu bewahren. Vielleicht ist es sogar angebracht, dass ich hier mein Mitleid mit ihm bekunde.

Es lag mir noch nie besonders, Befehle zu erteilen. Sonst würde ich vielleicht verfügen, mir ihn – oder es? oder sie? – mit ins Grab zu legen, wenn ich für wahrscheinlich hielte, dass mir dereinst ein Grab beschieden ist; und dass es, wenn mein Stündlein geschlagen hat, noch Menschen gibt, die ihre Aufmerksamkeit den Bestattungswünschen eines Ahnen widmen können. Aber wer will das hoffen? Und warum? Der Schmelzpunkt von Steatit liegt übrigens bei lächerlichen 1635 °C.

Dingwelt (III)

Sunday, 21. September 2008

Heute: Schachuhr. – Meine habe ich 1981 bei Spielwaren Roskothen am Kornmarkt 7 in der Essener Innenstadt gekauft. Sie hat damals 69,00 D-Mark gekostet, Gehäuse aus Buchenholz, 150 mm breit, 80 mm hoch und 40 mm tief, Uhrenwerke mit goldenen Blenden. Ein zum Verwechseln ähnliches Modell ist heute noch im Handel. Der Preis dafür hat sich erstaunlicherweise nahezu gehalten, während Roskothen vor ein paar Jahren gegen die übermächtige Konkurrenz von Toys “R” Us die Segel streichen musste. Jetzt lockt am Kornmarkt ein 1-Euro-Shop mit seinen Supersonderangeboten: „Nix Teuro – nur ein Euro!”

Für den Schachlaien erkläre ich mal kurz und bündig die Funktionsweise dieses Uhrenzwillings. Die Zifferblätter zeigen die verbleibende Zeit der beiden Spieler an. Bei Blitzschachpartien ist die Bedenkzeit für jeden Spieler auf insgesamt fünf oder zehn Minuten begrenzt, bei Turnierpartien auf ein oder zwei Stunden. Entsprechend werden die beiden Uhrwerke voreingestellt. Die Schachuhr steht an einer Seite des Bretts zwischen den Spielern. Der anziehende Spieler mit den weißen Figuren betätigt nach seinem Eröffnungszug als erster das Knöpfchen über seiner Uhr und setzt damit das Laufwerk der gegnerischen Uhr in Gang. Wenn Schwarz seinen ersten Zug gemacht hat, verfährt er ebenso, und nun tickt wieder die Uhr von Weiß. Wenn die Bedenkzeit eines der beiden Spieler abgelaufen ist, bevor ein reguläres Spielergebnis (Matt, Remis oder Spielaufgabe) erreicht wurde, dann hat dieser durch Zeitüberschreitung verloren. An der Uhr ist dies erkennbar, indem der Minutenzeiger das kleine rote „Fallbeil” kurz vor der Zwölf auf dem Zifferblatt anhebt und schließlich fallen lässt.

Ich habe mich auf dem hölzernen Brett ans Schachspielen mit begrenzter Zeitvorgabe nie gewöhnen können. Immer wieder vergaß ich im Eifer des Gefechts, mein Knöpfchen zu drücken und geriet dadurch in Zeitnot. Darum gab ich, zumal ich nur ein Hobbyspieler bin, das Spiel mit der Schachuhr bald wieder dran. Insofern war die Geldausgabe für diesen speziellen Zeitnehmer eine Fehlinvestition.

Seit ich gelegentlich dem Online-Schachspiel fröne, habe ich aber den besonderen Reiz des Spielens auf Zeit entdeckt. Hier muss man sich um die Schachuhr nicht weiter kümmern. Das Drücken aufs Knöpfchen erübrigt sich, denn die Umstellung auf die Uhr des Gegners erfolgt automatisch, sobald ich meinen Zug vollendet habe.

Was tun mit der Schachuhr in Buchenholz? Neulich kam mir in den Sinn, dass man sie für Streitgespräche zwischen zwei Kontrahenten nutzen könnte. Wie oft hört man doch in solchen verbalen Konflikten den Vorwurf: „Du lässt mich ja nie ausreden!” Oder die rhetorische Frage: „Darf ich vielleicht auch mal etwas sagen?” In solchen Begegnungen könnte die Schachuhr als unbestechlicher Richter über die Einhaltung des fairen Gleichheitsgrundsatzes wertvolle Dienste tun. Wer weiß? Vielleicht wäre manche gescheiterte Ehe mit diesem so einfachen und neutralen Zeitmessgerät zu retten gewesen.

Dingwelt (II)

Thursday, 18. September 2008

Heute: Zuckerpott mit Löffel. – Ulla hat ihn vor vielen Jahren auf einem Basar an der Essener Freien Waldorfschule zum Spottpreis von zwei Mark erstanden. Wie lange ist das her? Das könnten wohl fast zwanzig Jahre sein, in denen er uns nun schon täglich gute Dienste leistet. Es ist ein kleines Wunder, dass er unterdessen nicht irgendwann einmal in Scherben gegangen ist, denn das Porzellan ist für seine Größe verhältnismäßig dünn und an unserem Frühstückstisch herrschte, als unsere Kinder noch klein waren, oft ein rechtes Tohuwabohu. Klopf auf Holz: toi, toi, toi!

Seine braune, wie hingewischte Glasur weist den Zuckerpott als ein bodenständiges, etwas hausbackenes, zünftiges, grundehrliches Gefäß aus. Er ist alles andere als ein artifizieller Luxusgegenstand für den großbürgerlichen Teetisch, wie die Zuckerdosen mit Deckel von Villeroy & Boch oder Hutschenreuther, die man alle paar Tage nachfüllen muss. Dieses Gefäß fasst gut ein Pfund Zucker, angemessen für eine Großfamilie. Kein Tag vergeht, an dem ich es nicht zur Hand nähme und mich aus ihm bediente, um meinen Kaffee zu süßen.

Soweit man das von einem toten Gegenstand sagen kann, liebe ich diesen Zuckerpott und würde ihm gewiss eine Zeit lang nachtrauern, wenn er doch einmal zerbräche. Dabei habe ich zu seiner praktischen Funktion, zu dem Dienst, den er mir leistet, ein mindestens zwiespältiges Verhältnis. So unkritisch bin ich ja nicht, dass ich nicht um die schädlichen Folgen raffinierten Zuckers für meine Gesundheit wüsste. Im Gegenteil! Ich habe mich mit dieser speziellen Ernährungsgewohnheit einmal sehr gründlich beschäftigt und mit Gewinn zwei Bücher zu diesem Thema gelesen.

Dass C12H22O11 kein harmloses Genuss-, sondern ein auf Dauer krank machendes Suchtmittel ist, für eine vollwertige, abwechslungsreiche und schmackhafte Ernährung absolut entbehrlich, das lernte ich aus William Duftys Zucker Blues (a. d. Am. v. Annemarie Telieps. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1996). Dufty kam zu dieser Erkenntnis durch Gloria Swanson, den legendären Stummfilmstar, deren sechster und letzter Ehemann er 1976 wurde, im gleichen Jahr, als sein Sugar Blues zuerst im amerikanischen Original erschien. Die Einsicht, dass der internationale Zuckermarkt ein kaum weniger mafiöses Krebsgeschwür ist wie der weltweite illegale Drogenhandel mit Heroin und Kokain, das wurde mir klar, als ich das Buch Zucker des Schweizer Journalisten Al Imfeld gelesen hatte (Zürich: Unionsverlag, 1983).

Rationale Erkenntnis ist ein erster Schritt – aber daraus ganz persönliche Schlüsse zu ziehen und eine lebenslange liebe Gewohnheit aufzugeben, ist ein langer und schmerzvoller Weg. Bis dahin habe ich weiter mein tägliches Tête-à-Tête mit dem Zuckerpott, den ich um seiner Treue willen liebe und wegen seines tödlichen Inhalts hasse. Vielleicht würde mir der endgültige Abschied vom Zucker leichterfallen, wenn ich wüsste, wozu ich den Pott anschließend nutzen könnte?

[Titelbild: Zuckerpott mit Silberlöffel und Zucker auf Raster 10 x 10 mm.]

Dingwelt (I)

Wednesday, 17. September 2008

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„Bundesbürger besitzen laut Statistik im Durchschnitt 10.000 Dinge. Sie helfen ihnen im täglichen Leben, steigern das Wohlbefinden, verschaffen soziales Ansehen und dienen oft auch der Kompensation unerfüllter Wünsche.“ So heißt es im Klappentext des Katalogs zu einer Wanderausstellung, die 1995/96 in fünf deutschen Museen gezeigt wurde und im Titel die interessante Frage stellte: Welche Dinge braucht der Mensch? (hrsg. v. Dagmar Steffen. Gießen: Anabas-Verlag, 1995.)

Ich weiß nicht, ob sich die Zahl der Dinge im Besitz von Otto Normalverbraucher und Erika Mustermann seither noch erhöht hat. Im Klappentext heißt es weiter: „Und noch immer lautet die Maxime unseres Wirtschaftens: ,Je mehr, desto besser.‘“ Dieser konsumistische Lebensgrundsatz bestimmt wohl nach wie vor das Verbraucherverhalten, auch wenn die Reallöhne und damit die Kaufkraft in Deutschland seither gesunken sind. Fragwürdig ist zudem der Ding-Begriff, der solchen Zählungen zugrunde liegt. Wenn acht gleiche Stühle um meinen Wohnzimmertisch stehen, gehen sie vermutlich jeder für sich in die Summe meiner Dinge ein. Aber wie steht es mit hundert Heftzwecken oder tausend Büroklammern? Hier wird wohl die Packung mit Inhalt als ein Ding bewertet und das Einzelstück steht Pars pro Toto für seine ununterscheidbar gleichen Geschwister.

In lockerer Folge werde ich hier einige bemerkenswerte Dinge aus meinem Besitz vorstellen und sie auf ihre – im weitesten Sinne – Brauchbarkeit hin prüfen: dauerhafte und verderbliche, schöne und hässliche, täglich genutzte und längst vergessene, erworbene und gefundene, gestohlene und ererbte, winzig kleine und sperrig große. Die vielgestaltige Dingwelt, mit der wir uns umgeben, ist ja manches zugleich: Kokon, Werkzeugkasten, Heimat, Luftschloss, Rumpelkammer und Herd.

Im Titelbild will ich das jeweilige Ding im Foto zeigen, bevor ich mich ihm forschend, erklärend und deutend zuwende. Heute, beim Eintritt in meine private Dingwelt, präsentiere ich ein Lineal aus gelbem Plastik, Werbegeschenk eines Telefonbuchverlags, 30 Zentimeter lang, 30 Gramm schwer, wohl aus den 1970er-Jahren.

Auf seiner Rückseite erklärt es kurz und bündig eine Fertigkeit, die ich dank meiner Ausbildung zum Buchhändler vor dreißig Jahren noch perfekt beherrsche, die aber dank der komfortablen Suchfunktionen des Internets im Aussterben begriffen ist: das Auffinden eines Begriffs in einem alphabetisch nach DIN 5007 geordneten Verzeichnis. In dieser praktischen Gebrauchsanweisung steht schwarz auf gelb der berückende Satz: „Für alle Dinge, die nicht nur zur eigenen Orientierung bestimmt sind, muß eine Regel gefunden werden, nach der sich alle Anwender richten müssen.“ Sooft ich diesen Satz schon gelesen habe – noch nie konnte ich seinen gewiss tiefen Sinn ergründen. Und nie könnte ich mich von diesem flexiblen Maßstab trennen. (Das Plastik knistert leise, wenn man es biegt.)