Archive for the ‘Babel’ Category

Gerade und ungerade

Tuesday, 07. February 2012

In diesen Tagen brandet eine große Empörungswelle gegen das Urgestein des deutschen Qualitätsjournalismus, Wolf Schneider (86). Der hat die Frechheit besessen, auf seine alten Tage in sein Handbuch ein Kapitel über Online-Journaismus aufgenommen zu haben, das gelinde gesagt nicht die Zustimmung der Blogger findet. Mit einem ekligen Modewort ausgedrückt steht der graumelierte Grandseigneur seither in einem wahren shitstorm von Anwürfen und Beleidigungen, den er in der Würde seiner späten Tage selbst dann nicht verdient hätte, wenn sie allesamt berechtigt wären. – In diesem Zusammenhang stieß ich auf eine interessante Einlassung Schneiders zu der Frage, was denn im Wesentlichen Print- und Online-Journalismus unterscheide. Er sagte in einem Interview des Onlinebranchendienstes Meedia: „Solange wir nur vom Journalismus reden, sind die Unterschiede nicht groß. Womit ich gerade konfrontiert worden bin, ist ja gerade das Gegenteil von Journalismus: ,Mir fällt gerade was ein, und das finde ich unheimlich wichtig.‘ Das könnte eine Zeitung nicht bieten.“ – Und ich finde das gerade unheimlich zitierenswert, weil sich an dieser noblen Herablassung für mich mal wieder die grenzenlose Beschränktheit [!] von Leuten erweist, die zugleich Spezialisten, Profis und erfolgsverwöhnt sind. Damit meine ich den älteren Herrn Schneider ebensosehr wie seine kaum frischeren Kritiker. Wäre es unter vielen unwahrscheinlichen Umständen vielleicht doch möglich, dass es hier und da auf der Welt Leser gibt, die nicht nur an den gut recherchierten, leicht verständlich formulierten Darstellungen der alleraktuellsten Weltereignisse interessiert sind, hektisch vibrierend zwischen Marmeladenbrötchen und Kaffeetasse am Frühstückstisch, entziffernd, begreifend und vergessend im Sekundentakt? Schließlich ist doch der einzig erhabene, nämlich den ja tatsächlich unbezwinglichen Möglichkeiten des Web angemessene Nutzen der Bloggerei die Verbreitung von Blitz und Donnergrollen: in Form von Lyrik, Aphorismen, Bildern und kurzen Essays.

Deutschland, hilf!

Sunday, 15. January 2012

Man darf niemals aufgeben. „Ich habe soeben erstmals den Namen Ihrer Hilfsorganisation gelesen (auf einem Werbeplakat an einer Straßenbahnhaltestelle in Essen). Sehr stört mich daran, dass in Ihrem Namen ein Rechtschreibfehler unterlaufen ist. Das Wort ,helfen‘ ist ein Verb und muss darum kleingeschrieben werden, außer am Anfang des Satzes. Es heißt also richtig: ,Aktion Deutschland hilft‘. Wie erklären Sie diesen Fehler, durch den vor allem Kindern und Deutsch lernenden Ausländern ein schlechtes Vorbild gegeben wird, bei einer solch renommierten und wirkungsvollen Organisation? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort und würde mich freuen, wenn Sie meine Anregung aufgreifen und den falsch geschriebenen Namen bald korrigieren würden.“ (Anfrage per Online-Formular abgeschickt am heutigen Tage um 19:00 Uhr.)

Zufall: Rumgetalpe

Saturday, 07. January 2012

Durchsicht aller online verfügbaren Rezensionen von Wolfgang Herrndorfs Sand. Durchwegs urteilen die Kritiker wohlwollend bis überschwänglich, kein einziger Verriss tanzt aus der Reihe. Das ist insofern erstaunlich, als sie sich andererseits darin einig sind, aus dem Buch nicht recht schlau geworden zu sein. Sie geben zu, verwirrt zu sein, den Überblick verloren zu haben, sich getäuscht und hintergangen vorzukommen – aber sie nehmen das nicht etwa übel, sondern applaudieren dieser Vertracktheit und irritierenden Unübersichtlichkeit noch. Als langjähriger Zufallsforscher kann mich nicht überraschen, dass dieses vielfach missbrauchte Wörtchen auch hier dran glauben muss, um dem Chaos einen Dreh ins glücklich Gewollte und damit Gelungene zu geben. Den Anfang machte Friedmar Apel: „Da die Wahrheit so unwahrscheinlich klingt, erfindet er [der Protagonist des Romans, Carl genannt] wahrscheinlichere Aussagen, aber der Zufall will ihm nicht zu Hilfe kommen. Dabei könnte das Ganze als eine Verkettung von dummen Zufällen erscheinen. […] Die Ereignisse und Gewalttaten scheinen jeweils keinen oder einen falschen Grund zu haben. Das Leben ist auch ein Fehlerspiel von Zufällen, aber da nennt man es Schicksal.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11. November 2011.) – Und so geht es munter weiter. Dirk Knipphals: „Jedenfalls spielt der Zufall, der in diesem sinnlosen Kosmos und dieser transzendentalen Obdachlosigkeit, in der wir nun einmal leben, herrscht, die alles überragende Rolle.“ (taz v. 15. November 2011.) – Andrea Hanna Hünniger: „Es ist, als wollte er [der Autor] sagen: Jede Handlung ist nur eine Folge von Missverständnissen. Jede Begegnung eine Folge von Zufällen. Und jedes Urteil eine Folge von inkompetenten Richtern. […] Alles, was er [Carl] vor seiner Gefangenschaft tut, geht schief, obwohl sich nicht genau sagen lässt, ob er selbst einen Fehler gemacht hat. Eher sind es die Zufälle, die alles kompliziert machen. Sie sind es, die dafür sorgen, dass ihm der Mikrofilm in die Hände fällt und im Moment des Fast-Erlöstseins wieder verloren geht.“ (ZEIT v. 22. November 2011.) – Luise Boege: „In Sand wird zunächst sehr viel durch Zufall hineingeraten und herumgetalpt […].“ (der Freitag v. 5. Dezember 2011.) Wie die Rezensenten habe ich das Buch mit großen Erwartungen zur Hand genommen. Wie sie empfand ich für den Autor nach Tschick und mehr noch nach intensiver Lektüre seines Blogs Arbeit und Struktur Sympathie und Achtung. Nachdem ich zwei Wochen Bettlektüre – Bücher lese ich ausschließlich vorm Einschlafen im Bett – mit Sand verbracht habe, komme ich noch zu keinem abschließenden Urteil. Die Besprechungen jedenfalls gehen nach meiner festen Überzeugung allesamt in die Irre. Indem sie das Buch so loben, tun sie ihm Unrecht. Zum Überfluss entdeckte ich noch diesen Mitschnitt einer Lesung des Autors aus Sand, bei der im Publikum dauernd gekichert wird. Offenbar sind die Zuhörer mit dem Vorurteil aus Tschick zu der Rezitation gegangen, einem Humoristen zu begegnen – und hören dann nicht richtig hin. Schmerzhaft!

Sammlers Bescheidenheit

Sunday, 25. December 2011

In den letzten Jahren habe ich das Interview als eine vollwertige literarische Kunstform entdeckt; was natürlich keineswegs bedeutet, dass nun Interviews, wie sie mit den langweiligen Prominenzen aus Politik, Gesellschaft und Unterhaltungsindustrie geführt und alltäglich in den Zeitungen und Magazinen veröffentlicht werden, per se schon Kunstwerke sind, die die Beachtung einer gebildeten Leserschaft und die Beurteilung der professionellen Kritik verdienten. Aber es gibt doch in diesem ohrenbetäubenden Allerweltspalaver immer wieder einmal Kleinodien des Gesprächs, der Befragung, die es verdienen, in eine Textsammlung der literarischen Meisterwerke aller Gattungen und Sprachen aufgenommen zu werden. Einige Interviews des im April dieses Jahres gestorbenen André Müller sind darunter; manche in der New Yorker Literaturzeitschrift Paris Review erschienene Autorengespräche; und viele verstreut veröffentlichte Einzelstücke, die ich hier und dort im Laufe von Jahrzehnten zusammengetragen habe, eine Sammlung, die es dringend nötig hat, gesichtet und ausgedünnt zu werden. Unbedingt würde ich die Gespräche hinzurechnen, die Osvaldo Ferrari 1984 bis 1986 in Genf mit Jorge Luis Borges geführt hat. Leider gibt es bisher nur eine Auswahl in deutscher Übersetzung (von Gisbert Haefs). Natürlich müssten aber auch Interviews mit jenen Unbekannten vertreten sein, die weniger durch ihren erlauchten Geist, durch ihre Beiträge zu Kunst und Wissenschaft unser Interesse verdienen, sondern allein durch das wahrhaftige Bekenntnis zu ihrem einfachen Leben, mit einem Wort: durch ihre Authentizität. Hier denke ich an Hubert Fichtes Interviews aus dem Palais d‘Amour oder die langen Interviews per brieflicher Befragung, die Paul Moor mit Jürgen Bartsch im Gefängnis geführt hat, um nur zwei Beispiele zu nennen, die mich nachhaltig geprägt haben. Natürlich gehören auch Verhöre hinzu, die Befragungen von Tätern und Zeugen vor Gericht. Zuletzt würde vielleicht ein tausendstimmiges Oratorium aus Fragen und Antworten dabei herauskommen, zwischen Himmel und Hölle, ohne Anfang und Ende. Alles Gerede mündete dann in diesen einen polyphonen Gesang, wie Mallarmé erklärt hat: „Tout au monde existe pour aboutir à un livre“, was Borges 1951 zum Motto seines Essays Vom Bücherkult machte, woran ihn Ferrari in einem seiner Interviews erinnerte. (Vgl. Lesen ist denken mit fremdem Gehirn. Zürich: Arche Verlag, 1990, S. 89.) – Vielleicht hätte ich mich doch mit dem ehrbaren Handwerk des Anthologisten bescheiden sollen, statt mich dazu berufen zu fühlen, selbst zu schreiben?

Neue Fehlertypen (I): Altlasten

Monday, 01. August 2011

Wo ein Fortschritt ist, da lauern stets auch neue Gefahren. Wer geglaubt hat, dass durch Textverarbeitungsprogramme und die dort eingesetzten Prüfroutinen alle Schreibfehler bald der Vergangenheit angehören würden, der musste erfahren, dass davon längst noch keine Rede sein kann. Zwar spürt die automatische Fehlersuche falsch geschriebene Wörter auf, zum Beispiel bei einem „Bucshtabenderher“. Aber schon wenn man sich bei „versehen“ vertippt und „vergehen“ schreibt, entgeht dem Programm dieses Versehen, denn das Wort ist an sich kein falsches, sondern nur im Zusammenhang deplatziert.

Bei manchem Laienschreiber hat nun das grenzenlose Vertrauen ins Korrekturprogramm dazu geführt, dass er im Zweifelsfall nicht mehr nachschlägt, nicht einmal mehr nachdenkt, sondern die erstbeste Variante in die Tasten hackt, darauf vertrauend, dass sein nur vermeintlich allwissender Spürhund schon anschlagen wird, wenn sein Herrchen irgendwo falschlag. Schlimmer noch! Die gute alte Übung, grundsätzlich jeden fertigen Text erst einmal aufmerksam und gründlich durchzulesen, bevor man ihn aus der Hand gibt oder gar veröffentlicht, gilt den meisten Schreibern mittlerweile als unnötige Zeitverschwendung.

So hat die neue Technik in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwar dafür gesorgt, dass mancherlei Fehlschreibungen in Texten rasend schnell und mühelos aufgespürt und berichtigt werden können. Gleichzeitig sind aber neue Fehlertypen entstanden, nämlich durch das Schreiben per PC. Einen sehr verbreiteten Typ stelle ich hier an einem schönen Beispiel vor. Ulrike Putz vom Spiegel berichtet heute über Morde an iranischen Atomphysikern: „Nach westlicher Einschätzung gehörte Mohammadi Teil zur Elite der iranischen Nuklearforscher.“ (Israels mörderische Sabotage-Strategie; in: SpOn v. 1. August 2011.)

Das Wort „Teil“ ist überflüssig. Wie kam es hierher? Offensichtlich sollte der Satz ursprünglich lauten: „Nach westlicher Einschätzung war Mohammadi Teil der Elite der iranischen Nuklearforscher.“ Vermutlich missfiel der Autorin das doppelte „der“ („… Teil der Elite der …“). Außerdem ist es selten passend, einen Menschen als Teil von etwas zu bezeichnen. (Mein Großonkel war als Akrobat mal Teil einer menschlichen Pyramide; das ginge allenfalls noch.) Also beschloss sie, den Satz umzuformulieren. Sie setzte ein neues Verb – „gehörte“ – an die Stelle von „war“, indem sie „war“ markierte und mit „gehörte“ überschrieb. Dann markierte sie „von“ und überschrieb es mit „zur“. Dabei übersah sie aber, dass auch „Teil“ hätte eliminiert werden müssen, und so entging diese Altlast der Entsorgung. Damit war ein Fehler entstanden, den nun keine gängige Rechtschreibprüfung mehr aufspüren kann.

Einerseits sind diese neuen Fehler, die mir gerade in Magazin- und Zeitungstexten dauernd begegnen, für uns Leser nervend, weil sie den Lesefluss unterbrechen und das inhaltliche Verständnis bremsen. Andererseits ergibt sich aus Fehlern wie diesem eine reizvolle Denksportaufgabe, wenn man den Ehrgeiz hat, ihre Entstehung zu rekonstruieren. So können selbst neuen Risiken des Fortschritts wieder einen Wert mit sich bringen – und sei ’s bloß der Unterhaltungswert.

[Nachbemerkung: Zur Ehrenrettung des Spiegel darf hier angemerkt werden, dass der Fehler bereits wenige Stunden nach der ersten Veröffentlichung des Beitrags bei SpOn berichtigt war: Das überzählige „Teil“ wurde entsorgt.]

Bücherdämmerung (IV)

Wednesday, 06. July 2011

Der Perlentaucher eröffnet seinen täglichen Newsletter bekanntlich stets mit einem „Zitat des Tages“. Liegt es nun daran, dass seinen Machern, die ja schließlich ihre Brötchen zu einem guten Teil mit Buchrezensionen verdienen, der Arsch auf Grundeis geht angesichts der vielstimmigen Untergangschoräle auf das Buch, dem das E-Book den Garaus machen soll, wenn die Taucher dieser Tage gleich zwei aphoristische Elogen auf das ehrwürdige Buch vom Grunde heraufholen?

Gestern durfte Gerhart Hauptmann dran glauben, dass der Mensch ohne das Buch wohl ein Nichts oder mindestens doch ein nichtswürdiges Etwas sei, indem er verlauten ließ: „Die Kultur der Menschheit besitzt nichts Ehrwürdigeres als das Buch, nichts Wunderbareres und nichts, das wichtiger wäre.“

Kann man sich vorstellen, dass Steve Jobs bei einer seiner legendären Präsentations-Veranstaltungen behaupten würde, die Kultur der Menschheit besitze nichts Ehrwürdigeres als das iPad, nichts Wunderbareres und nichts, das wichtiger wäre? Wohl kaum, denn eine solche Aussage schiene ihm gar nicht wünschenswert, trägt doch jede Innovation von Apple in sich schon den Keim zu einer weiteren, die sie überflügeln wird. Diese permanente Selbstüberflügelung mag etwas Wunderbares an sich haben, aber ehrwürdig ist sie sicher nicht.

Heute ist beim Perlentaucher Cicero dran mit dem Ausspruch: „Einem Haus eine Bibliothek hinzuzufügen heißt, dem Haus eine Seele zu geben.“ Das mag wohl mal im alten Rom ein erstrebenswertes Einrichtungsideal gewesen sein. Wie das Haus der Zukunft aussehen wird, hat uns Bill Gates erstmals 1994 in einer kühnen Utopie ausgemalt. Es ähnelt einer Rundum-Maschine, die zuallererst unserer Bequemlichkeit dienen soll. Nun ist das Bücherlesen, wie neulich noch Ruth Klüger überzeugend dargelegt hat, alles andere als eine bequeme Angelegenheit. Vergleicht man es mit den Lieblingsbeschäftigungen der Generation Couch-Potatoe, dann kommt es nahezu einem Hochleistungssport gleich.

Und die gute Seele im Hause moderner Leute ist vorläufig noch eine steuerfrei beschäftigte Putzfrau aus Rumänien oder Thailand, der man zu ihren zahlreichen Reinigungsaufgaben nicht auch noch zumuten will, sinnlos herumstehende Bücherregale abzustauben. Zudem würde sie ein solcher Job am Ende noch dazu verführen, einen Blick zwischen Buchseiten zu tun, um dort solch aufrührerischen Unsinn zu lesen, wie dass die Würde des Menschen unantastbar sei und alle Menschen gleich geboren. Beim iPad gibt es gegen unbefugten Zugriff ein schlichtes Password. Allein schon deshalb muss es sich mittelfristig durchsetzen!

Protected: Bücherdämmerung (III)

Saturday, 25. June 2011

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Et vice versa?

Monday, 02. May 2011

Über den mir bis dahin völlig unbekannten serbischen Poeten Brana Crnčević las ich neulich aus Anlass seines Todes, dass er Alkoholiker gewesen sei „und auch deshalb zur kurzen Form neigte.“ (tens in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 82 v. 7. April 2011, S. 35.) Dies scheint mir eine merkwürdige Begründung zu sein, die ich mir allenfalls auf Umwegen plausibel zu machen vermöchte. Oder soll ich annehmen, dass sich der Serbe an seinen Schreibtisch setzte, um ein Epos zu schreiben oder mindestens eine Ballade, mit der Rechten zur Feder griff und gleichzeitig mit der Linken zum Schnapsglas, sich einen hinter die Binde kippte und ein paar Worte zu Papier brachte – um dann alsbald mit dem Poetenhaupt aufs Pult zu knallen? Fertig ist der Aphorismus, und der Dichter ebenso? (Ebensowenig hielte der Umkehrschluss stand, dass die großen Meister der kleinen Form, die Lichtenberg, Kraus & Lec, eine Neigung zur Flasche gehabt und die hochprozentige Weisheit ihrer Sprüche in der Neige des Glases gesucht oder gar gefunden hätten.)

Hieraus könnte man nun folgern, die Umkehrung einer unsinnigen Behauptung müsste stets neuen Unsinn hervorbringen. Würde mir etwa jemand unterstellen, dass ich auch deshalb blogge, weil ich die Um- und Widerstände scheue, die mit der Einreichung eines Textes bei einem ordentlichen Verlag verbunden sind, so wäre dies insofern eine unsinnige Behauptung, als ich mit einem überaus ordentlichen Verlag längst schon in Verbindung stehe, dort meine Texte – wenngleich nicht alle meine Blogtexte, dafür aber zahlreiche andere, die nicht in meinem Blog erscheinen – aufmerksam durchgesehen werden, mit dem gemeinsamen Ziel einer konventionellen Veröffentlichung zwischen Einbanddeckeln.

Nur zu wahr ist in diesem Fall aber leider der Umkehrschluss: dass heute jeder Stammler, der sich von kompetenten Lektorinnen und Lektoren seriöser Verlage hat sagen lassen müssen, mangels Kenntnissen und Talenten niemals einen publikationswürdigen Text hinzubekommen, wütend die Absageschreiben in den Schredder schob und – statt nun Imker, Call-Center-Agent oder Popstar zu werden – ungefragt ein eigenes Weblog aufgemacht hat, getreu dem Motto aller Trotzköpfchen: Jetzt erst recht!

Das ist nicht schlimm? Es müssen ja für dieses Gestammel keine Bäume dran glauben? Mag sein. Aber einerseits funktioniert bekanntlich auch das Internet keineswegs CO2-neutral. (Vor Jahren schon wurde ausgerechnet, dass jede Google-Suche soviel Energie verbraucht wie eine 11-Watt-Sparlampe in einer Stunde.)

Und andererseits wirkt sich diese Schlammlawine, dieser stinkende Abfallhaufen unlesbaren, geschweige denn genießbaren Gebrabbels verheerend fürs Image von Weblogs aus. Dabei gibt es doch in diesem Spreu-Himalaya durchaus das eine oder andere Weizenkorn! Blogs, die Beachtung verdienten – und vielleicht sogar Achtung. (Der Grund, warum ich mich gegen meine hartnäckigen Bedenken nun doch durchgerungen und eine Blogroll aufgemacht habe.)

Bücherdämmerung (II)

Thursday, 10. March 2011

Die ,Abschaffung‘ des gedruckten Buches bedeutet jedenfalls einen folgenschweren Bruch in der Kulturgeschichte des Menschen, auch wenn die unüberschaubar große Zahl der vorhandenen Bücher hiervon zunächst nicht betroffen sein wird und diese künftigen Antiquariatswaren jenen Generationen, die mit Büchern aus Papier aufgewachsen sind, vorübergehend Trost spenden mögen. Wenn aber, wie zu erwarten, die Leser ,echter‘ Bücher älter werden und schließlich aussterben, während zugleich auch keine neuen Bücher mehr hergestellt werden und die alten schließlich einen musealen Appeal annehmen, dann entsteht zwischen den Menschen der Zukunft und den Büchern der Vergangenheit unvermeidlich eine nie dagewesene Distanz, mit noch unabsehbaren Folgen für die Bildung unserer Nachkommen. Angesichts eines dermaßen einschneidenden Systemwechsels kann eine persönliche Stellungnahme, wie ich sie hier versuchen will, keinesfalls mehr beisteuern als ein paar sehr persönliche, von starken Gefühlen beeinflusste Gedanken.

Ich habe seit meiner Alphabetisierung vor einem knappen halben Jahrhundert wohl einige tausend Bücher gelesen. Ein paar von ihnen haben mich so stark beeindruckt, dass ich ohne sie sicher ein anderer Mensch geworden wäre. Etliche haben immerhin mein Bild von der Welt bereichert und meine Fähigkeit, mich sprachlich auszudrücken, entwickelt. Und schließlich gibt es noch eine große Menge von Büchern, die mir lediglich auf genussvolle Weise die Zeit vertrieben haben. Von deren Inhalt weiß ich heute kaum mehr etwas. Allenfalls wecken ihre Titel vage Empfindungen. Woran ich mich aber in jedem Falle noch erinnere, dass ist das äußere Erscheinungsbild dieser Bücher. Gegenwärtig ist meine Bibliothek, bedingt durch den letzten Umzug in eine wesentlich kleinere Wohnung, in ziemlicher Unordnung. Dennoch finde ich nahezu jedes gesuchte Buch relativ schnell, weil ich seine Größe, seine Dicke, die Farbe seines Einbands oder Schutzumschlags sehr genau im Gedächtnis habe. Solche erfolgreichen Buchfahndungen gelingen mir sogar dann, wenn ich weder den Namen des Autors noch den Titel parat habe.

Wenn ich eins meiner Buch lange Zeit nicht mehr zur Hand genommen habe, dann ist deshalb meine einst sehr innige Beziehung zu ihm keinesfalls erloschen. Sie bedarf lediglich einer Auffrischung. Und dies geschieht eben dadurch, dass ich es ganz körperlich, gegenständlich angreife und darin blättere, sein Gewicht empfinde, meine Besitzvermerke studiere, womöglich von mir selbst oder von anderen Lesern hineingelegte Zettel mit Notizen aufspüre, den Ursachen von Schadspuren nachsinne und durch die Vielfalt dieser sinnlichen Empfindungen ein starkes Band zu jener fernen Zeit knüpfe, als eben dieses Buch meine ungeteilte Aufmerksamkeit fand, Partner meines Denkens und Empfindens war für einen Tag, eine Woche oder einen Monat.

Manche Bücher gelten mir in einem ganz schlichten Sinne als unersetzlich, obwohl doch nahezu jedes Buch heutzutage dank der Internet-Antiquariate über kurz oder lang beschaffbar ist, soweit der Kaufpreis keine Rolle spielt. Wie kann das sein? Hier versagt meine Argumentationskraft und ich muss eingestehen, dass ich mich jenen Menschen, die Bücher für reproduzierbare Gegenstände ohne echte Individualität halten, vermutlich kaum werde erklären können. Nur so viel: Jene spezielle Ausgabe des Tristram Shandy, in der ich Sternes Meisterwerk zum ersten Mal las [s. Titelbild], ist weder schön, noch selten, noch handelt es sich um eine besonders gute Übersetzung. Dennoch würde ich sie für kein Geld der Welt hergeben. Da ich aber weiß, dass dies nur so dahingesagt ist und ich mich in einer schweren Notlage vermutlich doch von diesem Büchlein trennen würde, füge ich hinzu, dass ich einen solchen Verlust gewiss niemals verwinden würde.

Nun höre ich in Gedanken den allerdings nicht eben abwegigen Einwand, dass ich hier nichts anderes beschrieben habe als eine vielleicht günstigenfalls besonders erlesene Form von Fetischismus, also eines krankhaften Hingezogenseins zu einer bestimmten Art von toten Gegenständen. Das mag sein, ich will dies gar nicht in Abrede stellen, allerdings unter der Voraussetzung, dass mein Kritiker den edlen Nutzen dieser Leidenschaft recht zu würdigen weiß und gebührend in Betracht zieht. Immerhin behaupte ich, dass keine andere Sammelleidenschaft als eben die von Büchern durch ihren Gegenstand eine solche Weitung des Bewusstseins ermöglicht – vorausgesetzt natürlich, dass die Bibliophilie sich nicht darin erschöpft, die schönen Dinge Rücken an Rücken in den Schrank zu stellen, sondern ihre wahre Erfüllung erst findet, wenn sie die Objekte ihres Begehrens ihrer eigentlichen Bestimmung zuführt: dem Lesen.

[Wird fortgesetzt.]

Bücherdämmerung (I)

Tuesday, 08. March 2011

In den USA verkauft der Medienversandhändler Amazon mittlerweile mehr E-Books für sein Kindle als gedruckte Bücher. Auch hierzulande lautet die Prognose, dass die Tage des traditionellen Buchhandels damit gezählt sind. Wenn schon in den letzten fünfzehn Jahren immer mehr Lesestoff vom heimischen PC aus zur Lieferung frei Haus bestellt wurde, so wird es erst recht für die Kindle-Leser von morgen keine Veranlassung mehr geben, die Daten für ihre Lesegeräte in einem stationären Geschäft abzuholen. Es ist reinste Tränenvergeudung, deswegen nun ein kulturpessimistisches Wehklagen anzustimmen. Immerhin kann es aber sinnvoll sein darüber nachzudenken, welche Konsequenzen dieses Umsatteln auf den neuen Datenträger für unseren Umgang mit schriftlichen Informationen künftig haben kann.

Wenn die beiden konkreten Gegenstände – das möglicherweise dicke Buch aus Papier im Einband zum Blättern einerseits, die möglichst dünne Metallscheibe mit Bildfläche, Stromversorgung und Datenanschluss andererseits – miteinander verglichen werden, dann klingen die Vorzüge, die fürs Buch genannt werden, meist nach kauziger Liebhaberei, die mit den eigentlichen Gründen, die uns zum Lesen treiben, wenig zu tun haben. So ist etwa immer wieder vom ,Haptischen‘ die Rede, das angeblich nur ein ,richtiges‘ Buch vermitteln könne und das doch so wesentlich sei für den wahren Buchgenuss. Kommt es mir so vor, oder ist dieses Fremdwort für Tasteindrücke erst unters Volk gekommen, seit es dem Buch ans Leder geht? Welcher Verlust genau wird denn da beschworen und schon vorab bedauert? Die Schwierigkeit, ihn konkret zu benennen, führt zu komischen Verrenkungen, wenn etwa der Direktor der Universitäts-Bibliothek Leipzig, Ulrich Johannes Schneider, in einem Interview Wesentliche des Buches so erklärt: „Also, in der Tat, denke ich, ist die dreidimensionale Form des Buches, dass man da mit den Fingern mitten rein greifen kann, dass man sofort im Gefühl hat, wenn man auf Seite 30 ist, weiß man, ob es noch 300 Seiten sind, die folgen, oder 10. Also diese Art zu navigieren, gleichzeitig mit den Händen, mit den Augen, mit dem Kopf, das ist nicht reproduzierbar, in diesen elektronischen Geräten.“ (Dieter Kassel: Elektronische Bücher verändern das Lesen; Interview im deutschlandradio kultur v. 23. Juli 2008.)

Wenn es nicht mehr wäre, auf das wir nach dem Verschwinden der Bücher verzichten müssten, als das ,Reingreifen mit den Fingern in die Seiten‘, eine ja schon fast obszön anmutende Beschreibung des doch so keuschen Blätterns in Büchern, dann wäre uns ja dieser wohl unabwendbare Verlust kaum ein Schulterzucken wert.

Stirbt das Buch bald aus? Diese Frage wird in den letzten Jahren immer mal wieder gestellt, um ein, zwei Seiten der Wochenendbeilagen überregionaler Tageszeitungen zu füllen, wie zuletzt wieder am vergangenen Wochenende in der Süddeutschen. (Rebecca Casati / Gabriela Herpell: Es muss krachen; in: SZ Nr. 53 v. 5./6. März 2011, S. V2/1.) Die Antworten, die die Spezialisten geben – und wer fühlt sich nicht alles berufen zum Spezialisten in Sachen ,Zukunft des Buches‘! –, sind erschreckend eintönig, laufen sie doch allesamt auf die immer gleiche Prognose hinaus: Die Ablösung des traditionellen Buches durch das E-Book ist nur eine Frage der Zeit; das Buch aus Papier wird aber sicher noch ein respektables Nischendasein führen dürfen. Der Umgang mit Texten und das Lesen werden sich dadurch gewiss wandeln, aber die Folgen dieser Umwälzungen sind noch nicht abzusehen.

Wieviele Bücher mag es wohl in diesem Augenblick auf der Erde geben? Google hat im Sommer 2010 die Zahl aller Buchtitel ermittelt und gibt sie mit 129.864.880 an. Wenn wir erstens vorsichtig unterstellen, dass die durchschnittliche Auflagenhöhe eines Buchtitels 2.000 Exemplare beträgt, und zweitens davon ausgehen, dass die Hälfte aller Bücher im Laufe der Jahre und Jahrhunderte zerstört wurden, dann gibt es heute ziemlich genau 65 Milliarden Bücher weltweit, knapp zehn Bücher für jeden Menschen. Seit Johannes Gutenbergs Geniestreich ist die Zahl der Bücher ununterbrochen gestiegen. Wenn die Vorhersagen zutreffen, dann wird dies in wenigen Jahren erstmals nicht mehr der Fall sein. Zwar werden weiterhin Texte entstehen, wie sie bisher in Buchform verbreitet wurden. Doch ihr Dasein wird an eine andere Materialität geknüpft sein als bisher. Es ist wohl angebracht, angesichts eines solchen gigantischen Umbruchs etwas hartnäckiger nach den Konseuqnzen zu fragen, die das womöglich für uns Lesende hat.

[Wird fortgesetzt.]

ScanPlag 1.0

Friday, 18. February 2011

woherhabeichdiesensatz

Warum ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, der Verlegenheit unseres Verteidigungsministers vor der Abgabe seiner mit so viel Fleiß verfertigten Promotionsschrift mit einem pfiffigen kleinen Suchprogramm abzuhelfen?

Die Sache verhält sich doch folgendermaßen. Bis zur Entwicklung der PCs mit moderner Textverarbeitung Mitte der 1980er Jahre und des Internet wenige Jahre später hatten Plagiatoren wenig zu fürchten. Höchstens durch einen dummen Zufall konnte ihnen ein aufmerksamer Leser auf die Schliche kommen. Nun aber ist es für jeden Hobbydetektiv ein Leichtes, Abschreiber zu entlarven. Wenn ich zum Beispiel einen markanten Satz aus einem meiner letzten Blogbeiträge ins Suchfenster von Google eingebe, wie etwa „Es ist, als legte er sich die Schlange des Äskulap um den Hals, mit seiner Todesverachtung kokettierend, und weidete sich an unserem Entsetzen“, dann bekomme ich augenblicklich die einzige passende Belegstelle im World Wide Web geliefert – nämlich meine eigene.

Genauso ging Andreas Fischer-Lescano am vergangenen Samstagabend vor, als er bei einem Glas argentinischen Rotwein die Probe aufs Exempel machte, ob denn die Doktorarbeit des Juristen Karl-Theodor zu Guttenberg, Verfassung und Verfassungsvertrag. Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU, eine redliche Eigenleistung sei. Nach wenigen Stichproben wurde er zu seiner eigenen Überraschung fündig. Der Verteidigungsminister hatte offenbar etliche Textpassagen nahezu wortwörtlich aus fremden Werken übernommen, ohne sie als Zitate kenntlich zu machen. (Roland Preuß: Ein Abend in Berlin; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 38 v. 16. Februar 2011, S. 2.) Der vermeintliche Plagiator tat, was jeder in seiner peinlichen Lage tun würde: Er leugnete jedwede böse Absicht und beteuerte, dass die Unterlassung von ein paar Quellennachweisen allein durch Flüchtigkeit verursacht und damit zu entschuldigen sei. Schließlich sei die Arbeit neben seiner „Berufs- und Abgeordnetentätigkeit als junger Familienvater in mühevoller Kleinstarbeit“ entstanden, so zu Guttenberg heute wörtlich.

Gesetzt den Fall, und wer wollte daran ernsthaft zweifeln, der Bundesverteidigungsminister sagt die lautere Wahrheit. Was hätte ihn dann vor diesem unglückseligen Fauxpas bewahren können? Vielleicht ein kleines Textverarbeitungsmodul, das folgendermaßen funktioniert. Es zerlegt Textdateien beliebigen Umfangs in Satzfragmente von jeweils ein bis zwei Dutzend Wörtern und schickt sie automatisch durch die Google-Suche. Dabei beschränkt es sich auf Text, der nicht in Anführungszeichen gesetzt ist. Ermittelt das Suchprogramm auffällige Übereinstimmungen mit fremden Texten, empfiehlt sie dem Autor die betreffenden Passagen zur Überprüfung. Er hat dann die Wahl, sie entweder als Zitate auszuweisen oder so umzuformulieren, dass ihre Herkunft nicht mehr ermittelbar ist. Ein solches Programm würde hinfort selbstverständlich nicht nur von Doktoranden angewandt, die vermeiden wollen, in die Bredouille zu kommen, in die sich der arglose Karl-Theodor zu Guttenberg gebracht hat. Vielmehr würden auch die Mitglieder der Prüfungskommissionen ein solches Werkzeug sehr zu schätzen wissen. Sie entgingen mit seiner Hilfe dem Vorwurf, nicht gründlich genug geprüft zu haben. Täuschungsversuche kämen nicht mehr vor, Flüchtigkeitsfehler ebensowenig. Und wer zu faul oder zu dumm wäre, als Doktorand diese ScanPlag-Software anzuwenden, der hätte den Titel wirklich nicht verdient.

Mit dem Patent zu einem solchen Suchprogramm könnte sein findiger Entwickler vielleicht reich werden. Und wenn er ganz schlau wäre, dann verkaufte er bald noch ein Update, das jedes beliebige Zitat durch syntaktische Umstellungen und Austausch synonymer Begriffe formal so verändert, dass es nicht mehr identifizierbar ist, ohne freilich seinen Sinn zu verändern.

Lesertypologie (I)

Wednesday, 10. March 2010

typen

Menschenklassifikationen sind ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Es gibt teusendundein Kriterium der Klassifizierung, da sind der Phantasie des Menschensammlers wahrlich keine Grenzen gesetzt. Aus verständlichen Gründen interessiert mich besonders eine Typologie meiner Mitmenschen, nämlich die nach ihrem Verhalten als Leser.

Im Hinblick hierauf sind zunächst grundsätzlich Nichtleser von Lesern abzugrenzen, welch letztere dann etwa in Gelegenheits- und Vielleser geschieden werden können, oder in freiwillige und Zwangsleser. Bevor man in einem weiteren Schritt, was vielleicht am nächsten liegt, nach der Art der Lektüre fragt, z. B. die Gruppen der Krimileser, Leser historischer Sachbücher oder Gedichtleser bildet, gibt es aber noch einige andere Merkmale zur Unterscheidung, die die spezielle Art und Weise des Lesens betreffen. Hier gibt es eine Reihe von spezifischen Eigenarten, die mir bei meiner Beobachtung des Leserverhaltens in meiner weitläufigen Bekanntschaft und früher auch bei meinen Kunden immer wieder begegnet sind.

So gibt es gar nicht wenige Leser, die ein Buch grundsätzlich bis zur letzten Seite, also zu Ende lesen, es „auslesen“, wie man auch sagt, ganz gleich, ob es ihnen gefällt oder nicht. Diese Leser scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie die Lektüre mittendrin abbrechen. Vielleicht geben sie die Hoffnung nicht auf, dass das Buch doch noch eine überraschende Wendung zum Guten nimmt, unterhaltsamer wird oder tiefsinniger, ganz nach ihren jeweiligen Erwartungen. Ist es zum Beispiel ein Roman, dessen Handlung voller Widersprüche und logischer Fehler steckt, dann erhoffen sie sich einen genialen Clou, der im Nachhinein diesen ganzen Blödsinn plausibel werden lässt.

Ich habe immer schon vermutet, dass es sich bei diesem Typ in der Regel um einen auch sonst zu Sparsamkeit neigenden Menschen handelt, der schlecht verträgt, bei einem nur zur Hälfte konsumierten Produkt nicht ganz auf seine Kosten zu kommen. Interessanterweise bevorzugen nach meiner Beobachtung solche Leser dicke Bücher: je dicker, desto besser. (Ob der Umkehrschluss gilt, dass Liebhaber dicker Bücher grundsätzlich Geizkragen sind? So weit würde ich nicht gehen. Überhaupt sollte man, wenn man sich mit Klassifikationen und Typologien beschäftigt, immer auf der Hut sein vor leichtfertigen Verallgemeinerungen.)

Was nun mich selbst als Leser betrifft, so gebe hier gleich offen und ehrlich zu, dass ich mich keineswegs verpflichtet fühle, ein Buch auf Teufel komm raus zu Ende zu lesen, bloß weil ich einmal die Nase hineingesteckt habe. Ich gestehe weiter, dass ich in meinem langen und wechselvollen Leserleben weitaus mehr Bücher zu lesen begonnen, als zu Ende gelesen habe. Die Gründe, warum ich die Lektüre unterbreche, oft genug dann ganz abbreche, sind sehr vielfältig. Mal hält das jeweilige Buch nicht, was die Kritik versprach. Oder es mag zwar in seiner Art ganz ausgezeichnet sein, entspricht aber momentan nicht meinem Bedürfnis. Vielleicht passt es auch bloß atmosphärisch nicht zu meiner augenblicklichen Stimmung. Dann wieder geht mir ein scheinbar unbedeutendes Detail so sehr gegen den Strich, dass ich das Buch sofort aus der Hand legen muss, wenn es hart kommt mitten im Satz. Oder aber es ereignet sich in meinem wirklichen Leben eine Trivialität, die mich zunächst nur für Stunden oder Tage aus dem Lesen eines ganz passablen Buches herausreißt. Ich bin fest entschlossen, sobald die Gelegenheit wieder günstiger ist, zu diesem Buch zurückzukehren. Das Lesezeichen steckt an der richtigen Stelle zwischen den gelesenen und den ungelesenen Seiten. Und doch finde ich nicht mehr zurück in die Zusammenhänge der Geschichte. Mit diesem und jenem Namen vermag ich keine konkreten Vorstellungen mehr zu verbinden. Ich blättere zurück und versuche, den Faden wieder aufzunehmen, stoße auf Passagen, die mir nun völlig fremd erscheinen und so vorkommen, als hätte ich sie beim ersten Lesen irrtümlich überschlagen. Schließlich gebe ich auf und greife nach einem anderen Buch, auf dessen Beginn ich ohnehin eigentlich schon neugieriger war als auf die Fortsetzung des angebrochenen, das mir nun entsetzlich fade erscheint, wenn ich nur von Ferne daran schnuppere. So treu ich als Liebhaber von Menschen bin, so untreu bin ich als Genießer von Büchern.

[Wird fortgesetzt.]

Odradek

Sunday, 20. December 2009

drake

Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen. Fast schmerzlich nannte er die Vorstellung, dass auch er von Odradek überlebt werden könnte. So kam es dann auch, und was für ein Nachleben das Gebilde hatte.

Ulrich Holbein, der ein Lebensbild des ,Versicherungsangestellten, Unfallschützers, Büromenschen, Albtraumfabeldichters, Hungerkünstlers, Himmelsstürmers und Longsellers‘ achtzehn Jahre später in sein Narratorium aufnahm, hat 1990 die markantesten Zitate aus den zahlreichen Deutungen dieses laut Walter Benjamin „sonderbarsten Bastard[s], den die Vorwelt bei Kafka mit der Schuld gezeugt hat“ dankenswerterweise seiner Studie Samthase, Odradek und Hydra vorangestellt.

Dankenswerterweise deshalb, weil neben den Zitaten der bekannten Kafka-Philologen wie Malcolm Pasley, Heinz Politzer und Wilhelm Emrich auch eins aus Günther Anders’ Kafka Pro und Contra aufscheint, von einem meiner persönlichen Hausväter also. Der sagt (laut Holbein): „Da beschreibt er z. B. ein Objekt ,Od<d>radek‘, dessen Funktion gerade darin zu bestehen scheint, daß es keine Funktion hat.“ – Ich habe mich nun gefragt, warum in diesem Zitat der Name des Numinosen mit einem zweiten – oder, wie der besserwisserische Karl Valentin korrigieren würde: dritten – „d“ geschrieben wird, und zwar mit einem in spitze Klammern gesetzten.

Ich habe den Satz, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, bei Anders selbst nachgelesen, in der Sammlung seiner Schriften zur Kunst und Literatur unter dem Titel Mensch ohne Welt von 1984. Aber dort steht das Wort mit seinen sieben Buchstaben ganz so wie in Franz Kafkas schmaler Prosasammlung Ein Landarzt 1919. Anders’ Kafka-Essay erschien im Original 1951 bei C. H. Beck, vielleicht hat Stern da ja falsch „Oddradek“ geschrieben? Und Holbein hat den Fehler nicht stillschweigend korrigieren wollen, sondern das überzählige „d“ eingeklammert, damit man sieht, dass Anders dieser Fehler unterlaufen ist? Aber das wäre dann kein ganz korrektes Verfahren. Vielmehr hätte Holbein das Wort falsch belassen und ein „[sic]“ oder „[!]“ dahintersetzten müssen. Und übrigens möchte ich darauf aufmerksam machen, dass er nicht die Erstausgabe von Kafka Pro und Contra aus dem Jahr 1951, sondern die vierte Auflage von 1972 zitiert. Aber das heißt nicht viel, denn schon damals leisteten sich selbst so angesehene und seriöse Verlage wie C. H. Beck in München nur noch selten den Luxus, bei Neuauflagen wiederum einen Korrektor dranzusetzen, um solche Fehler nachträglich noch zu korrigieren.

Es mag manchem als krankhafte Pedanterie erscheinen, dass ich die nur vermeintliche oder tatsächliche Falschschreibung eines Namens aus zweiter bzw. dritter Hand zum alleinigen Gegenstand eines Artikels in meinem Weblog mache. Wer sich aber ins Bewusstsein ruft, dass es kein ganz gewöhnliches Wort ist, dem diese Falschschreibung zustößt, und dass der Mann, dem diese unterlief (oder auch nicht), lange im englischsprachigen Raum gelebt hat und ihm insofern das Wort „odd“ und seine Bedeutung vertraut gewesen sein dürfte, der wird vielleicht weniger hart über meine Penetranz in dieser Angelegenheit urteilen.

Romanendzeit

Sunday, 06. September 2009

Gleich zwei Romane mit dem Anspruch, sich als „Jahrhundertromane“ behaupten zu können, werden in diesem Jahr in deutscher Übersetzung vorgelegt. Was für eine Anmaßung, möchte man einwenden, wo das 21. Jahrhundert gerade erst einmal acht Jahre und acht Monate alt ist. Aber die Verlage, die sie hierzulande herausbringen, bürgen durchaus für Seriosität. Auch weilen beide Autoren nicht mehr unter den Lebenden, womit eine wesentliche Voraussetzung für Unsterblichkeit erfüllt ist. Und schließlich sind die beiden Bücher, wie es sich für dergleichen gehört, dick wie Moby.

Da wäre also erstens Roberto Bolaño mit 2666. (A. d. Span. v. Christian Hansen. München: Carl Hanser Verlag, 2009. – 1096 S., Pb. m. Lesebändchen, Fadenheftung. – 29,90 €.)

Und da wäre zweitens David Foster Wallace mit Unendlicher Spaß. (A. d. Am. v. Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. – 1547 S., Pb. m. zwei Lesebändchen, gelumbeckt. – 39,95 €.)

Weder der Chilene noch der Mann aus den USA waren dafür bekannt, fröhliche Menschen zu sein. Foster Wallace litt seit frühester Jugend an Depressionen und hängte sich schließlich Ende vorigen Jahres im Alter von nur 46 Jahren unter seine Schreibstubendecke. Und Bolaño war gerade einmal 50 Jahre alt, als sein jahrelanges Leberleiden ihn hinwegraffte, auch er ein Verzweifelter, dessen Gedanken zeitlebens um Krankheit und Tod kreisten. Können wir von solchen Leidenden erwarten, dass uns ihre Werke ermuntern? Wenn wir aber aus ihnen keine Kraft schöpfen wollen, was dann? Finden wir in solchen Büchern immerhin eine Einsicht, die uns mit unserer Zeit so weit aussöhnt, dass wir den morgigen Tag überstehen? Es sei zugestanden, dass Kunst niemals am Maße ihrer praktischen Nützlichkeit gemessen werden kann. Aber geradezu umbringen sollte uns ein Roman doch auch nicht, oder?

(Romane wie diese beiden gehen übrigens noch einen Schritt weiter, sie treten nicht bloß als Jahrhundert-, sondern gar als Endzeitromane auf. Sie wollen nicht allein das letzte Wort über die Epoche sprechen, der sie entstammen und für die sie stehen, sondern vielmehr das letzte Wort überhaupt – insofern sie unterstellen, dass dies eben die letzte Epoche sei.)

Kastanie aus Feuer

Friday, 21. August 2009

Zusammenstellungen von Zitaten nach gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Kriterien haben mich immer schon angezogen. Sammlungen letzter Worte berühmter Sterbender besitze ich gleich drei und habe hierüber andernorts vor Jahr und Tag auch einmal gebloggt. Als ich neulich den größten Teil meiner Bibliothek auslagern musste, da blieb etwa die beeindruckend reichhaltige Zitatensammlung Geld von Robert W. Kent und Lothar Schmidt von der Zwangsausbürgerung verschont (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1990).

Ein ungleich bescheidener auftretendes, dennoch nicht genug zu lobendes Sammelsurium bitterböser Zitate bietet das Büchlein Dichter beschimpfen Dichter, das ich aus gegebenem, aber zu verschweigendem Anlass heute wieder einmal zur Hand nahm. Wir verdanken es dem jüngst verstorbenen Jörg Drews und seinen ungenannten „Freunden in Berlin und Pisa, in Zürich und in Hille, in Paris und in Scheeßel, in Jerusalem und in Bielefeld, vor allem aber Sabine Kyora”. (Dichter beschimpfen Dichter II. Ein zweites Alphabet harter Urteile. Zusammengeststellt u. m. e. Nachwort beschlossen v. Jörg Drews & Co. Zürich: Haffmans Verlag, 1992, S. 137.)

Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich mit dem Buch, dessen knapp 140 Seiten im Kleinoktav-Format viel zu schnell weggelesen sind, bloß den zweiten Teil einer Folge besitze. Ich finde darin zwar allerlei hässliche Invektiven gegen die großen und kleineren Geister der Weltliteratur, in alphabetischer Reihenfolge von Aeschylos bis Zola. Aber mancher, den ich gerade heute gern beschimpft sähe oder als Schimpfenden hörte – Knut Hamsun, Ludwig Hohl, Harald Wieser – fehlt zu meinem Bedauern. Vielleicht muss ich mir den ersten Band von 1990 doch noch zulegen? Aber da sehe ich, dass Drews 2006 zudem eine „vollst. überarb., ergänzte und erw. Neuausg.” bei Zweitausendeins in die Welt geschickt hat …

Reizvoll wäre es vielleicht, die gegenseitigen Invektiven der Damen und Herren Dichter wie eine lückenlose Perlenkette oder einen chronologischen Staffellauf zu arrangieren, von der jüngsten Rempelei eines Bachmann-Preisträgers gegen seinen renommierten Juror bis zurück zu Homer, der dann schließlich auch noch Opfer einer Beschimpfung wird, nämlich durch Voltaire: „Wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling oft verursacht.” (Dichter beschimpfen Dichter II, a. a. O., S. 57.) Bloß fände Homer vermutlich keinen Ahnen mehr, bei dem er sich für die widerfahrene Schmähung schadlos halten könnte.

Etwas aus der Reihe fällt in Drews negativem Pantheon übrigens Walter Kempowski, dem es als einzigem gestattet wird, sich selbst zu beschimpfen: „Ich bin der Sonnyboy der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein hingeschissenes Fragezeichen.” (Ebd., S. 66.) – Wenn ich so vermessen wäre, dem nachzueifern, dann würde ich vielleicht über mich sagen: „Ich bin ein nervöses Hüsteln, das eilige Passanten aus dem brennenden Dornbusch zu vernehmen meinen.”

Karawanserei

Friday, 08. May 2009

Gelegentlich nimmt mein Streben nach intellektueller Redlichkeit krankhafte Formen an. Besonders beim Zitieren von Textstellen aus zweiter oder dritter Hand beschleicht mich ein schlechtes Gewissen, worauf ich weder Kosten noch Mühen scheue, näher an den Ursprung der durchgereichten Worte heranzukommen. Zuletzt geschah mir dies im Eröffnungsartikel zur Serie Wohnende, wo ich Samarqandi nach Idries Shah nach Lisa Alther zitierte, Letztere in einer deutschen Übersetzung von Gisela Stege.

Besonders störten mich in diesem Zitat eines Zitats die drei Auslassungspunkte, denn ich weiß nur zu gut, dass man durch die Unterschlagung von verbindenden Textstellen die Aussage eines Autors verfälschen, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehren kann. Wie peinlich wäre es doch, wenn mir ein kritischer Leser nachweisen könnte, dass jener Samarqandi aus dem 13. Jahrhundert mit seinem Satz keineswegs etwas über die prägende Bedeutung von Berufen habe sagen wollen, was für jeden deutlich erkennbar sei, der sich nur die Mühe mache, die von Lisa Alther unterschlagene Stelle bei Samarqandi oder mindestens doch bei Idries Shah (1924-1996) nachzulesen. – Um wieder ruhig schlafen zu können, besorgte ich mir also dessen Caravan of Dreams in einer deutschen Übersetzung. Dort fand ich die fragliche Passage unterm Titel „Rang und Nation” in voller Länge. (Die von Lisa Alther weggelassenen Stellen habe ich durch Kursivsetzung kenntlich gemacht.)

„Verschiedene Gruppen innerhalb der Gemeinschaft stellen in Wirklichkeit ,Nationen‘ dar. – Hüte dich vor Leuten, die dir Fragen stellen, zu denen sie sich bereits eine Meinung gebildet haben, die sie bloss bestätigt haben möchten oder mittels derer sie dir – unbewusst – Ablehnung entlocken wollen, um damit ihre eigene Überzeugung zu stützen. – Die Verbindung mit solchen Menschen ist nicht nur fruchtlos: sie ist das Merkmal des Unwissenden. – Der Klerus, die Ärzte, Literaten, Adligen und Bauern könnte man tatsächlich als ,Nationen‘ bezeichnen; denn jede dieser Gruppen ist ihren eigenen Sitten und Denkgewohnheiten verhaftet. Die Vorstellung, dass diese Leute, bloss weil sie in demselben Land wohnen und dieselbe Sprache sprechen, gleich sind wie du, ist eine Haltung, die es zu überprüfen gilt. Alle Erleuchteten lehnen letztendlich diese Annahme ab.” (Idries Shah: Karawane der Träume. Lehren und Legenden des Ostens. A. d. Engl. v. René u. Clivia Taschner. Basel: Sphinx Verlag, 1982, S. 193.)

Meine Befürchtung hat sich also als gegenstandslos erwiesen. Tatsächlich wirken sogar die beiden Sätze über Menschen, die nur immer wieder ihre vorgefassten Ansichten bestätigt sehen wollen, wenn nicht wie ein Fremdkörper, so doch wie ein Einschub, der mit dem eigentlichen Kerngedanken der Passage nur bedingt etwas zu tun hat.

So gesehen hätte ich mir die 8,90 €, die mich das Buch im Antiquariat gekostet hat, gut sparen können. Nun kommt aber ein zweiter, vielleicht ebenfalls krankhafter Prozess in Gang, der eine Kompensation der verschwendeten Mittel herbeizuführen sucht. Ich beginne, mich für ein Buch zu interessieren, das mich sonst allein schon wegen seiner Umschlagillustration auf Distanz gehalten hätte [s. Titelbild]. – Und nun entdecke ich dies und jenes, das mir Spaß macht, wie das Sprichwort: „Wenn du ein Schreiber sein willst, so schreib und schreib und schreib.” (Ebd., S. 200.)

Gefälligkeit

Sunday, 26. April 2009

„Der Betreiber der Website revierflaneur.de ist um Fehlerfreiheit in formaler und inhaltlicher Hinsicht bemüht.” So lautet der erste Satz zur Sorgfalt meiner Texte dieses Weblogs, die ich am 27. Juli 2008 im Impressum versprochen habe.

Welche Mühen sich im Einzelnen aus diesem anspruchsvollen Vorsatz ergeben, das wird der Leser nur ermessen können, wenn er selbst einmal probiert hat, einen in jeder Hinsicht richtigen Text herauszubringen. Vom Buchstabendreher bis zum fehlenden Komma, vom falschen Fall bis zur hässlichen Wiederholung lauern Fehler und Makel in jeder Zeile. Dagegen helfen nur Wachheit und Übung, Sorgfalt und Fleiß – und selbst damit kommt man nicht ins Ziel, denn bekanntlich ist man leider oft blind für die eigenen Versehen. So kann ich mich glücklich schätzen, dass eine ausgezeichnete Korrektorin jeden einzelnen meiner Texte unmittelbar nach der Veröffentlichung auf Herz und Nieren prüft.

Ich habe es aber insofern besonders glücklich getroffen, als diese strenge Gegenleserin mein Geschreibsel nicht nur auf formale Mängel durchsieht, sondern weit darüber hinaus auch ein feines Gespür für mancherlei andere Schwächen hat. – Dafür ein Beispiel aus jüngster Zeit.

In meinem Beitrag AtD VII.10 schrieb ich gestern den Satz: „Zeitweise war ich mir beim Pynchon-Projekt vielleicht wie jemand vorgekommen, der versteckte Anspielungen reihenweise abknallt wie die Karnickel bei der Treibjagd.” Weil ich so selten „Karnickel” schreibe, ganze drei Mal bisher in diesem Weblog, musste ich der letzten Gewissheit zuliebe noch einmal im Duden nachschlagen, ob man nicht etwa „Kanickel” schreibt, ein Zweifel, der so abwegig nicht ist, da man ja auch nicht „Karninchen” schreibt. Meine gute Seele mit dem scharfen Blick und dem noch schärferen Verstand erspähte aber einen ganz anderen Lapsus: „Treibjagd macht man auf Hasen u. a., Kaninchen (im Bau lebend) jagt man mithilfe von abgerichteten Frettchen oder Raubvögeln.” (Ich lasse die „Treibjagd” bewusst im gestrigen Artikel stehen und verlinke von dort auf den heutigen, als kleine Hommage an M. C.)

Ein merkwürdiger Zufall ist, dass letzten Montag mein Freund H. F. gesprächsweise einen ganz ähnlichen Fehler monierte. Im Beitrag Schnee von gestern hatte ich geschrieben: „Mich selbst erinnern sie [meine Blog-Texte] an die Schwimmer beim Angeln, die das Anbeißen der Beute signalisieren sollen. Wenn tief unter der spiegelglatten, friedvollen Wasseroberfläche ein riesiger Raubfisch mit der Nase an den Köder stößt, dann löst er damit bloß ein ganz feines Zucken im treibenden Schwimmer aus, kaum wahrnehmbar.” Zum Angeln von Raubfischen, so mein Freund, setze man keine Schwimmer ein, die kämen nur bei Friedfischen zur Anwendung. Das stimmt zwar und es war mir ebensowenig bekannt wie die Technik der Kaninchenjagd. Aber hier möchte ich doch einwenden, dass ich ja in dieser Metapher gar nicht behauptet habe, Angler, Angel, Schwimmer und Köder hätten es auf den Raubfisch angelegt.

[Titelbild: Wilhelm Busch.]

Hotdog

Monday, 13. April 2009

Bekanntlich spiele ich persönlich ja am liebsten Schach. Dennoch verweigere ich mich nicht, wenn meine Tochter wieder einmal eins jener neuzeitlichen Gesellschaftsspiele zu einem geselligen Beisammensein mitbringt, bei denen die Zeit wie im Flug vergeht, man oft genug ziemlich dumm aus der Wäsche schaut und gelegentlich sogar etwas über sich und seine Mitspieler lernen kann. Einen Spielverderber will ich mich nicht schimpfen lassen.

Heute war Cranium an der Reihe, ein kreatives Denk- und Ratespiel, bei dem man unter anderem seine Teamkollegen durch Pantomimen, Zeichnungen (mit offenen oder geschlossenen Augen), Melodiengesumme und ähnliche Albernheiten dazu bringen muss, vorgegebene Namen oder Begriffe zu erraten.

Als ich an der Reihe war, stellte sich mir die Aufgabe, mittels eines Klumpens grünen Knetgummis einen Hamburger darzustellen, jene Delikatesse aus der Fast-Food-Küche, die sich so großer Beliebtheit erfreut und die, wie ich vom Hörensagen weiß, eine nicht geringe Schuld an der adipösen Verunstaltung unserer Jugend trägt.

Ich hatte 60 Sekunden Zeit, die Hamburger-Skulptur zu kneten. Als sie unter meinen geschickten Händen Gestalt annahm, scholl mir aus dem Kreise meiner Teamkollegen entgegen: „Hotdog! Hotdog!” Verzweifelt bemühte ich mich, die Konturen noch präziser herauszuarbeiten, aber das erlösende Wort „Hamburger” wollte meinen Mitspielern einfach nicht über die Lippen kommen.

Als die Minute abgelaufen war, musste ich mich darüber belehren lassen, dass eine Wurst zwischen zwei Brötchenhälften mitnichten ein Hamburger ist, wie ich immer angenommen hatte, sondern eben ein Hotdog; und dass es sich bei einem Hamburger um eine gegrillte Rinderhackscheibe zwischen zwei Brötchenhälften handelt. „Bist du denn noch nie bei McDonalds gewesen?” Doch, vielleicht drei- bis fünfmal insgesamt, aber dann habe ich mir immer nur eine Portion Pommes frites gekauft. In den folgenden zehn Minuten wurde ich von jenen Spielteilnehmern, die mich noch nicht so gut kennen, verstohlen beäugt wie ein seltenes Insekt. Aber daran bin ich ja gewöhnt.

Rätsel

Thursday, 05. March 2009

Neulich wurde mir aus Pädagogenkreisen folgendes Rätsel zugetragen, dem offenbar eine wahre Begebenheit zu Grunde liegt.

Ein Schüler der achten Klasse hat zum wiederholten Male beim Aufsatz vollkommen versagt. Der Deutschlehrer bittet ihn, seiner Mutter zu bestellen, dass sie doch einmal in seine Sprechstunde kommen möge, damit man gemeinsam auf Abhilfe sinnen könne.

Die Mutter erscheint nicht. – Nach einer Weile spricht der Lehrer den Schüler wieder an, ob er vergessen habe, seiner Mutter die Einladung auszurichten.

Keineswegs, so beteuert der Schüler. Die Mutter habe ihm, jetzt falle es ihm wieder ein, sogar eine Entschuldigung mit auf den Weg gegeben. Und er kramt aus seiner Schultasche den oben abgebildeten Zettel hervor.

Frage: Wodurch war die Mutter verhindert, in die Schule zu kommen?

Turm

Saturday, 31. January 2009

Heute, am Monatsletzten, beende ich die Bettlektüre eines Buches, die ich am Neujahrstag begonnen habe: Uwe Tellkamps Der Turm (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008). Der Roman bringt es auf knapp tausend Seiten und ist insofern eigentlich als literarisches Betthupferl aufgrund rein orthopädischer Bedenken eher ungeeignet. Dass ich dennoch vorm Einschlafen im Tagesdurchschnitt rund dreißig Seiten „geschafft” habe, obwohl mir gelegentlich ein bleiernes Gefühl in die Arme schlich, spricht immerhin für den Unterhaltungswert dieses, um die Verlagswerbung zu zitieren, „monumentalen Panoramas der untergehenden DDR”.

Die Kritik war sich einig, dass der Bachmann-Preisträger des Jahres 2004 damit wenn nicht sein Meisterwerk, so doch sein respektables Gesellenstück abgeliefert hat. Sie hat aber nach meinem Urteil nicht deutlich genug gemacht, dass Tellkamp mit diesem opulenten Buch den Versuch gewagt hat, die ehrwürdige Tradition des bürgerlichen Familienromans à la Buddenbrooks und die seit James Joyce florierende Erzähltechnik der Montage gänzlich disparater Stilmittel zum stimmigen Bild eines untergegangenen realsozialistischen Deutschen Reichs zu legieren. (Sabine Franke zählt in ihrer Rezension für die Frankfurter Rundschau „Briefe, Träume, Rückblenden, Fakten und konventionelle Erzählpassagen” auf; dabei sind es doch noch weitaus mehr.) Und diese vom vergleichsweise hohen Rang des Romans faszinierte Kritik vergisst leider zu erwähnen, dass der ebenso fleißige wie belesene Autor sich bei diesem Spagat letztlich die Beine ausreißt.

Dass Der Turm zudem noch als ein Schlüsselroman daherkommt, nimmt mich eher gegen ihn ein – denn neben meiner täglichen Pynchon-Lektüre möchte ich zu nachtschlafender Zeit eigentlich nicht mehr den Rechner anschmeißen, um dahinterzukommen, dass sich hinter Baron Arbogast kein Geringerer als Manfred von Ardenne verbirgt, Jochen und Philipp Londoner Vater und Sohn Kuczynski zum Vorbild haben und mit dem RA Sperber des Romans nur der mittlerweile verstorbene Manfred Vogel gemeint sein kann, der im Agentenschacher des Kalten Krieges eine unvergesslich-zwielichtige Rolle spielte.

Tellkamps mit langem Atem geschriebenes magnum opus ist, bei allen Einwänden gegen seine möglicherweise anbiedernde, effekthascherische Schreibe, nur selten langatmig. Ich bin immerhin gespannt, ob dieses bemerkenswerte Talent sich noch zu einem opus summum aufschwingen wird; hoffentlich ganz anders als Thomas Mann mit seiner Joseph-Tetralogie, die im bitteren Geschehen der fernen Völkerschlacht – meine Heimatstadt Essen wurde dem Erdboden gleichgemacht – keine andere Heimstatt finden konnte als in den Geborgenheiten schimmelnder Traditionen. Während dies geschah, löffelte der geistheilige Thomas Mann zitronensaftgewürzte Austern in seiner Villa in Pacific Palisades.

Auch wir intellektuellen Überflieger – wie Goebbels sagte: die „Intelligenzbestien” – müssen uns doch nicht bis zum Jüngsten Gericht gedulden, an dem wir das Scherbengericht zusammentragen. Da warten wir stattdessen lieber auf eine Erleuchtung, die sich von Traditionen gleich welcher Art freigemacht hat – noch im Diesseits.

Kannitverstan

Sunday, 25. January 2009

Den getreuen, zuverlässig bruchsicheren Hebel anzusetzen hieße heute, / unzeitgemäße Verachtung zu zeigen: welch animalische Gebärde, / ein wildes Zucken um die unvermessenen Mundwinkel spielen zu lassen, / kaum bedenkenswert. Unverstanden.

Drum hülle ich mich lieber in sonntägliches Schweigen. / Einstweilen, vom blaugebläuten Himmel geleckt. / Bin ich denn noch ganz bei Trost? / Grins du nur in den fettfleckigen Spiegel, du Ausgeburt / fremdstämmiger Selbstkritik. Gehe in dich und verkümmre.

Kein Weg, so holzig er auch sei, / führt aus diesem Gestrüpp in die Ewigkeit. / Schade.

Wohin immer du zurückblickst, nirgends und überall / leuchtet eine verheißungsvolle Finsternis. / Stattdessen: Mickymäuse, die Purzelbäume schlagen. Tarzans Lianen. / Die speziellen Ausformungen mehr oder weniger geglückter / Wirbeltiere.

Ist doch wirklich ein Elend: dass / gerade wir, die Krone der Schöpfung / deren traurigen, ausrottbaren Rest aus verständnislosen Augen anglotzen, / auf den ölschluckenden Schnellstraßen / im Steakhaus / hinter den sprachlosen Fibeln der Verdammnis.