Archive for August, 2011

Big Sister im Hinterzimmer

Friday, 26. August 2011

Die erzwungene Besinnungspause führt zu ersten Einsichten. Weil ich mich mit kleinen Schritten begnügen wollte, meinte ich, diesem langsamen Fortschritt durch entsprechend viele Schritte auf die Sprünge helfen zu müssen. In den 1280 seit dem Startschuss für dieses Weblog vergangenen Tagen habe ich 886 Beiträge veröffentlicht. Anders gesagt durfte der Leser hier an zwei von drei Tagen einen neuen Artikel erwarten – wenn es denn überhaupt Leser gab, die hier alle paar Tage vorbeischauten.

Dieser Illusion gehe ich aber längst nicht mehr auf den Leim. Dazu ist mein Blog einerseits zu strapaziös, andererseits – “to tell the truth: its too much eccentric!” Nachdem ich hinlänglich unter Beweis gestellt habe, dass es mir an Fleiß und Kondition nicht mangelt, sollte ich mich vielleicht künftig darauf konzentrieren, noch deutlicher und noch genauer das zum Ausdruck zu bringen, was – frei nach Patti Smith – nur ich allein so zum Ausdruck bringen kann. Dafür benötige ich jedoch erfahrungsgemäß etwas mehr Zeit als anderthalb Tage.

Vor ein paar Tagen mehr wurden in unserem Haus fünf Betten angeliefert. Da die Straße sehr schmal ist, stand der Möbelwagen direkt vor unserem Küchenfenster. Dadurch ergab sich das irritierende Bild dort oben: “Big sister is watching you!” Plötzlich verschieben sich durch des Zufalls Komödiantenlaune die Proportionen. Ich wähne mich in den daumengroßen Bewohner eines Puppenhauses verwandelt, den von draußen die riesenhaft erscheinende Besitzerin dieser Liliputwelt amüsiert beobachtet. Gleich wird es ihr vielleicht gefallen, mich mit spitzen Fingern zu packen und auf den Dachfirst zu setzen!

Wo es aber durch ein wenig Kulissenschieberei möglich ist, einem mittelgroßen Mitteleuropäer momentweise das Selbstempfinden eines Zwergs zu suggerieren, da ließe ich mich doch vielleicht mittels eines entgegengesetzten Verzerrungstricks zu einem virtuellen Geistesriesen aufblasen – wenn nicht für immer, so doch bitte schön für jene fünf Minuten, die das Lesen und Verstehen meiner fünfteiligen Kurzprosa-Pröbchen beansprucht.

Dieser Trick wäre vielleicht durch die Lupe möglich, die der Leser zur Hand nehmen sollte, um zwischen meinen Zeilen auf die Suche nach versteckten Hinweisen zu gehen. Wo steckt der Schlüssel zum Hinterzimmer? Wer lauert dort auf den ungebetenen Besucher? Was führt er mit diesem im Schilde? Welche Ausflüchte könnte der Eindringling vorbringen? Was geschähe mit ihm, so sie nicht verfängen? Und was um alles in der Welt wäre sein Lohn, wenn ihm wider Erwarten schließlich doch noch mit knapper Nor die Flucht gelänge?

Heinrich Funke: Das Testament (XXIII)

Friday, 19. August 2011

Nach Schwein und Elefant nun also ein Rhinozeros. Diese Trias dickleibiger Säuger legt nahe, dass der Künstler eine gewisse Affinität zu schwergewichtigen Tieren hat. Zudem drängt sich die Vermutung auf, dass mit dem Bild des indischen Panzernashorns einem großen Vorbild die Reverenz erwiesen werden soll. Bekanntlich hat Albrecht Dürer 1515 einen Holzschnitt von jenem „Rhinocerus“ angefertigt, das der portugiesische Seefahrer Alfonso de Albuquerque von seiner Indienfahrt mit nach Europa gebracht hatte. (Allerdings vermuten Kunsthistoriker, dass Dürer dieses Tier persönlich gar nicht zu Gesicht bekommen hat.)

Das Wesen dieser einzelgängerischen Tiere wird aus Sicht menschlicher Beobachter je nach Lage der Dinge unterschiedlich beschrieben. Nähert man sich dem Nashorn in feindlicher Absicht, etwa um es zu erlegen und sein Horn zu Geld zu machen, dann kann es, was Wunder, sehr ungehalten werden. Seine Bisse sind lebensgefährlich; gerät man unter seine Hufe, überlebt man ebenfalls nur mit sehr viel Glück. Andererseits gilt es als anhänglich und handzahm, wenn es von einem fürsorglichen Halter gut verpflegt und liebevoll behandelt wird.

Ist ein Rhinozeros zur Sünde fähig? Hat es außer seinen animalischen Trieben noch andere Motive für sein Handeln? Kann es zwischen zwei Handlungsalternativen entscheiden? Wenn es so wäre, dann fiele ein wesentlicher Abstandhalter weg, mit dem wir uns moralisch über das Tier erheben. Unser Unterscheidungsvermögen von Gut und Böse stellt uns fortwährend vor die Aufgabe, unser Verhalten darauf auszurichten, Gutes zu tun und Böses zu vermeiden, vulgo: nicht zu sündigen. Wenn ein Mensch ohne dieses moralische Rüstzeug durchs Leben stampft, dann mag man ihn ein rechtes Rhinozeros schimpfen.

Die Zahl der Menschen auf der Erde ist längst schon zehnstellig, während die Zahl der Rhinozerosse wohl nurmehr fünfstellig sein dürfte. Der Schwund der Nashörner wird noch beschleunigt durch den unter Asiaten verbreiteten Aberglauben, dass sich aus deren Hörnern, zu Pulver zerrieben, ein wirksames Potenzmittel gewinnen ließe. Wären die betroffenen Tiere in der Lage zu erkennen, warum sie von Wilderern reihenweise übern Haufen geschossen werden, dann könnte vielleicht etwas wie Hass in ihnen aufflammen. Aber eine solche Spekulation ist müßig.

Ist der Nashornjäger ein Sünder, weil er zur irreversiblen Ausrottung einer Tierart beiträgt? Schließlich steht er im Dienste der Liebe, auch wenn die Lust aus dem zu Pulver zermahlenen Horn seines Opfers bloß auf Einbildung beruht. Und vermutlich geht er nicht aus blutrünstiger Infamie auf die Nashornpirsch, sondern weil er daheim fünf vor Hunger wimmernde Kinder weiß, die er zu ernähren hat. Wir müssen den Nashornjäger lieben, und sei es um seiner unschuldigen Arglosigkeit willen. Aber die Sünde hassen? Das können wir ebensowenig. Was wäre denn dieses große irdische Theater ohne Sünde, ohne die Einbildung von Schuldfähigkeit? Ein langweiliger Schmarrn!

TV B Gone

Tuesday, 16. August 2011

Dieser Tage machte mein Herz vor Begeisterung einen kleinen Hüpfer. (Zu richtigen Sprüngen kommt es ja in diesen Endzeitjahren nur noch sehr, sehr selten.) Ich las in einem Bericht über das Sommercamp des Chaos Computer Clubs auf dem ehemaligen sowjetischen Flugplatz Finowfurt im brandenburgischen Niemandsland, dass es jetzt einen elektronischen Zauberstab namens TV B Gone gebe, mit dem man sämtliche Fernseher im Umkreis von hundert Metern gleichzeitig ausschalten könne! (Vgl. Frederik Obermaier: Unter Nerds; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 186 v. 13./14./15. August 2011, S. 12.)

,Das musst du haben!‘, dachte ich gleich und recherchierte nach Bezugsquellen. Ich stieß auf zwei verschiedene Produkte. Erstens gibt es da einen schwarzen Schlüsselanhänger dieses Namens, der auf Knopfdruck nahezu jedes europäische Fernsehgerät ausschaltet, indem er in knapp einer Minute fast alle bekannten Ausschalt-Codes nacheinander per Infrarot sendet. Die Reichweite dieses „Ausschalt-Allrounders der 4. Generation“ beträgt allerdings lediglich drei bis fünf Meter. (Der Preis schwankt je nach Anbieter zwischen 9,90 € und 24,90 €.) Das zweite TV-B-Gone ist ein Bausatz aus 20 Teilen, zu dessen Montage etwas Zeit und Geschicklichkeit, ein Lötkolben, Lötzinn, ein Multimeter und eine Kneifzange erforderlich sind. Dieses Gerät ist viel stärker als die zuvor beschriebene Version, seine Reichweite beträgt mehr als 40 Meter, gelegentlich ist sogar von „bis zu 110 Meter“ die Rede. (Preis zwischen 16,95 € und 34,95 €.)

Nun stellte ich mir vor, allabendlich zur Hauptsendezeit mit meinem Handmade-TV-B-Gone einen Gang durch die Gemeinde zu machen und dabei alle hundert Meter den Glotzern ringsum eine überraschende kleine Sendepause zu verordnen. Schadenfreude? Ach, was! Bloß die Verzweiflungstat eines einsamen Bildfunkabstinenzlers, der wenigstens durch diese harmlose Harlekinade seine Verzweiflung über die Allmacht des medialen Tranquilizers zum Ausdruck bringen möchte. Ich bin ja überzeugt, dass binnen weniger Tage in allen Städten des Landes Barrikaden gebaut würden, wenn sämtliche Sender ihre Übertragung einstellten.

Leider brachte mich ein technisch versierter Bekannter schnell wieder auf den ernüchternden Boden der Tatsachen. Diese Allround-Ausschalt-Fernbedienung funktioniert nämlich wie jede andere auch nur dann, wenn sie punktgenau in die Richtung des auszuschaltenden Gerätes gehalten wird. Keineswegs kann man mit ihr blindlings in der Gegend rumballern und Glotzen im Dutzend auslöschen.

Schade!

Pulverfass

Sunday, 14. August 2011

Die soeben im Artikel über Schreibvoraussetzungen aufgezählten inneren und äußeren Konditionen und Dispositionen sind zwar seit einigen Tagen durchaus gegeben – und doch kann ich mich nicht dazu aufraffen, einen neuen Beitrag für mein Blog zu verfassen. Es wäre der 884ste. Ich weiß nicht, worüber ich schreiben soll. Alles, was mir einfällt, scheint mir nach kurzem Bedenken dann doch nicht der Mühe wert, schriftlich erzählt oder erörtert zu werden. Diese Skepsis gegenüber meinen Ideen befällt mich insbesondere an meinem Arbeitsplatz. Wenn ich gut gelaunt durch den feinen Nieselregen dem Wald zustrebe, durch das Fenster des 142er-Busses das Umschlagen der Ampel von Rot auf Grün erwarte oder im Bett kurz vorm Einschlafen an etwas Böses denke, dann überfällt mich aus dem Nichts ein erster Satz, ein hartnäckiger Widerspruch oder eine offene Frage, tauglich für mindestens ein Posting, wenn nicht gar für eine ganze Serie. Doch stolz wie ich bin verbiete ich mir, Notizen auf Merkzettel zu machen, weil ich mir sage: Wenn dieser Einfall nicht stark genug ist, dass ich ihn auch ohne Hilfsmittel im Kopf behalte, dann ist er wohl das Papier nicht wert, auf dem ich ihn skizzieren muss, um ihn nicht zu verlieren.

In dieser inspirativen Einöde lese ich obendrein noch das Interview, das Christian Wolf bei Basic Thinking vor ein paar Tagen mit dem Blogger Oliver Stör geführt hat. Stör hat innerhalb eines Jahres gleich drei Abmahnungen wegen vermeintlicher Rechtsverletzungen in seinem Weblog Stör-Signale erhalten und gibt nun nach neun Jahren fröhlicher Bloggerei entnervt auf. Was rät er Bloggern, die sich vor Angriffen der gefürchteten Abmahnanwälte schützen wollen? Da muss er leider mit den Achseln zucken. Ein Patentrezept gegen deren Machenschaften gebe es seines Wissens nämlich nicht. Immerhin könnte man seine Angreifbarkeit vermindern, indem man 1. keine Bilder aus dem Netz kopiert, 2. keine Zitate verwendet und 3. keine Links auf fremde Websites setzt. (Ich setze jetzt mal vorsichtshalber keinen Link auf das Interview.) Wenn ich mich nicht täusche, dann ist vermutlich der einzige Grund, weshalb dieser Kelch bisher an mir vorübergegangen ist, die totale Erfolglosigkeit meines Blogs. (Ich wusste ja schon immer, dass es ein großer Vorteil ist, nicht gelesen zu werden.)

Mit anderen Worten sitze ich hier auf einem Pulverfass. Sprachlos!

Ich überlege für ein Momentchen allen Ernstes, dieses Unternehmen mir nichts, dir nichts, sang- und klanglos aufzugeben. Was, wenn ich einfach den Stöpsel rauszöge? Es macht ein paar Mal gluck, gluck – und alles ist weg! Adieu, freie Meinungsäußerung vor der Weltöffentlichkeit. Andererseits bin ich heute auch wieder nicht in der Stimmung zu solch spontanen Vernichtungsaktionen. Meine cholerischen Anwandlungen gehören eben glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Darum atme ich tief durch und erwäge ruhigen Blutes die verbleibenden Möglichkeiten, meine Arbeit an diesem Blog möglichst unbeeinflusst fortsetzen zu können, ohne Abzockern auch nur die kleinste Angriffsfläche zu bieten.

Vielleicht könnte ich mich rüsten, indem ich all jene älteren Postings, die auch nur von Ferne nach Verstößen gegen Urheber- oder Persönlichkeitsrechte duften, mit einem Passwortschutz versehe? Dabei sollte ich zweckmäßigerweise so vorgehen, dass ich zunächst ausnahmslos alle 883 Beiträge hinter Schloss und Riegel setze – um dann Schritt für Schritt die definitiv harmlosen Beiträge, gegen die auch der erfindungsreichste Rechtsverdreher nichts einzuwenden haben kann, wieder hervorzuholen. In einem zweiten Arbeitsgang könnten dann noch etliche Beiträge einer sorgfältigen Reinigung ad usum Delphini unterzogen werden, indem ich zum Beispiel ohnehin längst verödete Links entferne, wörtliche Zitate in indirekte umformuliere und so weiter. Bei meinen Neuveröffentlichungen werde ich fallweise entscheiden, welche ich der anonymen Öffentlichkeit zur Verfügung stellen darf und welche hinter die dicken Mauern eines Passwortschutzes gehören. Den Schlüssel zum intimeren Bereich meines Blogs erhalten dann nur meine engsten Freunde. (Je länger ich darüber nachdenke, desto reizvoller erscheint mir diese Lösung – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht.)

Schreibvoraussetzungen

Tuesday, 09. August 2011

Ich bin seit Wochen gesundheitlich etwas angeschlagen. Das bekommt auch mein Blog zu spüren. Die schöne Regelmäßigkeit eines täglichen Postings, die ich in den Monaten Mai und Juni durchhalten konnte, ist zumindest vorläufig passè. Ich habe gegenwärtig, wie man sagt, ganz andere Sorgen. Bei dieser Gelegenheit wurde mir wieder einmal bewusst, wie viele Voraussetzungen doch erfüllt sein müssen, damit ich überhaupt erst mit dem Schreiben beginnen kann – von einem Gelingen mal ganz abgesehen!

Mein kleines Arbeitszimmer ist der einzige Ort, an dem ich schreiben kann, jedenfalls auf die nahezu definitiven Ergebnisse hin, die ich hier publiziere. Stichworte, Notizen, Skizzen kann ich handschriftlich überall zu Papier bringen, aber für die Niederschrift meiner Miniatur-Pentaloge muss ich auf diesem Stuhl sitzen, an diesem Tisch, mit Blick auf die kleine Straße. Ich brauche meinen Rechner samt Peripherie, die kleine Handbibliothek aus Notizbüchern und Nachschlagewerken, frische Luft und absolute Ruhe.

Mein Kopf muss frei sein von allen störenden Zwischengedanken. Ist noch Butter im Kühlschrank? Droht ein Telefonanruf? Steht gar ein Besuch vor der Tür? Pures Gift für meine kreative Abgeklärtheit ist ein Streit vor Arbeitsbeginn. Aber auch bevorstehende Ereignisse, wie ein seltenes Zusammentreffen mit einem lange nicht gesehenen Freund oder ein Termin bei einer Behörde, können mich gedanklich so sehr dominieren, dass ich mich nicht mit voller Kraft auf die aktuelle Niederschrift konzentrieren kann.

Zeitdruck ist kontraproduktiv, erhöht nach aller Erfahrung mindestens die Fehlerquote. Blasendruck mach mich nervös und führt mich in Versuchung, die zweitbeste Formulierung zu akzeptieren, weil ich mich erleichtern muss. Bevor ich wieder an der Tastatur sitze, ist mir meist nicht mehr präsent, dass das Provisorium noch auf Ablösung durch ein Optimum wartet. Generell sind falsche Druckverhältnisse abträglich, ob beim Blut- oder Luftdruck. Zu wenig Druck wirkt in aller Regel lähmend, zu hoher blockiert.

Vernichtend ist schließlich für mein Schreibvermögen Schmerz, in all seinen Facetten. Selbst ein leichtes Pochen im Backenzahn, sogar schon ein lästiges Jucken zwischen den Schulterblättern macht mich völlig unfähig, auch nur einen einzigen brauchbaren Satz abzusondern. Analgetika betäuben mit dem Störenfried zugleich auch die Inspiration und das Empfinden für Wohlklang und syntaktische Proportionen. Sorge und Angst verderben mir die gute Laune. Krankheit zwingt mich tief unter mein Niveau.

Koinzidenz

Saturday, 06. August 2011

Heute auf den Tag genau vor zwanzig Jahren wurde das Netz ausgeworfen, das mittlerweile anderthalb Milliarden Menschen per Personalcomputer miteinander verbindet. Ursprünglich sollte es nicht Netz (engl. web), sondern Geflecht oder Gitter heißen (engl. mesh), doch weil dieser Name leicht mit dem Wort für Unordnung (engl. mess) verwechselt werden kann, kam man davon wieder ab. Dabei ist es doch gar nicht so verkehrt, das World Wide Web mit Unordnung und Chaos in Verbindung zu bringen, wenn man die ungeheuren Datenvorräte als Ganzes betrachtet, die dort zur Verfügung gestellt werden.

Heute auf den Tag genau vor 66 Jahren ereignete sich eine menschgemachte Katastrophe, die mindestens ebenso folgenreich für unsere Zukunft war wie die Erfindung von Tim Berners-Lee, der mit seinem Hypertext-System das WWW ermöglichte. Auf die japanische Hafenstadt Hiroshima fiel die erste Atombombe. Sie tötete auf einen Schlag annähernd 80.000 Menschen; fast die gleiche Zahl starb, teils noch Jahrzehnte später, an den Folgen radioaktiver Verstrahlung. Der Einsatz von Little Boy, wie die Bombe euphemistisch genannt wurde, beendete den Zweiten Weltkrieg und eröffnete ein Jahrzehnte währendes Wettrüsten zwischen den Weltmächten USA und UdSSR.

Diese kalendarische Koinzidenz ist natürlich reiner Zufall. Naiv muss man jeden nennen, der daraus eine Bedeutung ableiten oder gar einen „geheimen Zusammenhang“ herstellen wollte!

Nun haben wir Menschen es uns seit Einführung des Kalenders zur Gewohnheit gemacht, Jahrestage zu begehen, an denen sich das Datum eines uns bedeutsam erscheinenden Ereignisses wiederholt, wie etwa unser Geburtstag oder die religiösen Festtage, der Jahreswechsel oder die Sommer- und Wintersonnenwende. Handelt es sich um ein erfreuliches Ereignis, wird ein solches Jubiläum üblicherweise mit einem Fest begangen. Haben wir hingegen einer finsteren Schandtat zu gedenken, wie an Karfreitag oder am heutigen Hiroshimatag, so scheinen uns innere Einkehr, Schweigen und der Verzicht auf Geschäftigkeit und Unterhaltung angemessene Formen der Erinnerung zu sein. An den Atombombenabwurf auf Hiroshima erinnerte die Süddeutsche heute nicht. Es ist ja heuer auch kein „runder“ Jahrestag zu betrauern. An die heimliche Großtat im Europäischen Forschungszentrum CERN erinnert sich dort Patrick Illinger, der als einer von rund achttausend Wissenschaftlern damals hautnah dabei war – und trotzdem wie alle anderen Zeitzeugen nicht bemerkte, welch folgenreicher Durchbruch dem damals 36-jährigen Physiker und Informatiker an diesem Tag gelungen war.

Ich profitiere, indem ich dies schreibe, ob ich will oder nicht, von beiden Innovationen. Die elektrische Energie, die es ermöglicht, kommt zu einem guten Teil aus Kernkraftwerken, deren Entwicklung ja erst als eine Art friedlicher Ableger der Atombombe möglich wurde. Und dass ich meinen Text veröffentlichen kann, erlaubt jenes weltweite Geflecht, dessen Struktur Tim Berners-Lee vor zwanzig Jahren seinen Kollegen zur Verfügung stellte. Die erste Erfindung begann mit einem großen Knall, die zweite geräuschlos und unauffällig. Von beiden ist noch nicht erwiesen, ob sie uns mehr Schaden oder Nutzen bringen. Nur eines steht fest: Wir werden sie nicht mehr los.

Neue Fehlertypen (I): Altlasten

Monday, 01. August 2011

Wo ein Fortschritt ist, da lauern stets auch neue Gefahren. Wer geglaubt hat, dass durch Textverarbeitungsprogramme und die dort eingesetzten Prüfroutinen alle Schreibfehler bald der Vergangenheit angehören würden, der musste erfahren, dass davon längst noch keine Rede sein kann. Zwar spürt die automatische Fehlersuche falsch geschriebene Wörter auf, zum Beispiel bei einem „Bucshtabenderher“. Aber schon wenn man sich bei „versehen“ vertippt und „vergehen“ schreibt, entgeht dem Programm dieses Versehen, denn das Wort ist an sich kein falsches, sondern nur im Zusammenhang deplatziert.

Bei manchem Laienschreiber hat nun das grenzenlose Vertrauen ins Korrekturprogramm dazu geführt, dass er im Zweifelsfall nicht mehr nachschlägt, nicht einmal mehr nachdenkt, sondern die erstbeste Variante in die Tasten hackt, darauf vertrauend, dass sein nur vermeintlich allwissender Spürhund schon anschlagen wird, wenn sein Herrchen irgendwo falschlag. Schlimmer noch! Die gute alte Übung, grundsätzlich jeden fertigen Text erst einmal aufmerksam und gründlich durchzulesen, bevor man ihn aus der Hand gibt oder gar veröffentlicht, gilt den meisten Schreibern mittlerweile als unnötige Zeitverschwendung.

So hat die neue Technik in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwar dafür gesorgt, dass mancherlei Fehlschreibungen in Texten rasend schnell und mühelos aufgespürt und berichtigt werden können. Gleichzeitig sind aber neue Fehlertypen entstanden, nämlich durch das Schreiben per PC. Einen sehr verbreiteten Typ stelle ich hier an einem schönen Beispiel vor. Ulrike Putz vom Spiegel berichtet heute über Morde an iranischen Atomphysikern: „Nach westlicher Einschätzung gehörte Mohammadi Teil zur Elite der iranischen Nuklearforscher.“ (Israels mörderische Sabotage-Strategie; in: SpOn v. 1. August 2011.)

Das Wort „Teil“ ist überflüssig. Wie kam es hierher? Offensichtlich sollte der Satz ursprünglich lauten: „Nach westlicher Einschätzung war Mohammadi Teil der Elite der iranischen Nuklearforscher.“ Vermutlich missfiel der Autorin das doppelte „der“ („… Teil der Elite der …“). Außerdem ist es selten passend, einen Menschen als Teil von etwas zu bezeichnen. (Mein Großonkel war als Akrobat mal Teil einer menschlichen Pyramide; das ginge allenfalls noch.) Also beschloss sie, den Satz umzuformulieren. Sie setzte ein neues Verb – „gehörte“ – an die Stelle von „war“, indem sie „war“ markierte und mit „gehörte“ überschrieb. Dann markierte sie „von“ und überschrieb es mit „zur“. Dabei übersah sie aber, dass auch „Teil“ hätte eliminiert werden müssen, und so entging diese Altlast der Entsorgung. Damit war ein Fehler entstanden, den nun keine gängige Rechtschreibprüfung mehr aufspüren kann.

Einerseits sind diese neuen Fehler, die mir gerade in Magazin- und Zeitungstexten dauernd begegnen, für uns Leser nervend, weil sie den Lesefluss unterbrechen und das inhaltliche Verständnis bremsen. Andererseits ergibt sich aus Fehlern wie diesem eine reizvolle Denksportaufgabe, wenn man den Ehrgeiz hat, ihre Entstehung zu rekonstruieren. So können selbst neuen Risiken des Fortschritts wieder einen Wert mit sich bringen – und sei ’s bloß der Unterhaltungswert.

[Nachbemerkung: Zur Ehrenrettung des Spiegel darf hier angemerkt werden, dass der Fehler bereits wenige Stunden nach der ersten Veröffentlichung des Beitrags bei SpOn berichtigt war: Das überzählige „Teil“ wurde entsorgt.]