Kopfnote [1]

Als Fußkranker liebe ich Fußnoten. Das mag eine Kompensation sein, vielleicht macht mir aber auch bloß das Kleingedruckte so viel Freude, weil es mir immer wieder die Nahsichtschärfe meiner Augen beweist. Ich kann noch Sätze entziffern, wo andere nichts als Striche sehen. Seit ich mein Blog betreibe, habe ich eine mögliche Liaison mit der Fußnote auch in dieser neuen Behausung nie ganz aufgeben können. Aber ich wusste nicht so recht, wie das formal zu bewerkstelligen wäre. Schließlich rücken alle Postings hier automatisch nach unten. Die Artikel fallen tiefer und tiefer, je älter sie werden, bald schon tiefer, als eine Fußnote je sinken kann, der gedruckt auf Papier noch immerhin die untere Blattkante letzten Halt gibt. (Es sei denn, sie wird ans Ende des Buches verbannt, aber das halte ich für eine Unsitte und Zumutung für den Leser obendrein.)

Nun ist mir, weil sich ein konkretes Problem stellte, der Gedanke gekommen, meinen Fußnoten hier autonome Artikel zuzugestehen. Zwar ist die Verweisrichtung dabei notgedrungen auf den Kopf gestellt, indem die Fußnote auf den kommentierten oder ergänzten Passus im Haupttext verlinkt, in diesem Fall auf das Wort Tiere im Artikel Heinrich Funke: Das Testament (XII) vom 18. Feruar 2011. Immerhin kann ich aber nachträglich dort auch noch einen Verweis auf die hier folgenden Ausführungen anbringen. Da es sich nun bei dieser von mir erfundenen Praxis im wörtlichen Sinn ja weniger um Fuß-, als vielmehr um Kopfnoten handelt, insofern sie nämlich zumindest bei ihrem ersten Erscheinen im Werk ganz oben am Haupt-Platz stehen, entschied ich mich für diesen Namen: Kopfnote – wobei mir auch alle übrigen Nebenbedeutungen, die er dem Leser in den Sinn rufen mag, durchaus willkommen sind.

Folgende Kopfnot plagte mich also in den vergangenen sieben Wochen. Der Künstler der Linolschnittfolge, die ich hier regelmäßig kommentiere, gab gesprächsweise zu bedenken, ich hätte den Satz des Pseudo-Aristoteles – „post coitum omne animal triste praeter gallum, qui cantat“ – falsch aus dem Lateinischen übersetzt, indem ich animal mit Tier eindeutschte. Vielmehr müsse es Lebewesen heißen. Und ein Lebewesen sei ja auch der Mensch, der somit hier hinzuzurechnen sei, als ein nach dem Koitus trauerndes Wesen. Dieser Einwand brachte mich völlig aus dem Konzept, obwohl ich in meinem Stowasser beide Möglichkeiten (und noch eine dritte) fand: „animal, alis, n Lebewesen, Geschöpf; Tier.“ (Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. München: Oldenbourg Schulbuchverlag, 1993, S. 36.)

Das harmlose Semikolon an dieser Stelle gibt zu denken. Ist die letztgenannte Wortbedeutung Tier nun eine schwächere, seltenere oder spätere? Und da ich mich nun schon einmal etwas gründlicher mit den Übersetzungsmöglichkeiten des Zitats befasste, fiel mir plötzlich auf, dass ich immer gedacht und wohl auch gesagt hatte: „[…] außer dem Hahn, der schreit.“ Ich hatte vermutlich das im Deutschen gängige Kompositum Hahnenschrei im Ohr und wusste natürlich außerdem, dass man die wenig musikalischen Laute dieses Haustiers als Krähen bezeichnet. Nun steht ja aber bei Pseudo-Aristoteles ausdrücklich cantat, und cantare bedeutet nun einmal „singen“, keineswegs „schreien“ oder „krähen“. In der Sprachbar der Deutschen Welle gab es mal einen eigenen Beitrag über das deutsche Wort „Hahnenschrei“. Dort heißt es: „Seit Menschengedenken gilt er als ein Verkünder der Zeit, genauer gesagt: des Tagesbeginns. Vielleicht haben Sie ihn ja gehört gegen Morgen, als er Sie in einer stillen Gegend fernab von den Städten unsanft aus dem Schlummer gerissen hat. Den ersten Hahnenschrei – oder besser noch Hahnengesang. Ob man das Krähen wirklich als wohlklingenden Gesang bezeichnen kann, wenn man davon frühmorgens aus dem Bett geworfen wird, lassen wir einmal dahingestellt. Aber der Name Hahn weist ihn eindeutig als Sänger aus. Denn das lateinische galli-cinium bedeutete Hahnengesang und bei den Griechen nannte man den Hahn spöttisch ēïkanós – Frühsinger. Auch im Französischen singt der Hahn: Dort heißt es: Le coq chante. In einer Fabel, die über die Niederlande nach Deutschland gekommen ist, wird der Hahn chantecler genannt, was so viel wie Singehell bedeutet.“

Nun riskiere ich mal, was man neuerdings eine „steile These“ nennt. Vielleicht haben die Hähne vor ein paar Jahrhunderten tatsächlich noch gesungen? Beweisen kann ich dies natürlich nicht, aber die zitierten alten Texte legen es doch nahe. Und der Gegenbeweis dürfte ebenfalls unmöglich sein, schon allein deshalb, weil die technische Möglichkeit zur Tonaufzeichnung erst ab 1860 entwickelt wurde. Zudem würden wir einen Hahnengesang auf einer Schallplatte aus dem antiken Rom vermutlich gar nicht als solchen erkennen, weil wir ja nicht wissen, wie er geklungen hat: der singende Hahn. Diese kleine Geschichte von den Tücken des richtigen Übersetzens und Verstehens alter Weisheiten gilt mir nur als neuerliche Bestätigung, dass Skepsis ihnen gegenüber sehr angebracht ist.