Archive for May, 2011

Paris-Review-Interviews

Tuesday, 31. May 2011

Die Interviews der New Yorker Literaturzeitschrift Paris Review können mit Fug und Recht als stilbildend für die ganze noch junge Gattung gelten. Dass man den Befragten nicht mit den üblichen Allerweltsfragen à la FAZ-Fragebogen abwärts kommen kann, mit denen die sonstige Prominenz aus Politik, Sport und Showbiz gelöchert wird, liegt auf der Hand. Schließlich sind Literaten Leute, die immerhin schreiben können. Hierunter verstehe ich selbstredend nicht jene Dauersekretion von Banalitäten als Tagesgeschäft, die schon immer 99,9 Prozent aller Papierwaren beschleimte. Schreiben im eigentlichen Sinn jedoch setzt Verstand voraus, Selbstbewusstsein, Weltkritik und ein gerüttelt Maß Verzweiflung. Menschen, die unter solchen schweren Handicaps leiden, darf man nicht mit Fragen nach ihrem Lieblingsbuch und ihrer schönsten Kindheitserinnerung in Lebensgefahr bringen. Das wissen die einfühlsamen Interviewer der Paris Review, und sie beherrschen ihr Mundwerk. In den vergangenen 57 Jahren seit Gründung der Vierteljahreszeitschrift sind dort fast 350 Interviews erschienen, von denen nun die Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag ein Dutzend ausgewählt und in deutscher Übersetzung vorgelegt hat. (Ich muss das so unpersönlich formulieren, denn einen Herausgeber im eigentlichen Sinn scheint diese Sammlung nicht zu haben. Die Übersetzer heißen Henning Hoff, Judith und Alexandra Steffes; letztere hat auch ein knappes Vorwort geschrieben. Leider verrät sie dem Leser nicht, welche Kriterien gerade diese Auswahl bestimmten.)

Ohne Einschränkung darf ich zunächst den Vorsatz preisen, dem deutschen Leser diese Meisterwerke der Befragungskunst nahezubringen. Selbst von jenen Autorinnen und Autoren, die mir bisher fremd waren und auch durch ihre Antworten mein Interesse an ihrem Werk nicht so stark wecken konnten, dass ich in nächster Zeit eins ihrer Werke lesen müsste, habe ich nun doch immerhin eine recht deutliche Vorstellung. Köstlich amüsiert hat mich Dorothy Parker, zu deren Short Storys ich vor vielen Jahren trotz mehrfacher Versuche keinen rechten Zugang finden konnte, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass ich seinerzeit eine Verehrerin ihrer Prosa kannte, die mir mit ihrem humorlosen Suffragetten-Appeal ganz schrecklich auf die Nerven ging. Von Françoise Sagan kannte ich außer den Titeln ihrer Bücher nur die Verfilmung ihres Debutromans Bonjour tristess, die ich mir in einer Periode heftigster Leidenschaft für Jean Seberg zugemutet habe und nahezu unerträglich fand. Als das Mädchen aus gutem Hause in meinem Geburtsjahr befragt wurde, zählte sie gerade einmal 21 Jahre und gab Antworten wie eine abgebrühte Existenzialistin. Insofern habe ich sie bisher wohl unterschätzt. Da ich nun weiß, dass sie keineswegs das naive Hühnchen war, für das ich sie hielt, weil ich sie vermutlich mit der Bardot und mit Mireille Mathieu in einen Topf warf, glaube ich stattdessen erkannt zu haben, dass sie ein viel zu früh gereiftes, altkluges Wesen war, größenwahnsinnig und ohne stabile Orientierung. Truman Capote erscheint mir im Interview ganz so, wie ich ihn bisher wahrgenommen habe. Er schwindelt auf eine Weise, dass er damit mehr über sich sagt, als wenn er streng bei der Wahrheit bliebe; und er übertreibt, doch wenn er es nicht täte, hätte man das Gefühl, er würde untertreiben. Eine wirkliche Überraschung in zweifacher Hinsicht bot mir das Interview mit Ernest Hemingway, das der Chefredakteur der Paris-Review, George Plimpton führte. Erstens sind die Auskünfte des bulligen Mannes über seine Schreibtechnik außergewöhnlich präzise, feinsinnig und gewissenhaft. Er erinnert mich darin an Joseph Roth, mit dem er eigentlich doch nur eines gemeinsam hatte: den exzessiven Alkoholismus. Und zweitens verzückt mich geradezu seine gnadenlose Aufrichtigkeit im Umgang mit schwachen Fragen. Ein Beispiel? Plimton fragt: „Was würden Sie als bestes intellektuelles Training für einen angehenden Schriftsteller ansehen?“ Und Hemingway antwortet: „Sagen wir, er sollte rausgehen und sich aufhängen, weil er feststellt, dass Schreiben, nun, unvorstellbar schwer ist. Dann sollte er ohne Gnade heruntergeschnitten werden und gezwungen, für sich alleine so gut zu schreiben, wie er es kann, bis zum Ende seines Lebens. Immerhin wird er mit der Geschichte des Erhängens anfangen können.“ (S. 65.) Während ich bei Hemingway ein negatives Vorurteil hatte, sah ich Vladimir Nabokovs Auskünften mit gelassener Vorfreude entgegen – und wurde bitter enttäuscht! Dabei hätte ich darauf gefasst sein können, denn in der Vorbemerkung erfahren wir, dass der große Meister sich die Fragen vorab nach Montreux schicken ließ und seine Antworten von A bis Zett vorformulierte, um sie dem Interviewer beim vereinbarten Gesprächstermin schwarz auf weiß auszuhändigen. Wie soll ich das denn finden? Welche kleinliche Angst steckt dahinter, auch nur ein falsches oder nur missverständliches Wort von sich zu geben? Dabei hätte Nabokov wie alle anderen Befragten auch ohnehin die Gelegenheit erhalten, seine Antworten vor der Drucklegung zu überarbeiten oder zu streichen. Ist es Zufall, dass diese Enttäuschung in eine Zeit fällt, da meine Begeisterung für das Werk Nabokovs sich spürbar abschwächt? Zu den drei nächsten Autoren – Kurt Vonnegut, Heinrich Böll und Philip Roth – kann ich summarisch bekennen, dass ich ihre Aufnahme in diese Sammlung bedaure, stehlen sie doch den Platz für solch ungleich interessantere Geister wie Julio Cortazar, Raymond Carver oder Primo Levi. Die letzten vier – Toni Morrison, Orhan Pamuk, Joan Didion und David Grossman – kannte ich bislang nur ganz oberflächlich. Jeden einzelnen von ihnen würde ich gern näher kennenlernen, wenn ich nicht zu viel Zeit mit meinem eigenen Schreiben verschwenden müsste. So reicht es nur für eine knappe Sympathiebekundung. Ich entdeckte bei ihnen einen Ernst, eine Weite und eine Leidenschaft, die sicher hervorragende Voraussetzungen sind, um große Werke zu schaffen. (Allerdings muss ich, was die Leidenschaft betrifft, bei Joan Didion gewisse Abstriche machen. Sie erschien mir – vielleicht insofern ein direktes Gegenstück zu Toni Morrisson – in vielen ihrer Antworten eher unterkühlt.)

Ich habe das 350 Seiten starke Buch auf einen Rutsch in drei Tagen gelesen, auf ,meiner‘ sonnigen Bank am Blücherturm und nachts in meinem blauen Ohrensessel vorm Zubettgehen. Es war eine streckenweise unterhaltsame und gelegentlich sogar lehrreiche Lektüre, besonders dann, wenn es um die ganz profanen technischen Fragen und Probleme des Schreibens ging. Mit großem Interesse habe ich auch die wenigen Passagen zur Kenntnis genommen, in denen einzelne Autoren auf ihr Verhältnis zu ihrem Lektor zu sprechen kommen – verständlich, da ich selbst in jüngster Zeit diese Tätigkeit als professionelle Nebenbeschäftigung betreibe. Toni Morrison schwärmt von ihrem Lektor Bob Gottlieb: „Was ihn so gut machte für mich waren mehrere Dinge – zu wissen, was man nicht anrührt; all die Fragen zu stellen, die man wahrscheinlich sich selbst gestellt hätte, hätte man die Zeit gehabt. Gute Lektoren sind wirklich das dritte Auge: sachlich, leidenschaftslos. Sie lieben nicht dich oder dein Werk; das ist für mich das Wertvolle – nicht Komplimente. Das ist für mich hilfreich. Manchmal ist es unheimlich. Der Lektor legt seinen Finger genau auf die Stelle, die schwach ist; der Autor weiß es, war aber zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage, sie besser hinzubekommen. Oder vielleicht dachte der Autor, es könnte funktionieren, war sich aber nicht sicher. Gute Lektoren identifizieren die Stelle und machen manchmal Vorschläge. Manche Vorschläge sind nicht hilfreich, da man einem Lektor nicht alles erklären kann, was man da zu tun versucht. Ich könnte unmöglich all diese Sachen einem Lektor erklären, da das, was ich mache, auf so vielen Ebenen zu funktionieren hat. Aber wenn in dieser Beziehung etwas Vertrauen steckt, etwas Wille zuzuhören, können außergewöhnliche Dinge passieren. Ich lese dauernd Bücher, von denen ich weiß, dass sie nicht von einem Korrekturleser profitiert hätten, sondern von jemandem, der das Buch schlicht durchgesprochen hätte.“ (S. 214.)

Da beneide ich Toni Morrison allerdings, denn ich lese vielmehr dauernd Texte aller Art, die zuallererst einmal eines gründlichen Korrekturlesers bedurft hätten. Und leider macht auch das hier zu würdigende Buch da keine Ausnahme, hätte es doch einen scharfsichtigen „letzten Leser“ vor der Drucklegung so sehr verdient! Immer wieder stolpert der Leser über kleine Fehlerchen, nicht weltbewegend, aber eben doch den Lesefluss störend, beispielsweise gehäuft fehlende Buchstaben am Ende eines Wortes. In einem Absatz stand gleich zweimal „and“ statt „und“. Das passiert einem Übersetzer aus dem Englischen eben; aber liest denn keiner noch mal drüber? Vermutlich gab es wie so oft ganz zum Ende des langen Produktionswegs zeitlichen Druck, der den letzten Schliff unmöglich machte. Das ist schade – und umso mehr, da ja heutzutage bei einer zweiten Auflage in aller Regel die Ausmerzung dieser Fehler nicht finanzierbar ist. (Auch ein Vorteil, nebenbei bemerkt, von Weblogs wie diesem. Ich korrigiere dauernd an meinen älteren Texten herum, bis sie endlich – hoffentlich! – perfekt sind.)

Eine letzte Bemerkung noch zum Verlag. Die Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag mit Sitz in London ist ein Imprint des Düsseldorfer Lilienfeld-Verlags, dessen kleines und feines Programm ich seit seiner Gründung vor vier Jahren mit Wohlwollen und wachsender Neugier beobachtet und gelegentlich in meinen Blogs kommentiert habe. Zu dem neuen Engagement schreiben die Lilienfeld-Verleger Viola Eckelt und Axel von Ernst in ihrer Frühjahrsvorschau: „Durch die Übernahme des traditionsreichen C. W. Leske Verlages als Imprint werden wir im nächsten Jahr gleich 190 Jahre alt!“ Bald wollen die beiden unter diesem Namen ein Sachbuchprogramm starten. Nun ist das mit dem Reichtum der Traditionen ja manchmal eine vertrackte Sache. In diesem Fall ergibt die Recherche, dass der 1821 in Darmstadt gegründete C. W. Leske Verlag ursprünglich ein Sprachrohr des Vormärz war, im Laufe seiner langen Geschichte aber weit in die rechte, nationalistische Ecke hinüberwanderte. Bedeutende Sortimentsschwerpunkte waren über viele Jahre hinweg Kriegsgeschichte und Militärkunde. Was der Verlag in der Zeit des Nationalsozialismus getrieben hat, weiß ich nicht. Sehr interessant ist jedenfalls die rege Betriebsamkeit, die er in den 1950er-Jahren entfaltete, als er sich mit nationalkonservativen politischen Sachbüchern von Autoren wie Horst Mahnke aus der Deckung traute, jenes vormaligen SS-Hauptsturmführers, der es im Nachkriegsdeutschland der Adenauer-Ära bis zum Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger schaffte. Was wundert es, dass Mahnke sein gemeinsam mit dem ehemaligen SS-Hauptsturmführer Georg Wolff verfasstes Buch 1954 – Der Frieden hat eine Chance just bei C. W. Leske erscheinen ließ, war dessen Verlagsleiter seit 1953 doch kein geringerer als Franz-Alfred Six, SS-Brigadeführer und Amtsleiter im berüchtigten Reichssicherheitshauptamt von Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler. (Letzterer kommt übrigens auch in Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes vor, deutsch erschienen unter dem Titel Die Wohlgesinnten.) Dieser Clique gelang es in der Nachkriegszeit sogar, Augsteins Spiegel als Medium für antisemitische und den Faschismus exkulpierende Artikel zu nutzen, wie erst jüngst Peter-Ferdinand Koch in einer verdienstvollen Monographie noch einmal in allen für das Hamburger Magazin nicht eben schmeichelhaften Details nachgewiesen hat. Ich will damit nur sagen, dass die 190 Jahre adoptierte Verlagsgeschichte offenbar mehr hergeben als die nobel schimmernde Patina einer nicht weiter hinterfragten „Tradition“. Es stünde dem Lilienfeld-Verlag gut zu Gesicht, wenn er diesen Stier bei den Hörnern packte und einen investigativen Historiker beauftragte, die Geschichte des Darmstädter Verlags C. W. Leske einmal bis in die letzten finsteren Falten auszuleuchten. Vielleicht gelingt das ja bis zur 200-Jahr-Feier?

[die PARIS REVIEW Interviews – 01. A. d. Engl. v. Alexandra Steffes, Judith Steffes u. Henning Hoff. London / Berlin: Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag, 2011. – ISBN 978-3-942377-01-0. – 19,90 €.]

Warum ich? Warum nicht du?

Monday, 30. May 2011

Und warum gerade heute? Warum stehen in Online-Tagebüchern (Weblogs) oben auf der ersten Seite die jüngsten, in Print-Tagebüchern dort hingegen die ältesten Einträge? Warum werden Einträge in Weblogs, die älter als eine Woche sind, so gut wie niemals mehr gelesen und dennoch für alle Zeiten aufbewahrt?

Warum gibt es eine Vergangenheit? Warum hat der Mensch ein Gedächtnis? Warum bewahrt man Dinge auf, die man nicht ständig im Gebrauch hat? Warum hängt man sich für viele Jahre Bilder an die Stubenwand, die man nach wenigen Tagen nicht mehr ansieht? Warum erzählt man neuen Freunden irgendwann einmal die Lebensgeschichte? Warum manchen alten Freunden nie? Warum kann man allerlei unangenehme Erinnerungen nicht einfach bzw. einfach nicht auslöschen?

Warum fragt er? Warum fragt sie nicht? Warum fragt er sich manchmal, warum er ihr diese oder jene Frage nicht gestellt hat? Warum meint sie mindestens einmal im Leben, dass sie ihm in einem bestimmten Augenblick bloß die eine entscheidende Frage hätte stellen müssen, und ihr restliches Leben wäre völlig anders verlaufen? Warum kommst du nicht darüber hinweg, dass du vor ewigen Zeiten auf eine einfache Frage keine Antwort von mir erhalten hast? Warum weiß ich jetzt die Antwort nicht mehr?

Warum setzen wir uns nicht einfach hin und schreiben unser ganzes bisheriges Leben auf, alles was wichtig war, wichtig schien oder wichtig hätte sein können? Warum lassen wir uns immer wieder von diesem Plan abbringen, sei es durch Zweifel an der Bedeutung unseres Lebens, sei es durch Skrupel gegenüber unseren Weggefährten, wenn sie sich in unserer Erinnerung nicht wiedererkennen oder gar wiedererkennen, sei ’s aus Angst, unser Leben als eine einzige Verfehlung zu enttarnen? Warum erkennen wir nicht, dass es keinen Sinn hat, auf ein zweites Leben zu warten, das die Beschreibung eher wert wäre?

Warum finde ich nicht die Quadratur des Kreises, eine neue Struktur im Rahmen des Weblogs, die es möglich macht, die Leserin zu verführen, mich gleichzeitig als den Gewordenen des heutigen Tages und den Werdenden der vergangenen fünf Jahrzehnte zu erleben?

Ich, der Omega-Blogger

Sunday, 29. May 2011

Als ich noch bei Westropolis bloggte, ließ ich mich vorübergehend von der unmittelbaren Resonanz auf meine Postings mitreißen. Ich schielte zu den Kollegen hinüber und freute mich, wenn ich mehr Kommentare einsammeln konnte als sie. Angeblich waren die Zugriffszahlen zu den einzelnen Beiträgen oder der Trafficanteil pro Autor nicht ermittelbar, weshalb man sich nur an der Zahl der Kommentare orientieren konnte, wenn man wissen wollte, wie man ankam. Ich ertappte mich dabei, meine Inhalte so zu modulieren und meine Thesen so zuzuspitzen, dass ich stärkere Resonanz erwarten durfte. Außerdem griff ich selbst gezielt in die Diskussion ein, indem ich auf einzelne Kommetare mit Zuspruch oder Widerspruch entgegnete. Das machte eine Weile sehr viel Spaß, schmeichelte meiner Eitelkeit und führte mich in Versuchung, nicht mehr um eine Sache, sondern nur noch um Aufmerksamkeit zu kämpfen. Der Spaß ließ nach, als sich einige Trolle und dumpfe Nervensägen auf mich fixierten. Zudem stellte ich fest, dass sich mein vermeintlich großes Publikum bei genauerer Betrachtung auf vielleicht zehn, zwölf Stammleser und -kommentierer reduzieren ließ, zuzüglich regelmäßig auf- und wieder abtauchender Eintagsfliegen. Diese Einsicht war anfangs schmerzvoll, erleichterte aber wenig später den Ausstieg aus diesem Kasperlthater mit Suchtgefahr.

Seither bin ich immun gegen die Versuchung, mein Selbstwertgefühl als Blogger aus den Zugriffzahlen oder der Resonanz in den Kommentaren herzuleiten. Ich habe meine festen Qualitätsstandards für meine Texte und Bilder. Ich strebe an, täglich einen meiner Fünfabsätzer zu veröffentlichen. Ich bemühe mich nach Kräften, den großen runden Rahmen des Gesamtvorhabens Kleine Schritte weg von der Mitte nicht aus den Augen zu verlieren, wenngleich das selbst regelmäßige Leser vorläufig kaum werden nachvollziehen können. Und ansonsten kümmere ich mich nicht darum, die Zahl meiner Leser, die Qualität meiner Leser oder die Beteiligung meiner Leser zu maximieren. Hätte ich statt 25 regelmäßigen Besuchern 2.500 Dauergäste zu verzeichnen, dann fiele es mir vermutlich leichter, bei Verlagen Rezensionsexemplare zu erbetteln. Das wäre aber auch der einzige Vorteil, den mir diese Popularität brächte. Die Vorstellung scheint mir wenig verlockend, dass auf jeden meiner Beiträge 25 Kommentare eingehen: ein Drittel unangebrachte Komplimente, ein Drittel unbegründete Widersprüche, ein Drittel vermeidbare Missverständnisse – und nur der verbleibende Rest von gerade mal einem Kommentar wäre eine sinnvolle Reaktion auf meinen Text. Und ich müsste mich tagtäglich mit dieser Dampfplauderei herumschlagen. Da ziehe ich die himmlische Ruhe unbedingt vor, die hier herrscht.

Peter Zschunke, Chef-Korrespondent für Online-Themen bei der Deutschen Presse-Agentur in Berlin, hat „Expertentipps“ zu der offenbar meine Kollegen bedrängenden Frage gesammelt: Wie werden Sie zum Alpha-Blogger (vgl. SPON v. 28. Mai 2011). Blog-Experte Oliver Gassner aus Steißlingen nennt folgende Grundvoraussetzungen fürs Bloggen: „Man sollte zu seiner Meinung stehen, etwas zu sagen haben und der Ansicht sein, dass man die Kommentierung von Politik und Alltag, Kultur und Leben nicht zwingend den Medien überlassen muss.“ Das ist eine ziemlich genaue Beschreibung des deutschen Stammtisch-Polemikers, dem es zur Verbreitung seiner Ansichten über den Dunstkreis seiner Stammkneipe hinaus bloß an den nötigen technischen Kenntnissen gebricht. (Passenderweise liefert Zschunke in den Absätzen 4 bis 8 seines Artikels für diese Klientel einen Schnellkurs zum Einrichten eines Weblogs.) Schockwellenreiter Jörg Kantel bietet alternativ diese fünf Befähigungsnachweise des erfolgreichen Bloggers an: „Spaß am Schreiben, Spaß an der Recherche, eine Message, ein dickes Fell und einen unstillbaren Veröffentlichkeitsdrang.“ Besser könnte man mir nicht erklären, warum ich ein dermaßen erfolgloser Blogger bin. Das Schreiben bereitet mir unsägliche Mühen, von den Recherchen ganz zu schweigen; mit einer Message kann ich nicht dienen, allenfalls mit der eindringlichen Warnung vor frohen Botschaften aller Art; meine Dünnhäutigkeit habe ich bisher immer als besonderes Qualifikationsmerkmal für meine Tätigkeit angesehen; und einen Veröffentlichungsdrang um seiner selbst willen würde ich mir als schieren Exhibitionsimus ankreiden und als Motiv für diese Tätigkeit nicht durchgehen lassen.

Gehe ich der Reihe nach die Liste der 25 beliebtesten Blog-Themen durch – Internet, Musik, Politik, Blog, Web 2.0, News, Fotografie, Medien, Design, Technik, Webdesign, Sport, Leben, Gesellschaft, SEO, Marketing, Computer, WordPress, Lifestyle, Kultur, Apple, Kunst, Software, Berlin, iPhone – dann finde ich bestätigt, was ich ohnehin schon wusste: Ich bin ein extraordinary eccentric. Meine bevorzugten Themen wie Literatur, Philosophie, Alltag, Psychologie, Geschichte, Gesellschaft, Kritik, Selbstanalyse, Sprache oder Zufall kommen überhaupt nicht vor.

Was muss ich tun, um der wundervollen Einsamkeit auf meinem Robinsonblog ein Ende zu bereiten und endlich lukrativen Massentraffic zu generieren? Christiane Schulzki-Haddouti von KoopTech weiß Rat: „Das Blog sollte eine klare inhaltliche Ausrichtung haben und für die gedachte Zielgruppe relevante Themen zuverlässig aufgreifen.“ Meine Zielgruppe sind alle Menschen. Mein Thema ist die Zukunft der Menschheit. Ich zweifle allerdings mittlerweile daran, ob dieses Thema für meine stark an Lifestyle oder Suchmaschinenoptimierung interessierte Zielgruppe relevant ist. Zudem sei es gut, über Twitter oder Facebook immer wieder auf die eigenen Beiträge hinzuweisen und sich dort an Diskussionen zu beteiligen. Die berühmten „sozialen Netzwerke“ also, denen ich mich konsequent verweigere. Wenn ich schon „Netzwerk“ höre! Ich bin doch kein Fisch! Und ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt noch etwas anderes werden will, als ich nun mal bin – ein Alpha-Blogger jedenfalls nicht!

Meine Migräne und ich

Saturday, 28. May 2011

Welch große Bereicherung für mein Schreiben bedeutet es doch, dass hier in meinem Blog ohne mein Zutun immer ein tagesaktuelles Gesamtregister aller meiner Hinterlassenschaften erstellt wird! Ich gebe das Stichwort meines heutigen Beitrags ins Suchfester ein, und schon weiß ich, dass ich bisher an vier Stellen über Migräne geschrieben habe. Im Juni 2008 notierte ich, wie sehr mich die hässliche Tristesse der städtischen Umwelt doch bisweilen peinige, und dass mein armer Kopf dann gelegentlich keinen anderen Ausweg finde als die Flucht in einen Migräneanfall. Im Dezember 2008 bekannte ich mich zu den beiden körperlichen Beeinträchtigungen, die mich seit frühester Kindheit bis heute begleiten: ein zu Migräneattacken neigender Kopf und zwei deformierte Füße. Damals frohlockte ich, das erste dieser Leiden habe mir nach den maskulinen Wechseljahren offenbar endgültig Lebewohl gesagt. Zu früh gefreut! Mittlerweile habe ich eine neue Serie von Anfällen hinter mich gebracht. Im März 2010 nannte ich als einen von tausend Fällen, in denen mich meine Migräne daran hinderte, Pläne in die Tat umzusetzen, den verpassten Besuch einer Diskussionsveranstaltung mit Timm Ulrichs im Essener Folkwangmuseum. Und schließlich nannte ich den heftigsten Migräneschmerz, den ich je ertragen musste, neben einem Ohrenschmerz der Kindheit und dem Knochenschmerz nach der Operation meines rechten Fußes, in meiner Antwort auf eine der letzten Fragen von Max Frisch im Juli 2010 als Beispiel für einen Schmerz, den auszuhalten ich immerhin dem Tod vorgezogen hatte.

Welch große Bereicherung war doch für mich, und ist noch immer für mich die regelmäßige Erfahrung des Schmerzes, in seiner zivilisierten, domestizierten Form, als Migräne! Ja, ich weiß, das bedarf einer Erklärung.

Wer wünscht sich schon, von Schmerzen heimgesucht zu werden? Wann immer sich ein neuer Anfall bei mir angekündigt hat, im Übergang von einem zunächst noch kaum wahrgenommenen Kribbeln irgendwo zwischen Stirn und Hinterhaupt und der Gewissheit, dass ich nun wieder einmal das Steuer über mein Selbstempfinden werde abgeben müssen an eine fremde Macht namens Schmerz, stellte sich ein Gefühlschaos aus Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit und Angst bei mir ein. Einerseits weiß ich zwar, was kommt; andererseits ist das Ereignis durch diese Vertrautheit kein wenig erträglicher. Wenn ich das Glück habe, mich jeglicher Verantwortung gegenüber der Außenwelt für die Dauer des Anfalls entziehen zu können, konkret: wenn ich mich in ein stilles, kühles, abgedunkeltes Zimmer zurückziehen kann und Störungen jeder Art nicht einmal mit geringer Wahrscheinlichkeit befürchten muss, dann kann ich mich immerhin dem Schmerz stellen, ihm meine ganze Aufmerksamkeit schenken, ihn in Schach halten. Das mildert ihn zwar nicht, aber ich wahre ihm gegenüber immerhin noch einen Rest von Würde. Wenn ich aber, um das andere Extrem auszumalen, mit einer verantwortungsvollen Verpflichtung mitten unter Menschen geworfen bin, mir nichts anmerken lassen darf, kein Ende dieser Höllenveranstaltung abzusehen ist, dazu noch ein Gewitter in der Luft liegt, schwüle Luft und schlechte Gerüche, schrille Klänge und primitives Gelächter, wenn von verachtenswerten Individuen dumme Fragen an mich gerichtet werden – dann erzeugt das ohnehin schon unerträgliche Ereignis in meinem migränekranken Kopf ein Schmerzinferno, das mit Worten nicht zu beschreiben ist.

Und genau diese Unbeschreiblichkeit ist die Erfahrung, die mein Inderweltsein um eine unentbehrliche Dimension erweitert hat. Erst durch sie erkannte ich, dass das Beschreibenkönnen mein Dispositiv für alle Fälle ist. Und wo dieses Können seine Grenze findet, bin ich ein anderer, das Nicht-Ich, zum Tier entmachtet.

Gehupft wie gesprungen sind diese Zustände zueinander. Das man diesen schmerzvolle Krankheit nennt und jenen gesundes Wohlbefinden, ist eine verständliche Wertung. Wer hat schon gern Schmerzen. Und doch gibt es eine absolute Gleichwertigkeit zwischen Migräne und Migränefreiheit, was den Blick von hier nach dort und den von dort nach hier betrifft. Wenn ich Migräne habe, kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie es ohne diesen Schmerz ist, denn ich bin überzeugt, dass die Vorstellung von der Schmerzfreiheit diese sogleich herbeiführen müsste, was meiner Imagination hingegen niemals gelingt. Aber warum nicht? Schließlich spielt sich doch beides, der Schmerz und die Vorstellung von Schmerzfreiheit, am gleichen Ort ab: in meinem Kopf. – Und wenn ich frei von Migräneschmerzen bin, verstehe ich nicht, wie ich dort überhaupt jemals hineingeraten konnte. Und noch weniger verstehe ich, dass ich diesen Schmerz im Kopf nicht mit größerer Gelassenheit ertragen kann, da ich doch tausende Male erlebt habe, dass der Schmerz von allein weicht, nachdem er mich kaum jemals länger als einen Tag behelligt hat. Für die Grenzen zwischen wachem Normalbewusstsein und Zuständen wie Traum, Wahn oder Rausch führte der amerikanische Psychologe Roland Fischer den Terminus state boundaries ein. Ich finde sein Schema eines halbkreisförmigen Wahrnehmungs-Halluzinations- bzw. Wahrnehmungs-Meditations-Kontinuums sehr plausibel. Allerdings störte mich immer schon, dass die doch so existenzielle menschliche Erfahrung von Schmerz in diesem Modell keinen Platz fand. (Vielleicht sollte Fischers Modell um eine dritte Dimension ergänzt, also zur Halbkugel erweitert werden?)

Schröder erzählt: Funkloch

Friday, 27. May 2011

Heute war ’s endlich mal wieder so weit. Die neue Folge der Schwarzen Serie von Schröder erzählt lag vor der Tür. Wenn das passiert, lasse ich augenblicklich alles stehen und liegen, suche mir ein ruhiges Plätzchen und versinke für eine gute Stunde in den Untiefen dieser endlosen Erzählung von Neid und Stolz, Armen und Reichen, Politik und Business, Verrat und Liebesglück, Heimtücke und Heimathass, Dumpfbackigkeit und Grandezza, Geilheit und Spießertum, Neurosen und Almosen, Protzerei und Pfennigfuchserei, verkannten Genies und verbrannten Talenten, Drogensucht und Hodenkrebs – obwohl, ich weiß nicht, ob ein solches Unterkörperkarzinom überhaupt vorkommt. Mir ist aber so. Ein Sachregister gibt es ja bisher noch nicht, bloß eine Synopsis samt Personenregister der ersten 40 Hefte, erschienen vor nun auch schon wieder einem Dezennium als Treuegabe für unverdrossene Abonnenten wie mich zum Abschluss der Weißen Serie.

Jörg Schröder und Barbara Kalender sind als kreatives Paar, das kann man wohl sagen, eine seltene Ausnahmeerscheinung in der Literaturgeschichte. Es gibt ja durchaus etliche schreibende Paare, die sich gegenseitig angeregt haben mögen, oder durch Konkrrenz angespornt. Jane und Paul Bowles fallen mir ein, Elsa Triolet und Louis Aragon, Ernst Weiss und Rahel Sanzara, Emmy Hennings und Hugo Ball, aus neuerer Zeit Siri Hustvedt und Paul Auster. Aber in allen diesen Fällen bleibt das Schreiben dennoch ein monologisches Medium, führt jede Hälfte des Paares ihren eigenen Stift. Beim Tandem Schröder / Kalender ist das anders.

Ich hatte das Glück, vor vielen Jahren einmal Zeuge einer solchen Erzähl-Session zu werden. Damals setzten mir Jörg Schröder und Barbara Kalender in ihrem Haus in Herbstein-Schlechtenwege am Vogelsberg haarklein auseinander, wie es zu jener einstweiligen Verfügung des Verlags der Autoren als Sachwalter der Rechte am Werk von Rainer Werner Faßbinder gegen den März-Verlag gekommen war, weil Schröder sich erdreistete, bei einer Neuauflage des Romans von Gerhard Zwerenz, Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond, im Anhang erstmals das gleichnamige Drehbuch zu veröffentlichen, das der Autor gemeinsam mit Faßbinder geschrieben hatte. Jörg Schröder umging die EV, indem er kurzerhand einen April-April-Verlag gründete und das fertig gedruckte Buch dort mit neuem Impressum als „Einmalige Notausgabe“ erscheinen ließ. Ich hatte beide Kontrahenten, Schröder für März und Karlheinz Braun für den Verlag der Autoren, zu einer Podiumsdiskussion ins Essener Grillo-Theater eingeladen, dazu noch Gerhard Zwerenz als Moderator und zugleich Hauptbetroffenen – schließlich war es sein Buch, dem der Zugang zum Markt verwehrt worden war. Im letzten Augenblick sagte Braun ab. Ich war sehr enttäuscht – und erhielt zum Trost die Einladung nach Herbstein.

Ich weiß nicht, ob das Tape von dieser Session noch exisitiert. Bisher wurde der ziemlich interessante und in mehrfacher Hinsicht für die politische Kultur in den 1980er-Jahren aufschlussreiche Fall in Schröder erzählt noch nicht aufgearbeitet. Die Arbeitsweise, die ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte, war aber mindestens schon eine reife Vorstufe jener dialogischen Technik, die Barbara Kalender und Jörg Schröder seither zur Vollendung gebracht haben. Auf dem niedrigen Couchtisch lagen ausgebreitet wie die Karten einer Patience Zettel mit stichwortgebenden Notizen. Sie gaben eine Grundstruktur des Erzählgangs vor, ließen aber dabei noch genug Spielraum für Abschweifungen, Umwege, spontane Kurswechsel. Ich durfte Fragen stellen, wenn ich etwas nicht verstand. Und Barbara Kalender korrigierte oder ergänzte laufend, wenn sie Ereignisse anders in Erinnerung hatte oder ihre Bedeutung anders interpretierte. (Was ich naturgemäß nicht mitbekommen habe, sondern nur aus den Erzählungen der beiden kenne, ist der Vorgang der Verschriftlichung, bei dem Barbara Kalender einen sehr entscheidenden Anteil hat.)

Wenn ich heute die aktuelle Folge genieße, die Funkloch heißt, auf dem Titelblatt Friedrich den Großen mit seinem Rappen zeigt und rechts oben auf den Textseiten wie immer mit einer Vignette geschmückt ist, diesmal ein explodierendes Bömbchen im Warndreieck – dann genieße ich jede witzige Wortwahl und stelle mir dabei vor, wie das Paar den Text Satz für Satz durchgesprochen hat, immer unzufrieden, wenn er zu eingängig durch die Köpfe flutscht, nach überraschenden, hintersinnigen, doppeldeutigen Alternativen sucht und sie auch immer wieder findet. Was dabei herauskommt ist ein großes Werk der Inspiration, aber sicher ebensosehr hartnäckige Fleißarbeit. Ich lese mit Spannung, neugierig nicht nur auf die Auflösung von Preußenkönig und Funkloch, sondern auf jeden neuen Abschweif und darauf, wie sie schließlich diesmal die Kurve wieder kriegen. Manchmal stelle ich mir vor: Bekäme ich die tödliche ärztliche Prognose, noch ein halbes Jahr und dann ist Schluss, ich würde wohl das ganze Mammutwerk der (bislang) 56 Hefte noch einmal von Anfang bis Ende lesen. Aber da fällt mir gerade ein: Selbst diese Idee taucht ja irgendwo in Schröder erzählt schon auf. Ein reicher Abonnent gönnt sich auf seinem Sterbelager diesen Genuss, wenn ich mich richtig erinnere. Egal! Ich sterbe vermutlich ohnehin von jetzt auf gleich.

Heinrich Funke: Das Testament (XV)

Thursday, 26. May 2011

Nachdem diese Serie vorübergehend in eine Krise geraten war, setze ich sie heute mit frischem Elan fort.

Der Künstler bedauerte gelegentlich, dass ich im Verhältnis wenig zu seinen Bildern zu sagen habe und mich stattdessen hauptsächlich mit den darunter stehenden Sentenzen, Sprüchen, Zitaten, Denkwürdigkeiten befasse. Als Vielleser und Manchesschreiber fühle ich mich tatsächlich mit Buchstaben ohne Bilder wohler als mit bebilderten Buchstaben. Und wenn ich doch einmal Bilderlesebüchern begegne, dann prüfe ich eher die Bilder auf Stimmigkeit zu den Worten und Sätzen, als dass ich die Wörter und Sätze als unpassende Bildunterschriften empfände. (Vielleicht ist es manchmal auch anders, speziell bei Fotografien in Zeitungen; aber um solche geht es hier ja nicht.)

Bei vielen von Heinrich Funkes Bildern stutze ich und frage mich: Was hat nun dieser Satz unter jenem Bild verloren? Wo besteht da ein Zusammenhang? Im heutigen Beispiel fällt es relativ leicht, eine Erklärung zu finden, wenn man die große Kugel, die der maskierte Mensch vor seinen dicken Bauch hält, als Goldklumpen deutet, und ebenso die weiteren drei Klumpen, die vor ihm liegen, am unteren Bildrand, als massive und schwere Batzen aus diesem Edelmetall identifiziert. Aber schon bin ich wieder vom Text ausgegangen. Es ist ja mehr als fraglich, ob ich zu dieser Interpretation gelangt wäre, wenn das Bild keine Unterschrift trüge. Schließlich könnten das ja auch gelbe Kürbisse sein. Oder gelbe Medizinbälle. Notfalls auch gelbe Luftballons, obwohl die üblicherweise etwas kleiner sind. Aber hier kann man einer Täuschung aufgesessen sein, wenn sich nämlich hinter der Maske der Person ein kleines Kind verbirgt. Die schwarzgrünen pflanzenfaserartigen Gebilde im Hintergrund helfen auch nicht weiter, auf dem Weg zu einer abschließenden Deutung der Bildinhalte. Die Person ist dick. Wieder bin ich versucht, eingedenk des Untertitels, diese Beleibtheit als Folge von Wohlgenährtheit zu erklären und diese wiederum mit Wohlhabenheit in Verbindung zu bringen. Dabei wissen wir, dass in unserer Wohlstandsgesellschaft Fettleibigkeit ja viel eher ein Ergebnis von billiger Fehlernährung und insofern in den ärmeren Gesellschaftsschichten weiter verbreitet ist, als bei den Reichen.

Bei genauerer Betrachtung der Person und einer kritischeren Bewertung ihrer Akzidenzien zweifle ich zudem: Ist die Person wirklich dick? Oder erwecken bloß die bauschigen Ärmel und der lockere Fall ihres violetten Gewandes im Verein mit der mondgesichtigen Maske diesen Eindruck? Ihre linke, vom Betrachter aus gesehen rechte Hand ist jedenfalls feingliedrig; und wenn die Finger der anderen Hand etwas plumper erschienen, dann liegt das an ihrer perspektivischen Verkürzung.

Wir haben es also mit einem Bild der Täuschung, Maskierung, Irreführung, Camouflage zu tun. Also müssen wir auch nicht unterstellen, dass der Satz „Wohlstand ist sinntötend“ allen Ernstes behaupten will, was er sagt. Es gibt nahezu keine generalisierenden Aussagen über individuelle Menschen. Dass bei manchen Menschen Wohlhabenheit, zumal anstrengunslos erworbene, zu Leere und Lebensunlust führen kann, ist eine triviale Vorstellung – die nach meinem Eindruck hauptsächlich dazu taugen soll, den anstrengend beschäftigten Armen Trost zu spenden. Insofern würde mich nicht wundern, wenn sich hinter der grimmigen Maske des Wohlhabenden ein lachendes Gesicht verbirgt, das frohe Antlitz eines Menschen, der sich seines Reichtums erfreuen kann, indem er ihn sinnvoll nutzt.

Suro Art 1972

Wednesday, 25. May 2011

Vorgestern saßen wir mal wieder mit meinem ältesten Freund und seiner jüngsten Freundin beisammen, nebenbei bemerkt in einem Restaurant, für das ich ganz gegen meine Gewohnheit einmal Reklame machen möchte, denn es hat mir dort – im Kulturforum Steele in der Dreiringstraße – nun schon zum wiederholten Male ganz außergewöhnlich gut geschmeckt. (Zander.)

Dass ich immer wieder gern hier einkehre, hat seinen Grund auch in der außergewöhnlichen Atmosphäre des alten Ratssaals im ehemaligen Bürgermeisterhaus, denn dort wird man tatsächlich nicht mit Hintergrundmusik dauerbeschallt. Wo gibt es das noch? Dann stehen die hohen Wände kreativen Menschen zur Präsentation ihrer Bilder zur Verfügung, nicht unbedingt etablierte Künstler sind das, aber es berührt meist doch durch eine stille Leidenschaftlichkeit, was man dort zu sehen bekommt, und rührt gar manchmal durch einen verzweifelten Ehrgeiz. Und schließlich ist die Bedienung bezaubernd.

Dieses Raumklima fördert meine Lust am Gespräch zuverlässig ungemein. Und selbst das Zuhören, nicht unbedingt mein größtes Talent, fällt mir hier leichter als anderswo. Es ergab sich, dass ich nun schon zum wiederholten Male den Eindruck gewann, hier dem einzigen regelmäßigen Leser meines Blogs gegenüberzusitzen. Mein Freund, der nicht nur mein ältester, sondern auch mein bester ist, wie mir wieder einmal recht deutlich wurde, tippt bei solchen Gelegenheiten dies und jenes zart an, was ich in jeweils jüngster Zeit hier von mir gegeben habe. Dann zucke ich zusammen, denn ich weiß, wie mich selbst die blassesten Andeutungen einer Kritik aus der Fassung bringen und oft tagelang beschäftigen können. Blitzschnell überwinde ich meine Neugier und lenke dann ab, suche mit einem Überraschungscoup, einer kecken Frage oder einem provozierenden Witz das Thema zu wechseln. Diesmal jedoch kam ich zu spät – und schon war es passiert.

Das seien ja schon merkwürdige Typen, die ich da immer wieder kennen lernen würde. (Gemeint war damit offenbar Noxo.) Aber das mit den Fotos, mit der Anarchie, das habe er nicht verstanden.

Ich murmelte mir verschämt etwas in den Bart, er möge jetzt aber doch bitte nicht darauf bestehen, dass ich meine eigenen Texte, gar meine Ohne-Worte-Beiträge interpretiere. Aber das Kind war in den Brunnen gefallen und strampelt dort noch immer im faulen Schlick. Soll ich bekennen, dass es mir tatsächlich nicht bei allen Postings darum zu tun ist, verstanden zu werden? Noch schlimmer, dass ich manche meiner hier abgelegten Lebens- und Sterbensäußerungen selbst nicht begreife? Nein, das darf man nicht von mir verlangen. Und mein Freund am allerwenigsten. Das Foto oben zeigt ihn, wie er vor knapp 40 Jahren eine Reihe Zuckerwürfel im Abstand von exakt 10 Zentimetern quer über den Süthers Garten in Essen-Rüttenscheid legt. Sein Gesicht verbarg er dabei hinter einer Gasmaske. Für dieses Happening, das wir Suro Art Aktion No. 2 nannten, gab es auch keine vernünftige Erklärung. Es stimmte aber, in einem außerrationalen Sinn. Diesem Sinn bin ich treu geblieben. Und jetzt pssst!

Ghanas geheime Abenteuer

Tuesday, 24. May 2011

Wieder mal ein wertvoller Hinweis von Nerdcore. Es fehlt nicht mehr viel und ich setze den Link auf meine Blogroll. (Aber zuerst muss ich mal den Link auf Glumm begründen.)

Im Chicago Cultural Center wird zurzeit eine extraordinäre Sammlung von handgemalten Filmplakaten aus Ghana gezeigt – im doppelten Sinn, denn nicht nur die Zahl der Exponate, sondern auch ihre Motivik sprengt alle Grenzen des Gewöhnlichen.

Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, angesichts der Überwältigung der althergebrachten Vorstellungswelten des Landes durch fremde Phantasmen aus aller Herren Ländern – und zugleich des trotzigen Festhaltens an offenbar sehr resistenten Lieblingsbildern aus eigenem Bestand, wie den aus menschlichen Körpern sich windenden, mit ihnen verbundenen oder in sie eindringenden Schlangen.

Mich persönlich irritieren besonders die fernöstlichen Ninjaposter in der Brechung afrikanischer Optik, wenn eine Exotik noch durch eine weitere potenziert wird und seltsamerweise hierdurch nicht weiter steigerbar ist, sondern eher neutalisiert wird.

Der Gesamteindruck überrascht hingegen nicht. Es war zu erwarten, dass in diesem Erdteil die „niederen Instinkte“ auch nicht nach anderen Genüssen und wohligen Schrecknissen auf der Leinwand lechzen als in Europa oder Nordamerika. Das kann nur jemanden enttäuschen, der hier eine überzivilisierte Dekadenz als Grund des vermeintlichen Übels annahm und den „unschuldigen Wilden“ idealisierte, der von sich aus auf solch „perverse Bilder“ gar nicht verfiele. Insofern wirkt der Anblick der Horrorplakate auf mich sehr beruhigend, geradezu versöhnlich. Liebliches Afrika!

Außerfahrplanmäßig

Monday, 23. May 2011

Ich führerscheinloser Fußkranker bin infolgedessen gewohnheitsmäßiger Vielnutzer von öffentlichen Omnibussen und Straßenbahnen. Wie jede andere Fortbewegungsweise, und wie vielleicht überhaupt alle Handlungsoptionen im Leben hat auch diese ihre Vorzüge und Nachteile. Heute widerfuhr mir ein Ereignis, das mich noch nach Stunden schwanken lässt, ob ich es als Ärgernis oder Glücksmoment werten soll.

Als gebürtigen Rüttenscheider mit Wohnsitz in Rellinghausen zieht es mich zum Einkaufen alle paar Tage an meinen Herkunftsort, den ich wahlweise „untenrum“ mit der Straßenbahnlinie 105 über den Moltkeplatz oder „obenrum“ mit der Buslinie 142 über die Martinstraße erreichen kann. Letztere Variante bevorzuge ich, weil sie zeitsparender ist und durchs Grüne führt. Zudem fährt der Bus fast vor unserer Haustür ab, während ich zur Tramhaltestelle fünf Minuten laufen muss. Heute hatte ich meine paar Einkäufe auf der Rü schnell erledigt und stand frühzeitig an der Bushaltestelle Martinstraße, von der außer dem 142er auch der 160er in Richtung Stoppenberg abfährt. Hier wurde vor einem knappen Jahr versuchsweise eine digitale Anzeigetafel montiert, auf der die aktuellen Abfahrtzeiten der jeweils nächsten Busse abzulesen sind. Diese Zeiten kann der Fahrgast zwar auch den an allen Haltestellen aushängenden Plänen entnehmen, aber vermutlich soll diese elektronische Anzeige es ermöglichen, auch über gelegentliche Verspätungen zu informieren. Heute wurde ich nun Zeuge, wie zwei Elektriker unter der Anzeigetafel eine Leiter aufklappten, hinaufstiegen, einen Kasten öffneten und sich an den labyrinthischen Verdrahtungen mit Schraubendrehern zu schaffen machten. Ihren großen Werkstattwagen hatten sie auf der Bushaltespur geparkt, sodass diese nicht mehr in voller länge frei war. Nun näherte sich „mein“ 142er und hielt in einigem Abstand hinter dem Werkstattwagen, was mir sofort plausibel war, denn um an der Kreuzing plangemäß rechts abbiegen zu können, musste der 142er sich noch einigen Spielraum zum Manövrieren lassen. Ich stieg ein und setzte mich gleich auf den ersten Platz rechts neben dem Fahrer, da der von mir sonst bevorzugte Platz links, direkt hinter dem Fahrer, von einer Dame mittleren Alters besetzt war. Nachdem offenbar alle wartenden Fahrgäste eingestiegen waren, lenkte der Fahrer sein Gefährt an dem parkenden Werkstattwagen links vorbei auf die rechte der beiden „normalen“ Fahrspuren. Die Ampel stand noch auf Rot, musste aber gleich auf Grün schalten. – Nun ereignete sich etwas Ungewöhnliches.

Von hinten aus dem Bus machte sich lautstark ein junger Mann bemerkbar, der den Busfahrer aufforderte, gefälligst noch zu warten. Hinter uns nähere sich der 160er, vielleicht wollten ja Fahrgäste aus diesem Bus in „unseren“ 142er umsteigen? Und außerdem sei der Fahrer sowieso wieder mal anderthalb Minuten zu früh abgefahren. – Ganz abgesehen davon, dass es jetzt definitiv zu spät war, um die Forderungen des Mannes im Hintergrund zu erfüllen, selbst wenn sie berechtigt gewesen wären, machte nun der Busfahrer seinerseits mit vollem Recht darauf aufmerksam, dass es wegen des außerplanmäßig parkenden Werkstattwagens für den 160er gar nicht möglich gewesen wäre, in die Bushaltespur einzufahren, solange sie noch von unserem 142er besetzt war. Und übrigens sei er auch nicht 90 Sekunden zu früh, sondern bloß 30 Sekunden zu früh abgefahren. Der Fahrgast möge sich also mäßigen und im übrigen das Busfahren ihm, dem Busfahrer überlassen. Seine Argumente trug der Fahrer in wohltuendem Unterschied zu dem Beschwerdeführer sehr sachlich vor. Dieser musste nun allerdings erst recht auf seinem Standpunkt beharren und stimmte ein langes Lamento darüber an, wie ärgerlich es doch immer wieder sei, dass Busse und Bahnen sich nicht an die Fahrpläne hielten, die Fahrer offenbar gar nicht schnell genug nach Hause kommen könnten, es insofern ja kein Wunder wäre, dass die öffentlichen Verkehrsmittel einen so schlechten Ruf hätten – und überhaupt gehe die Uhr des Fahrers wohl eine Minute vor! Dem Gemurmel, das sich seitens einiger älterer Leute rings um diesen Querulanten erhob, war eine verhaltene Zustimmung zu entnehmen, aber von der feigen Sorte, die sich nicht wirklich Farbe zu bekennen traut, sondern ganz schnell wieder verstummt, wenn eine gegenteilige Meinung sich noch lauter und respektgebietender vernehmen lässt. Der Fahrer hatte übrigens offenbar beschlossen, dem Krakeeler kein Paroli mehr zu bieten und sich auf den Verkehr zu konzentrieren, was von großer Besonnenheit zeugte und mich vollends auf seine Seite brachte. – Da geschah die zweite Überraschung!

Völlig unvermittelt, aus dem sprichwörtlichen heiteren Himmel erhob die Dame mittleren Alters links neben mir ihre Stimme und trug nun mit flammender Leidenschaft ihr Anliegen und ihre Sicht der Dinge vor: „Jetzt reicht es! Bevor sie hier den Fahrer weiter belästigen, sollten Sie sich vielleicht zunächst einmal die Beförderungsbedingungen durchlesen. Dort heißt es nämlich, dass Fahrgäste zwei Minuten vor dem fahrplanmäßigen Abfahrttermin an den Haltestellen eintreffen sollen, da es nicht in allen Verkehrssituationen gewährleistet werden kann, dass die Fahrzeuge bis zur letzten Sekunde mit der Abfahrt warten. Ich bin selbst seit 18 Jahren mit einem Busfahrer verheiratet, der nach mancher Schicht nach Hause kommt und mit den Nerven völlig am Ende ist, wegen solch unverschämter Fahrgäste wie Sie einer sind! Ich bin mir sicher, dass ein einziger Tag hinter dem Steuer eines Busses oder einer Straßenbahn ausreichen würde, um Sie nie wieder auf den Gedanken kommen zu lassen, solch ein unbegründetes Urteil über die Tauglichkeit und Redlichkeit dieser Fahrer zu fällen, wie Sie es hier getan haben.“ Punktum.

Der Querulant murmelte noch bis zur nächsten Haltestelle vor sich hin, es sei ja klar, dass die Frau von solch einem Fahrer keine objektive Meinung haben könne, befangen wie sie sei. Er bleibe bei seinem Standpunkt. Dann stieg er aus. Die opportunistischen Claqueure aber hatten sich schon vorher geräuschlos in Luft aufgelöst.

Das Jüngste Gericht, gestern

Sunday, 22. May 2011

Das Programm von Family Radio war am Tag Null der abgelaufenen Menschheitsgeschichte kopflos. Die sonore Stimme seines 89-jährigen Gründers, des evangelikalen Propheten Harold Camping, war verstummt. Vom Band lief stattdessen Kirchenmusik, unterbrochen von allerlei Lebensweisheiten und frommen Sprüchen. Die Uhr tickte und das Ende kam näher und näher.

Beginnen sollte es nach der festen Überzeugung von Camping in Asien, wo die Sonne ja wesentlich früher auf- und wieder untergeht als in der Neuen Welt. Als nun aber in Tokio und Peking der 21. Mai 2011 sich dem Ende näherte, ohne dass auch nur die geringste seismische Erschütterung spürbar gewesen wäre, schließlich Mitternacht vorbei war und ein ruhiger 22. Mai 2011 anbrach, da musste wohl der mindestens einige zehntausend Menschen zählenden Anhängerschaft des Apokalyptikers dämmern, dass sie einem Irrtum aufgesessen war. Was mag zum Beispiel Robert Fitzpatrick (60) gedacht haben, der mehr als 140.000 US$ gespendet hatte, damit auf Plakaten in der U-Bahn und an Bushaltestellen vor dem Weltuntergang gewarnt werden konnte?

Gabrielle Saveri von der Agentur Reuters berichtete, dass niemand an die Tür kam, als ein Reporter Campings Haus in Alameda (Kalifornien) aufsuchte, um ihn zu den Ereignissen zu befragen, oder richtiger: zum Ausbleiben der Ereignisse. Sheila Dorn (65), die seit vierzig Jahren im Nachbarhaus der Campings wohnt und nichts Schlechtes über das alte Ehepaar sagen kann, macht sich etwas Sorgen wegen der großen Aufmerksamkeit, die diese Prophezeihung in den vergangenen Wochen im ganzen Land gefunden hat. In dieser verrückten Welt könne man ja nie wissen, zu welchen Dummheiten sich jemand hinreißen lasse, der vielleicht zu sehr auf die Vorhersage vertraut habe und sich nun schadlos halten wolle bei dem falschen Propheten.

Großen Spaß hatten offenbar atheistische Gruppen, die bei Zusammenkünften im ganzen Land das Ausbleiben des Weltuntergangs feierten, so etwa bei einer Versammlung der Freimaurer-Loge von Oakland, wobei die Redner es sich nicht verkneifen konnten, scherzhaft Bezug auf den Judgement Day zu nehmen.

Stuart Bechman von den American Atheists erinnerte aber auch daran, dass es bei dergleichen obskuranten Verkündigungen doch auch einen sehr ernsten Aspekt gebe, den man nicht aus dem Blick verlieren sollte. Eine Vielzahl törichter und unbegründeter Überzeugungen würden von Leuten wie Camping in Umlauf gebracht, die bei leichtgläubigen Menschen durchaus auch großen Schaden anrichten könnten.

Apocalypse Now

Sunday, 22. May 2011

(Wegen Weltuntergang am 21. Mai 2011 geschlossen.)

Das Jüngste Gericht, morgen

Friday, 20. May 2011

Wenn es nach Harold Camping geht, dem Chef des amerikanischen Radioprogramms Familiy Radio, dann ist dies hier leider schon mein letzter Blog-Beitrag, wenigstens in dieser Welt. Der 89-jährige US-Amerikaner hat nämlich den morgigen Samstag zum Judgement Day ausgerufen, also zum Tag des Jüngsten Gerichts. Seine evangelikale Anhängerschaft zieht seit Wochen mit Transparenten durch die Straßen des Landes und ruft zur inneren Einkehr auf, wo nötig auch zur Umkehr. Denn das Ende sei nah.

Camping hat nicht etwa zu tief ins Glas geschaut, sondern vielmehr ganz tief in The Holy Bible. Und dort hat er allerlei äußerst bemerkenswerte Zusammenhänge entdeckt, Zahlen mit magischer Bedeutung, den Schlüssel zu einer bezwingenden Verheißung eben. Heraus kam nach solchen ausgefuchsten numerologischen Kalkulationen just das morgige Datum, May 21, 2011. Also wieder einmal ein Weltuntergang, na schön. Ich bin drauf gefasst.

Merkwürdig finde ich aber doch, dass diese apokalyptischen Prophezeiungen immer unter dem vollmundigen Namen Welt-Untergang laufen. Als ginge mit der Menschheit gleich die Welt unter. Welche Anmaßung! Was nach einer kurzen Regentschaft von vielleicht gerade einmal 10.000 Jahren den Bach runter ginge, wäre doch gerade mal eine durchgeknallte und aus dem Ruder gelaufene Affenart, die sich für den Rest der Schöpfung hauptsächlich als epidemisch sich ausbreitender Schädling bemerkbar machte.

Und zweitens ist sonderbar, dass diese Vorhersagen einer neuen Sintflut sich immer und immer wieder auf einen einzigen Tag kaprizieren. Der Horizont dieser selbsternannten Hiobs und Kassandras ist offenbar nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ausgesprochen beschränkt. Sie nehmen nicht wahr, dass der Untergang nicht der Welt, aber doch der Menschheit seit vielen Jahren längst, und zwar ununterbrochen stattfindet.

Harold Camping beglaubigt seinen festen Glauben an die Richtigkeit seiner Berechnungen damit, dass er für die Zeit nach morgen keine Termine mehr gemacht hat. Ach, der alte Herr aus Colorado tut mir richtig leid. Wie wird er sich fühlen, wenn ihm der liebe Gott den Gefallen nicht tut und der Welt noch einen kleinen Aufschub gewährt? Aber vermutlich gibt es dann für ihn doch noch einen spekulativen Ausweg: Er muss sich irgendwo verrechnet haben!

Chaos chétif

Wednesday, 18. May 2011

(Ohne Worte.)

Anarchie désolé

Tuesday, 17. May 2011

(Ohne Worte.)

Noxos Cassetten

Monday, 16. May 2011

Ich lernte ihn neulich als Zuschauer bei einem Squash-Turnier in D. kennen. Noxo verkaufte vor der Halle selbstbespielte Musik-Cassetten. Ich hätte gar nicht gewusst, dass es für diese archaische Tonaufzeichnungs- und -wiedergabetechnik heute noch Trägermedien und Apparate im Handel gibt. (Vielleicht hat Noxo Restbestände aufgekauft. Ich muss ihn bei Gelegenheit mal fragen.) „Was ist denn da drauf?“ Ich war neugierig geworden, als ich entdeckte, dass jeder einzelnen Cassette liebevoll selbstgebastelte Booklets beigegeben waren, akribisch vollgetextet mit einer gestochen scharfen, winzig kleinen Handschrift. Und offensichtlich war jedes Stück ein Original! „Was da drauf ist? Och, ganz verschieden.“ So seine vage Antwort. „Musik, jede Menge Geräusche von drinnen und draußen, Hauptsache aber meine Gedanken. Also gesprochen natürlich, von mir persönlich.“ Er hatte tatsächlich eine bemerkenswerte Stimme. Wenn ich mal einen guten Tag habe, werde ich versuchen, sie zu beschreiben. Ich griff blindlings in den Koffer und zückte mein Portemonnaie. „Macht siebenfünfzig.“ Ich gab ihm zehn Euro und winkte ab. Eigentlich will ich mir meinen Hang zu solchen Spendabilitäten ja abgewöhnen, aber in diesem Fall konnte ich nicht widerstehen, so meine Begeisterung über den exzentrischen Einfall einer Ein-Mann-Tonproduktions-Fabrik zum Ausdruck zu bringen. Meine Großzügigkeit sollte sich lohnen, denn statt des Wechselgelds steckte mir Noxo nun seine Visitenkarte zu. Darauf war er selbst mit einem monströsen Kopfhörer unter einem Schild mit der Aufschrift Empfang abgebildet, dazu sein Name, seine E-Mail-Adresse und Handynummer. „Wenn es dir gefallen hat und du mehr willst.“ Dass er mich geduzt hatte, fiel mir erst viel später auf.

Ich musste eine Weile suchen, bis ich ganz hinten in unserer Abstellkammer einen alten Ghettoblaster gefunden hatte, mit dem ich Noxos Cassette abspielen konnte. Sie trägt den Titel Das Kalifat des Hohen Tapezierers und ist mit silbernem Glimmer beklebt. Zunächst hört man Straßenlärm, undeutliche Stimmen schwellen an und wieder ab. Wohl vorbeieilende Passanten. Gelegentlich vernimmt man Satzfragmente, dazu Schritte auf Straßenpflaster, mal schneller, mal langsamer. Dann ändert sich plötzlich die Geräuschkulisse, es wird ruhiger. Jemand begrüßt offenbar Noxo, dessen unverwechselbare Stimme mit einem etwas bemühten Scherz antwortet. Dann folgt die Musikeinlage einer englischsprachigen Sängerin, die mir unbekannt ist. Im Refrain ihres Songs ist von einem blue-coloured poncho die Rede.

Und dann geht ’s los! Noxo sagt: „Herzlich willkommen bei Noxos Nachtwachen. Wir verabschieden den zehnten und begrüßen den elften Dezember 2009. Alle Schlüssel sind ausgegeben, die Gäste schlummern in ihren Bettchen. Was liegt an?“ Und dann plaudert Noxo munter drauflos. Ich frage mich, ob er sich vorher Notizen gemacht hat, denn er arbeitet eine ganze Reihe von Fragen ab, die ihm offenbar am Tag durch den Kopf gegangen sind. Manchmal nimmt er auf aktuelle Ereignisse Bezug. Oft erwähnt er einen seiner sehr zahlreichen Freunde und Bekannten. Einmal erinnert er sich an seine Kindheit. Und immer wieder spinnt er sich auch einfach was zusammen; dann hört es sich so an, als spräche er im Halbschlaf. Die einzelnen Episoden einer Nachtwache sind durch Musikstücke voneinander getrennt. Einen speziellen Geschmack scheint Noxo nicht zu haben. Seine Auswahl reicht von gregorianischen Chorgesängen bis zu Freejazz. Selbst ein Karnevalsschlager wird mir zugemutet. Einen direkten Zusammenhang zu Noxos benachbarten Monologen könnte ich nicht feststellen. Vielleicht habe ich aber hierfür bloß noch nicht den passenden Schlüssel gefunden.

Immerhin fand ich einige der Episoden doch so interessant, dass ich beschloss, mit Noxo in Kontakt zu treten, allein schon deshalb, um weitere Cassetten zu bestellen. Ich hatte aber außerdem den Plan ins Auge gefasst, Auszüge seiner nächtlichen Monologe in meinem Blog zu veröffentlichen, wozu ich natürlich sein Einverständnis einholen musste. Noxo fühlte sich sehr geschmeichelt. Leider käme zu spät, da bereits ein Freund, „so ein Computergenie“, einen eigenen Podcast für ihn vorbereite. Ich beeilte mich klarzustellen, dass ich ja gar nicht seine Original-Tondokumente ins Netzt stellen wollte, sondern nur die reinen Texte, vom Band abgeschrieben. „Ja klar, das kannst du natürlich gern machen! Meinst du denn, das liest einer? Schick mir mal den Link, Alter.“ Ob ich denn auch meine eigenen Gedanken dazu veröffentlichen dürfe? „Ja super! Dass du auch denken kannst, hätte ich nicht gedacht. Da bin ich aber mal gespannt!“

Ein paar Tage später lag ein Päckchen mit fünf Cassetten neueren Datums in meinem Briefkasten. Den größten Teil habe ich in den letzten Wochen angehört. Es gibt große Qualitätsschwankungen. Auch eigenen sich längst nicht alle Episoden zur Verschriftlichung. Manche leben hauptsächlich von Wortspielen und Betonungen. Noxo ist ein guter Stimmenimitator und beherrscht etliche Dia- und Soziolekte. Aber mit einigen dieser Monologe will ich doch den Versuch einer Publikation in meinem Blog wagen. In den nächsten Tagen starte ich hier also eine neue Serie. Noxos Gastauftritt ehrt mich und mein Weblog.

[Meine eigenen Kommentare zu seinem O-Ton setze ich in eckige Klammern.]

Grau alle Theorie

Sunday, 15. May 2011

(Ohne Worte.)

Alles gleich

Saturday, 14. May 2011

Neulich brachte die FAZ ein langes Gespräch, das Frank Rieger vom Chaos Computer Club mit Daniel Suarez führte, einem US-amerikanischen Thriller-Autor, dessen Romane Daemon (2006) und Darknet (2010) die ebenso bedrückende wie gut begründete Vision einer menschlichen Gesellschaft entwerfen, die ihre Freiheit endgültig an ihre eigenen Apparate verliert.

An einer Stelle sagt Suarez: „Meine Sorge ist, dass Außenseiter am Ende möglicherweise als ,verdächtig‘ gelten, weil sie nicht ins Schema passen – statt dass es gerade umgekehrt wäre.“ (Frank Rieger: Wir werden mit System erobert: Ein Gespräch mit Daniel Suarez. A. d. Engl. v. Michael Bischoff; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 100 v. 30. April 2011, S. 34 f.) – Der letzte Teilsatz klingt leider etwas hemdsärmelig oder schief geknöpft, was möglicherweise an einer unglücklichen Übersetzung liegt. Ich verstehe Suarez jedenfalls so, dass er eine Lanze für Außenseiter brechen will, deren Beitrag für die Entwicklung der Menschheit immer unverzichtbar war und deren Verschwinden einer Katastrophe für unser aller Zukunft bedeuten würde.

Zufällig las ich fast gleichzeitig anderswo folgenden Satz: „In Auschwitz, das wusste ich, starben die, die anders waren, während die Gesichtslosen, die Anonymen überlebten.“ Er stammt von Rudolf Vrba, einem der wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers. (Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben. Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2010, S. 248.) Die Ausmerzung des Abweichenden und die Anpassung der Verbleibenden an eine ideale Durchschnittlichkeit könnte das Rezept sein, nach dem sich diese Spezies endgültig eliminiert, denn schließlich ist Varietät das vitale Moment jeder Evolution.

Vielleicht komme ich aber nur zu diesem Ergebnis, weil ich mich selbst immer als einen Abweichling empfunden habe, als den Ausnahmefall für alle möglichen Regelmäßigkeiten, den aus der Rolle fallenden, aus der Reihe scherenden Störer. Und nichts ließ mich mehr leiden als die Langweiligkeit des Normalen. (Gleichzeitig war ich mir immer der Gefahren bewusst, denen ich mich damit aussetzte.)

Darum „weg von der Mitte“. (Und darum in „kleinen Schritten“.)

Lob des Missgeschicks

Friday, 13. May 2011

Freitag, der 13. Mai 2011. Vor einem Datum wie heute zittern nicht nur strenge Irrationalisten, zumal dessen Ziffernfolge – 1 + 3 + 5 + 2 + 1 + 1 – als Quersumme diesmal auch noch 13 ergibt. Selbst mich beschlich gelegentlich ein leichtes Unwohlsein, wenn mir ausgerechnet an einem solchen Dreizehnten freitags ein unwahrscheinliches Missgeschick widerfuhr. Ausgerechnet hat jetzt ein Aachener Physikprofessor, dass tatsächlich mathematisch betrachtet an 13er-Freitagen mehr Unglücke geschehen als an jenen 13ten, die auf die sechs anderen Wochentage fallen. (Vgl. Christopher Schrader: Schicksalstag; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 110 v. 13. Mai 2011, S. 18.) Seine Grundannahme ist dabei natürlich, dass sich Unglücksfälle rein stochsatisch auf lange Sicht völlig gleichmäßig auf alle Tage des Jahres verteilen. Schaut man sich die Ereignisse an, die in den 366 Datums-Artikeln der Wikipedia gelistet sind, so sind die dort unter den zwölf 13ten aufgelisteten Katastrophen jedenfalls nicht zahlreicher als die unter den anderen Tagen genannten – wobei man nun noch prüfen müsste, welche von diesen insgesamt 42 Katastrophen-13ten auf einen Freitag fielen. Erst für den Fall, dass es signifikant mehr als der Durchschnitt von 3,5 waren, könnte man ins Grübeln kommen. (Ich werde das gelegentlich vielleicht einmal überprüfen.)

Aber all diese Berechnungen bewegen sich ohnehin auf schwankem Boden. Wer legt denn fest, welche Ereignisse als Katastrophe gewertet werden und Eingang in die Geschichtsbücher und Enzyklopädien finden? Überdies gibt zu denken, dass sich die Katastrophen scheinbar in letzter Zeit häufen. Glaubt man der Wikipedia, dann haben sich die meisten Katastrophen der dokumentierten Menschheitsgeschichte, also der vergangenen 4500 Jahre seit Aufkommen der ersten Hochkulturen, in den letzten 500 Jahren ereignet. Das könnte nun aber zu einem guten Teil auch daher rühren, dass in dieser Zeit die Kommunikations- und Dokumentations-Techniken große Fortschritte machten und weltweite Verbreitung fanden. Und überhaupt: Bezieht sich der Aberglaube um Freitag den Dreizehnten als Tag des Unglücks nicht ohnehin eher auf die Privatsphäre, auf die kleinen Missgeschicke des Alltags?

Hier kommt nun ein weiterer „Störfaktor“ ins Spiel, der die Betrachtung des Themas um einen zusätzlichen, reizvollen Aspekt erweitert. Ist es nicht eine Frage der inneren Einstellung, der zufälligen Tageslaune und der äußeren Umstände, ob man ein Missgeschick als Unglück empfinden muss – oder im Gegenteil in eine glückliche Wegweisung des Schicksals umzudeuten vermag?

Ich jedenfalls bin zu der Einsicht gelangt, dass das Missgeschick wesentlich besser ist als sein Ruf. Es kommt allein darauf an, wie man zu ihm steht und was man daraus macht. Wenn mir zum Beispiel wieder einmal der Bus vor der Nase wegfährt, dann vergeude ich meine Zeit nicht damit, den offenkundig entweder sehschwachen oder gehässigen Fahrer zu verfluchen, sondern ich nutze die unverhoffte Wartezeit für sinnvolle Beschäftigungen: Beobachtung der neben mir wartenden Mitmenschen, stille Teilnahme an ihren Gesprächen, Selbstversenkung, konzentrierte Verfolgung eines jüngst unterbrochenen Gedankengangs und dergleichen mehr. Oder ich mache mich auf den Weg zur nächsten, gar übernächsten Haltestelle, um mir etwas Bewegung zu verschaffen und mich überraschen zu lassen, was mir wohl unterwegs begegnen wird. Meist geschieht in dieser Zeit nichts Außergewöhnliches. Aber außergewöhnlich wären vermutlich auch nicht die anderswo verbrachten Minuten gewesen, die ich früher an meinem Zielort einträfe, wäre der Busfahrer gnädiger oder aufmerksamer gewesen. Hingegen kam es gelegentlich schon vor, dass mir in einer solchen aufgenötigten Wartezeit ein großes Glück beschieden war, dass ich mit dem rechtzeitigen Erreichen des Busses verpasst hätte.

Dies war bloß ein triviales Beispiel. Es reicht aber aus, um ein Lebensprinzip deutlich werden zu lassen, dass sich noch auf die dramatischsten Schicksalsschläge anwenden lässt. Man könnte auch von einer „Hans-im-Glück-Mentalität“ sprechen, die den von ihr beseelten unter einem undurchdringlichen Schutzschild durchs Leben führt. Allerdings muss ich gestehen, dass ich von einer solch fugendichten Gemütspanzerung noch sehr weit entfernt bin. (Nicht zu verwechseln ist diese übrigens mit einer Abstumpfung der Empfindsamkeit.) Immerhin habe ich gerade in jüngster Zeit offenbar einen Punkt erreicht, da ich Rückfällen in die Verzweiflung nach als ungerecht empfundenen Schicksalsschägen mit der Frage begegnen kann: Was will mir der Zufall damit sagen? Eine Frage aber führt immer weg vom Jammern und hin zum Denken. Das ist doch immerhin schon ein kleiner Fortschritt. – Fast wäre ich jetzt enttäuscht, wenn mir der heutige Freitag als Dreizehnter keine solche Frage stellte. Man soll das Unglück nicht beschwören? Ach was, ich bin doch schließlich strenger kritischer Rationalist Feyerabendscher Couleur und tanze unbekümmert auf dem Kraterrand. An allen Tagen des Jahres.

Magendarm (Forts.)

Thursday, 12. May 2011

(Ohne Worte.)

Magendarm

Wednesday, 11. May 2011

(Ohne Worte.)

Tante Äffi. Eine Groteske

Tuesday, 10. May 2011

Meine Tante ist, wie sich nun herausgestellt hat, mit mir weder verwandt noch verschwägert. Der Schwager meiner Tante hat hierfür auf seine unnachahmlich ledige Weise den täuschend echten Kanadiernachweis erbracht. Da er sich vor ein paar Wochen auf dem Fischmarkt beim Segnen des Zeitlichen die Hakennase ausgekugelt hat, gilt aber sein Zeugnis vor höherer Instanz als inkohärent.

Sei’s drum. Immerhin ist meine Tante als Erbschnitte kein billiges Flittchen. Gerade vor vier Tagen hat sie mir ihren Kühlpark gezeigt, der es mit jeder besseren Gefrierschleuder im Handumdrehen aufnehmen könnte. Aber wer will das denn wissen? Ich jedenfalls bin voll und ganz zufrieden, wenn ich etwas von dem frischgemolkenen Käsekonfekt abstauben kann, den Äffi unter ihrem blaustichigen Busen birgt.

Äffi war der Hauptname meiner Tante, bevor sie diesen sturztrunkenen Philatelisten ehelichte, den sie auf der Schiffschaukel im Bunapark kennengelernt hatte. Seither schimpft sie sich Girondell und tut so, als wäre sie klar. Dabei strauchelt sie beim Kreuzworten nach wie vor, wenn nach einem Tranquilizer mit siebzehn Buchstaben gefragt wird. Ich aber tausche meinen Monaco-Vierer bei meinem Nennonkel gegen einen Wimpel für mein Dreirad.

Damit fahre ich die Bunaallee hinunter, dass der Auguststaub nur so gegen die Schaufensterscheiben der Heißmangeleien und Hautabziehereien wabert. Eine Freude ist das, weil mir so der scharfe Blick auf die drinnen stattfindenden Blutbäder und Hitzschläge erspart bleibt. Ich träume nämlich ungern unschön! „Nicht so presto, Idioto!“ Das schreit mir der Nennonkel nach und setzt sich augenblicklich wieder die Kodeinpulle an den Hals.

Wenn ich in die Schule komme, werde ich meine Tante verpetzen. Ich werde dem Fräulein erzählen, dass ich beobachtet hab, wie sie mit ihrer rechten Hand geradewegs über meiner linken Schulter usw. Auch die Geschichte mit dem kleinen Naduweißtschon kriegt das Fräulein von mir zu hören, als mir nichts andres übrig blieb, als kurzerhand, ähemm! Dann kommt der Schulpedell bestimmt in Tantchens Gelass und sorgt für Morgenrot. Oder?

[Aus den Märchenbüchern, Bd. IV. – Mai 1986.]

Kopfnote [2]

Monday, 09. May 2011

Vor gut zwei Jahren schrieb ich hier und da mal über den armen US-amerikanischen Romancier Philip Roth, der wenig Glück mit den Frauen hat, unter Schreibzwang leidet, dem der Nobelpreis für Literatur verweigert wird und der zu allem Überfluss auch noch von Interviewern heimgesucht wird, die er bei all dem dann doch nicht verdient. – Dieser Tage musste ich leider feststellen, dass sich Roths traurige Lage in keiner Hinsicht gebessert hat.

Diesmal ist Willi Winkler von der SZ aufgebrochen, dem 78-Jährigen in seiner New Yorker Stadtwohnung auf den Pelz zu rücken. Womit? Mit Fragen? Schon im Untertitel zu Winklers Artikel lese ich, dass Philip Roth Interviews hasse. Warum gibt er sie dann? Müsste er verhungern, wenn er konsequent absagte, wie etwa zu Lebzeiten Salinger, oder heute noch Pynchon? Und warum bedrängt ihn der Journalist mit der Bitte um ein Interview, wenn der Gesprächspartner sich doch selbst alle Fragen längst schon gestellt und in seinen mehr als zwei Dutzend Büchern beantwortet hat. Winkler gesteht gleich eingangs, schon zweimal vergeblich versucht zu haben, Roth zum Interview zu treffen, 2002 und 2009. Aber er ließ nicht locker – und nun hat er ’s endlich geschafft. (Kann es sein, dass manche Zeitungsschreiber prominente Interview-Partner sammeln wie noch unbedarftere Leute Autogramme?)

Zwar können uns Lesern die Motive ja piepegal sein, aus denen ein solcher Interviewer um den halben Erdball fliegt, um einen berühmten Autor zu befragen, der nicht befragt zu werden wünscht – wenn, ja wenn dabei ein interessanter Artikel herauskommt, mit sonst nirgends zuvor veröffentlichten Einsichten in die Motive, Arbeitsmethoden oder Stimmungen der befragten Person. Das ist nun aber im hier zu beklagenden Hohltöner aus Winklers Feder mitnichten der Fall. Damit er diese Seite drei überhaupt voll bekommt, muss er langatmig und -weilig berichten, warum er sich verspätet hat zu diesem so lang ersehnten Gespräch. Dann gibt es eine lieblose Nacherzählung von Roths Ehetragödie mit Claire Bloom und ein paar knappe Bemerkungen zu einigen seiner bekannteren Romane. (Vielleicht sind es jene, die Winkler gelesen hat?) Zweimal klingelt das Telefon. Wieder erfahren wir etwas über die gesundheitlichen Probleme des Autors. Und die wenigen Auskünfte, die er über sein Leben, Denken und Schreiben gibt, sind dermaßen zusammenhanglos und beliebig hingetupft, dass man sich wirklich verarscht fühlen muss, ob man nun Roth-Fan ist oder nicht. (Willi Winkler: Lebenslänglich; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 94 v. 23./24./25. April 2011, S. 3.)

Ich habe Philip Roth zeitweise durchaus gern gelesen. Zur Entspannung war er in einer nun aber auch schon lange zurückliegenden Lebensphase für mich tauglich. Dass Willi Winkler uns nun aber nahelegen will, er sei der einzige für den Nobelpreis in Frage kommende Autor unserer Tage, das halte ich doch für einen schlechten Scherz. Nicht, dass Roth ihn nicht bekommen könnte. Das Stockholmer Komitee hat schließlich schon ganz andere Fehlentscheidungen getroffen. Aber was Winkler hier fabuliert, ist wegen seiner Albernheit einmal wörtlich zitierenswert. Roth, so Winkler, sei ein Schriftsteller, „der jedes Jahr, wenn der Sommer zu Ende geht und die Nobelpreisverleihung näher rückt, als bester, als idealer, als einzig möglicher Kandidat genannt wird. Aber weil das Nobelpreiskomitee hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen wohnt, wird es dann wieder nur Elfriede Jelinek. Oder Herta Müller. Oder, wirklich très chic: Le Clézio.“

Man mag dem Komitee ja manches vorwerfen, mag möglicherweise auch alle drei zuletzt genannten Personen der höchsten Literaturauszeichnung der Welt für unwürdig halten. Aber ein Vorwurf trifft die Mitglieder des Komitees nicht: dass sie in den vergangenen Jahrzehnten bei ihren Entscheidungen darauf geschielt hätten, was alle Welt den „den besten, idealen, gar einzig möglichen Kandidaten“ nennt. Wo, bitte schön, gibt es ein solches Votum? Und kann es einen solchen Kandidaten auf unserem globalisierten Globus auch nur theoretisch noch geben? Wer sind die Leute, die laut Winkler als einen solchen Kandidaten Jahr für Jahr den US-Amerikaner Philip Roth benennen? Und zwar übereinstimmend in China, Indien, den USA, Indonesien, Brasilien, Pakistan, Bangladesch, Nigeria, Russland und Japan gleichermaßen, um nur die zehn bevölkerungsreichsten Länder der Erde zu nennen? Quatsch! Und übrigens ist doch vermutlich das Warten auf den Preis das einzige Motiv, das den Autor Philip Roth noch bei der Stange hält und zum Schreiben motiviert. Warum sollte man ihm dann den Nobelpreis verleihen? Damit er anschließend verstummt, weil die Luft endgültig raus ist? Nein, es ist schon in Ordnung, diese Auszeichnung an Autoren zu geben, von denen man hoffen darf, dass Preis samt Preisgeld ihnen und ihrem Werk noch nützlich sein kann.

Kopfnote [1]

Sunday, 08. May 2011

Als Fußkranker liebe ich Fußnoten. Das mag eine Kompensation sein, vielleicht macht mir aber auch bloß das Kleingedruckte so viel Freude, weil es mir immer wieder die Nahsichtschärfe meiner Augen beweist. Ich kann noch Sätze entziffern, wo andere nichts als Striche sehen. Seit ich mein Blog betreibe, habe ich eine mögliche Liaison mit der Fußnote auch in dieser neuen Behausung nie ganz aufgeben können. Aber ich wusste nicht so recht, wie das formal zu bewerkstelligen wäre. Schließlich rücken alle Postings hier automatisch nach unten. Die Artikel fallen tiefer und tiefer, je älter sie werden, bald schon tiefer, als eine Fußnote je sinken kann, der gedruckt auf Papier noch immerhin die untere Blattkante letzten Halt gibt. (Es sei denn, sie wird ans Ende des Buches verbannt, aber das halte ich für eine Unsitte und Zumutung für den Leser obendrein.)

Nun ist mir, weil sich ein konkretes Problem stellte, der Gedanke gekommen, meinen Fußnoten hier autonome Artikel zuzugestehen. Zwar ist die Verweisrichtung dabei notgedrungen auf den Kopf gestellt, indem die Fußnote auf den kommentierten oder ergänzten Passus im Haupttext verlinkt, in diesem Fall auf das Wort Tiere im Artikel Heinrich Funke: Das Testament (XII) vom 18. Feruar 2011. Immerhin kann ich aber nachträglich dort auch noch einen Verweis auf die hier folgenden Ausführungen anbringen. Da es sich nun bei dieser von mir erfundenen Praxis im wörtlichen Sinn ja weniger um Fuß-, als vielmehr um Kopfnoten handelt, insofern sie nämlich zumindest bei ihrem ersten Erscheinen im Werk ganz oben am Haupt-Platz stehen, entschied ich mich für diesen Namen: Kopfnote – wobei mir auch alle übrigen Nebenbedeutungen, die er dem Leser in den Sinn rufen mag, durchaus willkommen sind.

Folgende Kopfnot plagte mich also in den vergangenen sieben Wochen. Der Künstler der Linolschnittfolge, die ich hier regelmäßig kommentiere, gab gesprächsweise zu bedenken, ich hätte den Satz des Pseudo-Aristoteles – „post coitum omne animal triste praeter gallum, qui cantat“ – falsch aus dem Lateinischen übersetzt, indem ich animal mit Tier eindeutschte. Vielmehr müsse es Lebewesen heißen. Und ein Lebewesen sei ja auch der Mensch, der somit hier hinzuzurechnen sei, als ein nach dem Koitus trauerndes Wesen. Dieser Einwand brachte mich völlig aus dem Konzept, obwohl ich in meinem Stowasser beide Möglichkeiten (und noch eine dritte) fand: „animal, alis, n Lebewesen, Geschöpf; Tier.“ (Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. München: Oldenbourg Schulbuchverlag, 1993, S. 36.)

Das harmlose Semikolon an dieser Stelle gibt zu denken. Ist die letztgenannte Wortbedeutung Tier nun eine schwächere, seltenere oder spätere? Und da ich mich nun schon einmal etwas gründlicher mit den Übersetzungsmöglichkeiten des Zitats befasste, fiel mir plötzlich auf, dass ich immer gedacht und wohl auch gesagt hatte: „[…] außer dem Hahn, der schreit.“ Ich hatte vermutlich das im Deutschen gängige Kompositum Hahnenschrei im Ohr und wusste natürlich außerdem, dass man die wenig musikalischen Laute dieses Haustiers als Krähen bezeichnet. Nun steht ja aber bei Pseudo-Aristoteles ausdrücklich cantat, und cantare bedeutet nun einmal „singen“, keineswegs „schreien“ oder „krähen“. In der Sprachbar der Deutschen Welle gab es mal einen eigenen Beitrag über das deutsche Wort „Hahnenschrei“. Dort heißt es: „Seit Menschengedenken gilt er als ein Verkünder der Zeit, genauer gesagt: des Tagesbeginns. Vielleicht haben Sie ihn ja gehört gegen Morgen, als er Sie in einer stillen Gegend fernab von den Städten unsanft aus dem Schlummer gerissen hat. Den ersten Hahnenschrei – oder besser noch Hahnengesang. Ob man das Krähen wirklich als wohlklingenden Gesang bezeichnen kann, wenn man davon frühmorgens aus dem Bett geworfen wird, lassen wir einmal dahingestellt. Aber der Name Hahn weist ihn eindeutig als Sänger aus. Denn das lateinische galli-cinium bedeutete Hahnengesang und bei den Griechen nannte man den Hahn spöttisch ēïkanós – Frühsinger. Auch im Französischen singt der Hahn: Dort heißt es: Le coq chante. In einer Fabel, die über die Niederlande nach Deutschland gekommen ist, wird der Hahn chantecler genannt, was so viel wie Singehell bedeutet.“

Nun riskiere ich mal, was man neuerdings eine „steile These“ nennt. Vielleicht haben die Hähne vor ein paar Jahrhunderten tatsächlich noch gesungen? Beweisen kann ich dies natürlich nicht, aber die zitierten alten Texte legen es doch nahe. Und der Gegenbeweis dürfte ebenfalls unmöglich sein, schon allein deshalb, weil die technische Möglichkeit zur Tonaufzeichnung erst ab 1860 entwickelt wurde. Zudem würden wir einen Hahnengesang auf einer Schallplatte aus dem antiken Rom vermutlich gar nicht als solchen erkennen, weil wir ja nicht wissen, wie er geklungen hat: der singende Hahn. Diese kleine Geschichte von den Tücken des richtigen Übersetzens und Verstehens alter Weisheiten gilt mir nur als neuerliche Bestätigung, dass Skepsis ihnen gegenüber sehr angebracht ist.

Am Herzen von Köln

Saturday, 07. May 2011

Umstände, die hier nicht hergehören, brachten es mit sich, dass ich in relativ kurzer Zeit gleich dreifach meinem Vorsatz untreu wurde, meine Heimatstadt nicht zu verlassen. Nun ist die Reise nach Köln ja keine Ochsentour. Und mein Ökologischer Fußabdruck wird durch die ein oder andere Exkursion dorthin auch nicht wesentlich größer, zumal ich heute mit der S-Bahn reiste. Dennoch spüre ich, wie sehr mich diese rapiden Ortswechsel aus der Balance bringen. Prompt vergaß ich gestern vorm Schlafengehen, meinen Betablocker zu schlucken, und heute früh in der Hektik des Aufbruchs den ACE-Hemmer noch dazu! Bei der Rückfahrt traf ich im Zug Kölner Fans von Bayer Leverkusen auf dem Weg zum Spiel gegen den HSV. Es wurde eng und laut und heiß!

Am rettenden Ufer, in meiner Arbeitsklause zeigte mein Blutdruckmessgerät 154 zu 101, bei einem Puls von 99. Zieht man den Panikeffekt ab, den eine solche Messung beim typischen Hypochonder auslöst, bleibt immer noch ein Ergebnis, das der Hypertoniker nicht alle Tage riskieren sollte. Doch diesmal war die Erfahrung es immerhin wert, dass ich mein Leben aufs Spiel setzte.

Ich war in der Kölner Philharmonie verabredet. Wenn ich mich richtig erinnere, bin ich in den vergangenen dreißig Jahren mindestens fünfmal per Bahn nach Köln gefahren. Jeder andere würde sich an meiner statt vermutlich schämen, dies zuzugeben: Ich wusste trotzdem bis heute nicht, wie nah der Dom am Bahnhof und wie nah beides am Rhein liegt. Ich versuche, mich zu erinnern. Ein Grund könnte sein, dass ich als Atheist und kaltblütiger Verächter aller religiösen Symbolik, erst recht wenn sie mir in Gestalt solch eines steinernen Riesen in den Weg trat, den Blick vor dergleichen ,Einschüchterungs-Architektur‘ reflexhaft niederschlug. Zudem war wohl der kurze Weg vom Dom zum Rhein, den ich heute beschritt, früher durch einen Busbahnhof geradezu verbarrikadiert und wurde erst durch den Neubau von Philharmonie und Museum Ludwig eröffnet.

Beim Aufstieg über eine wundervolle Treppe hinauf zu diesem imposanten Ensemble, mit Dani Karavans geradezu magisch wirkendem Ma’alot als stillem Mittelpunkt, passierten wir eine Gruppe Touristen, die sich auf den Stufen zum Gruppenfoto drapierte – ganz ähnlich wie es täglich tausendmal auf der berühmten Scalinata di Trinità dei Monti geschieht, die wir Deutschen die Spanische Treppe nennen. „Sie waren doch sicher einmal in Rom?“ Nein, da muss ich meinen Begleiter enttäuschen. Im Vorbeigehen schnappen wir noch eine andere Gedankenverbindung auf, von einem der posierenden Sehenswürdigkeiten-Sammler: „Das ist ja hier wie beim Hermannsdenkmal!“

Die Treppe und ihre Stufen – das war das beherrschende Thema des heutigen Köln-Besuchs. Nun bedaure ich, dass ich die Lange Nacht des Deutschlandfunks gelöscht habe, in der es ausschließlich um dieses Thema ging. Mir fiel der Name der zuständigen Wissenschaft leider nicht mehr ein. Sie heißt Scalalogie. (Und die deutsche Koryphäe auf diesem Gebiet ist Friedrich Mielke.)

Ochmööönsch (II)

Friday, 06. May 2011

Beim Anblick dieses lädierten Quintapeds überwältigt mich wieder einmal mein Mitleid mit den Dingen. Was hat er denn da, an seinen beiden bandagierten Rollfüßchen? Ist er am Ende gar ausrangiert? Erwartet ihn das traurige Schicksal jedes Menschenmöbels: die Reise nach Wegdamit?

Wie alt mag das rückenfreundliche Bürostühlchen wohl sein? Es sollte mich nicht wundern, wenn es gerade mal fünf schlappe Jährchen auf der buckligen Rückenlehne hat. In dem Alter ist unsereins ja nicht mal eingeschult. Und nun schon auf den Friedhof für Sachen?

Dann scheint ein böser Zufall den Stuhl dazu verurteilt zu haben, ausgerechnet vor einer Kulisse seiner Entsorgung harren müssen, die gerade in ihrer porösen Abgenutztheit die Dauerhaftigkeit menschgemachter Gegenstände demonstriert: Das Fachwerk-Gemäuer im Hintergrund bringt es gut und gern auf 187 Jahre!

Der mittig gescheitelte Herr Stencil blickt jedenfalls mit indignierter Herablassung vom Putz herab auf die Szenerie, wenngleich er vermutlich noch jünger ist als die fußkranke Sitzgelegenheit.

Aber vielleicht interpretiere ich das Ensemble am Straßenrand auch völlig falsch! Vielleicht wurden die beiden Rollen nur deshalb mit Schaumgummituch bandagiert, damit der Stuhl sich nicht selbstständig machen und davonrollen … resp. davongerollt werden kann? Schade. Ich war in Gedanke schon damit beschäftigt, das gute Stück zu retten. Es sieht doch wirklich noch ganz passabel aus. – Ochmööönsch!

Ochmööönsch! (I)

Thursday, 05. May 2011

Neulich sagte eine meinem Blog gewogene Freundin: „Da hast Du ja wieder gegeifert! Ätzend.“ Das saß, weil es stimmte; auch das ,wieder‘. Ich verrate jetzt nicht, welchen Beitrag sie meinte, das ist ja ganz gleich. Es gibt genug von der Sorte in meinem Blog.

Ich ging in mich. Haderte mit mir. Wozu so viel Bitterkeit? Na ja, es ist schließlich nicht viel Süßes zu vermelden aus diesen Endzeittagen, oder? Es sei denn, ich wollte Knall auf Fall blöd, blind oder falsch werden, wie ein guter Teil jener Schönwetter-Onlinetexter, die Optimismus versprühen wie ein giftiges Gas, mit Veilchenduft zur Tarnung. Gute Laune zu mimen in Zeiten größter Not, das ist doch infam, oder? Nicht mit mir.

Jetzt gerade lese ich, dass Helmut Schmidt sein neuestes Buch veröffentlicht, natürlich mit Erfolgsgarantie. Schon Titel und Thema rennen alle offenen Türen ein: Religion in der Verantwortung – Gefährdung des Friedens im Zeitalter der Globalisierung. Der Rezensent weiß, warum das weggehen wird wie geschnitten Brot: „Die globalisierte Moderne ist von ungeheuerlicher Komplexität. Da ist es gut, wenn zumindest einer die Wirren der Welt durchschaut, historisch herleitet und strukturell analysiert.“ (Johann Hinrich Claussen: Der alte König; in: SZ Nr. 103 v. 5. Mai 2011, S. 11.) – Fazit: Die Menschen wollen Trost!

Tut mir leid, da sind sie bei mir an der falschen Adresse! Ich bin ja im Gegenteil darauf spezialisiert, falsche Trostversprechen zu entlarven; Schönfärbereien so gründlich zu entmischen, dass ein tristes Grau in Grau dabei rauskommt; Spaßmacher ernst zu nehmen, bis Tränen fließen. Aber jetzt ist doch Frühling! Da verspürt selbst jemand wie ich die Neigung, nach einem Hoffnungsschimmer Ausschau zu halten.

Da fielen mir die vielen kleinen Momente ein, die ich auf meinen täglichen Flanerien durch die Straßen meiner Vaterstadt mit dem stillen Kommentar Ochmööönsch! versehe. Die will ich künftig fotografieren und hier in einer neuen Rubrik sammeln. Ganz ohne Bitterkeit.

[Photographie: Manuel Hessling.]

Portrait Robert Sch.

Wednesday, 04. May 2011

Ein geduldiger, teilnehmender, verstehender Zuhörer. Das sind drei für einen begeisterten Erzähler wie mich bedeutende menschliche Vorzüge. Geduld zwingt mich nicht zur Kümmerlichkeit der Kurzfassung, Teilnahme signalisiert mir die Ankuft meiner Botschaften und Verständnis beweist jene intellektuellen und kulturellen Voraussetzungen, die es erst erlauben, meinen Erzählungen den ihnen innewohnenden tieferen Sinn zu entnehmen.

Diese für mich so angenehme Eigenschaft korrespondiert mit einem feinen Gespür für sprachliche Nuancen. So beklagt er sich gestern darüber, fälschlicherweise oft als Perfektionist oder gar Pedant bezeichnet zu werden. Dabei wolle er sich doch gerade nicht jenen zeitgenössischen Künstlern zugesellen, die ein Konzept mit ermündendem Verbesserungszwang immer und immer noch ein Schrittchen weiter dem unerreichbaren Ideal anzunähern suchen. Dem stehe schon seine große Neugier auf neue Experimente und sein unerschöpflicher Ideenreichtum entgegen.

Wie kommen die oberflächlichen Betrachter seines Schaffens und seiner Ergebnisse dann zu einem solchen Fehlschluss? Fast möchte ich annehmen, dass es bloß der Hintergrund all jener schludrig, hastig oder faul gemachten Kunst von heute ist, vor der sich seine sorgfältig geplanten und ordentlich ausgeführten Werke so wohltuend abheben.

Indem ich diesen Satz niederschreibe, der leicht als Kompliment missverstanden werden kann, stelle ich mir die Reaktion des Belobigten, eine wegwerfende Handbewegung und eine relativierende Äußerung vor, gefolgt vielleicht noch von der Aufzählung einiger älterer Kollegen, die seine Wertmaßstäbe nicht bloß erfüllen, sondern vorbildhaft weit übertreffen. Diese Bescheidenheit erfüllt mich manchmal mit etwas Sorge. Muss sie nicht im lauten Jahrmarktstreiben des Kunstmarkts unserer Tage dazu führen, dass er in den entscheidenden Augenblicken, die oft zum großen Durchbruch führen, übersehen wird? Die Gefahr besteht immerhin. Und der trotzige Satz, dass sich wahre Qualität am Ende immer durchsetze, ist erstens schon deshalb nicht beweisbar, weil sein Gegenteil nicht widerlegt werden kann. (Ob es wahre Qualität gab, die sich nicht durchgesetzt hat, können wir ja nicht wissen, eben weil sie nie an die Öffentlichkeit gelangte.) Und zweitens gibt es nachweislich sehr viele Beispiele von wahrer Qualität, deren Durchbruch erst posthum erfolgte. In diesem Fall sollte man übrigens nicht wie üblich von einer späten, sondern richtiger von einer verspäteten Gerechtigkeit sprechen. – Andererseits sind die Beispiele Legion, bei denen sich früher Erfolg nachteilig auf die Schöpfungskräfte ausgewirkt, sie gar völlig hat versiegen lassen.

Zum Steckbrief noch ein paar Äußerlichkeiten in Stichworten. Beim Suchen nach Begriffen wandert der Blick nach rechts unten und eine leichte Spannung spielt um die Lippen. Das Lächeln ist am bezwingendsten in den äußeren Augenwinkeln, was viel von seinem Charme ausmacht. Bereitschaft zur Empörung, die aber stets ein ziviles Maß einhält. Ob dies auch für die Verachtung gilt, die er gelegentlich, wenngleich eher selten zu erkennen gibt, vermag ich noch nicht abschließend zu sagen. Sie tut sich durch ein Aufblitzen der Augen kund, was sonst zu seiner Mimik nicht recht passen will. (Jedes Menschenbild ist notwendig immer ein work in progress.)

Ort(h)ografie? Ort(h)ographie?

Tuesday, 03. May 2011

Die Verführungskraft der Patzer in der Süddeutschen ist in letzter Zeit wieder besonders groß. Erneut gelingt es einem ihrer Redakteure, in einem Artikel zum Thema richtiges Deutsch einen bösen Fehler unterzubringen. Ja, es kommt sogar noch dicker. SZ-Mitarbeiter alex macht seinen Schnitzer ausgerechnet in einem Satz über die (nach der neuen Rechtschreibung) korrekte Schreibweise des (aus dem Altgriechischen hergeleiteten) Fachworts für Rechtschreibung: Orthographie; und zwar, peinlicher geht ‘s nimmer, in diesem Wort selbst!

Worum geht es in dem Feuilleton-Beitrag? Seit gestern ist die neue Website des Duden online: „Endlich auch in Digitalien ein orthographischer Stecken und Stab für ahnungslose Sprach-User.“ So locker-flockig, mit gleich zwei kreativen Neologismen, die man auch in der aktuellsten Print-Version des Duden vergeblich suchen würde, führt uns alex ans Thema heran, um dann fortzufahren: „Apropos: Ist Orthographie überhaupt korrekt? Oder heißt es mittlerweile Ortografie? Gleich mal nachschauen auf www.duden.de/suchen/dudenonline: ,Orthografie, Orthographie, die. Wortart: Substantiv, feminin‘. Geht also beides.“ (alex: Aus Sprechern sollen User werden; in: SZ Nr. 101, S. 11. – Nebenbei: Auch der Titel dieser Glosse ist völlig danebengeraten. Nachschlagewerke zur Rechtschreibung, gleich ob traditionell als Buch oder digitalisiert und online, wurden und werden in erster Linie nicht von Sprechern, sondern von Schreibern genutzt. Und zudem sollen auch diese nicht ihr Verhalten als Schreibende ändern, sondern ihr Verhalten beim Nachschlagen. Allenfalls könnte die Headline also lauten: Aus nachschlagenden Schreibern sollen tippende und klickende User werden. Das wäre wohl als Überschrift viel zu lang, aber vermutlich die kürzeste korrekte Formulierung für den gemeinten Sinn. Was dort nun stattdessen als Titel steht, ist jedenfalls kompletter Blödsinn!)

Es geht also beides? Offenbar kann der Verfasser nicht einmal bis drei zählen, denn so viele Varianten des Wortes hat er doch selbst soeben gebracht: [1] Orthographie; [2] Ortografie; [3] Orthografie. Und wenn wir schon mal dabei sind, dann sollten wir auch die letzte nicht unterschlagen: [4] Ortographie. Um es vorwegzunehmen: [1] und [3] gehen, [2] und [4] nicht, aber nach [1] und [2] hatte alex gefragt, [1] und [3] gefunden – und geantwortet: „Geht also beides.“

Und sonst? Ansonsten verfehlt der flapsige Artikel sein Thema. Denn worum es bei der Kurzvorstellung eines neuen Online-Werkzeugs zuallererst gehen müsste, wäre doch dessen Funktionsweise. Was passiert, wenn ich ein Wort, dessen korrekte Schreibweise ich nicht kenne, ins Suchfeld eingebe? Dabei wäre besonders interessant zu erfahren, wie das Verzeichnis reagiert, wenn ich ein falsch geschriebenes Wort eingebe. Im konkreten Beispiel hätte alex vielleicht mal seine für möglich gehaltene Variante [2] Ortografie prüfen können. Ich habe genau das getan und erhielt unter der Überschrift Suchergebnisse folgende Antwort: „Die Suche nach ,ortografie‘ lieferte 0 Treffer | Oder meinten Sie: Kartografie, Fotografie, Areografie“.

Hier könnte nun ein Kritiker, der diesen Namen verdient, berechtigte Bedenken anmelden. Wenn ich als „User“ des neuen Duden-Onlinewörterbuchs den Begriff nur vom Hörensagen kenne, dann wüsste ich doch gern, wie das Wort sich richtig schreibt. Vielleicht würde ich in einem nächsten Versuch [4] Ortographie eingeben. Ich erhielte dann exakt das gleiche Ergebnis, wieder mit den kaum hilfreichen, geradezu unsinnigen Verweisen auf die Wörter Kartografie, Fotografie und Areografie. Außerdem würde mich gewiss interessieren, warum man den Wortteil „Ortho-“ nicht ohne „h“ schreiben darf, den Wortteil „-graphie“ hingegen sehr wohl mit „f“ statt „ph“. Richtige Schreibweisen von falschen zu unterscheiden fällt ja schließlich viel leichter, wenn man die Regeln kennt, die dem zugrunde liegen. Hier versagt Dudenonline völlig – und sein „Kritiker“ ebenfalls.

Et vice versa?

Monday, 02. May 2011

Über den mir bis dahin völlig unbekannten serbischen Poeten Brana Crnčević las ich neulich aus Anlass seines Todes, dass er Alkoholiker gewesen sei „und auch deshalb zur kurzen Form neigte.“ (tens in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 82 v. 7. April 2011, S. 35.) Dies scheint mir eine merkwürdige Begründung zu sein, die ich mir allenfalls auf Umwegen plausibel zu machen vermöchte. Oder soll ich annehmen, dass sich der Serbe an seinen Schreibtisch setzte, um ein Epos zu schreiben oder mindestens eine Ballade, mit der Rechten zur Feder griff und gleichzeitig mit der Linken zum Schnapsglas, sich einen hinter die Binde kippte und ein paar Worte zu Papier brachte – um dann alsbald mit dem Poetenhaupt aufs Pult zu knallen? Fertig ist der Aphorismus, und der Dichter ebenso? (Ebensowenig hielte der Umkehrschluss stand, dass die großen Meister der kleinen Form, die Lichtenberg, Kraus & Lec, eine Neigung zur Flasche gehabt und die hochprozentige Weisheit ihrer Sprüche in der Neige des Glases gesucht oder gar gefunden hätten.)

Hieraus könnte man nun folgern, die Umkehrung einer unsinnigen Behauptung müsste stets neuen Unsinn hervorbringen. Würde mir etwa jemand unterstellen, dass ich auch deshalb blogge, weil ich die Um- und Widerstände scheue, die mit der Einreichung eines Textes bei einem ordentlichen Verlag verbunden sind, so wäre dies insofern eine unsinnige Behauptung, als ich mit einem überaus ordentlichen Verlag längst schon in Verbindung stehe, dort meine Texte – wenngleich nicht alle meine Blogtexte, dafür aber zahlreiche andere, die nicht in meinem Blog erscheinen – aufmerksam durchgesehen werden, mit dem gemeinsamen Ziel einer konventionellen Veröffentlichung zwischen Einbanddeckeln.

Nur zu wahr ist in diesem Fall aber leider der Umkehrschluss: dass heute jeder Stammler, der sich von kompetenten Lektorinnen und Lektoren seriöser Verlage hat sagen lassen müssen, mangels Kenntnissen und Talenten niemals einen publikationswürdigen Text hinzubekommen, wütend die Absageschreiben in den Schredder schob und – statt nun Imker, Call-Center-Agent oder Popstar zu werden – ungefragt ein eigenes Weblog aufgemacht hat, getreu dem Motto aller Trotzköpfchen: Jetzt erst recht!

Das ist nicht schlimm? Es müssen ja für dieses Gestammel keine Bäume dran glauben? Mag sein. Aber einerseits funktioniert bekanntlich auch das Internet keineswegs CO2-neutral. (Vor Jahren schon wurde ausgerechnet, dass jede Google-Suche soviel Energie verbraucht wie eine 11-Watt-Sparlampe in einer Stunde.)

Und andererseits wirkt sich diese Schlammlawine, dieser stinkende Abfallhaufen unlesbaren, geschweige denn genießbaren Gebrabbels verheerend fürs Image von Weblogs aus. Dabei gibt es doch in diesem Spreu-Himalaya durchaus das eine oder andere Weizenkorn! Blogs, die Beachtung verdienten – und vielleicht sogar Achtung. (Der Grund, warum ich mich gegen meine hartnäckigen Bedenken nun doch durchgerungen und eine Blogroll aufgemacht habe.)

Gespannte Ruhe

Sunday, 01. May 2011

Was heute in der Luft fliegt. Freiheitstriebtaten ohne Zahl. Meine Anspielungen gehen über die Bande. Bitte nach Ihnen, ohne Blutvergießen. Haben Sie heute schon gehört? Es soll Unverwundete gegeben haben. Die Gerüchte kommen aus der Hinterküche. Dort müsste mal dringend jemand nach dem Kleingemachten sehen.

Putz dir die Ohren, der Hund hat Durst! Wenn man das auch freundlicher sagen könnte, dann bräuchte ich meinen Sprenggürtel nicht. Hinter den sieben Zwergen tut sich ein großes Loch auf. Und wer zahlt? Eine Runde für meine tote Base und mich!

Er hat sich beim Lesen des Kleingedruckten die Blase verkühlt. Halten Sie mal eben diese Flasche hier – und wenn ich jetzt sage, dann schmeißen Sie sie einfach in dieses Loch. Danke!

Sonntagsruhe. Wir gehen angeln ohne Schein. Wader hat zwar eine Lizenz fürs Pilzesammeln, aber die gilt nicht fürs Tiefseefischen. Wenn er sich nicht mit seinen Tiraden zurückhält, steige ich aus. Meine Mutter hat ihm zu Ostern mal den Sack rasiert.

Der Kleingemachte hat heute wieder seine violetten fünf Minuten. Putz das weg! Wenn Du fair bist, musst Du zugeben, dass ich schon Ende April wusste: Da kommt noch was nach! Überraschend immerhin auch für mich, dass G. jetzt selbst am Kleingeld spart. Aber was ist das nun? Verfluchtes Blattgemüse! Ich krich keine Luft mehr. Ich …

[Aus meinen Notizheften. Heft 14 v. Mai 1976, S. 3.]