Archive for February 10th, 2011

Heute vor 30 Jahren

Thursday, 10. February 2011

juengersarbeitsplatz1942

Aus fremden Tagebüchern: „Nachts wieder einmal im Pariser ,Majestic‘. Oben herrschte die alte Geschäftigkeit; ich fand mich mit den Türen nicht zurecht. Unten wurde der Empfangssaal umgebaut. Der Gang erinnerte an eine in sich perfekte Ordnung, die im ganzen unsinnig war. – Dem Begriff der Kerntechnik sollte man sowohl die Tätigkeit der Physiker wie jene der Biologen unterordnen – beide entspringen der gleichen Wurzel als prometheischer Trieb. Gut oder böse? Die Schlange des Asklep.“ (Ernst Jünger: Siebzig verweht III. Stuttgart: Klett-Cotta, 1993, S. 16.)

Dass diese Tagebucheintragung nicht von einem realen Parisbesuch des 85-Jährigen kündet, der sich etwa auf seine alten Tage noch einmal an den Ort seines Wirkens als Soldat im Zweiten Weltkrieg begeben hätte, ins Hôtel Majestic an der Pariser Avenue Kléber nämlich [siehe Titelbild], wo er im Stab des Militärbefehlshabers von Frankreich (MBF) unter Otto von Stülpnagel als Militärzensor wirkte, das wissen wir, weil die Notiz mit Wilflingen, 10. Februar 1981 überschrieben ist.

Jünger träumt also „wieder einmal“ von seinem fast vierzig Jahre zurückliegenden Aufenthalt in dieser Luxusunterkunft. Traumberichte haben aber für uns Leser den Nachteil, für den Verfasser hingegen den großen Vorteil, dass ihr Wahrheitsgehalt nicht überprüfbar ist. Ich habe schon von Anfang bis Ende erstunkene und erlogene Träume erzählt, dass die Zuhörer die Mäuler aufsperrten und für den Rest des Abends mit Deutungsversuchen beschäftigt waren. Ich erwähne das hier, weil mir die angeblich geträumte „perfekte Ordnung“ des Hotelflures, die zugleich im Ganzen unsinnig gewesen sein soll, wenig traumtypisch erscheint. Was sollen wir uns denn unter der Ordnung eines Ganges vorstellen? Allenfalls fällt mir da ein Raumbelegungsplan ein, bei dem zum Beispiel die höheren Ränge nach vorn heraus wohnen. Das riecht mir sehr nach ausgedacht! Und die Deutung liegt ja nahe. Jünger will nachträglich schon damals gespürt haben, dass das Hitlersystem bei aller vorgegebenen Professionalität im Kern doch morsch war und zum Untergang verdammt; dass die Hitlerei der höheren Weihen eines Sinns entbehrte.

Nachdem der Albdruck aus dem Weltkrieg zu Papier gebracht und so abgearbeitet wurde, folgt eine nicht minder bedrückende Betrachtung zu den Urgründen unserer Abweichung vom natürlichen Gang der Dinge. Hier die ,Atomkernphysik‘ mit ihrer schrecklichen Entfesslung von Massenvernichtungskräften; dort die ,Zellkernbiologie‘ mit den molekulargenetischen Möglichkeiten vollkommener Umschöpfung unserer menschlichen Natur. Eigentlich sollte mir ja gefallen, dass solche Gefahren, die auch ich für sehr konkret halte, immer und immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Aber die Art und Weise, wie sich Ernst Jünger diesen „Gegenständen“ nähert, behagt mir ganz und gar nicht. Warum?

Weil er so schrecklich cool dabei bleibt. Es ist, als legte er sich die Schlange des Äskulap um den Hals, mit seiner Todesverachtung kokettierend, und weidete sich an unserem Entsetzen. (Wie ganz anders, wie menschlich klingen da doch die um die gleiche Zeit entstandenen Notizen von Günther Anders in seinen Ketzereien, die sich ebenfalls mit unserer prometheischen Erbschaft befassen!)

[Dieses Posting erschien zuerst am 10. Februar 2007 bei Westropolis unter dem Titel Heute vor 27 Jahren als zweite Folge der Serie „Aus fremden Tagebüchern“. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog überarbeitet und erweitert. – Mit Dank an socursu für eine Korrektur.]

Sudelgeblogge (I)

Thursday, 10. February 2011

beimirdaheim001

[1] Als akkurate Hausfrau hatte sie dem Rest der Familie einen festen Belegungsplan für die Fächer des Besteckkorbes in der Spülmaschine verordnet. Vorn rechts: Messer. Vorn links: Gabeln. Mitte rechts: Suppenlöffel. Mitte links: Dessertlöffel. Hinten rechts: Kuchengabeln. Hinten links: Sonstiges. Denn so lasse sich, wenn sich jeder daran halte, beim Ausräumen viel Zeit sparen, weil das Einordnen in die Besteckschublade umstandslos mit nur sechs Handgriffen zu erledigen sei.

[2] Als seine Beliebtheit dank seiner Erfolge auf Rekordniveau gestiegen war, wurde er zum Geburtstag mit Geschenken von nahezu Fremden überhäuft, die weder seinen Geschmack kannten noch seine Interessen. Als sich Misserfolge einstellten und sein Stern wieder sank, verschenkte er das Gerümpel weiter. Dabei traf es sich gelegentlich, dass einer der einstigen Schenker versehentlich sein eigenes Geschenk zurückerhielt. Er sah es den beschenkten Schenkern an, denn sie spielten die freudige Überraschung beim Anblick der nutzlosen Dinge noch schlechter als er vor Jahr und Tag.

[3] Alle Liebe beginnt und endet mit der Eigenliebe. Dass letztere in so schlechtem Ansehen steht, beruht wohl weniger auf einem Missverständnis der Botschaft des Jesus von Nazareth, als vielmehr auf der irrigen Annahme, Liebe erfülle sich in der Übereinstimmung mit den guten und schönen Attributen des Geliebten. Mein Kreuzworträtsel fragt nach einem Wort mit zehn Buchstaben, welches „Eitelkeit mit Egoismus“ verbindet – und meint Eigenliebe! Ganz falsch ist dies jedenfalls dann, wenn man die gesunden Anteile eines fürsorglichen Umgangs mit dem eigenen Äußeren und der Durchsetzung eigener Lebensansprüche darüber vergisst, die nur zu leicht als eitel oder egoistisch denunziert werden; nämlich meist dann, wenn es konkurrierenden Individuen auf dem Markt der Eitelkeiten und Interessen gefällt. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Wenn aber die Eigenliebe verpönt ist, dann führt diese Gleichung doch zu keiner Nächstenliebe. Je tiefer hingegen die Eigenliebe ist, desto weiter vermag auch die Liebe zum Nächsten zu reichen. (Vielleicht gar zum Übernächsten?)

[4] Etliche der Aphorismen Lichtenbergs hören sich an wie Bruchstücke zu einem Roman, wie die Bonmots von Helden, deren Charaktere und Figuren erst noch zu erfinden sind. – In den Romanen, die ich in mein Antiquariatslager schubse, finde ich oft Anstreichungen von eigener oder fremder Hand an Sätzen, die zu guten Aphorismen getaugt hätten. Das bleibt dann also von den Romanen übrig, wenn sie durchs grobmaschige Sieb unseres Leseeifers passiert worden sind. – Warum, so wird sich der Göttinger Weise vielleicht gedacht haben, soll ich um meine brillanten Schmuckstücke mit bedeutendem Aufwand umständlich Kulissen und Übergänge bauen, damit das Ganze sich als Roman in der Welt behaupte? Zuletzt bleiben doch ohnehin bloß diese wenigen Preziosen übrig.

[5] Auf dem Lehrstuhl der Bescheidenheit lautet für den Weisen die erste Lektion, an seinem Verstande zu zweifeln.

[Diese neue Reihe sollte ursprünglich Sudelblog heißen. Da es ein solches aber schon gibt – wenngleich mit kaum einem Bezug zu Georg Christoph Lichtenberg, sondern stattdessen zu Kurt Tucholsky –, habe ich mich zur zweiten Wahl entschieden und meine Puppe in der Puppe in Sudelgeblogge umgetauft.]