Heinrich Funke: Das Testament (XI)

Heinrich Funke Das Testament (XI)

Es soll also niemanden geben, der sich lieber im Wahnsinn freuen möchte, als gesunden Sinnes Schmerz zu erleiden?

Ich könnte auch hier wieder den Satz durch Aufzählung plausibler Gegenbeispiele ad absurdum führen, indem ich etwa von den zahllosen körperlich und seelisch Leidenden in der Hölle von Theresienstadt erzähle, die sich in den Wahnsinn flüchteten, weil sie den Schmerz gesunden Sinnes eben nicht mehr ertrugen. (Vgl. H. G. Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, S. 625-685.) Zudem bezeichnet ja ,Wahnsinn‘ eine solche Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen von Seele und Geist, wie auch ,Schmerz‘ sehr verschiedene Leidensformen benennen kann, dass es mir schon deshalb schwer fällt, der Aussage in dieser simplen Verallgemeinerung zu folgen.

In diesem Falle setzen meine Zweifel an der Richtigkeit der Aussage allerdings noch früher an. Ich halte es nämlich für fragwürdig, ob je ein Mensch die freie Wahl zwischen diesen beiden Alternativen hatte: Schmerz bei vollem Bewusstsein oder Schmerzfreiheit im Wahnsinn? Gemeint ist vermutlich auch nicht eine solche reale Entscheidungssituation, sondern bloß die theoretische Erwägung eines Menschen bei klarem Verstand und ohne den Druck des Schmerzes. Dass es nun gar niemanden, also keinen einzigen Menschen geben soll, der sich für die Freuden des Wahnsinns und gegen den Schmerz bei „gesundem Sinn“ entscheidet, bleibt eine gewagte Behauptung. Wir wollen sie mal etwas abmildern und annehmen, dass der Künstler eine größere Zahl seiner Mitmenschen befragte und immer diese oder eine ähnliche Antwort bekam: „Um Himmels willen, nein! Wahnsinn? Bloß das nicht. Dann lieber Schmerzen ertragen!“

Ein solches Antwortverhalten scheint mir sogar glaubhaft und plausibel, weil ich weiß, dass die volkstümlichen Ansichten über den ,Wahnsinn‘ wilde Blüten treiben. Und grundsätzlich ist ja die Angst vor etwas Unbekanntem immer größer als die vor dem Vertrauten. Schmerz hat jeder schon einmal erfahren, Wahnsinn hingegen kennen die meisten Menschen nur vom Hörensagen oder jedenfalls doch nur ,von außen‘, nicht aus eigenem, innerem Erleben.

Der leere Stuhl steht vielleicht für den Platz, der reserviert wurde für jenen Menschen, der den Wahnsinn seinen Schmerzen vorzieht; und den es nicht geben soll, weshalb der Stuhl ewig leer bleibt. Ich weiß aber von Krebskranken, die dort Platz genommen haben, indem sie sich durch starke Morphingaben ihrer gesunden Sinne berauben ließen bis zur Bewusstlosigkeit. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich in ähnlicher Lage ebenfalls dort Platz nähme, statt vor Schmerz zu rasen.