Archive for February 4th, 2011

Was denn nun?

Friday, 04. February 2011

riesenminiknochen

Gestern wurde ich Ohrenzeuge, wie Ariadne von Schirach im Deutschlandradio Kultur nahezu ekstatisch eine Broschüre aus dem Merve-Verlag besprach, François Julliens Die stillen Wandlungen. Die Rezensentin wurde bekannt durch ihr Buch Der Tanz um die Lust, das ich nicht gelesen habe und darum auch nicht beurteilen kann. Der in den Kritiken selten unterbleibende Hinweis auf ihren Großvater Baldur trug nicht dazu bei, mich mit dem Werk dieser Autorin näher zu beschäftigen. Ihr Auftritt gestern im Rundfunk ließ mich allerdings aufhorchen.

In einem hingerissenen Redeschwall, der an den leicht durchgeknallten Filmkritiker Hans-Ulrich Pönack erinnert, welcher ja beim selben Sender Unterschlupf gefunden hat, erklärte Schirach, was wir Zuhörer uns unter einer ,stillen Wandlung‘ vorzustellen haben: „Eine stille Wandlung ist das Alter. Eine stille Wandlung ist der Klimawandel. Eine stille Wandlung ist auch – sehr poetisch – das Fortgehen der Liebe. Man merkt es. Es fängt an, aber irgendwann … wir sehen nur die Ergebnisse. Wir haben kein Gespür für diese stillen Wandlungen. Vor allem geht es auch um Politik, also da geht es um die Unruhen in der islamischen Welt. Das ist gerade keine stille Wandlung mehr. Die ist realtiv laut und bevölkert unsere Nachrichten. Mit diesem Blick auf die stillen Wandlungen könnte man aber sagen: Was passiert denn bei uns? Was passiert in der Eurozone? Es zeichnen sich Dinge ab, mit Irland, mit Griechenland. Es kommen so kleine revolutionäre Schriften aus Frankreich. Das wären klassische stille Wandlungen. Jullien schärft unseren Blick. Er sagt, sie sind still, aber nicht unsichtbar. Sie bahnen sich an.“ – Von dem nahezu sprachlosen Moderator des Radiofeuilletons befragt, was uns dies denn bringe, prägte die studierte Philosophin folgenden Satz: „Zunächst, dass die Bedingungen unseres Denkens zufällig sind, zufällig und zugleich notwendig.“ Es habe, so offenbar ihre persönliche Erfahrung, „etwas ungeheuer Erfrischendes, zu begreifen, dass man die Welt ganz anders sehen kann.“ (Hier der O-Ton.)

Hm. – Deutschlandradio Kultur beschäftigt Ariadne von Schirach als freie Mitarbeiterin. Ob sie für solche Unsinnsgespinste einen großen Verdienst erhält, kann ich nicht sagen, große Verdienste um den menschlichen Erkenntnisfortschritt wird sie damit jedenfalls nicht erwerben. Wenn sie uns erklärt, die Konfrontation von westlichen Problemen mit östlichem Denken sei Julliens „großer Verdienst“, dann muss man der Philosophin (und leider auch dem Deutschlandradio, das den Fehler unberichtigt in sein Programmheft übernimmt) den kleinen, aber wesentlichen Unterschied erklären: Der Verdienst klingelt in der Kasse, das Verdienst hingegen ist ein rein ideelles Gut.

„Zufällig und zugleich notwendig“ – das klingt vielleicht in manchen hohlen Köpfen toll, denn solche bilden ja oft einen guten Resonanzkörper. Tatsächlich ist ’s ein arger Nonsens, den unsere schwärmerische Kritikerin offenbar so pfiffig findet, dass sie ihn ausgangs noch einmal strapaziert: François Jullien „beherrscht diese größte aller Künste, das Leben in seiner Zufälligkeit und Notwendigkeit zu illustrieren. Das ist fast wie eine Meditation.“

Wow! – Solcherlei Heißluft-Philosophasterie hat eindeutig weniger als zwei Prozent Fettgehalt, dafür enthält sie synthetische Geschmacksverstärker, dass die Lefzen tropfen [siehe Titelbild].

Heinrich Funke: Das Testament (XI)

Friday, 04. February 2011

Heinrich Funke Das Testament (XI)

Es soll also niemanden geben, der sich lieber im Wahnsinn freuen möchte, als gesunden Sinnes Schmerz zu erleiden?

Ich könnte auch hier wieder den Satz durch Aufzählung plausibler Gegenbeispiele ad absurdum führen, indem ich etwa von den zahllosen körperlich und seelisch Leidenden in der Hölle von Theresienstadt erzähle, die sich in den Wahnsinn flüchteten, weil sie den Schmerz gesunden Sinnes eben nicht mehr ertrugen. (Vgl. H. G. Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, S. 625-685.) Zudem bezeichnet ja ,Wahnsinn‘ eine solche Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen von Seele und Geist, wie auch ,Schmerz‘ sehr verschiedene Leidensformen benennen kann, dass es mir schon deshalb schwer fällt, der Aussage in dieser simplen Verallgemeinerung zu folgen.

In diesem Falle setzen meine Zweifel an der Richtigkeit der Aussage allerdings noch früher an. Ich halte es nämlich für fragwürdig, ob je ein Mensch die freie Wahl zwischen diesen beiden Alternativen hatte: Schmerz bei vollem Bewusstsein oder Schmerzfreiheit im Wahnsinn? Gemeint ist vermutlich auch nicht eine solche reale Entscheidungssituation, sondern bloß die theoretische Erwägung eines Menschen bei klarem Verstand und ohne den Druck des Schmerzes. Dass es nun gar niemanden, also keinen einzigen Menschen geben soll, der sich für die Freuden des Wahnsinns und gegen den Schmerz bei „gesundem Sinn“ entscheidet, bleibt eine gewagte Behauptung. Wir wollen sie mal etwas abmildern und annehmen, dass der Künstler eine größere Zahl seiner Mitmenschen befragte und immer diese oder eine ähnliche Antwort bekam: „Um Himmels willen, nein! Wahnsinn? Bloß das nicht. Dann lieber Schmerzen ertragen!“

Ein solches Antwortverhalten scheint mir sogar glaubhaft und plausibel, weil ich weiß, dass die volkstümlichen Ansichten über den ,Wahnsinn‘ wilde Blüten treiben. Und grundsätzlich ist ja die Angst vor etwas Unbekanntem immer größer als die vor dem Vertrauten. Schmerz hat jeder schon einmal erfahren, Wahnsinn hingegen kennen die meisten Menschen nur vom Hörensagen oder jedenfalls doch nur ,von außen‘, nicht aus eigenem, innerem Erleben.

Der leere Stuhl steht vielleicht für den Platz, der reserviert wurde für jenen Menschen, der den Wahnsinn seinen Schmerzen vorzieht; und den es nicht geben soll, weshalb der Stuhl ewig leer bleibt. Ich weiß aber von Krebskranken, die dort Platz genommen haben, indem sie sich durch starke Morphingaben ihrer gesunden Sinne berauben ließen bis zur Bewusstlosigkeit. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich in ähnlicher Lage ebenfalls dort Platz nähme, statt vor Schmerz zu rasen.