Archive for January 20th, 2011

Plastiktütenplattitüden (I)

Thursday, 20. January 2011

mondueberstahlbruecke

Freitag, 8. Februar 2008. – Kein Niederschlag, schwacher Wind aus Süd-Südost, Temperaturen zwischen 1 °C und 9 °C. Punkt acht Uhr geht die Sonne auf, bis kurz nach halb sechs wird sie diesen Tag erhellen. In vielen Büros der Republik gehen die Beschäftigten gemäß gelockertem Dress-Code ihrer Beschäftigung nach: Casual Friday. Oder sie tun mindestens so, als ob sie, völlig unbeeindruckt von den bevorstehenden Wochenendfreuden, nichts anderes im Sinn hätten als am kleinen Rad in der großen Maschine ihres Arbeitgebers mit gut gespielter Emsigkeit zu drehen. Aber auch in Rollkragenpullover und Stone-washed-Jeans sind sie ,immer in innerer Alarmbereitschaft‘ (Wolfgang Neuss). Schließlich wollen sie sich ersparen, bald als Zeitungsverkäufer alle Tage der Woche gemäß gelockertem Dress-Code an der nächsten Straßenecke zu stehen: „Darf ich ihnen eine Obdachlosenzeitung anbieten?“

Wobei mir immer schon das gegen jedes Risiko abgesicherte, von der Geburt bis zum Tod plangemäß sich abspulende Leben weitaus schrecklicher erschien als noch der herbste Absturz. Philip Roth hat in seinem Roman Exit Ghost, dem zehnten Band seines Zuckerman-Zyklus, diesem Typ des selbstzufriedenen Kontrollfreaks in der Figur des Versicherungsanwalts Larry Hollis ein trauriges Denkmal gesetzt. Nachdem der kleine Larry mit zehn Jahren Vollwaise wurde, „entwarf er in seinem Tagebuch einen detaillierten Plan für die Zukunft, an den er sich für den Rest seines Lebens buchstabengetreu hielt; von da an war alles, was er tat, äußerst zielgerichtet.“ (Philip Roth: Exit Ghost. A. d. Am. v. Dirk van Gunsteren. München: Carl Hanser Verlag, 2008, S. 14.) – Brrr! Wie schauderhaft! Jener Larry Hollis, den Nathan Zuckerman als aufdringlich-hilfsbereiten Nachbarn ertragen muss, nervt den alternden Schriftsteller mit den ,abgedroschensten Fragen über das Schreiben‘. Roth lässt eine sehr amüsante Liste folgen, die ich, sollte ich je auf Lesereise gehen, vor jeder Veranstaltung im Publikum verteilen ließe, unter der Überschrift: ,Fragen, die Sie mir in der anschließenden Diskussion nicht stellen dürfen‘: 1. Woher kriegen Sie Ihre Ideen? – 2. Woher wissen Sie, ob eine Idee gut oder schlecht ist? – 3. Woher wissen Sie, ob Sie einen Dialog einsetzen oder eine Situation ohne Dialog beschreiben wollen? – 4. Woher wissen Sie, wann ein Buch fertig ist? – 5. Wonach wählen Sie den ersten Satz aus? – 6. Wonach wählen Sie den Titel aus? – 7. Wonach wählen Sie den letzten Satz aus? – 8. Welches Buch ist Ihr bestes? – 9. Welches Buch ist Ihr schlechtestes? – 10. Mögen Sie Ihre Protagonisten? – 11. Haben Sie je einen Protagonisten umgebracht? – 12. Im Fernsehen hab ich einen Schriftsteller sagen hören, dass die Personen in dem Buch die Führung übernehmen und es selbst schreiben. Stimmt das?‘ (Ebd., S. 15 f.)

Anfang 2008  hat Felicitas von Lovenberg anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung von Exit Ghost dessen Autor im New Yorker Büro seines Agenten Andrew Wylie interviewt. War sie bloß etwas zerstreut, oder hatte sie sich schlecht vorbereitet, jedenfalls stellte sie prompt die leicht abgewandelte Frage 8 aus der Tabuliste: „Haben Sie Lieblingsbücher unter Ihren Büchern?“ Roth war so gnädig, über diesen schlimmen Fauxpas hinwegzusehen, und antwortete völlig unbeeindruckt: „Nein. Wenn ich ein Buch fertiggestellt habe, bin ich durch damit. Auch den Ghostwriter habe ich nicht noch einmal gelesen, nur hineingeschaut, als Exit Ghost fertig war, um sicherzugehen, dass ich die Fakten noch richtig im Kopf hatte. Mein Lieblingsbuch ist insofern immer das, an dem ich gerade sitze.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 28 v. 2. Februar 2008, S. Z6.) Das ist, nebenbei bemerkt, auch die abgdroschenste Antwort, die man auf diese Frage geben kann. – Wie peinlich für Frau von Lovenberg! Müssen wir fürchten, sie demnächst Ecke Avenue B und 18th Street im unfreiwilligen Dauerfreitagsoutfit anzutreffen, ein New Yorker Homeless-Magazine feilbietend? Ach was, die Zeiten sind längst vorbei, in denen man ein Buch noch aufmerksam lesen musste, um sich auf ein solches Interview vorzubereiten.

Die erwähnte Straßenecke beschreibt übrigens kein Geringerer als der nahezu vergessene E. I. Lonoff in einer seiner Kurzgeschichten: „Der ruppige Wind eines zu frühen Herbstes trieb welkes Laub und wild scheppernde Cola-Dosen vor sich her und sammelte die abgenutzten Reste eines zum Tode verurteilte Jahres in den schmutzigen Winkeln dieser Straßenkreuzung. Verloren wartete Boldan auf eine Eingebung, auf das unwahrscheinliche Aufglimmen eines Hoffungsschimmers – und betrachtete dabei eine knisternde hellgrüne Plastiktüte, die sich an einer defekten Neonreklame verfangen hatte.“ (E. I. Lonoff: Short Storys. Vol. IV. New York 1953, S. 23.)

Wie der Zufall will, hat sich vor ein paar Tagen eine solche Plastiktüte im Rotdorn hinter unserem Haus verkrallt. Ein unschöner Anblick. Was tun? Ins morsche Geäst klettern und einen Absturz riskieren? Die Aussicht, dass uns dieses nie verrottende Tütchen durch den ganzen kommenden Frühling und Sommer mit seinem Geflattere und Geknistere auf den Wecker fällt, ist nicht eben erfreulich. Wenn unser Crataegus laevigata, auch ,Paul’s Scarlet‘ genannt, Ende Mai bis Anfang Juni in voller rosafarbener Blüte steht, wird die Tüte besonders unangenehm ins Auge fallen. Hat vielleicht jemand leihweise ein dressiertes Äffchen anzubieten, das uns von diesem blassgrünen Plagegeist befreit? Ich würde mich mit einem signierten Exemplar von Roths The Ghostwriter (1979) revanchieren, Band zwei des Zuckerman-Zyklus, in bester Erhaltung.

[Dieses Posting erschien zuerst am 8. Februar 2008 bei Westropolis als XI. Folge meiner Serie Jourmal intime unter dem Titel Freitag, 8. Februar 2008. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog geringfügig überarbeitet, ergänzt, gekürzt und korrigiert.]

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Thursday, 20. January 2011

hochobengruenerfetzen

Der Himmel hat keine Balken. Eins der Kollegen-Blogs, die ich zur Abhärtung gelegentlich besuche, ist das von Andreas Glumm. Wenn der mal um die Ecke geht, dann werden wieder die ewigen Vergleiche mit Rimbaud, Brinkmann und Fauser bemüht, die dann aber auch nichts mehr nützen. Aber wer weiß, ob es dem Glumm hülfe, wenn er jetzt plötzlich berühmt und dann gar reich würde. Eher wohl nicht! Was machte er denn mit dem vielen Geld? Ich wage gar nicht dran zu denken. Dann soll er lieber ein Geheimtipp bleiben. (Und wenn ich ihn hier lobe, mittlerweile sehr weit weg von der Mitte, dann kann ja nicht viel passieren.)

Das war jetzt aber noch nicht der angekündigte „Blick nach oben“, so weit möchte ich nun auch wieder nicht gehen. Glumm hat gestern einen Text veröffentlicht, der gleich eingangs von einem Stück Kunststoff handelt, das sich in einer Baumkrone verfangen hat. Im Park. Das erinnert mich an die nervende Plastiktüte, die sich am 8. Februar 2008 im Rotdorn hinter „unserem“ Haus verheddert hatte. Ich vermute, dass sie dort noch immer hängt. Unverrottbar eben, wie das Posting heißt, das ich im Oktober 2008 über dieses Ärgernis veröffentlichte.

Zuerst erwähnt hatte ich diese Baumverschmutzung in einem Blog über Philip Roth und seinen zehnten Nathan-Zuckerman-Roman Exit Ghost, das ich noch im Auftrag von Westropolis schrieb. Aber dieses Weblog der WAZ-Mediengruppe ist ja Anfang dieses Jahres komplett gelöscht worden, meine Verlinkungen dorthin landen jetzt allesamt bei der Homepage von DerWesten. Grrr! Das kann ich mir nicht gefallen lassen. Wenn ich an die aus diesem Trotz resultierende bevorstehende Sisyphusarbeit denke, wird mir zwar ganz anders. Aber wer weiß? Vielleicht ist es ja auch nützlich, die Westropolis-Artikel samt Kommentaren noch einmal wiederzulesen und auf ihre Haltbarkeit zu prüfen.

Schließlich gilt ja nicht nur für die Literatur- und Geistesgeschichte, dass jeder kluge (und dumme) Gedanke irgendwann schon einmal gedacht und ausgesprochen wurde, sondern auch für meine ganz private Hirn- und Zungenhistorie, in deren Verlauf mir jede spinnerte oder auch geniale Idee schon mal durch den Kopf gegangen und aus dem Maul gesprungen (bzw. aus der Feder geflossen) ist. Aber was mache ich denn dann eigentlich noch hier?

Jetzt weiß ich es! Es lebe die feine Differenz, die so belebende! Denn bei Glumm, siehe oben, ist keine grüne Plastiktüte Stein eines Anstoßes, sondern ein roter Luftballon liefert den Anlass für vielmehr durchaus angenehme („… so ein schöner knallroter …“) Empfindungen. Ja, mehr noch: Der Fremdkörper im Baum regt sogar ein Gespräch an über Gott und … nein, nicht über die Welt, sondern über den „…Zufall“! Nun höre ich schon wieder dies Geraune: ,Was will er damit sagen? Plastiktüte, Luftballon? Blick nach oben voll Verdruss, Blick zurück im Zorn?‘ Da kann ich nur gegenfragen: Wer hat denn hier Sinn versprochen? Widerspruchsfreiheit? Letzte Antworten? Ich jedenfalls nicht.