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Unvorstellbare Dimension?

Tuesday, 21. December 2010

blase4

Gestern stellte ich noch für die fernere Zukunft in Aussicht, die Unpäpstlichkeit der päpstlichen Rhetorik an einem Beispiel vorzuführen, will sagen: dass der Papst sich beileibe nicht so klar und deutlich ausdrückt, wie es von ihm als der maßgebenden Stimme der katholischen Kirche zu erwarten wäre. Heute nun scheint mir die Süddeutsche ein Kostpröbchen dieser Unklarheit auf dem Silbertablett zu liefern – vorausgesetzt, man traut ihrer redaktionellen Redlichkeit.

Anlass der Berichterstattung war die Ansprache des Papstes an die Römische Kurie mit den traditionellen Weihnachtsgrüßen. Den Inhalt der Botschaft fasst meine Tageszeitung so zusammen: „Die Kirche müsse überlegen, ,was falsch war an unserer Botschaft‘, und die ,Demütigung‘ als Aufruf zur Erneuerung begreifen. Das Ausmaß des Missbrauchs, wie es in diesem Jahr offenbar wurde, habe ,eine unvorstellbare Dimension‘ angenommen, sagte Benedikt vor den im Vatikan versammelten Kardinälen und Bischöfen. ,Wir wissen um die besondere Schwere dieser von Priestern begangenen Sünde und unsere entsprechende Verantwortung‘, sagte der Papst. Die Verbrechen müssten aber auch in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext gesehen werden, etwa im Zusammenhang mit der Verbreitung von Kinderpornographie und Sextourismus. So sei Pädophilie noch in den siebziger Jahren nicht so verpönt gewesen wie heute.“ (Papst fordert Selbstkritik; in: SZ Nr. 295 v. 21. Dezember 2010, S. 6; gleichlautend im Internet bei www.sueddeutsche.de.) Nun sind nur wenige Worte dieser Nachricht, nämlich genau 25, als wörtliche Zitate durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Zudem beruft sich die Zeitung auf Nachrichtenagenturen (dpa und dadp). Somit ist Vorsicht geboten, denn wenn ich nun diese Worte auf die Goldwaage lege, dann will ich nicht später zerknirscht zugeben müssen, dass meine Kritik bloß auf Übersetzungsfehlern, Verdrehungen und Verkürzungen beruht.

Aber immerhin schien mir doch ein Ausdruck eindeutig genug, um mein Missfallen bekunden zu können. Dass das Außmaß des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche „eine unvorstellbare Dimension“ angenommen habe, fand ich sprachlich unscharf und inhaltlich enttäuschend. Ist mit der Dimension der rein zahlenmäßige Umfang gemeint? Dann verstehe ich nicht, was daran unvorstellbar sein soll. Nichts kann man sich doch präziser vorstellen als eine Zahl oder einen Prozentsatz von Tätern. Eher schon kann ich mir denken, dass vielleicht die Vorstellungskraft eines katholischen Geistlichen damit überfordert ist, sich das Ausmaß der Verderbtheit seiner Glaubensbrüder, in jedem einzelnen Fall und in allen schrecklichen Einzelheiten, auszumalen. Aber wenn das so wäre, dann müsste man doch fragen, woher eine solche Weltfremdheit denn rührt – und ob sie nicht geradezu ,systemimmanent‘ ist in einer Kirche, die die Religion über das Leben stellt. Wenn nun aber der Papst selbst dem Ausmaß des Missbrauchs eine „unvorstellbare Dimension“ abliest, muss ich mir Sorgen machen, den eine für viele Millionen Anhänger vorbildliche Instanz sollte doch über genügend Vorstellungsvermögen verfügen, um nicht von den alltäglichen Lastern der übelsten Sünder überrascht zu werden.

So etwa gedachte ich, den in der SZ zitierten Passus – „unvorstellbare Dimension“ – zu demontieren. Sicherheitshalber suchte ich aber im Internet den vollständigen Text der päpstlichen Weihnachtsbotschaft an die Kurie und wurde auch sehr schnell fündig. In dieser Übersetzung – die Ansprache wurde vom Papst wie üblich in lateinischer Sprache verlesen – lauten die von den Presseagenturen zusammengefassten Passagen so: „Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, daß solches geschehen konnte. […] Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. […] [Wir waren] erschüttert, gerade in diesem Jahr in einem Umfang, den wir uns nicht hatten vorstellen können, Fälle von Mißbrauch Minderjähriger durch Priester kennenzulernen, die das Sakrament in sein Gegenteil verkehren, den Menschen in seiner Kindheit – unter dem Deckmantel des Heiligen – zuinnerst verletzen und Schaden für das ganze Leben zufügen. […] Der besonderen Schwere dieser Sünde von Priestern und unserer entsprechenden Verantwortung sind wir uns bewußt. Aber wir können auch nicht schweigen über den Kontext unserer Zeit, in dem diese Vorgänge zu sehen sind. Es gibt einen Markt der Kinderpornographie […]. Von Bischöfen aus den Ländern der Dritten Welt höre ich immer wieder, wie der Sextourismus eine ganze Generation bedroht und sie in ihrer Freiheit und Menschenwürde beschädigt. […] In den 70er Jahren wurde Pädophilie als etwas durchaus dem Menschen und auch dem Kind Gemäßes theoretisiert.“ (Monumentale Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Kurie; zit. nach www.kath.net, 20. Dezember 2010, 14:00 Uhr.) Es geht also nicht um eine Dimension, sondern um den Umfang des Missbrauchs. Und der ist nicht dem Papst nach wie vor unvorstellbar, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen – die meint wohl das „wir“ – hatte es sich nicht vorstellen können, dass so viele Priester auf diesen Abweg gerieten. Daran ist nun tatsächlich nichts auszusetzen. Ich hätte dem Papst Unrecht getan, wenn ich mich auf die „Zitate“ in der Süddeutschen verlassen hätte.

Übrigens bedarf es nur eines kurzen Gegoogels, um an diesem Beispiel wieder einmal zu sehen, dass die Pressevielfalt in den deutschsprachigen Ländern wie so oft nur noch eine vermeintliche ist. In allen Artikeln, die über die päpstliche Ansprache berichten, tauchen die gleichen Versatzstücke der Agenturen auf. Nicht eine der großen Zeitungen macht sich die Mühe, die ja wohl offizielle und vollständige Veröffentlichung des österreichischen Online-Magazins kath.net zu lesen und auf dieser Textgrundlage einen „gerechteren“ Artikel zu verfassen. Erbärmlich!