Archive for December, 2010

Kalter Kaffee

Friday, 31. December 2010

schwarzeflammen

Als ich heute vor einem Jahr, nur halb im Scherz, diese finstere Prognose für 2010 aufstellte, konnte ich noch nicht ahnen, wie strapaziös und gefahrvoll dieses nun endlich vergehende Jahr werden würde – für mich persönlich ebenso wie für den Rest der Welt. Dabei richte ich meinen Blick ja nicht einmal ungeschützt auf die teils traurige, teils erschreckende, teils ekelerregende, teils todlangweilige Wirklichkeit selbst, sondern meist nur auf deren sprachliches bzw. schriftliches Abbild. Doch das reicht mir schon, aber satt!

Längst finde ich kein noch so schwaches Anzeichen mehr, das auf Besserung deutete. Grundsätzlich entpuppen sich alle frohen Botschaften aus der Wirtschaft als Horrormeldungen, wenn ich sie vor einem weiteren zeitlichen und räumlichen Horizont ans Licht halte. Wie kann ich mich – um nur ein Beispiel anzuführen – darüber freuen, wenn in Deutschland neuerdings Beschäftigungsrekorde gefeiert werden, da ich doch weiß, dass diese erstaunliche Trendwende insbesondere von unserem rasant boomenden Autoexportgeschäft mit China ausgelöst wurde. An dieser Entwicklung ist ja nun gar nichts erfreulich! Erstens sollte man ein Land, das Jahr für Jahr seinen eigenen Weltrekord vollstreckter Todesurteile übertrifft und einen Friedensnobelpreisträger im Gefängnis verwahrt, eher mit einem Handelsboykott belegen, als seine Führungsschicht mit Luxuskarossen zu versorgen. Zweitens ist die Beihilfe zur Privatmotorisierung in einem Schwellenland mit demnächst 1,4 Milliarden Einwohnern ökologisch betrachtet eins der schlimmsten Verbrechen, das wir dem Globus antun können. Drittens werden sich diese Chinageschäfte ohnehin bald als ein Strohfeuer erweisen, denn die Ingenieure im Reich der Mitte arbeiten seit Jahren schon mit Unterstützung versierter Hacker fieberhaft an einem west-östlichen „Know-how-Transfer zum Null-Tarif“ von nie dagewesenen Ausmaßen und noch nicht absehbaren Folgen. Viertens erweist sich die Abhängigkeit, in die wir uns mit diesen Exportgeschäften begeben haben, als fatale Falle: Wir hängen am Tropf – und dieses Bild passt noch in anderer Hinsicht, sind wir doch auch demographisch eine Gesellschaft, die zunehmend zum Pflegefall degeneriert.

Wenn ich noch einen Schritt weiter zurücktrete und mir eine Grundwahrheit in Erinnerung rufe, die mich in meiner Jugend Mitte der 1970er-Jahre erreichte und die bei aller Patina, die sie mittlerweile vielleicht angesetzt hat, im Kern immer noch über jeden Zweifel erhaben ist, dann erscheint mir das Tagesgeschäft, das die gewählten oder selbsternannten Politiker als Sachwalter unserer und der Interessen unserer Kinder und Kindeskinder betreiben, wie ein blindwütiges Pfuschwerk. Im Jahr 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine Studie The Limit of Growth, deren Prognosen sich in manchen Details vielleicht als falsch erwiesen haben mögen. Aber die schon im Titel deutlich ausgesprochene Erkenntnis, dass die Möglichkeiten wirtschaftlichen Wachstums auf dieser Erde begrenzt sind, erweist seine Wahrheit in den alltäglichen Horrormeldungen über die schrecklichen Folgen, die wir angerichtet haben, indem wir diese Grenzen nicht respektierten und heute mehr denn je ignorieren.

Noch keine Neujahrsansprache keines Bundekanzlers kam ohne die Beschwörung des wirtschaftlichen Wachstums aus, das ist auch zu diesem Jahreswechsel nicht anders. Diesmal vermeiden Angela Merkels Redenschreiber zwar das mittlerweile vielleicht doch etwas suspekt gewordene Wort „Wachstum“, aber nur, um den gleichen Wahnsinn in andere Wörter zu kleiden. Nachdem die Bundeskanzlerin einige Leistungen der Bundesregierung im zurückliegenden Jahr 2010 aufgezählt hat, resümiert sie: „Das alles trägt zu Zusammenhalt und Wohlergehen bei. Denn Wohlergehen und Wohlstand – das heißt nicht nur ,mehr haben‘, sondern auch ,besser leben‘? Dafür brauchen wir Sie, die Menschen, die etwas besser machen wollen, die sagen: Geht nicht, gibt ’s nicht, die eine Idee haben und den Mut, sie auch umzusetzen.“ (Angela Merkels Neujahrsansprache für 2011; hier nach Welt Online.) – Es geht also wie gehabt um ein Mehr, um quantitatives Wachstum; und die Spitzfindigkeit, dass doch auch Qualität eine Rolle dabei spielen soll, indem ein Besser ins Spiel gebracht wird, ist schnell entlarvt. Schon bei den Ideen, die die Tüftler der Republik mutig verwirklichen sollen, damit die Erfindernation ihren Ruf als solche verteidigen kann, stutzt man und fragt sich, warum hier nicht von einer „guten Idee“ die Rede ist. Dass die bloße Machbarkeit noch kein hinreichendes Plazet für die geschäftstüchtigen Macher sein kann, ihre womöglich zerstörerischen Geisteskinder auf die Menschheit loszulassen, kommt dieser Kanzlerin erst gar nicht in den Sinn. Ideen sind gut, wenn sie sich rechnen und Arbeitsplätze schaffen, das ist nach wie vor das Credo dieser Politik. Eine solche Rhetorik braucht nur 17 Wörter, um den „Ausstieg aus dem Ausstieg“, die Rückkehr zur Atomkraft also, in einen ökologischen und zugleich wirtschaftlichen Geniestreich umzulügen: „Wir gehen den Weg zur modernsten Energieversorgung der Welt, die Klima und Umwelt schont und bezahlbar ist.“ (Angela Merkels Neujahrsansprache für 2011, a. a. O.)

Vorhersagen für das kommende Jahr kann ich mir sparen. Es wird schlimmer, das ist gewiss. Also gilt es der Wahrheit zuliebe, unbarmherzig Schwarzmalerei zu betreiben, Tag für Tag das Elend beim Namen zu nennen. Und wie kann man das durchhalten? Günther Anders kennt folgendes Mittel: „Denjenigen aber, die, von der düsteren Wahrscheinlichkeit der Katastrophe gelähmt, ihren Mut verlieren, denen bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen die zynische Maxime zu befolgen: ,Wenn ich verzweifelt bin, was geht ’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!‘“ (Günther Anders: Thesen zum Atomzeitalter; in: Die atomare Drohung. München: C. H. Beck, 1983, S. 105.) – So auch ich 2011.

Heinrich Funke: Das Testament (VI)

Monday, 27. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (VI)

Ich weiß schon, warum ich Heinrich hier als „Künstler“ vorgestellt habe – und nicht etwa als „Künstler und Autor“, was ja immerhin insofern nahegelegen hätte, als das hier vorgestellte Opus ein Bild- und Wort-Werk ist. Aber der Umgang mit den Wörtern ist Heinrichs starke Seite nicht, das wird wieder bei diesem unbeholfenen Satz deutlich. „Die tiefste Erfahrung lautet nicht Freiheit sondern Ohnmacht“. Eine Erfahrhung kann nicht „lauten“, das spürt man spätestens, wenn man mit einer Frage auf diese Satzaussage zielt: „Wie lautet die tiefste Erfahrung?“ Nein, das ist nicht bloß altbacken, sondern schief bis zum Umfallen. Allenfalls ginge noch „heißt“. Aber warum wählt er nicht die simpelste, doch so naheliegende Variante und schreibt schlicht und schön: „Die tiefste Erfahrung ist nicht Freiheit sondern Ohnmacht“?

Aber wir wissen ja, was das Verb meinen und der Satz bedeuten soll. Viel größere Schwierigkeiten habe ich mit dem Adjektiv „tief“. Was sind denn tiefste Erfahrungen? Haben Erfahrungen überhaupt Tiefe, gar eine mess- und vergleichbare? Und wie soll das Maß zum Vergleich von subjektiver Erfahrungstiefe noch zu deren kollektivem Ausloten tauglich sein? Ich versuche einmal, das Problem an einem konkreten Beispiel von Erfahrung zu erläutern und dabei nicht gleich den Superlativ in den Blick zu nehmen. Ich habe Zahnschmerz erfahren und ich habe Ohrenschmerzen erfahren. Ein Ohrenschmerz-Anfall, an den ich mich noch gut erinnere, war wohl schlimmer als mein schlimmster Zahnschmerz-Anfall. So könnte ich sagen, dass die Erfahrung von Ohrenschmerzen für mich tiefer war als die von Zahnschmerzen. Andererseits hatte ich bisher wesentlich häufiger Zahn- als Ohrenschmerzen, weshalb erstere dann doch die tieferen Spuren bei mir hinterlassen haben. Und wenn ich mich jetzt mit jemandem unterhalte, der ebenfalls bereits sowohl unter Ohren- als auch unter Zahnschmerzen gelitten hat, und dieses Gegenüber widerspricht mir nun energisch: „Aber nein, meine Zahnschmerzen waren viel schlimmer, viel ,tiefer‘, wenn du so willst, als meine Ohrenschmerzen!“ – dann wäre es doch unsinnig, bloß wegen meiner entgegengesetzten Erfahrung auf der allgemeinen Aussage zu beharren: „Ohrenschmerzen sind schlimmer – ,tiefer‘ – als Zahnschmerzen!“

Meine Bedenken gegen diese, um das Mindeste zu sagen, gewagte These von der tiefsten Erfahrung kann ich vielleicht am besten verdeutlichen, wenn ich noch ein paar weitere Vergleichssätze nach dem hier vorgegebenen Muster danebenstelle. Wie wäre es etwa mit: „Schmerz ist eine tiefere Erfahrung als Lust.“ Ist Lust denn überhaupt eine tiefe Erfahrung? Spricht man nicht vielmehr und mit gutem Grund im Gegenteil von höchster Lust? Tatsächlich wäre meiner Erfahrung, was Ohnmacht und Freiheit betrifft, dieser Satz viel näher: „Ohnmacht ist die tiefste, Freiheit die höchste Erfahrung.“ Und noch besser träfe es meine Sicht der Dinge, wenn dieser doch etwas zu allgemeine Satz noch begrenzt würde, etwa so: „Ohnmacht ist die tiefste, Freiheit die höchste Erfahrung unserer Grenzen.“

Aber, bitte! Ich bin ja hier nicht der Künstler und Autor, sondern bloß der Interpret – und als solcher habe ich das Gegebene hinzunehmen, wie es nun einmal vor mich tritt.

Die drei etwas verknittert aussehenden Herren – Chinesen? Philosophen? Mönche? – in ihren wallenden Gewändern stehen beieinander, als müssten sie sich über etwas beraten. Sie haben sich wohl um ein Fass herum versammelt, aus dem sie vielleicht Wein oder Wasser geschöpft haben. Sie haben möglicherweise die Macht, mit vereinten Kräften das Fass umzustoßen, sodass sich sein Inhalt, ganz gleich ob Wasser oder Wein, auf den Boden ergießt. Sie sind frei, dies zu tun und können ihre zwar sinnlose, aber folgenreiche Tat als einen Akt der Freiheit empfinden. Anschließend aber, wenn der Durst sich wieder meldet und der Wein oder meinetwegen auch das Wasser durch die Ritzen des Pflasters in den Boden gesickert ist, dann werden sie in ohnmächtiger Wut die Erfahrung machen, dass es nicht in ihrer Macht steht, das verschwendete Gut wieder ins Fass zurückzubringen. Und diese Wut wird mindestens dann eine tiefere Erfahrung sein als das Gefühl der Freiheit während der sinnlosen Tat, wenn die drei Herren elendiglich verdursten.

Ghana (V) – Bürgerkrieg beim Nachbarn

Sunday, 26. December 2010

fluchtuebergrenzen

Vor zwei Jahren war Ghana für mich ein afrikanischer Staat neben vielen anderen. Und Afrika war der arme Kontinent, Europas schlechtes Gewissen seit der Kolonisation und der Sklavenverschiffung gen Amerika, ein Erdteil der blutrünstigen Diktatoren seit Idi Amin und der Hungerkatastrophen seit Biafra, auch der Bürgerkriege und blutigen Umstürze, der Menschenschlächtereien und Epidemien, nebenbei auch der Ursprungsort von Aids – der Schwarze Kontinent eben, in doppelter Hinsicht: black skin and black sin.

Seither hat einer meiner Söhne ein Jahr in Ghana gelebt, hat dort seine Frau gefunden und sie mit nach Deutschland gebracht. Vor einer Woche ist meine Enkeltochter Liana zur Welt gekommen. Mein Verhältnis zu Ghana ist nach diesen Ereignissen, auf die ich zwar kaum Einfluss nehmen konnte, dennoch ein gewandeltes. Ob ich es will oder nicht: Ghana ist mir nun unversehens ans Herz gewachsen, es liegt mir jedenfalls näher als einer unserer geographischen Nachbarstaaten, näher als zum Beispiel Polen.

Seit einigen Wochen ist im westlichen Nachbarstaat von Ghana, in der Elfenbeinküste (République de Côte d’Ivoire), der Teufel los. Der amtierende Präsident, Laurent Gbagbo, hält sich schon seit fünf Jahren ohne legitimen Wahlentscheid an der Macht. Am 31. Oktober dieses Jahres fand nun endlich eine erste Wahlrunde statt, bei der sich Gbagbo vor seinem schärfsten Konkurrent Alassane Ouattara als Favorit durchsetzte. Bei der Stichwahl am 28. November errang dann Ouattara die Mehrheit. Dies wollte aber Gbagbo nicht akzeptieren und ließ sich, internationalen Protesten zum Trotz, als Präsident vereidigen. Sein Konkurrent gab nicht klein bei und ließ sich ebenfalls vereidigen. Seither hat die Elfenbeinküste zwei amtierende Präsidenten und steht kurz vor einem Bürgerkrieg. In meiner Tageszeitung kommt das Land dennoch nur unter „ferner liefen“ vor. Am Dienstag meldet dpa, dass die EU ein Einreiseverbot für Laurent Gbagbo verhängt habe – als ob dem selbsternannten Präsidenten, der sich seit der Wahl in seinem Amtssitz verschanzt, der Sinn nach einer Europareise stünde! Am Donnerstag meldet AFP, dass deutschen Staatsangehörigen vom Auswärtigen Amt die Ausreise aus Ghana empfohlen werde, da der Machtkampf zwischen Gbagbo und Ouattara jederzeit „auch großflächig in Gewalt umschlagen“ könne. In der Weihnachtsausgabe der Süddeutschen lese ich, dass bereits 200 Menschen in Ghana bei Unruhen zu Tode gekommen seien und die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg wachse. Und heute entnehme ich den Radionachrichten im WDR, dass bereits tausende Menschen aus der Elfenbeinküste ins benachbarte Ausland geflohen seien.

Die Gefahr rückt immer näher, zumal ich weiß, dass die Familie meiner Schwiegertochter in unmittelbarer Nähe der Grenze zur Elfenbeinküste lebt. Ihr Heimatort heißt Dormaa-Ahenkro, eine Kleinstadt mit rund 20.000 Einwohnern. Im aktuellsten Reiseführer für Ghana lese ich: „Die Hauptstraße führt von Sunyani über Berekum schnurstracks nach Dormaa-Ahenkro (80 km), einem Örtchen mitten im Regenwald an der Grenze zu Côte d’Ivoire. Es war einmal viel mehr los hier, nun ,sprudeln‘ die Menschenströme nicht mehr wie früher über die Grenze. Der Grenzposten in Dormaa-Ahenkro ist nur noch für den ,kleinen Grenzverkehr‘ zwischen den beiden Völkern, die eng miteinander verwandt sind, wichtig. – Die eigentliche Grenze liegt noch 7 km weiter westlich von Dormaa-Ahenkro in Badukrom bzw. Gonnokrom. Sehr wenige Autos fahren über diese Grenze zu Zielen in Côte d’Ivoire. Normalerweise ist ein Umsteigen in einer der beiden Grenzstädte notwendig, wobei Gonnokrom besser für den Grenzübertritt per Auto geeignet ist. Gäste mit etwas Zeit sollten Badukrom besuchen, da das Städtchen eine Kuriosität ist. Die Hälfte davon ist ghanaisch und die andere Hälfte ivorisch, Grenzmarkierungen sind jedoch nicht vorhanden. Man geht einfach zu Fuß durch den Ort und begegnet zwei verschiedenen Welten.“ (Jojo Cobbinah: Ghana. Praktisches Reisehandbuch für die „Goldküste“ Westafrikas. Frankfurt am Main: Peter Mayer Verlag, 2009, S. 386.)

Wenn die Grenzen dort so offen sind, dann ist Veronicas Heimat vielleicht schon von Menschen aus dem Nachbarstaat überlaufen, so denke ich. Aber dann erfahre ich aus anderen Quellen, dass die Flüchtlinge nicht nach Osten, sondern ins westlich angrenzende Liberia strömen – und atme auf. Meine Schwiegertochter selbst bekommt von all dem übrigens gar nichts mit. Sie hat jetzt ganz andere Sorgen, muss sich um das kleine Töchterchen kümmern. Wie sehr doch unser ganzes Sinnen und Trachten davon abhängt, was uns nah ist und was fern. Und insofern ist auch klar, da mache ich mir nichts vor, was mir bei aller Empathie stets am nächsten ist: Ich, ich, ich!

Westropolis – ein Epilog (I)

Saturday, 25. December 2010

westropolis

Dieser Tage bekam ich Weihnachtspost vom Comunity Management der Redaktion von DerWesten, dem Internetportal der WAZ-Gruppe in Kooperation mit dem WDR. Die Absenderin bedankte sich bei mir und den Lesern und Kulturfreunden, die „uns“ durch ihre Text- und Bildbeiträge zu der Kulturplattform Westropolis viele interessante und lehrreiche Eindrücke aus der Kulturlandschaft an Rhein und Ruhr vermittelt hätten. Mit der ersten Person Mehrzahl sind wohl einerseits die Comunity Manager bei DerWesten gemeint, andererseits können auch die Leserinnen und Leser in aller Welt mitgedacht werden, die Westropolis in den vergangenen knapp vier Jahren seit Mitte Februar 2007 besucht haben.

Viele waren das vermutlich nie. Und zuletzt dürften die Besucherzahlen wohl noch weiter in den Keller gesackt sein, wenn man von den gegen null tendierenden Kommentarzahlen auf die Gesamtfrequenz hochrechnen will. Dabei hatte das Kulturportal ursprünglich gute Aussichten, sich für das Ruhrgebiet zu einem etablierten Online-Forum für lebendige und unabhängige Kulturberichterstattung zu mausern. Das Webdesign und die Bedienfunktionen konnten sich durchaus sehen lassen. (Entwickelt hatte die Webseite vi knallgrau aus Wien, auf der Basis der hauseigenen Multimedia-Blog-Software twoday media.) Zudem zeichnete sich am Horizont das Kulturhauptstadt-Jahr 2010 ab, das sicher genügend Inhalte für eine lebendige und interessante Kulturberichterstattung bieten würde. Entsprechend aufgeregt reagierten Pottblog, Gelsenclan & Co, die angestammte Blogger-Szene im Revier, auf den Newcomer mit dem reichen Onkel im Hintergrund, der selbst überregional für kurzfristige Aufmerksamkeit sorgte.

Westropolis war gerade gestartet, da hörte ich von diesem „Experiment“. (So nennt es ja zum Abschluss jetzt „Das westropolis-Team“.) Zu diesem Zeitpunkt war für mich bereits absehbar, dass ich nach fast 30 Jahren in festen Anstellungen bald wegen Unternehmensstilllegung auf der Straße stehen würde. Zuletzt war ich u. a. als Redakteur für den Internet-Auftritt eines mittelständischen Verlagshauses tätig gewesen, das Schreiben für Online-Medien war mir also durchaus vertraut: „Knackige Headlines! Bündige Teasertexte! Kurze Sätze! Süffige Geschichten! Das Wichtigste zuerst! Viele Bilder! – Parole: Denk immer an den Döfsten!“ Mit dieser Referenz und jenen Qualifikationen stellte ich mich im frischmöblierten Großraumbüro von DerWesten an der Friedrichstraße in Essen vor und wurde nach Ablieferung einiger Kostproben aus meiner Feder zu meiner Verwunderung vom Fleck weg als regelmäßiger Beiträger engagiert, drei Beiträge pro Woche. Von Mitte April 2007 an prangte mein Zylinderporträt neben ein paar Kollegen im rechten Frame der Westropolis-Seite unter der Titelzeile „Gastautoren“. Mit von der Partie waren anfangs die Westfälische-Rundschau-Redakteure Nadine Albach und Bernd Berke, die Buchautoren Hatice Akyün und Johannes Groschupf, der Dramaturg Christian Scholze, der Musikjournalist Ingo Juknat sowie die Filmjournalistin, Buchautorin und Bloggerin Else Buschheuer; kurz drauf kam noch Jürgen Overkott hinzu, ebenfalls von der WR.

Ich stürzte mich gleich mit Feuereifer in die Arbeit und probierte in den folgenden 16 Monaten allerlei aus. Ich beließ es allerdings nicht beim Schreiben von Artikeln, sondern beteiligte mich auch eifrig als Kommentator, sowohl unter meinen eigenen als auch unter den Beiträgen anderer Autoren. Gerade die lebhafte Diskussion der Texte schien mir ja den besonderen Reiz der Bloggerei auszumachen, im Unterschied zu den langsamen Printmedien, in denen es als „Resonanzboden“ allenfalls eine stiefmütterlich unterhaltene Leserbriefspalte gibt. Hinzu kam, dass ich als Autor keine statistischen Auswertungen zu den Klickzahlen auf meine Artikel erhielt – angeblich gab es dergleichen Statistiken nicht. So war das einzige aussagekräftige Feedback, das ich zu meiner Arbeit erhielt, die Resonanz in den Kommentaren. Ich setzte also meinen Ehrgeiz darein, möglichst viele Kommentare „einzufahren“. Ob das der Qualität meiner Beiträge immer zuträglich war, will ich dahingestellt sein lassen.

Jetzt, wo der Vorhang fällt, scheint evident, dass das Pilotprojekt Westropolis bloß der Absicherung der unerfahrenen Entscheider bei der WAZ-Gruppe diente, um daran risikolos zu testen, ob vi knallgrau ein solches Großobjekt wie den Internet-Auftritt des Zeitungsriesen wohl hinbekäme. Anschließend ließ man den Versuchsballon noch ein Weilchen schweben, er kostete ja kaum was. An einem selbstgestellten Anspruch war vi knallgrau allerdings völlig gescheitert, hatte es über Westropolis doch geheißen, diese vorerst eigenständige Plattform im Kulturbereich solle nach dem Launch von WestEins (so der Arbeitstitel von DerWesten) in das Gesamtportal nahtlos eingegliedert werden können. Davon konnte freilich zu keiner Zeit die Rede sein. Der Button auf Westropolis wirkte bei DerWesten von Anfang an und bis zuletzt wie ein Fremdkörper, wie der verschämte Hinweis auf ein ungeliebtes Kind. – Was mich betrifft, so habe ich meine Arbeit für Westropolis als eine wertvolle Zeit in bester Erinnerung, mit vielen unvergessenen Begegnungen und nützlichen Erfahrungen. Ich nehme die Liquidation des Unternehmens darum zum Anlass, mich öffentlich an einige meiner vielleicht lehrreichsten Erlebnisse zu erinnern, den Kommenden zu Nutz und Frommen, allen anderen zur Unterhaltung oder Übelnahme.

[Zur nächsten Folge.]

Heinrich Funke: Das Testament (V)

Thursday, 23. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (V)

Das zweite Masereel-Bild lässt uns wieder in eine Gaststätte schauen, diesmal in ein Café, wie wir in Spiegelschrift auf der Glastür links hinten lesen können. Wenn wir die beiden Bilder nebeneinanderhalten, dann fällt auf, dass hier trostlose Leere herrscht – während die Trostlosigkeit im vorigen Bild gerade von der Überfüllung herrührte, gerade so, als sollte durch diese Gegenüberstellung deutlich werden: Dem Gast kann es kein Wirt recht machen! Entweder fühlt er sich beengt, oder er leidet unter Vereinsamung. Und natürlich könnte man diese Einsicht vom Gast auf den Menschen ganz allgemein übertragen, der sich auch selten wirklich rundum wohl fühlt in seiner Haut und in seiner Behausung.

Liege ich mit dieser Einschätzung überhaupt richtig? Vielleicht bilde ich mir das Missbehagen der Menschen, die ich in dieser Kneipe und in diesem Café hocken sehe, ja bloß ein. Das ist insofern nicht ganz abwegig, als ich noch nie ein eifriger Kneipenbesucher war und mich in den letzten Jahren schon aus wirtschaftlichen Gründen dort noch rarer gemacht habe. Insofern hätte ich allen Grund, die beiden Bilder mit einem Missbehagen zu betrachten, denn wenn mich die dort gezeigten Orte geselligen Beisammenseins anheimelten, müsste ich ja neidisch werden. Dann wäre meine Empfindung abgründiger Trostlosigkeit, die mich bei der Betrachtung beider Bilder befällt, ein ganz persönlicher Schutzreflex, von dem ich keineswegs eine allgemeingültige Interpretation ableiten dürfte.

Und nun dieser Satz, der wieder wie eine Ermahnung klingt: „Der Finger der auf den Mond zeigt ist nicht der Mond“. Dies könnte allerdings ein Fingerzeig von allgemeinerer Gültigkeit sein, der sich dann ganz grundsätzlich auf unsere Wahrnehmung und insofern auch auf die Betrachtung dieser Linolschnittfolge bezöge. Wir sollen demnach Bild und Text nicht zu eng auffassen und schon gar erst recht dem Zusammenspiel von beidem weitesten Raum lassen.

Ich kenne diese Sentenz nur in einer (allerdings entscheidend) abgewandelten Form: „Wenn der Weise auf den Mond zeigt,“ so heißt es in einem aus dem alten China überlieferten Sprichwort, „sieht der Idiot nur den Finger.“ Hierbei drängte sich mir allerdings immer die Frage auf, warum der vermeintlich Weise denn ein offenbar so untaugliches Mittel einsetzt, wenn er dem Idioten den Mond zeigen will. Ein weiser Lehrer wäre er dann jedenfalls nicht.

Aber auch das will ich gern noch konzedieren, dass es vielleicht Weise geben mag, deren Weisheit dermaßen fern von allen gewöhnlichen Blickrichtungen siedelt, dass auch der gutwilligste Hingucker darüber zum Idioten wird. Nicht selten sah ich aber solche, die beim Anblick des Fingers höchstes Vergnügen empfanden und sich nicht bloß gut unterhalten, sondern auch belehrt fanden. Wollen wir ’s ihnen nicht gönnen? Und was sind wir selbst für arme Tröpfe, wenn wir mit Fingern auf solche zeigen und sie Idioten nennen.

Nichts gefunden?

Wednesday, 22. December 2010

hohlblase

Doch, auch heute gäbe es Stoff genug für meine Zeitungsschelte. Allein, ich war nicht in der rechten Stimmung und muss überdies feststellen, dass ich mir mit meinem Alltäglichkeits-Versprechen für diese Rubrik ein etwas zu enges Korsett umgeschnallt habe. Heute blieb mir schlicht die Puste weg!

Es zeigte sich, dass ich mir selbst solch ein unscheinbares Kläpschen auf die Pfoten der Redakteure nicht mal eben so zwischen Frühstücksei und Stuhlgang abquetschen kann. (Ich weiß, das ist ein schiefes Bild!) Man denke nur an die gestrige Glosse über die Papst-Ansprache. Dazu ist schon einiges an Recherche und mühseligem Textvergleich nötig. Es kostet Zeit und auch Kraft. Zudem stehe ich bei diesen Kritiken an den Kolleginnen und Kollegen unter besonderem Druck, möchte ja um Himmels willen bloß selbst keinen noch so kleinen Fehler machen, denn die Blamage tu ja besonders weh, wenn man mit Steinen schmeißt und plötzlich feststellt, im Glashaus gesessen zu haben.

Darum korrigiere ich mich wieder einmal und modifiziere meine Selbstverpflichtung dahingehend, dass ich mindestens dann ein Zitat aus der Süddeutschen des Tages aufs Korn nehme, wenn ich sonst keinen Beitrag veröffentliche. Es soll ja nicht darauf hinauslaufen, dass ich nur noch „Sprechblasen“ ablasse, so wichtig ist mir das morgendliche Ärgernis der Zeitungslektüre auch wieder nicht. Genauer gesagt: bei Weitem nicht.

Dass ich mir selbst etwas Druck mache, ist ansonsten schon okay! Ich neige nämlich dazu, die Zügel gelegentlich schleifen zu lassen. Mir läuft aber die Zeit davon. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch bei einem Autor, der die Verlangsamung zum Hauptziel seiner Fortbewegung deklariert hat, sowohl in seiner Arbeit als auch in seinem übrigen Leben.

Heute jedenfalls habe ich nicht nötig, mich über den folgenden Werbeslogan in einer Buchrezension zu echauffieren: „Wenn es ein Buch gibt, das die Wall Street beschreibt, wie sie wirklich ist, dann ist es dieses: […].“ (Alexander Mühlauer: Die großen Helden; in: SZ Nr. 296 v. 22. Dezember 2010, S. 26.) Meine treuen Leser werden sich vermutlich selbst denken können, was mich an diesem Satz auf die Palme bringt. Heute darf ich einmal faul sein. Und überhaupt habe ich ja schon einen Blogbeitrag geschrieben – nämlich diesen hier, in dem ich erkläre, warum ich heute blau machen darf [s. Titelbild].

Unvorstellbare Dimension?

Tuesday, 21. December 2010

blase4

Gestern stellte ich noch für die fernere Zukunft in Aussicht, die Unpäpstlichkeit der päpstlichen Rhetorik an einem Beispiel vorzuführen, will sagen: dass der Papst sich beileibe nicht so klar und deutlich ausdrückt, wie es von ihm als der maßgebenden Stimme der katholischen Kirche zu erwarten wäre. Heute nun scheint mir die Süddeutsche ein Kostpröbchen dieser Unklarheit auf dem Silbertablett zu liefern – vorausgesetzt, man traut ihrer redaktionellen Redlichkeit.

Anlass der Berichterstattung war die Ansprache des Papstes an die Römische Kurie mit den traditionellen Weihnachtsgrüßen. Den Inhalt der Botschaft fasst meine Tageszeitung so zusammen: „Die Kirche müsse überlegen, ,was falsch war an unserer Botschaft‘, und die ,Demütigung‘ als Aufruf zur Erneuerung begreifen. Das Ausmaß des Missbrauchs, wie es in diesem Jahr offenbar wurde, habe ,eine unvorstellbare Dimension‘ angenommen, sagte Benedikt vor den im Vatikan versammelten Kardinälen und Bischöfen. ,Wir wissen um die besondere Schwere dieser von Priestern begangenen Sünde und unsere entsprechende Verantwortung‘, sagte der Papst. Die Verbrechen müssten aber auch in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext gesehen werden, etwa im Zusammenhang mit der Verbreitung von Kinderpornographie und Sextourismus. So sei Pädophilie noch in den siebziger Jahren nicht so verpönt gewesen wie heute.“ (Papst fordert Selbstkritik; in: SZ Nr. 295 v. 21. Dezember 2010, S. 6; gleichlautend im Internet bei www.sueddeutsche.de.) Nun sind nur wenige Worte dieser Nachricht, nämlich genau 25, als wörtliche Zitate durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Zudem beruft sich die Zeitung auf Nachrichtenagenturen (dpa und dadp). Somit ist Vorsicht geboten, denn wenn ich nun diese Worte auf die Goldwaage lege, dann will ich nicht später zerknirscht zugeben müssen, dass meine Kritik bloß auf Übersetzungsfehlern, Verdrehungen und Verkürzungen beruht.

Aber immerhin schien mir doch ein Ausdruck eindeutig genug, um mein Missfallen bekunden zu können. Dass das Außmaß des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche „eine unvorstellbare Dimension“ angenommen habe, fand ich sprachlich unscharf und inhaltlich enttäuschend. Ist mit der Dimension der rein zahlenmäßige Umfang gemeint? Dann verstehe ich nicht, was daran unvorstellbar sein soll. Nichts kann man sich doch präziser vorstellen als eine Zahl oder einen Prozentsatz von Tätern. Eher schon kann ich mir denken, dass vielleicht die Vorstellungskraft eines katholischen Geistlichen damit überfordert ist, sich das Ausmaß der Verderbtheit seiner Glaubensbrüder, in jedem einzelnen Fall und in allen schrecklichen Einzelheiten, auszumalen. Aber wenn das so wäre, dann müsste man doch fragen, woher eine solche Weltfremdheit denn rührt – und ob sie nicht geradezu ,systemimmanent‘ ist in einer Kirche, die die Religion über das Leben stellt. Wenn nun aber der Papst selbst dem Ausmaß des Missbrauchs eine „unvorstellbare Dimension“ abliest, muss ich mir Sorgen machen, den eine für viele Millionen Anhänger vorbildliche Instanz sollte doch über genügend Vorstellungsvermögen verfügen, um nicht von den alltäglichen Lastern der übelsten Sünder überrascht zu werden.

So etwa gedachte ich, den in der SZ zitierten Passus – „unvorstellbare Dimension“ – zu demontieren. Sicherheitshalber suchte ich aber im Internet den vollständigen Text der päpstlichen Weihnachtsbotschaft an die Kurie und wurde auch sehr schnell fündig. In dieser Übersetzung – die Ansprache wurde vom Papst wie üblich in lateinischer Sprache verlesen – lauten die von den Presseagenturen zusammengefassten Passagen so: „Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, daß solches geschehen konnte. […] Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. […] [Wir waren] erschüttert, gerade in diesem Jahr in einem Umfang, den wir uns nicht hatten vorstellen können, Fälle von Mißbrauch Minderjähriger durch Priester kennenzulernen, die das Sakrament in sein Gegenteil verkehren, den Menschen in seiner Kindheit – unter dem Deckmantel des Heiligen – zuinnerst verletzen und Schaden für das ganze Leben zufügen. […] Der besonderen Schwere dieser Sünde von Priestern und unserer entsprechenden Verantwortung sind wir uns bewußt. Aber wir können auch nicht schweigen über den Kontext unserer Zeit, in dem diese Vorgänge zu sehen sind. Es gibt einen Markt der Kinderpornographie […]. Von Bischöfen aus den Ländern der Dritten Welt höre ich immer wieder, wie der Sextourismus eine ganze Generation bedroht und sie in ihrer Freiheit und Menschenwürde beschädigt. […] In den 70er Jahren wurde Pädophilie als etwas durchaus dem Menschen und auch dem Kind Gemäßes theoretisiert.“ (Monumentale Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Kurie; zit. nach www.kath.net, 20. Dezember 2010, 14:00 Uhr.) Es geht also nicht um eine Dimension, sondern um den Umfang des Missbrauchs. Und der ist nicht dem Papst nach wie vor unvorstellbar, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen – die meint wohl das „wir“ – hatte es sich nicht vorstellen können, dass so viele Priester auf diesen Abweg gerieten. Daran ist nun tatsächlich nichts auszusetzen. Ich hätte dem Papst Unrecht getan, wenn ich mich auf die „Zitate“ in der Süddeutschen verlassen hätte.

Übrigens bedarf es nur eines kurzen Gegoogels, um an diesem Beispiel wieder einmal zu sehen, dass die Pressevielfalt in den deutschsprachigen Ländern wie so oft nur noch eine vermeintliche ist. In allen Artikeln, die über die päpstliche Ansprache berichten, tauchen die gleichen Versatzstücke der Agenturen auf. Nicht eine der großen Zeitungen macht sich die Mühe, die ja wohl offizielle und vollständige Veröffentlichung des österreichischen Online-Magazins kath.net zu lesen und auf dieser Textgrundlage einen „gerechteren“ Artikel zu verfassen. Erbärmlich!

Trümmerfrau?

Monday, 20. December 2010

blase3

Heute ist die SZ nur ganz indirekt dafür verantwortlich zu machen, wenn ich mit der Faust vor Zorn dermaßen heftig auf den Frühstücktisch schlagen musste, dass die Kaffeetassen bis zur Zimmerdecke sprangen. Übertrieben? Ja, es geht heute um maßlose Übertreibung.

Urheber der Entgleisung des Tages ist diesmal Hilmar Kopper (75), berühmt-berüchtigt für unangebrachte Wortwahl seit seinem „Peanuts“-Ausrutscher von 1994. Auf seine alten Tage ist der Banker nun damit befasst, die HSH Nordbank aus der Krise zu führen, deren Aufsichtsrats-Vorsitzender er seit Juli 2009 ist.

Das mag ein Job sein, der einige Anstrengungen erfordert. Im übetragenen Sinne könnte man vielleicht sagen, dass Kopper die Ärmel aufkrempeln muss, um in dem Laden für Ordnung zu sorgen. Immerhin verstärkte sich bei Kristina Lasker und Klaus Ott, die heute in der Süddeutschen über den aktuellen Stand der Dinge berichten und den 30-seitigen Prüfbericht über die neueste HSH-Affäre eingesehen haben, „der Eindruck, dass es sich bei der Staatsbank aus dem hohen Norden um ein Tollhaus handelt.“ (Projekt Wasserpfeife; in: SZ Nr. 294 v. 30. Dezember 2010, S. 23; vgl. auch den Kommentar v. Caspar Busse auf S. 17.)

Desto schlimmer, dass nun der Aufsichtsratschef, der aus dem Tollhaus wieder ein nach rationalen Regeln geordnetes Kreditinstitut machen soll, selbst närrisch geworden zu sein scheint. Diesen Eindruck gewinne ich nämlich, wenn ich lesen muss, Kopper fühle sich in all den Affären „wie die Trümmerfrau, die nun saubermacht“. Dieser Vergleich ist schamlos! Als die hungernden, frierenden, meist ganz auf sich gestellten Frauen nach dem verlorenen Weltkrieg in den zerbombten deutschen Städten begannen, oft mit bloßen Händen den Schutt beiseite zu räumen und in den Kellern behelfsmäßige Behausungen für sich und ihre Kinder zu schaffen, da war der kleine Hilmar zehn Jahre alt – eigentlich alt genug, um den himmelweiten Unterschied zwischen dieser Plackerei und seinem heutigen Geschäft empfinden zu müssen. Übrigens soll Kopper für seinen Job dem Vernehmen nach, ganz anders als die Trümmerfrauen, mit denen er sich vergleicht, Geld bekommen. Auch insofern ist keinerlei Ähnlichkeit erkennbar. Und wenn ich gedanklich bis an die Wurzeln dieser Geschmacklosigkeit dringe, muss ich gar erkennen, dass Kopper sich den Trümmerfrauen ja nicht etwa als aller Ehren werte Vorbilder zur Seite stellt, sondern sie im Gegenteil als despektierliche Beispiele für eine Arbeit von sich weist, die völlig unter seiner Würde ist.

Und was nun kann meine arme SZ dafür? Auf den ersten Blick nicht viel, da sie ja bloß zitiert, gar aus zweiter Hand, denn Hilmar Kopper hat diesen dummen Vergleich ursprünglich in einem Interview angestellt, das der heutige Spiegel veröffentlicht. Auf den zweiten Blick hätte ich aber doch erwartet, dass die SZ diese neuerliche Entgleisung des Top-Bankmanagers wenigstens als solche benennt. (Ich bin mal gespannt, ob außer mir überhaupt noch jemand daran Anstoß nimmt.)

Heimspiel?

Saturday, 18. December 2010

blase2

Heute berichten S. Braun und C. von Bullion vom Heckmeck um den für September 2011 bevorstehenden Berlin-Besuch des Papstes: Heikler Auftritt im Reichstag (in: SZ Nr. 293 v. 18./19. Dezember 2010, S. 10). Schon der erste Satz lässt nichts Gutes erwarten: „Die Materie ist sensibel, das Terrain unwegsam, die Einhaltung des Protokolls von größter Bedeutung.“

Über Materie, Terrain und Protokoll erfahren wir anschließend: dass der Besuchstermin ursprünglich auf eine Einladung des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) zurückgeht; dass der diese Einladung 2006 spontan ausgesprochen hat, ohne sich mit den Fraktionen abzustimmen, was diese verstimmt habe; dass einige Berliner Grüne (Ströbele), Schwule und Lesben Benedikt XVI. nicht mögen, andere (Künast) aber doch; dass eine Rede unter freiem Himmel vielleicht im Pfeifkonzert dieser Szene untergehen könnte; dass viele deswegen eine Rede im Reichstag sicherer fänden; dass auch der Berliner Erzbischof Georg Sterzinsky froh wäre, wenn der Papst vor dem Bundestag reden dürfte; dass daraufhin ein Sprecher des Bundestagspräsidenten den Erzbischof kühl darüber belehrt habe, allein Herrn Lammert stehe es zu, den Papst ins Hohe Haus einzuladen, und keineswegs Herrn Sterzinsky.

Wenn mich ein Blick auf die Schneeberge vor meinem Fenster nicht eines Besseren belehrte, würde ich annehmen, die Pressetexter steckten im tiefsten Sommerloch. Unwegsam ist allenfalls das Terrain für die Autoren, die blindlings nach einer Materie tasten, aus der sich ein Artikelchen machen ließe, aber sie partout nicht finden – sensibel oder nicht. Ein Sturm im Wasserglas!

Als mir noch Menschen zum Geburtstag gratulieren mussten, die vorgezogen hätten, wenn ich erst gar nicht geboren worden wäre, überreichten sie mir Geschenke, deren einziger Zweck für sie wohl darin bestand, das schreckliche Altpapier nicht zum Container tragen zu müssen, in das sie sie eingewickelt hatten. Ganz ähnlich verfahren heute manche Auftragsschreiber. Wenn sie schon nichts mitzuteilen haben, dann wollen sie bei dieser Gelegenheit wenigstens die eine oder andere sprachliche Schlamperei loswerden. Das Paar Braun / von Bullion (Praktikanten?) musste dringend folgenden Satz entsorgen: „Berlin mit seiner schwul-lesbischen und kirchenkritischen Szene ist, vorsichtig ausgedrückt, kein Heimspiel für Katholiken.“ Einmal kurz durchatmen, bitte! Vorsichtig ausgedrückt? Nicht vorsichtig genug, denn sonst hätte den Autoren dämmern müssen, dass Berlin mitnichten ein Spiel ist, kein Heim-, kein Auswärts- und auch kein Kinderspiel, sondern eine Stadt. Und wenn die beiden gemeint haben, dass der öffentliche Auftritt eines hohen katholischen Würdenträgers in Berlin kein Heimspiel sei, dann sollen sie das doch bitte sagen, diese Umständlichkeit um der sprachlichen Richtigkeit willen können und wollen wir ihnen nicht ersparen.

Mancher gnädigere Leser wird mir nun vorhalten, ich sei päpstlicher als der Papst. Ach was, in Fragen sprachlicher Präzision ist mir der jetzige Papst, obgleich er allenthalben für seine Bildung, gar Intellektualität gerühmt wird, längst nicht päpstlich genug. (Gewiss wird sich beizeiten die Gelegenheit bieten, auch einen Lapsus des Josef Ratzinger aufzuspießen.)

Problemlos?

Friday, 17. December 2010

blase1

Für den allerersten „Schenkelklatscher“ dieser neuen Serie können die Redakteure von der Süddeutschen nichts. Sie zitieren ja nur. Aber dass sie einen solchen Satz wortwörtlich zitieren, ist doch auch wieder ein starkes Stück, denn es lässt nur zwei mögliche Erklärungen zu. Entweder, sie wollen auf diese Weise die Bundesjustizministerin in die Pfanne hauen, deren Mangel an logischem Denkvermögen damit vorgeführt wird; oder aber sie finden nichts dabei, wenn eine Person in dieser Stellung einen solchen Un-Satz zu Protokoll gibt.

Der Hintergrund: Guido Westerwelle, noch amtierender FDP-Bundesvorsitzender und Bundesminister des Auswärtigen, gerät auch aus den Reihen der eigenen Partei zunehmend unter Beschuss, weil laut aktuellen Meinungsumfragen nur noch knapp fünf Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme für die Liberalen abgeben würden. Aus den Landesverbänden wird scharf auf den Vorsitzenden geschossen, da fordern führende Bundespolitiker der FDP ein Ende der internen, aber öffentlich geführten Personaldebatte.

In diesem Zusammenhang meldet sich nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu Wort. Sie räumt ein, dass viele Wähler ihrer Partei enttäuscht seien, weil sie sich in der jetzigen Regierungspolitik nicht wiederfänden. Und dann verbricht sie den folgenden Satz: „Das ist unser Problem und nicht, dass wir die Bürgerinnen und Bürger [jetzt] auch noch mit großen Personaldiskussionen öffentlich behelligen.“ (FDP-Chef in Bedrängnis; in: SZ Nr. 292 v. 17. Dezember 2010, S. 1.)

Die Ministerin sagt hier wörtlich, es sei nicht das Problem der FDP, dass sie die Bürgerinnen und Bürger mit Personaldiskussionen behelligt. Aber das meint sie natürlich nicht, und tatsächlich ist ja nahezu das Gegenteil wahr. Es ist doch eben gerade ein Problem für die FDP, dass einige ihrer führenden Mitglieder in den Landesverbänden, wie Wolfgang Kubicki und Herbert Mertin, eine Personaldiskussion angestoßen haben, denn sonst hätte schließlich die Justizministerin zu diesem Thema überhaupt nicht das Wort ergreifen müssen. Richtig hätte sie etwa so formulieren können: ,Das ist unser Problem, um das wir uns kümmern sollten, und wir machen alles nur noch schlimmer, wenn wir nun öffentlich eine große Personaldiskussion führen und die Bürgerinnen und Bürger mit unseren internen Zwistigkeiten behelligen.‘ Es ist doch so einfach, einen Gedanken klar zum Ausdruck zu bringen – wenn man denn einen klaren Gedanken hat.

Aber wozu soll man sich heute als Politiker anstrengen, klar zu denken, gar zu sprechen? Solche Unschärfen gehen ohnehin unbemerkt im allgemeinen Durcheinander unter oder werden vom medialen Grundrauschen neutralisiert. Diese Gleichgültigkeit geht so weit, dass Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sich nicht scheut, das Interview mit dem geistesschwachen Satz, das sie übrigens Thomas Mayerhöfer vom Rundfunksender Bayern 2 gegeben hat, im O-Ton auf ihre Web-Seite zu setzen. (Daher weiß ich, dass die SZ-Redaktion, die übrigens Quellenangaben für Zitate aus anderen Medien selten für nötig hält, ein „jetzt“ im Satz der Ministerin geschlabbert hat, und konnte es der Richtigkeit zuliebe in eckigen Klammern hinzufügen.)

Der allmorgendliche Schenkelklopfer

Friday, 17. December 2010

blase0

Seit ich mein Interview-Vorhaben mit Oskar Lerbs notgedrungen zu Grabe habe tragen müssen, fehlt mir was. Und jetzt, wo mein Gesprächspartner sich aus dem Staub gemacht hat, kann ich ja freimütig gestehen, dass dieses Projekt eigentlich von Anfang an nicht so lief, wie ich ’s mir ursprünglich gedacht hatte. Die Pausen zwischen den Terminen waren viel zu lang, schon deshalb kam unser Dialog nie richtig in Fluss. Und auch die sture Begrenzung auf fünf Fragen – die allerdings Lerbs zur Bedingung gemacht hatte – war nicht eben förderlich.

Um es rundheraus zu sagen: Was mir eigentlich fehlt, ist die alltägliche Rubrik, mit einem festen Bezugspunkt, der mir gleich in den frühen Morgenstunden zuverlässig einen Anlass bietet, federleicht in Schwung zu kommen und dem Rest des Tages mit dem ruhigen Gewissen entgegensehen zu können, immerhin etwas schon geleistet zu haben.

Jetzt hab ich – Heureka! – genau dieses missing link zwischen meinem äffischen Traumgeschehen in meinen dschungelschwarzen Nächten und den sonnengrellen Geistesblitzen meiner besseren Tage gefunden, das mir an den unvermeidlichen schlechten immerhin doch den kleinen Trost gewährt, mein vegetatives Nervensystem mit allen sonst so überflüssigen Vitalfunktionen nicht ganz umsonst am Laufen gehalten zu haben.

Und dieser Einfall birgt sogar noch einen Zusatznutzen! Seit etlichen Wochen quäle ich mich nämlich mit dem Gedanken, ob ich mich nicht angesichts der angespannten Haushaltslage unserer Familie von dem einzigen klassischen Massenmedium, das mich noch über den aktuellen Verfallszustand unserer Welt unterrichtet, verabschieden soll. Das Abonnement der Süddeutschen Zeitung kostet immerhin monatlich 43,90 Euro. Rechnet man die Sonn- und Feiertage heraus, dann wende ich für meine tägliche Zeitungslektüre am Frühstückstisch rund 1,75 Euro auf. Lohnt sich das? Schließlich bekomme ich die allerschlimmsten Dinge ja unweigerlich aus dem Rundfunk mit (GEZ-Gebühr mtl. 5,76 Euro). Und wo mich „Hintergründe“ und „Meinungen“ interessieren, bin ich im Internet besser bedient, weil vielseitiger orientiert, im weiten Spektrum zwischen Weltwoche und jungle world.

Also stellte sich die unabweisliche Frage: Was würde ich am meisten vermissen, wenn ab Januar 2011 neben meinem Frühstücksteller nicht mehr die SZ läge, sondern – nichts? Die Antwort war schnell gefunden und fiel eindeutig aus. Was ich wirklich entbehren würde, das wären jene sprachlichen und gedanklichen Mängel, Versehen, Unschärfen, Verwechslungen und Fehler, ohne die heute keine einzige Seite einer Tageszeitung mehr auszukommen scheint, selbst jener überregionalen Blätter nicht, ob Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Welt, tageszeitung oder eben meine Süddeutsche. Mich über die täglich aktuellen „Fundstücke“ aus deren Redaktionsstuben zu echauffieren, ist zwischen Traum und Tag mein liebstes Mittel, in Fahrt zu kommen. Dabei bin ich nicht wählerisch. Mal ist es eine grammatische Unmöglichkeit, mal ein Schnitzer bei der Wortwahl, was mich auf die Schenkel klopfen lässt, mal stammt der alltägliche Lapsus vom Leitartikler, mal springt mich der satzgewordene Nonsens aus dem wörtlichen Zitat eines Politikers an. Diese Frühstücksfreuden werde ich ab sofort alltäglich hier unter der neuen Überschrift Sprechblasen rubrizieren und dokumentieren. Und mit dem Titelbild mache ich es mir ganz einfach, wie man sehen wird. (Vielleicht gewährt mir ja die SZ-Redaktion, wenn sie souverän genug ist, meine leidenschaftliche Anteilnahme an ihren Schwächen als Liebeskummer zu verstehen, demnächst ein Gratis-Abo, wer weiß?)

Heinrich Funke: Das Testament (IV)

Thursday, 16. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (IV)

Wer sich ein wenig mit der Druckgraphik des 20. Jahrhunderts auskennt, wird hier gleich sagen: Das Bild sieht aus wie ein Holzschnitt von Frans Masereel. Heinrich Funke, von mir darauf angesprochen, nickte gleich und stellte klar: „Es ist ein Holzschnitt von Masereel.“ Womit natürlich gemeint war, dass er das Motiv mehr oder weniger genau von einem Masereel-Holzschnitt übernommen hat. Nun könnte man auch sagen: geklaut. Aber das ist nun wieder albern, denn selbst ein oberflächlicher Kenner der Kunstgeschichte wie ich identifiziert ohne große Mühe den Urheber der Vorlage. Der Linolschneider Funke hat also den Holzschnitt eines großen Meisters der Druckgraphik „abgekupfert“, um eine der Sentenzen seines Testament genannten Spätwerks zu illustrieren. Nehmen wir das mal so hin und erwähnen noch das Offensichtliche am Rande, dass dieses Bild auf Farbe verzichtet. (Ein kolorierter Masereel wäre allerdings auch ein Sakrileg, gerade so als wollte man Picassos Guernica „in bunt“ nachmalen.)

Nun mag es vielleicht reizvoll sein, das Vorbild mit dem Nachbild zu vergleichen und gegebenenfalls aus den Abweichungen etwelche Schlüsse zu ziehen, als wüchse das Zitat hierdurch zu einer modernen Interpretation heran und gleichsam über die Vorlage hinaus. Aber abgesehen davon, dass ich mir diese gerade in den Künsten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts epidemisch gewordene Zitiererei in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle aus einem Mangel an Originalität jener blutleeren Epigonen von Pop bis Camp erkläre, geht mir ebensosehr jenes Vergleichsgeschwafel der Museumsführer ganz schrecklich auf den Wecker, die ja nur deshalb ununterbrochen darauf hinweisen, dass dieser Federstrich des Malers A entfernt an den des späten B erinnert, damit sie zu dem Bild, vor dem die gläubig lauschende Exkursionsgruppe verharrt, zu dem konkreten Bild da an der Wand, seiner sinnlichen Erscheinung, womöglich gar zu seinem Sinn nichts sagen müssen – weil sie es nämlich auch nicht können.

Reden wir also lieber von etwas ganz andrem. Als notorischer Pedant, der ich nun mal bin, wollte ich wenigstens wissen, aus welchem der bekannte Zyklen des Belgiers die Vorlage für die Gaststättenszene [s. Titelbild] denn nun stammt. Da ich selbst von Frans Masereel nur das Stundenbuch in einer hübschen kleinen Reclam-Ausgabe besitze, das kein auch nur annähernd ähnliches Motiv enthält; und da mein lustloses Rumgeklicke in der Bilderabteilung von Google auch zu nichts führte, begab ich mich vertrauensvoll in die Essener Stadtbibliothek. Dort würde ja gewiss ein Œuvre-Katalog des Meisters vorrätig sein, schlimmstenfalls ausgeliehen, dann ja aber vormerkbar. Fehlanzeige! Seit Jahren schon beobachte ich diese allmähliche Ausdünnung der Bestände in der öffentlichen Leihbibliothek meiner Vaterstadt. Das hat vermutlich mit einem verknappten Anschaffungsetat zu tun. Ich werde dann mit meinen „anspruchsvollen“ Wünschen stets an die hiesige Universitätsbibliothek verwiesen. Die liegt nun aber nicht gerade an meinen üblichen Wegen. Also verzichte ich auf diese Expedition und begnüge mich mit den eher mageren Beständen der Otto-Normalverbraucher-Bibliothek. Da stoße ich immerhin auf einen schmucken und sorgfältig edierten Bildband von Karl-Ludwig Hofmann und Peter Riede: Frans Masereel – Zur Verwirklichung des Traums von einer freien Gesellschaft. (Saarbrücken: Verlag der Saarbrücker Zeitung, 1989), und dort auf acht Holzschnitte aus der Folge Die Stadt von 1925, von denen einer thematisch und in der Detailfreude deutlich an unser hier zu behandelndes Werk erinnert. Beide Bilder zeigen Szenen in gut besuchten gastronomischen Betrieben der Großstadt. Allerdings dürfte ein Abend in der Weinstube [s. Titelbild] eher für ein kleinbürgerliches Publikum in Frage kommen, während die orgiastischen Vergnügungen in der Bar [siehe unten] der Hautevolee vorbehalten bleiben. Diese und manch andre Bilder von Masereel, nicht nur aus dem Zyklus Die Stadt, kommen und kamen mir schon immer so vor, als wollte der Künstler uns mit der Nase darauf stoßen, dass die Laster von Sodom und Gomorra hier und jetzt stattfinden und nicht in ferner Zeit und am Toten Meer.

nasereeldiestadt

Nun also diese acht Worte: „Hochmütig sein heißt vergessen dass man Gott ist“. – Was heißt aber „vergessen“? Etwas aus dem Sinn zu verlieren, das man einmal darin hatte, oder? Prüfen wir den Begriff der Vergesslichkeit an einer konkreten sprachlichen Verwendung: „Hast du den Mann mit der schwarzen Kappe gesehen, der da gerade über die Straße gelaufen ist? Wie heißt er noch? Irgendwas wie ,Schäbig‘ oder ,Weichling‘? Ich hab ’s wohl vergessen!“ Dieses Verständnis von Vergesslichkeit vorausgesetzt, müsste jeder einmal gewusst haben, dass er Gott ist, wenn der Satz wahr sein soll. Auch dieser Satz, der ja wieder eine provokante Behauptung ist, krankt übrigens an einer Unschärfe, denn wenn er das meint, was ich aus ihm herausgelesen habe, dann müsste er klarer lauten: „Hochmütig sein heißt vergessen haben dass man Gott ist“. Oder soll er etwa tatsächlich bedeuten, dass man üblicherweise immer weiß, dass man Gott ist, und dies nur in gelegentlichen Momenten des Hochmuts vergisst? Und dann dieses verallgemeinernde „man“, das ja im Zweifelsfall „alle Menschen“ heißt. Mich machen solche Pauschalurteile immer hilflos. Einerseits antworte ich: „Kann sein, kann auch nicht sein; führt zu nichts und ist mir darum egal.“ Andererseits pariere ich sie mit der subjektiven Widerlegung: „Da kann ich nur für mich sprechen. Ich kann mich tatsächlich nicht daran erinnern, jemals Gott gewesen zu sein. Ob ich hochmütig bin, maße ich mir nicht an, selbst zu beurteilen; das sei anderen vorbehalten, die mich besser kennen als ich. Gesetzt den Fall, sie würden mir Hochmut zuschreiben, dann verstünde ich aber nicht, warum diese Schwäche sich auf mein Gedächtnis auswirken sollte.“ Und überhaupt halte ich den Satz für einen Taschenspielertrick. Wenn ich behauptete, Gott zu sein, dann würde mancher ja gerade dies als den Gipfel des Hochmuts bezeichnen! Und hier wird nun dieses gewöhnliche Verhältnis gewaltsam auf den Kopf gestellt – um zu verblüffen? Effekthascherei? Der Verdacht liegt jedenfalls nahe. Sollte er sich an weiteren Beispielen erhärten, bleibt immer noch die Frage, ob das Ergebnis, zu dem dieser Effekt führt, einen Nutzen für den Betrachter bedeutet. Wenn ja, dann wäre die Hascherei entschuldbar. (Klappern gehört zum Handwerk.)

Aber wie passen Text und Bild hier zueinander? – Was das betrifft, bin ich diesmal noch ratloser als sonst.

Wieso ich?

Tuesday, 14. December 2010

condensdissenz

Immer mal wieder erreichen mich über meine Adresse info[at]revierflaneur[dot]de E-Mail-Angebote einer vermeintlich lukrativen Zusammenarbeit. Meist sind mir diese Offerten nicht einmal eine Antwort wert. Heute aber konnte ich es nicht lassen, wenigstens öffentlich zu replizieren. – Hier zunächst der Anlass meiner Irritation, das Angebot der Unister GmbH in Leipzig:

„Hallo Herr H., auf der Suche nach relevanten Partnern zum Thema Reisen, Urlaub o. ä. bin ich auf Ihre interessante und optisch sehr ansprechende Webseite revierflaneur.de gestoßen. – Unser Unternehmen betreibt das Portal ab-in-den-urlaub.de und wir entwickeln derzeit das Affiliate-Partnerprogramm Content4Partners. Über dieses Programm (WordPress-Plugin) haben Sie die Möglichkeit, Beschreibungen zu Städten und Hotels in von Ihnen gewählten Regionen, beispielsweise Hotels Afrika oder Hotels Ghana auf Ihrer Seite einzubinden. Das Layout der generierten Seiten wird automatisch an das Aussehen Ihrer Website angepasst. – Das Plugin liefert Ihnen suchmaschinenfreundliche Inhalte und dadurch erhöhte Zugriffszahlen. Des Weiteren ermöglicht es Ihnen, Provisionszahlungen für Reisebuchungen über Ihre Website zu generieren und ist somit eine sehr gute monetäre Ergänzung zu den bisherigen Inhalten auf Ihrer Website. – Die Einbindung des Plugins (Programm) erfolgt über eine einfache One-Klick-Installation. – Momentan befindet sich Content4Partners in der späten Beta-Phase. Dafür suchen wir nach interessierten Partnern, die Content4Partners testen würden. – Aus diesem Grund möchten wir Sie herzlich dazu einladen, sich kostenlos und unverbindlich für die Beta-Phase von Content4Partners anzumelden. – Wenn Sie sich das Plugin innerhalb der nächsten 2 Wochen auf Ihrem WordPress Blog installieren, aktivieren und mindestens einen Monat testen, dann bekommen Sie eine einmalige Aufwandsentschädigung von 40 € brutto. – Für weitere Informationen hänge ich Ihnen eine Präsentation an und stehe Ihnen natürlich sehr gern für Rückfragen zur Verfügung. – Wir freuen uns auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit! – Freundliche Grüße, Frank Z. Projektmanager“

Reflexartig frage ich mich bei solchen Gelegenheiten immer: Wie, um alles in der Welt, kommen die bloß ausgerechnet auf mich? Diesmal lag die Antwort realtiv nahe, denn offenbar ist Herr Z. oder einer seiner Zuarbeiter beim Googeln nach den Top-Destinationen dieses Online-Reisebüros auf dem Weg über das Suchwort Ghana Hals über Kopf in mein Weblog hineingestolpert. Das Kompliment gleich eingangs – „Ihre interessante und optisch sehr ansprechende Webseite“ – verfehlte leider seinen Zweck, ist es doch völlig unglaubwürdig. Denn um mein Blog interessant zu finden, muss man erstens schon reichlich schräg drauf sein; und wer dessen Gestaltung ansprechend findet, hat vermutlich zweitens noch das falsche Kräutlein geraucht! Aber Scherz beiseite: Wenn eines gewiss ist, dann dass der Projektmanager und seine Leute maximal fünf Minuten auf die Absendung dieser Akquise-Mail an mich verwendet haben, davon allenfalls 90 Sekunden aufs Anschauen meines Weblogs.

Gelesen haben sie jedenfalls nicht darin. Nicht einmal den einzigen der mittlerweile über 700 Beiträge, der sie vielleicht hätte interessieren können, haben sie zur Kenntnis genommen: das Impressum. Denn sonst hätten sie dort gleich eingangs gelesen: „Die Website revierflaneur.de ist ein rein privates Weblog zur Information, Meinungsbildung und Unterhaltung seiner Leser. Kommerzielle Zwecke werden mit diesem kostenlosen Angebot nicht verfolgt. Werbung wird nicht geschaltet.“

Wirklich absurd ist dieses Anerbieten aber insofern, weil der Revierflaneur ein strikter Gegner des Massentourismus ist, schon seit vielen Jahren keine Erholungs- oder Vergnügungsreisen mehr unternimmt, erst recht das Verreisen per Flugzeug als einen völlig inakzeptablen Anschlag auf die Überlebenschancen künftiger Generationen ablehnt und sich deshalb niemals und für kein Geld der Welt dazu hergeben würde, diesen selbstmörderischen Luxus zu bewerben oder solche Werbung zu unterstützen.

Ghana (IV)

Monday, 13. December 2010

goldkueste

Im Erdkunde-Unterricht „meines“ Gymnasiums habe ich 1967 in der Quinta gelernt, dass die generösen europäischen Kolonialmächte, allen voran Frankreich und Großbritannien, seit Beginn des Jahrzehnts die meisten afrikanischen Staaten in die Unabhängigkeit entlassen hätten. Ich glaubte unserem braven Geographie-Lehrer aufs Wort, und vermutlich glaubte er sogar selbst an das, was er uns da erzählte. Knapp drei Jahre später war ich „politisiert“ und protestierte lautstark gegen den Bau des Cabora-Bassa-Staudamms in Mosambik, aber in den tieferen Schichten meines Bewusstseins blieb der Edelmut der Dekolonisateure als eine unbezweifelbare Tatsache abgespeichert – bis heute früh, als ich im Wikipedia-Artikel über die Dekonolisation Afrikas diesen Absatz über die europäische Kolonialpolitik nach 1945 las:

„Als in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts die europäische Wirtschaft wieder in Schwung kam, wurde in den Kolonialländern zum ersten Mal über die Entlassung der afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit debattiert. Dabei ging es insbesondere um die Frage der Rentabilität der Kolonien für die Mutterländer. Der Entschluss zur Dekolonisation kam primär aus volkswirtschaftlichen Gründen, denn die Mutterländer konnten ihre Kolonien nicht mehr finanzieren. Also war man allgemein zu dem Schluss gekommen, dass es wirtschaftlich günstiger wäre, sich politisch aus Afrika zurückzuziehen. – Zudem sahen sich die europäischen Machthaber vom aufstrebenden Nationalismus in den Kolonien immer mehr bedroht. […] Ein Kampf um die Herrschaft mit militärischen Mitteln oder auch eine Umstrukturierung der Kolonialreiche kamen auf lange Sicht nicht in Frage. Dazu kamen ,Versprechen‘ auf größere Selbstverwaltung, die die Kolonialmächte während des Krieges gemacht hatten, als Truppen aus den Kolonien ihre Armeen verstärkten. Daher ging man etwa ab 1950 daran, die Staaten in die Unabhängigkeit zu entlassen. Soziale Träger der Entkolonialisierung waren meist lokale Eliten, die untere Funktionen in der Kolonialverwaltung besetzten und durch fehlende Aufstiegschancen frustriert waren. – Bei der Machtübergabe waren die Kolonialherren immer darauf bedacht, Regierungen zu fördern bzw. zu installieren, die ihnen genehm waren. Europa wollte zwar ein demokratisches Afrika, aber auf allen Einfluss verzichten wollte man auch nicht.“ – Tja, die historische Wahrheit ist doch meist sehr ernüchternd.

Immerhin kommt Ghana im afrikanischen Dekolonisations-Prozess eine Vorreiterrolle zu, denn bereits drei Jahre vor dem legendären ‚Afrikanischen Jahr‘ 1960, als gleich 17 Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen wurden, erkämpfte die Convention Peoples Party (CPP) mit dem nachmaligen ersten Premierminister Dr. Kwame Nkrumah an der Spitze die staatliche Souveränität jenes Landes, das in den vorausgegangenen acht Jahrzehnten Goldküste (Gold Coast Colony) geheißen hatte.

Den neuen Namen Ghana borgten sich die Staatsgründer von einem mittelalterlichen Königreich Gana, das allerdings tausend Kilometer nordwestlich vom heutigen Staatsgebiet gelegen hatte, etwa dort, wo sich heute Republiken Mauretanien, Senegal und Mali befinden. Auf den ersten Blick mag es verwunderlich scheinen, warum der neue Staat sich nicht mit dem Namen eines jener Königreiche schmückte, die tatsächlich auf dem Territorium des heutigen Ghana beheimatet waren und deren Völker noch heute dort leben, wie etwa Ashanti, Fante oder Dagomba. Tatsächlich war es aber ein kluger Schachzug, einen zeitlich und räumlich entlegenen Namen zu wählen, denn die Bevorzugung einer der zahlreichen Ethnien hätte bei der verbleibenden Mehrheit aller anderen für Entrüstung und für ewigen Unfrieden gesorgt.

Die Bedeutung des Namens Ghana resp. Gana liegt im Dunklen. Und auch die Geschichte der zahlreichen Völker, die sich im Laufe der Jahrhunderte auf dem heutigen Staatsgebiet ansiedelten, ist nur sehr lückenhaft rekonstruierbar, da es aus der Zeit vor der Konolisation kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt.

Protected: Lingba Xianzhang

Sunday, 12. December 2010

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Protected: Förderpreis für Éclaireure

Saturday, 11. December 2010

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Tuesday, 07. December 2010

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Heinrich Funke: Das Testament (III)

Sunday, 05. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (III)

Bild Nummer drei der grausamen Tötungsfolge. Nun muss dringend mal was zu einer Besonderheit der Texte gesagt werden. Sie verzichten ja offenbar prinzipiell auf jede Interpunktion: weder Punkt noch Komma, weder Ausruf- noch Fragezeichen – welch letzteres man sich diesmal wohl hinzudenken soll: „Darf ein Mensch sich für die Wahrheit töten lassen?“

Und wieder gibt es im Bild einen Hinweis, dass wir Zeugen eines Ereignisses auf christlich beeinflusstem Territorium sind. Das Opfer, dem hier von zwei geschäftigen Henkersknechten der Darm aus dem Leib gespult wird, trägt auf dem Kopf eine Mitra, die traditionelle liturgische Kopfbedeckung der Bischöfe seit dem 11. Jahrhundert. Ob hier freilich ein Bischof zu Tode gequält wird, oder ob lediglich einem christlichen Feind, sozusagen als ,Narrenkappe‘, das verhasste Symbol aufgestülpt wurde, vielleicht von feindlich gesonnenen reformierten Christen im Dreißigjährigen Krieg – wir wissen es nicht.

Nun ist meine Haltung bei der Betrachtung von Gewalt, die Menschen einander antun, neben dem spontanen Mitleidsreflex für das unterlegene Opfer, ein wohlerwogenes Bedauern für die Schwäche der Täter. Wer es nötig hat, seinen Willen gewaltsam durchzusetzen, kann nicht im Recht sein. Ich weiß, dass dies eine nach wie vor gewagte, zahlreichen Angriffen mit starken Gegenbeispielen ausgesetzte Grundhaltung ist. Ich weiß auch, dass diese Haltung dem christlichen Grundsatz, die andere Wange hinzuhalten, verwandt ist. Um im Bilde zu bleiben, könnte man sagen: Wenn sie dir den Darm rausreißen, schmeiß ihnen dein Hirn noch hinterher!

Hier aber wird das eklige Schmerzensbild von einer Frage begleitet, ob sich nämlich ein Mensch für die Wahrheit töten lassen dürfe. Wenn ich diese Frage in ihrer plumpen Allgemeinheit beantworten sollte, müsste ich wahrheitsgemäß antworten: Das kommt auf die Wahrheit an, auf die Umstände und auf den Menschen. Ich führe hier, denn Weiteres würde zu weit führen, für jeden der drei Fälle ein Beispiel an, das erzwingen würde, die Frage mit einem klaren Nein zu beantworten. Wenn das Bestehen auf einer Wahrheit diesen Barbaren gegenüber und der daraus folgende Tod weder für die Wahrheit, noch für den Gesinnungswandel der Täter, noch für die Nachwelt einen Vorteil brächte, wäre dieser Tod in jeder Hinsicht sinnlos und darum abzulehnen. Wenn die Wahrheit etwa den Verrat unschuldiger und unbeteiligter Menschen nach sich zöge und der Tod zugleich den Verräter der Möglichkeit beraubte, diese noch zu warnen, dann wären beide, Verrat und Tod, verwerflich. Und wenn schließlich der Mensch, der um der lieben Wahrheit willen freiwillig den Tod wählte, weil er sich seiner irdische Verantwortung entziehen will oder auf einen vermeintlichen, jenseitigen Vorteil spekuliert, dann wäre diese Rolle – des Selbstmörders durch fremde Hand bzw. des Selbstmordattentäters – ebenfalls abzulehnen.

Prinzipiell habe ich, gelinde gesagt, gewisse Schwierigkeiten mit solchen sehr allgemein gehaltenen Sentenzen, als da sind Kalender- und Orakelsprüche, Küchenweisheiten und Bauernregeln, Suggestivfragen und Paradoxien. Sie mögen manchmal geeignet sein, zum Nachdenken anzuregen. Ob sie zu produktiven Gedanken und nützlichen Antworten führen, ist aber im Einzelfall zu prüfen und hängt hauptsächlich vom Nachdenkenden ab.

Heinrich Funke: Das Testament (II)

Thursday, 02. December 2010

Heinrich Funke Das Testament (II)

Quizfrage: Was haben dieses und das vorangegangene Bild gemeinsam? Richtig, auf beiden sind fünf Personen zu sehen. Allerdings ist das Verhältnis Täter zu Opfer diesmal eins zu vier, gegenüber zwei zu drei bei der ersten Hinrichtung. Zudem finden beide Gräueltaten unter freiem Himmel statt. Haben sich nicht üblicherweise die Schinder und Henker aller Zeiten hinter dicken Kerkermauern ihrem blutigen Handwerk hingegeben, um vor unwillkommenen Zeugen sicher zu sein, die etwa im Falle eines Wechsels der Regentschaft auf Rache sinnen könnten? Gewiss, es gab auch jene demonstrativ öffentlichen Liquidationen, zu denen das Volk geradezu zusammengetrommelt wurde, zur Abschreckung und zugleich zur Befriedigung blutrünstiger Schaulust, die ja leider immer schon verbreiteter war als die Menschenfreunde unter uns glauben wollen. Aber Zuschauer sieht man auf den beiden hier zur Rede stehenden Bildern ja nicht.

Neu ist an diesem Bild das kleine Kirchlein im Hintergrund. In diesem Land gelten also die Zehn Gebote, deren fünftes seit Luther traditionell übersetzt wird mit „Du sollst nicht töten“. Spätestens seit militante Vegetarier und Tierschützer sich auf dieses Gebot berufen und damit manchem christlichen Leckermäulchen den Appetit auf den Sonntagsbraten verderben wollen, hat sich herumgesprochen, dass die wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen des Alten Testaments lautet: „Du sollst nicht morden.“ Ob nun die Vollstreckung eines höchstrichterlichen Todesurteils über einen schlimmen Übeltäter, beispielsweise einen Mörder, selbst wieder Mord ist oder nicht vielmehr eine gerechte Strafe zur Verhinderung weiterer Taten durch Beseitigung des Täters und Abschreckung möglicher Nachahmer, darüber streiten Gegner und Befürworter der Todesstrafe im Schatten der Kirchen seit Menschengedenken.

Wie schon einmal, so erleichtert auch diesmal der Text unterm Bild keineswegs dessen Verständnis, sondern gibt vielmehr weitere Rätsel auf. „Leben und Tod ist nicht einfach“, heißt es da zunächst. Hier muss das Sprachempfinden rebellieren, denn das klingt ja schrecklich falsch. Das Leben, der Tod – diese beiden sind ja zweifellos eine Mehrzahl, wenngleich die kleinste mögliche, nämlich ein Paar. Also müsste es doch nach allen Regeln der Logik und der Grammatik heißen: „Leben und Tod sind nicht einfach“. Kann man sich diese befremdliche Einzahl vielleicht so erklären, dass hier „Leben&Tod“ gewaltsam als eine Einheit, als ein Ganzes gesehen werden sollen? Aber dazu steht ja im Widerspruch, dass sie ausdrücklich als „nicht einfach“ bezeichnet werden. Was ist aber das Gegenstück zu einfach? Schwer? Schwierig? Zweifach? Vielfach?

Nehmen wir mal an, der Künstler meint, das Leben sei nicht einfach im Sinne von nicht leicht zu bewältigen. Könnten wird dieser Aussage so verallgemeinernd beipflichten? Ist das Leben uns allen nicht wenigstens zeitweise leicht gefallen? War es nicht immerhin unter günstigen Umständen oft sehr einfach für uns, zu leben? Und auch der Tod soll nicht einfach sein? Wer will behaupten, er wisse etwas über den Tod? Wenn es heißen würde, dass das Sterben nicht einfach sei, würde er vermutlich breite Zustimung ernten, denn wie qualvoll-schwer es manchem fällt, sein Leben zu verlassen, das haben viele schon mitansehen müssen, und die anderen wissen es immerhin vom Hörensagen.

Und nun die Aufforderung: „Sei wachsam“. Diese Warnung erhält ja in Verbindung mit der bildlichen Darstellung der Hinrichtung geradezu den Charakter einer Drohung: Pass auf, was du tust! Sei dir bewusst, dass das Leben nicht so einfach ist, wie es oft scheint! Wenn du zu leichtsinnig bist, kommst du unversehens in die traurige Lage der Gehenkten und Geköpften dort oben! (Aber auch hier sollte man noch den zusätzlichen Gedanken im Hinterkopf zulassen, dass schließlich auch die Lage des Henkers keine einfache ist.)