Stoßseufzer aus dem Lesesessel (III)

zumtoddeskobay

Die oben erwähnte Schilderung der Beerdigungsfeier für Konrad Bayer, mit anschließendem Jahrmarktsbesuch, aber ohne jedes Eingehen auf die Gründe und Hintergründe dieses tragischen Suizids eines Genies, wie sie sich in den jüngst erschienenen Raddatz-Tagebüchern der Jahre 1982-2001 findet, hat mich veranlasst, die Details nun selbst einmal ans Licht zu holen.

Die Konrad Bayers Tod vorausgehende sog. Sigtuna-Tagung der „Gruppe 47“ im Jahr 1964 ist in einer sehr detailreichen und gründlich recherchierten Monographie dokumentiert. (Fredrik Benzinger: Die Tagung der „Gruppe 47“ in Schweden 1964 und ihre Folgen. Ein Kapitel deutsch-schwedischer Kultur- und Literaturbeziehungen. Stockholm: Universität Stockholm / Germanistisches Institut, 1983.)

Der 31-jährige Bayer aus Wien las am zweiten Tag der Zusammenkunft, dem 11. September. Über seinen Auftritt und die anschließende Diskussion heißt es: „[…] mit Konrad Bayer beschäftigte sich die Gruppe zwanzig Minuten lang. Aber seine fünfzehn Prosapassagen aus Der sechste Sinn, geschrieben in einem ,burlesk-humoristischen und altertümlich-aristokratischen‘ Stil gefielen der Gruppe überhaupt nicht. Der alte Ton Bayers, der im Jahr zuvor Furore gemacht hatte, veranlasste [Walter] Jens jetzt zu der Bemerkung, dass die Stücke ,zu leicht durchschaubar‘ seien. […] Hans Mayer, im selben Verlag (Rowohlt) tätig, der Bayer herausbringen wollte, fand eine Prosa vor, die ,mit dem Geschehen nicht fertig wird‘. Das Ernsteste sei aber, meinte er, dass ,alles von aussen her gesehen‘ werde. Dadurch entstehe ,etwas schrecklich Erkältendes, Inhumanes. Das Geschehen erscheint sinnentleert.‘ […] Was verleitete den grossen Kritiker zu einer solchen unpräzisen Entgleisung? In dem Text verwendete Bayer, der selbst Jude war, eine Reihe jüdischer Namen, ohne dass, laut Mayer, ,der Inhalt das rechtfertigt‘. Diese bewussten Stilelemente waren in Mayers Augen offenbar ein schwerer Bruch gegen eine fast tabuartige Regel, die in der Gruppe streng aufrechterhalten wurde, dass keinerlei Spass über Juden geduldet wurde, eine umgekehrte Diskriminierung also. […] Die stark missbilligenden Worte von Mayer und Jens lenkten zwar die Debatte, empörten aber auch mehrere Teilnehmer. Nicolas Born verstand gar nicht, ,wie jemand aus diesen Textstücken Unmenschlichkeit herauslesen‘ und gar auf Auschwitz hinweisen könne. […] Im grossen ganzen waren aber diese konträren Aussagen weniger schwerwiegend und konnten den Gesamteindruck eines Verrisses nicht ändern. […] Dies war natürlich eine grosse Katastrophe für Bayer, der lange versucht hatte, im Literaturbetrieb Fuss zu fassen.“ (Benzinger, a. a. O., S. 69 f.)

21 Teilnehmer der Sigtuna-Tagung haben per Fragebogen ihre Erinnerungen mitgeteilt; unter ihnen übrigens auch Fritz J. Raddatz. 16 Teilnehmer wurden zusätzlich von Benzinger persönlich interviewt. An das Debakel der Lesung von Konrad Bayer erinnerte sich Christa Reinig: „Er hatte sich mit Gegenkritik gegen die Gruppengepflogenheiten zur Wehr gesetzt und meine Aufmerksamkeit erregt. (…) Er erschien mir als der Prototyp des Schriftstellers, der künftig Erfolg haben wird. Einige Wochen später verbreitete sich die Nachricht, er habe Selbstmord verübt.“ (Ebd., S. 71.) – Erich Fried hatte immerhin das Format, sein tragisches Fehlurteil im Interview einzugestehen: „Im Wiener Nihilismus liegt an sich ungeheuer viel antisemitisches Erbe. Glücklich war ich über diesen Text nicht, aber Bayer war kein Antisemit. Oft habe ich mich geirrt, doch nie so arg. […] Ausserdem war gegen ihn eine gehässige Literaturkampagne am Werk. Er hat am Abend vor seinem Selbstmord diese Kritiken noch gesehen. Der Redakteur, der sie ihm gezeigt hat und darüber sehr unglücklich war, Fritz, hat sich dann auch später umgebracht.“ (Ebd.) – Und auch Lars Gustafsson ist sich sicher, dass zwischen der Lesung und Bayers Selbstmord ein Zusammenhang bestand: „Konrad Bayer wurde so übel zugerichtet, dass es, wie ich glaube, dazu beigetragen hat, dass er sich später im selben Jahr das Leben nahm. Er wurde so verteufelt übel zugerichtet.“ (Ebd., S. 160.)

Fritz J. Raddatz hat zwar den Fragebogen ausgefüllt, aber offenbar keine nennswerten Beiträge liefern können, denn er findet in dem 200-Seiten-Buch nur an zwei Stellen knappste Erwähnung. Hans Mayer hingegen gehörte zu jenen zehn Personen, die die Befragung explizit ablehnten oder erst gar keine Antwort schickten. Angst? Oder gar ein schlechtes Gewissen? Das wird sich wohl nicht mehr klären lassen; es sei denn …

[Titelbild: Konrad Bayer nach einem Foto von Franz Hubman (Wien), hier aus Die Wiener Gruppe. Hrsg. v. Gerhard Rühm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1967, Abb. 4 (Ausschnitt). © Rowohlt Verlag.]