Archive for November 7th, 2010

Unschreibbare Romane (IV)

Sunday, 07. November 2010

dasvollkommeneglueckdesbeginnens

Wer waren doch gleich noch die drei größten „Stars“ des Zwanzigsten Jahrhunderts? Keine Frage: Adolf Hitler, John Lennon und ich. In dieser Reihenfolge, versteht sich. Ich bin schließlich nicht größenwahnsinnig. Da ich eine Frau bin, wird man verstehen, dass ich nicht ablehnen konnte, mich auf dieses Stüfchen zu stellen, wenngleich ich beanspruche, auf Platz zwei zu gehören. (Wem Platz eins gebührt, das weiß ich nicht, soll ’s meinetwegen Helmut Schmidt entscheiden. Der schäggige Adi aber auf keinen Fall!)

[Der folgende Absatz ist Robert Walser gewidmet:] Ich habe gerade gespürt, dass ich dem Wörtlein ,Stüfchen‘ einige Sympathiemoleküle abmelken kann, einfacher gesagt: Ich mag ’s! ,Stüflein‘ ist ein Wörtchen, über das man zwar stolpert, ohne jedoch allzu hart zu fallen. Im Gegenteil, das Stolpern über Stüfchen verschafft einen völlig ungefährlichen kitzelkleinen auffrischenden Nervenschwips, der es erlaubt, die nun unmittelbar folgenden Ereignisse zum Sturm im Wasserglas zu bagatellisieren, aus ihnen somit dermaßen liliputanisch kleine Phänomene zu miniaturisieren, dass sie nahezu nicht mehr erkennbar, schon gar nicht haftbar zu machen  sind, nachdem sie merklich unbemerkt durch allerfeinste tonlos gluckernde Gullylöcher flutschten. Spurenelemete der Vorboten einer Krise? Ach was, die haben wir längst schon futschgelutscht!

Das lassen wir uns nun auf der Zungenspitze zergehen. Immerhin haben wir uns wieder eingekriegt, und das gar auf dem Eisgipfel unserer Unverfrorenheit. Nun ab Marsch durch die Mitte und hinauf in den Abgrund! – So will ich denn von meiner Jugend erzählen. Schule? Das war der Ort, wo uns alte Männer gegenüberstanden, die uns verkündeten – während wir gerade an das absolute Gegenteil dachten –, dass wir uns in den kommenden Wochen, gar Monaten mit dem Besuch der alten Dame würden beschäftigen müssen. Nach dieser schlimmstmöglichen Drohung fühlten wir uns dürr und matt. (Wir hätten den Namen des Autors vermutlich auch so erraten.)

Ob ich sonst noch Probleme habe? Das nicht; aber ich weiß den kürzesten Weg von hier zur Antwort auf die Frage, die man dort erst erfährt. (Jedenfalls dann, wenn jemand vorausläuft, die Frage zu erfragen und mir umgehend verschweigt, wie sie denn lautet.) Und übrigens hasse ich Interviews, die nicht ohne Fragen auskommen. Ein aktuelles Zauberstichwort lautet ,Perspektiv-Wechsel‘. Dann versuchen wir ’s doch mal mit einer dummen Frage! Ist es denn so schwer, Personen, statt sie durch dumme Fragen zu plätten, mit dummen Aussagen zu dann vielleicht unebneren Antworten zu reizen? Mit der anglo-amerikanischen Gattungsbezeichnung Interview konnte ich noch nie viel anfangen.  Die in diesem Dialog stattfindende Intervention soll doch nicht auf ein Dazwischen zielen, sondern auf ein Darüberhinaus.  Darum bleibt fragenswert, ob es sich bei diesem Zufallsfund nicht um einen Ankerpunkt für die Literatur des 21. Jahrhunderts handelt, dessen viel versprechende Möglichkeiten nur leider vorläufig erstickt wurden im engmaschigen Strickmuster eines langweiligen Pingponspiels, nach dem immergleichen binären, bipolaren, bilateralen Schema: „Frage?“ – „Antwort!“ – „Frage?“ und so weiter bis zum „Dankeschön, der Ball ging neben die Platte!“

Um trotzdem den Blick auf diese vielversprechende Innovation zu lenken, die zwar streng genommen natürlich nichts andres ist als eine Reanimation des dramatischen Dialogs, taufte ich mein neues Arbeitsprojekt kurzerhand auf den unverdächtigen Namen Zwiesprachen und begann stehenden Hinkefußes mit der konzentriert-dislozierten Arbeit an dieser Einvernahme. (Wenn ich mich von diesem Schreck erholt habe, melde ich mich wieder zum brandwundigen Thema dieses Beitragsstrangs.)

[Fortsetzung folgt.]

Stoßseufzer aus dem Lesesessel (II)

Sunday, 07. November 2010

resignierendehaende

Jetzt habe ich sie bald „durch“, die dicke Tagebücher-Schwarte von Fritz J. Raddatz. Da ich ein Mensch bin und kein ausgeklügelt Buch, empfind’ ich ’s nicht als Widerspruch, wenn ich nämlich die Lektüre einerseits genossen und den Autor dennoch auf weite Strecken verachtet habe. On verra.

Dass diese Schlüsselfigur der westdeutschen Literaturszene eines Vierteljahrhunderts, nämlich von 1960 bis 1985, sein diaristisches Werk erst drei Jahre vor seinem „Waterloo“ – dem von seinen Feinden dankbar beim Schopf gepackten und emsig aufgebauschten Lapsus namens „Frankfurter Goethebahnhof“ – in Angriff nahm, hat seinen Grund wohl weniger in der schon früher zitierten „jahrzehntelange[n] Scheu, fast Keuschheit gegenüber diesem Voyeurismus“, als vielmehr in der mit Beginn seines sechsten Lebensjahrzehnts allmählich einsetzenden Ermattung, dem schrittweisen Rückzug aus dem Epizentrum des intellektuellen Mittelstands. Wir könnten diese vergleichsweise moderatere Alltagsgestaltung, die überhaupt erst die Mußestunden für solche Notizen freischlägt, allerdings auch auf das ruhigere Fahrwasser zurückführen, in das sich der bekennende Bisexuelle Raddatz seit seiner stabilen Lebenspartnerschaft mit Gerhard Bruns hat münden lassen. Dass er dieses Geschreibsel – gewiss überaus nützlich für die regelmäßige Frustabfuhr nach missglückten Geschäftsessen, enervierenden Telefonaten (mit so verschiedenartigen, so in ihrer jeweiligen „Einzigartigkeit“ petrifizierten Egomanen wie Rolf Hochhuth, Wolf Biermann, Jürgen Becker, Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser, Peter Rühmkorff, Reinhard Lettau, Walter Kempowski, Thomas Brasch, George Tabori, Hans Mayer und Peter Wapnewski) und immer wieder von seinen Gästen traurig gering geschätzten Event-Inszenierungen – in seiner nach eigener Schilderung gewiss traumhaft dekorierten Wohnung nicht nur zu Papier gebracht hat, sondern nun auch noch zu Lebzeiten drucken lässt, kann eigentlich nur zwei mir gleichermaßen unsympathische Gründe haben: Geldhunger und Rachgier.

Übrigens sollte uns emsige Leser das 29-seitige Personenverzeichnis nicht darüber hinwegtäuschen, dass – bei aller umtriebigen Aktivität des Kulturvermittlers Raddatz – der Kreis seiner „guten Bekannten“ doch stets eher überschaubar war, vom engsten Zirkel seiner Intimfreunde ganz abgesehen, zu dem nur zwei zu zählen sind: Günter Grass und Paul Wunderlich. Ich prophezeie, dass der Erstgenannte in hundert Jahren in der rasant kleiner werdenden deutschsprachigen Enklave der Weltliteratur etwa so prominent sein wird wie heute der Nobelpreisträger von vor einem Jahrhundert, Paul Heyse. Und zum wunderlichen Radier-Kitschier von der Waterkant enthalte ich mich jedes Kommentars, außer dem einen: dass ich Raddatzens Erzählung von Wunderlichs Töchterlein Hochzeit unterm Datum vom 28. August 1998 nur noch wahlweise degoutant oder absurd finden kann. Dieses allenfalls durch seine Kostspieligkeit imponierende Event kommt mir vor wie die anämische Variante des Orgien-Mysterien-Theaters von Hermann Nitsch. Merkt unser Tagebuchschreiber nicht, in welche weit unter seinen Verhältnissen zwielichternde Niederungen er sich da hat ziehen lassen? (Wenn Paul Wunderlich rechtens in der Tradition der Surrealisten steht, dann ist Helge Schneider aus Mülheim an der Ruhr ein würdiger Nachfolger von Tristan Tzara.)

Solange Raddatz Aufträge zu vergeben und Kontakte zu vermittel hatte, wurde seine Nähe und Sympathie gesucht, hauptsächlich von Autoren mit ungedruckten Werken in der Schublade und bildungsbeflissenen hanseatischen Kleinbürgern, die ihren Gattinnen imponieren wollten; sodann von etilen Kollegen, die ihn als Projektionsfläche ihrer narzisstischen Selbstdarstellungen missbrauchten. (Einige Glanzlichter des Buches finden sich unter den zahllosen referierten Telefongesprächen.) Raddatz leistet sich stets einen rücksichtslosen Blick auf die eigentlichen Beweggründe der zahllosen Liebediener, Anschleimer, Wichtigtuer, Ränkeschmiede und Selbstdarsteller, für die er nur der Postbote, Huldiger, Kumpane, Zuhörer oder Tränentrockner sein soll – und deren Interesse schlagartig auf den Nullpunkt sinkt, sobald er selbst einmal ein Anliegen hat.

Das bitterste Missgeschick und Fehlurteil unterläuft dem Diaristen übrigens mit einem Vernichtungsurteil kurz vor Toresschluss (S. 852), mit dem er keinen Geringeren als Jean Améry in die „Provinz-Liga“ verweist. Nur vier Seiten weiter vergleicht er seinen interessanten Marbacher Vorlass mit dem nahezu wertlosen Nachlass von Gottfried Benn, den er bei den Vorarbeiten zu seiner Benn-Biographie durchgesehen hat. Hier hält es unser Tagebuchschreiber nun für nötig, nach dieser Gegenüberstellung von zwei Materialsammlungen einem doch völlig abwegigen Tadel des Lesers zuvorzukommen: „(was NICHT heißt, ich vergliche mich mit Benn, ich weiß schon, ,in welcher Liga ich spiele‘).“ Mit der Selbsteinschätzung ist das nun mal so eine Sache. Nachdem ich nun sowohl des Kritikers Erinnerungen von 2003 (Unruhestifter. München: Propyläen Verlag, 2003) als auch seine täglichen Frustabfuhren in den Tagebüchern gelesen habe, maße ich mir das Urteil an: Raddatz spielt nicht in einer Liga, in der er in Gefahr geraten könnte, gegen Jean Améry zum Vergleich antreten zu müssen. (Diese beiden treten ja nicht mal in der gleichen ,Disziplin‘ an.)

[Das Titelbild zeigt die Hände des Tagebuch-Autors FJR. – Ausschnitt aus einem Porträtfoto der in Essen gebürtigen Fotografin © Karin Szekessy, Ehefrau von Paul Wunderlich bis zu dessen Tod am 6. Juni 2010, hier gescannt als Ausschnitt vom Umschlag des besprochenen Buches, dem ich recht viele Leser wünsche.]